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Die Stimmen in mir

Meine zitternde, weiße, raue Hand drückt auf meine Brust, gegen den wilden Schlag, der sie immer und immer wieder aufbäumen lässt. Meine Finger krümmen sich, fast als würden sie glauben, sie könnten die runde Pumpe unter dem Brustkorb umschließen und zum Erliegen bringen. Doch sie kommt nicht zum Stillstand.

Das Gras ist feucht und die dünnen Fasern meiner hellen Hose saugen an den Knien den nächtlichen Reif auf. Ich rolle mich über meine Hüfte auf den Rücken, doch lasse die Augen geschlossen. Ich höre mich ganz weit weg heftig atmen, spüre, wie das Blut durch die schmalen Adern schießt, um meinen überanstrengten Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Ich habe es wieder getan – wie letzte Nacht. Denselben Weg habe ich genommen und trotzdem liege ich an einer anderen Stelle. Aber so genau kann ich das gar nicht sagen, da es zu dunkel ist und das Einzige, was ich meinen Augen zu sehen gebe, der klare Sternenhimmel über mir ist.

Meine kurzen, dunklen Haare kleben mir im Nacken und in der Stirn an der eiskalten Haut. Mein großer Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Eine normale Reaktion auf meine Körperbeanspruchung in der Trance. Zu wenig Sauerstoff. Aber wen interessiert schon die Lunge? Ich laufe nicht, um meinen keuchenden Atem zu hören. Ich renne nicht blind in die Kälte, um den Schweiß auf meinen Lippen zu schmecken. Es ist das ohrenbetäubende Rauschen in meinen Ohren, der heftige Schlag des Lebens gegen meine Brust, das zuschnürende Pumpen meiner Hauptschlagader am Hals, was mich hierzu veranlasst.

Meine Lippen schließen sich langsam wieder und ich schlucke den entstandenen Schleim hinunter. Das Gute ist, dass sich der Atem schneller wieder beruhigt, als das rote Leben in mir. Meine Finger krallen sich in das Fleisch unter meinem T-Shirt, als könnten sie jenes erfassen und für immer festhalten. Ich renne hierhin, weil ich wissen will, wo es ist. Ich muss fühlen, dass es da ist.

Ruckartig reiße ich meine Augen auf und starre in den klaren Himmel über mir. Wild suchen sie nach Sternenbildern, aber ich finde keine. Deswegen bin ich auch nicht hier. Ich schlucke. Meine Lunge protestiert, weil ich den Mund dabei schließe und ich merke, wie mir leicht schwarz vor Augen wird. Dies verstärkt kurz das Pumpen in mir.

Ich lächele. Da ist es. Ich kann es spüren in mir.

Höre auf dein Herz … Höre auf dein Herz. Hat das jemals jemand zu dir gesagt? Und hast du es je ausprobiert?

Ich dachte damals, als er mir das sagte, dass das nicht schwer sein kann. Höre auf dein Herz. Ja, natürlich? Was sollte ich denn sonst tun? Ich entschied mich ja nicht gegen das, was ich wirklich wollte. Oder?

Die Frage ist nämlich: Was wollen wir eigentlich? Und, wer sagt uns, was wir wollen und brauchen? Was richtig und was falsch für uns ist? Der Wunsch, das Verlangen kommt von ganz tief in uns, aber wir sperren es ein. Kannst du mir folgen?

Bis ich ihn kannte, fiel es mir schwer, auf mein Herz zu hören, und es ist sicherlich kein leichter Kampf, es zu tun. Wenn du es nie ausprobiert hast, dann versuche es jetzt.

Ich renne hierhin, weil ich es spüren will. Mein Herz, wie es schlägt und tonlos schreit, mir zeigt, wo es ist, dass es da ist. Bis zu diesem einen Moment damals, wusste ich nicht mal wirklich, dass mein Herz in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Ich hatte keine Ahnung, wie stark das Herz tatsächlich sein kann.

Mein Blick kreist um die hellen Punkte auf dem schwarzen Hintergrund. Es ist eine äußerst schöne Nacht. Eine Nacht wie damals? Sie musste verschleiert sein, denn meine Gedanken waren es.

Meine Nase so nah an seinem Hals, meine Gedanken so vernebelt, taub vor Angst. Ich schließe die Augen und suche die Stimme in mir, die mir sonst immer sagt, was ich tun soll, die mir erklärt, was richtig und falsch ist, die entscheidet, was ich will. Doch all das funktioniert dieses Mal nicht. Nicht in dieser einen Sommernacht. Mein Verstand, kontrolliert von dieser einen bösen Stimme, hat mein Leben zu lange in Beschlag genommen. Nicht in dieser einen lauwarmen Nacht, in der meine Ohren noch die liebliche Musik des Konzertes sangen.

