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Prolog

Es ist wie ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Oder eher gesagt wie ein Brennen. Es fühlt sich an, als würde ich mit meinen langen Fingernägeln feste über die Hautoberfläche kratzen und die oberste Schicht abreißen oder als würde ich mir hochkonzentrierte Säure über die Haut schütten. Das wunde Fleisch darunter glüht. Ja, es brennt. Es brennt schrecklich. Aber nur für wenige Sekunden. Dann ist es vorbei und ich starre auf die schwarzen, tief eingravierten Linien, als hätte ich mich soeben tätowiert – nur viel schlimmer, viel tiefer. Sie ähneln Narben. Sie sind Narben, nur dass sie eine Zeit brauchen, bis das Schwarz verblasst und nur noch diese geritzten Linien übrig bleiben.

Wenn ich mit meinen Fingern darüber fahre, dann spüre ich die Unebenheiten. Es ist, als hätte meine Haut Risse, die sich niemals wieder schließen würden. Ich habe diese Gravierungen am ganzen Körper. Es ist ein Netz aus Schnittwunden, nur dass sie niemand dort hinterlassen hat – jedenfalls nicht bewusst. Sie entstehen nicht mit scharfkantigen Gegenständen. Es braucht bloß eine zarte Berührung einer anderen Haut, und die Stelle, an der jene stattgefunden hat, brennt für zwei Sekunden wie Feuer. Ich habe mich an diesen aufflammenden, stechenden Schmerz gewöhnt. Ich spüre ihn fast täglich, wenn ich in der Stadt, oder in der Schule an Leuten vorbeigehe und sie ausversehen streife. Ich habe natürlich versucht, Abstand zu halten, aber immer ist das nicht möglich.

Das Blöde daran ist, dass mich deswegen alle als Freak bezeichnen. Ich bin das tätowierte Mädchen aus der Vorstadt – dabei sind es weder Tattoos (immerhin verschwinden sie immer wieder), noch wohne ich in einem dieser bedürftigen Viertel. Ich lebe mit meiner Mutter in einer großen Wohnung in der Innenstadt und sehe nicht aus wie ein Außenseiter. Außer dieser einen Sache eben.

Ich versuche meine Makel vor der Außenwelt zu schützen und kleide mich immer mit Kleidung, die so viel wie möglich von meiner Haut bedeckt. Meine langen, schwarzen, glatten Haare fallen mir stetig ins Gesicht und der Pony auf meiner Stirn ist extra ein wenig zu lang. Dieser ist vor genau einer Woche entstanden, als ich plötzlich ein riesiges Geflecht aus schwarzen Dornen über den Augenbrauen bemerkte. Dieses Mal hatte es richtig heftig gebrannt und ich war in dem Restaurant – wir hatten Familientreffen organisiert und ein mir unbekannter Onkel dritten Grades hatte mich auf die Stirn geküsst – auf die Damentoilette gerannt, um mein schmerzverzerrtes Gesicht zu verdecken.

Ja, man kann es nicht anders beschreiben. Es ist ein undurchschaubares Netz aus schwarzen, tief eingeschnittenen Linien. Sie verlaufen bis in meine breiten Augenbrauen und sogar auf meinen Augenlidern. Notgedrungen schnitt ich mir also mit der kleinen Nagelschere aus meiner Handtasche einen geraden Pony. Fransig und billig verdeckt er meine Stirn, aber ich habe keine Wahl gehabt. Ich muss mein Geheimnis hüten.

Einmal, kann ich mich zurückerinnern, wollte ich es meiner damaligen besten Grundschulfreundin erzählen. Ich werde diesen Moment nie vergessen. Ich hatte ihre Schulter gepackt und wollte gerade den Mund öffnen, als mein Handfläche anfing zu brennen. Ein ähnliches Netzgeflecht hatte dort geprangt, seit dem Moment an, wie ich sie kannte. Die schwarzen Narben leuchteten auf und ich hielt meinen Mund. Ich wich jeder weiteren Frage aus und sah die Gravur wieder verblassen. Es war gruselig, aber das war der erste Moment, an den ich mich erinnern kann, dass meine Haut mit mir kommunizierte.

