Es ist kalt. Und ja, ich friere. Und ja, ich hätte mir besser eine Jacke anziehen sollen. Und ja, du hattest Recht. Wie immer, eigentlich.
Das Laub raschelt unter meinen Schritten und es gibt mir ein besänftigendes Gefühl. Das gleichmäßige Rascheln, wenn ich den nächsten Schritt mit meinem Bein aushole, lässt mich die Kälte ein wenig in den Hintergrund schieben. Die Herbstluft ist frisch und es liegt dieser gewisse Herbstduft drin, der mich in jeder Jahreszeit so fasziniert. Am liebsten habe ich aber immer noch die Sommerluft. Sie ist so warm und besonders. Es liegt immer so eine Süße darin, dass mir ganz warm ums Herz wird. Wenn ich diese Luft einatme, kommen mir immer viele Erinnerungen in den Kopf. Ich liebe das.
Es ist windig. Ich ziehe die Ärmel von meiner Strickjacke runter, sodass ich den Saum mit meinen Fingern festhalten kann. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um die Kälte nicht durch den offenen Kragen meiner Weste gelangen zu lassen. Meine langen, welligen, braunen Haare wehen um meinen Kopf und peitschen mir mit jedem neuen Windstoß wieder in das ohne hin schon rissige Gesicht. Meine Haut ist ganz trocken und spröde. Wie lange gehe ich nun schon hier?
Meine Augen sind fahl und fühlen sich misshandelt an. Ich habe sie misshandelt. Stundenlang habe ich an der Eiche gelehnt und geweint. Und nicht bemerkt, wie es Abend wurde, wie die Kälte eingetroffen war. Nicht die Folge dieses Vorgehens bedacht.
Ich kann den Steinweg nicht mehr finden, aber im Moment macht mir das noch keine Panik. Ich war kein Mensch, der schnell Panik bekam. Nein, meine Mutter, die ist ständig panisch. Vor allem und jedem hat sie Angst. Wahrscheinlich denkt sie nun schon, ich sei tot.
Mein Vater hingegen, dem ist alles egal, was ich tue - wenn er es überhaupt mitbekommt. Er ist nicht oft zu Hause. Er interessiert sich nur für seine Arbeit und seine hübsche Sekretärin, wie ich glaube - das habe ich meiner Mutter natürlich keines Weges erzählt. Ich will nicht, dass meine Eltern sich deswegen trennen. Das wäre zu viel Stress und Aufwand, auch für mich.
Ich hatte es schon immer gerne ruhig und entspannt gehabt. Jedenfalls früher, als ich Hayden noch nicht gekannt hatte.
Hayden. Der Name gibt mir einen Stich. Er hat meine Augen misshandelt. Wegen ihm sind sie jetzt vermutlich blind vor Wut und Trauer. Blind war ich auch schon davor gewesen. Blind vor der Auswirkung dieser Bekanntschaft. Blind vor der Liebe.
Ich bin erst dreizehn. Da hat man doch noch keine Ahnung von Liebe und Freundschaft. Vor allem nicht, wenn man aus einem Viertel wie dem meinen kommt. Nein, da gibt es keine Freundschaften oder gar Liebe. Dort gibt es nur Stress und Hass und Arbeit.
Der Weg ist immer noch nicht da, obwohl ich mir sicher bin, dass ich aus dieser Richtung in den Wald gekommen bin. Aber okay, solange ich nicht erfriere, ist es mir eigentlich egal, wann ich den Ausweg wieder finde. Ich muss und will nicht zur rechten Zeit nach Hause kommen. Meine Mutter ist nun bestimmt voller Panik, und darauf kann ich gut verzichten und mein Vater weiß sicherlich gar nicht, dass ich umso später Zeit noch im Wald herum streife.
Es ist das Baumhaus, was mich seit den geschätzten zwei Stunden Heimweg, zum ersten Mal wieder stehen bleiben lässt. Es ist gewaltig und man könnte es als winziges Einfamilienhaus bezeichnen, wenn es nicht in den Bäumen hängen würde. Ringsherum sind nur Bäume, Wiesen und Gestrüpp. Vielleicht gibt es den Besitzer nicht mehr? Vielleicht kennt niemand dieses prachtvolle Kunstwerk?