Meine Augen geschlossen, meine Stirn an seiner Brust, meine Hände verkrampft in seinem Nacken. Der Kampf in mir bebt und niemand bemerkt etwas von außen.

»Was hast du getan!? Ich habe keine Kontrolle über uns«, stößt mein Verstand verzweifelt und verärgert aus. »Wir haben Angst! Wir haben Angst vor jeder seiner Berührungen. Wir haben Angst, was passieren wird, wenn wir nicht mehr nachdenken. Wir haben Angst, was er tun wird, wenn wir uns zu sehr fallen lassen. Was tust du also? Willst du uns in Gefahr bringen?«

Meine Hände krampfen. Sie sind der einzige Beweis für den inneren Krieg. Ich kaue auf der Lippe, ziehe Hautstreifen ab und lasse den Blick unbeherrscht durch die Leute streifen. Dann senke ich kurz wieder die Lider. Was soll ich nur tun? Was ist richtig? Welche Grenze habe ich? Was will ich?

»Wieso bist du hier?«, flüstert eine neue, warme Stimme in mir, die ich noch nie gehört habe, aber die mir so vertraut vorkommt, als wäre sie schon immer da gewesen. Irgendwo lautlos im Hintergrund.

Höre auf dein Herz, hatte er gesagt. Das wird dich leiten. Das wird dir sagen, was du tun musst. Ja, natürlich? Was sollte ich denn sonst tun?

»Nein, stopp. Du weißt doch nicht, was das für Konsequenzen haben kann!«

»Wieso bist du hier?«

»Denk nach! Denk nach!«, schreit es in mir. Ich spüre, wie der Ruf gegen meine Stirn hämmert, und ziehe sie kraus. Mein Herzschlag wird schneller, ich versuche nicht zu laut zu atmen. Was nun? Er soll es nicht merken. Ich lächele. Die Situation ist angespannt.

»Wieso bist du hier?«

»Du hast doch Angst!«

»Sag mir, wieso stehst du hier? In seinen Armen!«

Und da sind sie plötzlich. Seine vollen Lippen, direkt vor meinen Augen. Mein Herz rast. Mein Verstand kreischt. Die Stimmen, ein Wirrwarr aus lauten und leisen Tönen, die versuchen, meinen Körper zu kontrollieren. Meine Hände krampfen. Das schnelle Pumpen meines Herzens kann ich nicht ignorieren. Das Flüstern beginnt den Schrei zu übertönen.

»Du hast Angst! Mach es nicht. Du wirst nur Leid davon tragen! Er wird dich verletzen! Ich will das nicht wieder ertragen! Hör auf!«

»Wieso liegst du in seinen Armen?«

»Stopp!«

»Wieso starrst du seine geschwungenen Lippen an?«

»Wieso hörst du nicht auf mich?«

»Weil sie auf mich hört.«

Ich habe die Luft angehalten, während sich die Erinnerung vor meinem inneren Auge abspielte. Der Atem strömt durch den schmalen Spalt, den ich ihm mit meinen trockenen, kalten Lippen erlaube. Mein Herz rast. Es schlägt gegen meine weiße, taube Hand. Ich lächele. Da ist es. Kannst du es hören?

»Ja, das quälende Pochen, das von seiner Entscheidung übrig geblieben ist«, zischt mein leicht vernebelter Verstand und ich weiß, dass die Trance nachlässt. Mein Körper ist nicht mehr gelähmt von der Überanstrengung, die ich mit geschlossenen Augen in der nächtlichen Stille über mich ergehen lasse. »Das hast du jetzt. Das ist das, was ich dir sagte.«

Ich lächele. Es ist noch da und versucht seine lautlose Meinung zum Ausdruck zu bringen. Ich weiß, dass es anwesend ist. Ich muss nur lernen, es wieder zu hören.

Mein Atem normalisiert sich und der Schweiß auf meiner Stirn ist getrocknet. Die kurzen Haare haften an meiner eisigen, vielleicht sogar blauen Haut. Auch das Leben in mir schwindet mit jeder weiteren Sekunde. Meine Hand kann es nicht festhalten, aber ich weiß wieder, wie es klingt. Ich weiß, wo es ist.

»Es ist zu kalt. Geh nach Hause. Du wirst sterben! Realisiere das! Deine Zehen sind schon ganz taub, wie deine Finger. Du wirst sterben hier in dem mit Reif bedeckten Gras, wenn du jetzt nicht nach Hause gehst! Du willst doch nicht etwa sterben? Hallo? Hörst du mich?«

»Weißt du denn, wieso ich hier bin?« Die wispernden Worte kitzeln auf meinen ausgetrockneten Lippen.

 

Impressum

Texte: © Lara Grohmann
Bildmaterialien: http://davidkanigan.com/2014/06/10/screaming-into-the-silence/
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Leicht verbittert für denjenigen, der mich lehrte, auf mein Herz zu hören.

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