Es ist, als würde sie mich warnen. Sie warnt mich nicht nur, sie kontrolliert mich.

Eins

Lachend blicke ich zu ihm empor und heiße seinen warmen Arm um meine Schultern mit einem nervösen Zucken Willkommen. Es ist sehr kalt draußen – wir sind mitten im Winter. Wie kann ich so unüberlegt gewesen sein und nur meine Jeansjacke anziehen? Ein stetiges Brennen zieht über meine Haut, aber es lässt mich nicht wärmer fühlen, sondern hinterlässt bloß einen weiteren Schauer über meinen Rücken. Genervt verdrehe ich meine Augen, allerdings so, dass es Evan nicht merkt. Meine Haut ist sauer auf mich.

Evan drückt mich an seine Brust und wir torkeln gemeinsam weiter durch die dunklen Straßen. Wir sind auf dem Heimweg von einer Party, die ein Mädchen unseres Colleges dort schmeißt. Sie wird 22 Jahre alt und will die Schnapszahl ausgiebig feiern, weshalb sie einfach ein Plakat im Hauptflur des Colleges ausgehangen und somit alle eingeladen hat.

»Wo wohnst du?«, erklingt die helle Stimme von Evan über mir und ich streichele über seine mit einem grauen College-Werbungs-Pulli bedeckte Brust. Evan ist groß, schlank und nicht wirklich muskulös. Er trägt eine große, schwarze Hornbrille auf der Nase und sein mausgraues Haar fällt ihm ständig in die Stirn. Er ist nicht der auffallende Typ, aber genau deswegen mag ich ihn. Ich kenne ihn aus einer meiner Vorlesungen, wir haben schon einige Male zusammen in einem Café gesessen und gelernt. Heute Morgen hat er mich dann aufgefordert, ihn zu dieser Party zu begleiten. Ich gehe nicht gerne unter Leute, da ich nicht wirklich gern gesehen bin. Ich bin ein Freak und zwar für alle, außer für Evan, wie es scheint.

»In der Nähe der U-Bahn-Station, an der wir uns das letzte Mal verabschiedet haben«, erwidere ich geheimnisvoll und hebe die Augenbrauen. Evan grinst und sieht mich von oben herab an. Er bleibt plötzlich an der Kreuzung stehen und legt auch den zweiten Arm um mich.

»Wieso so rätselhaft, Lissy?«

»Nenn – Nenn mich nicht Lissy, bitte«, sage ich bissig und versuche seinen Griff ein wenig zu lockern, doch ich schaffe es nicht. Ich hasse es, wenn man mich Lissy nennt. Ich kann Spitznamen nicht leiden. Ich will einfach nur Lissa Gray sein. Kein Freak, keine Lissy, kein Schätzchen, wie Mum mich immer nennt.

Evan lächelt nur und seine Hände fangen an, auf meinem Rücken verwirrende Kreise zu ziehen. Wir sind betrunken. Ich habe Mühe, ihm weiter in die Augen zu blicken. Er ist sichtlich mehr betrunken. Normalerweise traut er sich nicht mal, mich zur Begrüßung zu umarmen – worüber ich eigentlich sehr froh bin –  und jetzt drückt er mich an seinen Körper in aller Öffentlichkeit – wobei von dieser Öffentlichkeit niemand da ist. Die Kreuzung ist vollkommen leer gefegt, was eigentlich etwas seltsam ist in einer Großstadt. Kein Passant, kein Auto weit und breit.

»Evan«, flüstere ich und lege eine Hand auf seine schmale Schulter. Ich studiere sein Gesicht bis ins kleinste Detail. Es zeigt nicht die leisesten Anzeichen von Bartstoppeln. Hat Evan schon einen Bart? Ich wäre nicht erstaunt, wenn nicht. Er wirkt eher wie der liebe Junge von nebenan, als wie der Mann in Person. »Nicht. Du bist betrunken.«

»Ja und? Genau das ist es ja. Und ich bin dem Martini so dankbar. Er lässt mich mutig sein, lässt mich männlich sein.« Sein Lächeln verschwindet, es weicht einem Grinsen, das mir sogar leicht Angst einjagt. Ich will nicht von ihm geküsst werden. Ich hasse es geküsst zu werden. Ich hasse jeglichen Körperkontakt. Hasse die Haut anderer.

Aber Evan übergeht meinen ängstlichen Ausdruck und fährt mit seiner einen Hand über meinen Nacken zu meiner Wange nach vorne. Er entfernt ganz langsam die Haare von meiner Wange. Nein!

In Panik versetzt versuche ich mich wieder zu wehren. Gleich, gleich wird er sie berühren und ich werde wissen, was er von mir will. Ich will nichts von ihm erfahren. Ich will nicht, dass meine Haut etwas über ihn weiß oder mir sagt, was er denkt.

»Evan! Hör auf!«, sage ich und meine Stimme gleicht einem hysterischen Schrei, doch er hört nicht auf. Meine langen Haare liegen nun sorgfältig auf meinem Rücken und seine Hand kommt immer näher. Meine stemmen sich gegen seine plötzlich zu harte Brust und versuchen ihn von mir wegzudrücken, aber ich schaffe es nicht. Er darf mich nicht berühren. Nicht im Gesicht, bitte nicht!

»Evan!«, schreie ich auf, als er es tut und seine Finger sich in meine Schläfe und in die Stelle unter meinem Ohr drücken. Meine Gesichtsmuskeln spannen sich vor Schmerzen an. Schmerzen. Extreme Schmerzen, das heißt nichts Gutes. Das Einzige, woran ich denke, bevor seine weichen Lippen auf meine treffen, ist, dass der Schmerz jedoch den an meiner Stirn von vor zwei Wochen bei Weitem nicht übersteigt. Was ich da fühlte war über alle Maßen. Meinen Schrei erstickt er mit seiner Zunge, die sich gewaltmäßig in meinen Mund zwängt. Ich reiße meine Augen auf und sehe, dass er seine geschlossen hat. Es ist, als hätte ich etwas Scharfes gegessen. Etwas sehr, sehr Scharfes. Genauso habe ich mir Küssen immer vorgestellt: Grauenvoll. Ich weiß, dass es nur für mich grauenvoll ist und dass ich wohl auch überhaupt die Einzige auf der ganzen, lieben Welt bin, die dies so empfindet.

Meine Finger fangen an, an seinem Hals zu kratzen und ich ignoriere das Brennen unter den Nägeln, ich muss ihn wegbekommen. Das Brennen hört nicht auf und mir treten Tränen in die Augen.

Und dann kommt meine Rettung. Endlich. Jedoch verläuft sie nicht ganz so, wie ich sie erwartet habe. Etwas Hartes stößt gegen meine Hüfte und ich werde aus Evans Armen gerissen. Ich höre mich von ganz weit weg selber schreien. Meine Augen sehen bloß noch ein Wirrwarr aus hellen und dunklen Blautönen, bevor mich ein Schmerz durchfährt, der die Grenze vollkommen überschreitet. Mein Schrei erstickt und ich spüre, wie mir die Luft aus dem Mund entweicht. Mein Rücken schmerzt, mein Kopf pocht unerträglich, aber ich verliere nicht das Bewusstsein – leider.

Ich stöhne und sehe in den schwarzblauen Himmel über mir. Ich kann mich nicht rühren und der stechende Schmerz in meinem gesamten Körper nimmt mir jegliches Denkvermögen. Der einzige Gedanke, der sich durch die  Taubheit schleicht, lautet, dass auch dieser Schmerz in keinster Weise an das rankommt, was dieser seltsame Kuss auf meiner Stirn ausgelöst hat. Wer zum Teufel ist dieser Onkel? Ich kenne nicht mal seinen Namen.

In meinen Ohren bloß ein alles übertönendes Rauschen meines Blutes. Meine Sicht verschwimmt von meinen Tränen, die sich in Massen in meinen Augen bilden. Der Schmerz in meinem Rücken erschwert es mir zu atmen. Röchelnd ziehe ich die eiskalte Luft ein. Was war das gewesen? Wurde ich etwa angefahren? Aber haben wir nicht auf dem Bürgersteig gestanden? Und wo ist Evan?

Fragen über Fragen, die sich durch meinen, wie es sich anfühlte, mit dichtem Rauch gefüllten Kopf winden. Die Tränen laufen meine Schläfen hinunter und in mein Haar. Meine gezeichnete Stirn liegt vollkommen frei und für jeden sichtbar! Oh, nein! Hoffentlich sieht Evan sie nicht. Aber wo ist er denn, verdammt nochmal? Will er mir denn nicht helfen?

Meine Lider fangen an zu zittern und ich spüre, wie mich der drückende Schmerz, der all meine Sinne vollkommen einnimmt, in ein schwarzes Loch ziehen will. In eine Bewusstlosigkeit, wo ich diese Schmerzen nicht mehr ertragen muss, aber will ich das? Was passiert, wenn ich wegtrete?

Da erscheint plötzlich eine Gestalt über mir. Ich glaube es ist ein Mann, aber ich bin mir nicht sicher – es ist definitiv nicht Evan. Die Gestalt hat dunkle Haare, die für einen Mann ziemlich lang zu sein scheinen. Er trägt einen langen Mantel und beugt sich über mich. Sein Gesicht ist ganz nah an meinem. Eine Hand mit vielen Ringen, die in den grellweißen Scheinwerfern des wohl in der Nähe stehenden Autos glitzern, nähert sich meiner Wange.

Meine Sinne kehren langsam zurück und ich spüre den harten Asphalt unter meinem Körper, fühle die Kälte, die mich umgibt, höre den laufenden Motor des Autos und rieche mein Blut und das Parfüm dieses Unbekannten.

Seine Hand findet schließlich ohne, dass ich etwas dagegen unternehmen kann, meine Wange. Sie glüht auf. Aber mein Kopf kann keinen weiteren Schmerz mehr aufnehmen. Ich weiß nicht, auf welcher Zahl ich das Zischen auf meiner Wange auf meiner Schmerzensskala eintragen soll. Es tut jedenfalls weh, so viel kann ich sagen.

»Lissa«, flüstert der Mann und lächelt leicht. Ich kann seine weißen Zähne erkennen. Seine Augen sind durch die Schatten, die in seinem Gesicht das Meiste verdecken, zu schwarzen Höhlen mutiert. Ich kann nicht sagen, mit welchem Gefühl er mich anblickt. Wo ist Evan? »Du bist so hübsch, wie mir immer gesagt wurde. Kein Wunder, das liegt wohl an ihm.«

Was? Ich runzele meine Stirn und versuche meine Gedanken zu strukturieren, doch der Schmerz in meinem gesamten Körper lässt dies nicht zu. Wer ist dieser Typ? Und was redet er da?

»Du hast Schmerzen, oder?« Die Tränen laufen wieder verstärkter und er nickt, als hätte ich ihm eine Antwort gegeben. Sein Grinsen ist verschwunden. Was will er von mir? Was soll das Ganze hier? Wo ist Evan? »Lissa, hör mir jetzt gut zu. Du bist nicht die, für die du dich hältst. Für die alle dich halten. Du bist nicht der Freak vom College«, zischt der Mann und lacht kurz auf. Woher weiß er das alles? Panik steigt in mir auf, aber ich kann mich nicht von ihm wegbegeben. »Du bist etwas viel Größeres, etwas Mächtiges. Du und dein Körper, ihr seid zusammen eine unbesiegbare Macht. Er leistet schon dein ganzes Leben, ohne dass du es wusstest, seinen Part. Er beschützt dich, jetzt musst du deine eigene Aufgabe erfüllen.« Was für einen Schwachsinn redet er da? Meine Augen überdrehen sich und alles um mich herum schwankt. Ich spüre meine Glieder wieder und versuche unbemerkt von diesem seltsamen Menschen wegzukriechen, doch er merkt es natürlich und drückt auf meine Brust, sodass ich die steinige Straße unter mir noch stärker wahrnehme. Ich nehme erschrocken Luft. »Lissa, hör auf mit dem Scheiß und hör mir zu«, knurrt die Gestalt plötzlich und die Panik in mir steigert sich im Wettkampf mit den Schmerzen, welche jetzt wieder aufblühen, aufgrund seiner Hand. Zum Glück trage ich einen Rollkragenpulli und seine Finger berühren nicht meine Haut. Meine linke Wange glüht noch immer und ich beiße meine Zähne aufeinander, um dem heißen, stechenden Schmerz standhalten zu können. »Die Schmerzen sind gleich vorbei. Ich habe dich angefahren, damit du merkst, was dein Körper alles kann. Er ist schon dabei, dir zu helfen, deshalb musst du dich auch ganz stark konzentrieren, dass du mir folgen kannst. Also streng dich an.« Seine beiden Hände finden wieder mein Gesicht und drehen meinen Kopf ein wenig, was mir starke Schmerzen durch die Wirbelsäule jagt. Ein heller Schrei entfährt endlich meinen Lippen. »In einer Minute sind diese Höllenschmerzen weg, dann ist dein Körper vollkommen kuriert. Und dann – Lissa, hör mir zu – rennst du weg, hast du mich verstanden? Niemand darf dich finden. Diesen Evan habe ich zu einem Krankenhaus geschickt. Du darfst nicht mehr hier sein, wenn er zurück kommt. Lauf, lauf weit weg. Er wird schon wissen, wohin du musst. Ihr seid ein kostbares Team, verstanden? Lass dich nicht schnappen, Kleine.« Das Letzte sagt er mit einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen. Dann lässt er mich einfach alleine und ich höre wie der Wagen mit quietschenden Reifen an mir vorbei fährt.

Jetzt bin ich heilfroh, dass niemand auf den Straßen hier unterwegs ist. Ich schließe meine Augen und lasse den nie enden wollenden Tränen freien Lauf. Was war das? Wer war das? Ich habe keine Ahnung. Das Einzige, was mir plötzlich klar wird, ist, dass der Schmerz zusammen mit meinen Tränen von einer Sekunde auf die andere einfach versiegt.

Verwirrt und verängstigt setze ich mich auf und richte aus Gewohnheit als erstes meinen Pony. Es ist weit und breit niemand zu sehen. Ich liege ganz alleine in mitten dieser riesigen Kreuzung.

Dann brechen die Gedanken, die der Schmerz zuvor zurückgehalten hat, auf mich ein. Evan hat mich geküsst, er hat mich berührt. Ich werde, sobald ich in einen Spiegel blicke, wissen, was er von mir will, was er denkt, was passieren wird. Jedenfalls denke ich, dass es das ist, was meine Haut mir damit sagen will. Mit diesen kuriosen Bildern.

Danach wurde ich aus dieser Umarmung befreit und in hohem Bogen, wie es schien, in die Mitte der Kreuzung geschleudert. Dieser Mann, der diesen unverständlichen Mist erzählte!

Wo ist Evan? Hechelnd, als wäre ich Kilometer gerannt, kam ich auf die Beine und drehte mich einmal um meine eigene Achse. Immer noch niemand zu sehen. Wo ist er hin? Angst steigt in mir auf. Dieser Typ hat gemeint, er habe ihn zu einem Krankenhaus gebracht und ich solle ihm auf keinen Fall jemals wieder begegnen. Kopfschüttelnd tue ich diese Worte ab. Ich kenne den Mann doch gar nicht!

Ich gehe zurück zu der Bushaltestelle, an der Evan mich gegen meinen Willen geküsst hat und sehe mir den Tatort von dieser Seite an. Ich bin mir sicher, dass ich die Reifen des Autos quietschen hörte, aber nirgends sind schwarze Streifen zu erkennen. Nirgends finde ich Blutstropfen. Das kann nicht sein! Und wo zum Teufel ist Evan?!

Ich blicke die Straße hinunter. Hinter den großen Tannen ist das nächste Krankenhaus. Er braucht, wenn er schnell läuft, vielleicht zwanzig Minuten. Wie lange hat der Unbekannte mit mir geredet? Stopp, so unbekannt kann er gar nicht sein. Er kannte meinen Vornamen! Meine Finger zittern und ich verschränke sie, um dem Panikgefühl Einhalt zu gebieten. Ganz ruhig, das war bestimmt nur eine Wahnvorstellung, die ich unter den Schmerzen, die ich soeben erlitten habe, fantasiert habe.

Aber die Worte des Mannes stimmen. Ich hatte das Gefühl, kurz vorm Sterben zu sein, und jetzt? Jetzt stehe ich hier, als wäre nichts passiert! Meine Kleidung ist staubig, aber mehr nicht. Ich kann ohne Bedenken laufen, obwohl meine Wirbelsäule gerade erst einen heftigen Schlag abbekommen hat.

Du und dein Körper, ihr seid zusammen eine unbesiegbare Macht. Er leistet schon dein ganzes Leben, ohne dass du es wusstest, seinen Part. Er beschützt dich, jetzt musst du deine eigene Aufgabe erfüllen.

Was soll das heißen, mein Körper und ich? Meine Haut … die Zeichen, kommt es mir in den Sinn. Ja, sie kommuniziert mit mir und ich weiß, dass das alles andere als normal ist. Darf ich den Worten eines mir völlig unbekannten Menschen Glauben schenken?

Ich werde aus meinen Grübeleien gerissen, als ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille unterbricht. Es ist eine Sirene.

Wie Strom durchfährt mich der Schock. Ich stolpere einige Schritte zurück. Das muss Evan sein. Der Mann hatte Recht. Die Sirene ist sehr nah und der Krankenwagen wird jeden Moment bei mir ankommen. Was soll ich tun?

Ich fange an zu wimmern und spüre mein Herz, das mir heftig gegen die Brust hämmert. Mein mysteriöser Bekannter hat mir befohlen wegzurennen. Ich fasse mir an den Kopf. Aber wohin? Er wisse schon wohin. Aber wer ist denn er?

»Mist, Mist, Mist«, zische ich und merke, wie ich tatsächlich anfange, einige Schritte rückwärts zu machen. Ich entferne mich von der Richtung, aus der der gut zu hörende Krankenwagen kommen wird.

Du darfst nicht mehr hier sein, wenn er zurück kommt. Lauf, lauf weit weg.

Ich sehe die Blaulichter durch das dichte Geäst der Tannen. Sie sind gleich hier. Ich sehe zurück zu der Stelle, an der ich liegen sollte. Verletzt, dem Tod nahe. Und dann kommt mir eine Frage in den Sinn: Wieso hat Evan nicht sein Handy benutzt? Hat er denn keins? Soll ich ihn einfach fragen?

Ich starre auf den Boden, in der Mitte der Kreuzung. Das ist der springende Punkt: Ich sollte da liegen, aber ich tue es nicht. Ich bin nicht mal annähernd verletzt.

Und dann drehe ich mich schließlich um und renne los. Renne wie um mein Leben vor der plötzlich bedrohlich wirkenden Melodie des Krankenwagens davon.

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Tag der Veröffentlichung: 24.05.2014

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