Ich gehe weiter. Jedoch nicht in die Richtung, in die ich die Zeit davor gegangen war, sondern auf das Baumhaus zu. Ein robustes Seil hängt an einem Baumstamm - es ist oben mit einem Nagel und Klebeband festgemacht. Wieso sollte ich nicht hochsteigen und mir das Haus mal näher ansehen? Wenn ich den Weg nach Hause schon nicht finde, dann könnte ich, wenn ich hier alleine bin, doch auch hier bleiben.
Es ist nicht leicht hochzuklettern, aber irgendwann habe ich es doch geschafft. Ich bin oben. Ich sehe mich um.
Die Tür steht offen und ich bin mir schon sicher, dass ich alleine bin, als ich das Holz unter mir knarren höre. Nein, es ist nicht unter mir. Es ist weiter weg. Ich drehe mich schnell um und stürze fast die zehn Meter in die Tiefe, die das Baumhaus hoch gebaut ist. Niemand zu sehen.
Ich versuche mein Herz zu ignorieren, das nun heftig vor Nervosität pumpt und betrete den leicht gewärmten Raum. Es ist gemütlich hier. Ein großes Bett steht mitten in dem Raum - sehr praktisch für mich - und ein kleiner Tisch. Ein Fenster gibt es nicht, was vielleicht auch gut war, wenn es regnete oder stürmte.
Wieder das Knarren.
Diesmal jedoch bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht von mir gewesen sein kann, da ich mich überhaupt nicht bewegt habe. Ich drehe mich abermals um und entdecke niemanden.
»Hast du dich verlaufen?«
Ich beiße meine Zähne zusammen. Woher kommt die Stimme?
»Hab keine Angst ... hier ... sind schon viele Mädchen gestrandet«, sagt die Stimme weiter und es hört sich an, als würde sie dabei stöhnen. Ich sehe zu dem Seil, mit dem ich hierauf gelangt bin. Der Boden dort ächzt und knarrt. Jemand hängt am Seil und zieht sich hoch. Er hat mich noch nicht gesehen.
Obwohl ich den Jemand noch nicht sehe, weiß ich direkt, dass er nichts Gutes von mir will. Ich blicke mich panisch um. Panik. Du wirst nie panisch, denke ich. Du hast nie Panik. Nie.
Das Holz knarrt weiter und ich stolpere ein paar Schritte zurück, als plötzlich eine große Männerhand den Rand umfasst.
Du musst hier weg, denke ich, bevor der Mann dich gesehen hat. Ich will schon den kleinen Gang weiter gehen, der auf der anderen Seite von dem Seil, wie das Haus, ist, doch da kommt die zweite Hand und ein schwarze Schopf erscheint über der Kante. Ein verschmitztes Grinsen hängt in dem Gesicht. Es ist dunkel, sehr dunkel, weshalb ich sein Gesicht nicht recht erkennen kann.
»Willst du schon gehen?«
»Ich muss nach Hause, ja. Wenn ich bitte vorbei dürfte?«
Ich bin überrascht über die Kühle in meiner Stimme. Ich erinnere mich an eine Klassenkameradin. So redet sie auch mit unserem Lehrer - sie kann ihn nicht leiden.
Der Mann steht nun fest auf dem Holzboden und sieht mich an.
»Willst du schon gehen?«, sagt er wieder.
»Ja, ich möchte gehen«, antworte ich und setze mich auf den Rand, um an dem Seil hinunterzuklettern. Als ich jedoch hinunter blicke schwimmt plötzlich der Boden. Habe ich etwa Höhenangst? Ich hatte noch nie Probleme im Schwimmbad von einem Sprungbrett zu springen. Und jetzt?
»Wieso gehst du dann nicht?« Die Stimme scheint nun näher zu sein. Ich drehe den Kopf nach hinten und bemerke, dass der Mann direkt hinter mir hockt. Sein Gesicht ist ganz nah an meinem und ich rieche Alkohol.
Okay, vorbei mit dem Scheiß hier. Jetzt nichts wie weg hier!
»Ich gehe schon, machen Sie sich da mal keine Gedanken. Ich bin schon weg.«
Der Mann legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich will nicht, dass du gehst. Weißt du, die anderen Mädchen, die sich hier schon verirrt hatten, wollten bleiben. Nicht so wie du. Ich hab ein warmes Bett. Da kannst du bleiben, bis du morgen nach Hause gehen willst.«
Mein Blut gefriert. Die anderen Mädchen? Wer war dieser Mann?!
»Nein, danke, ich bin nicht müde und ich habe es auch nicht mehr weit.«
»Wenn du nicht müde bist, dann kannst du mir auch noch ein wenig Gesellschaft leisten, oder?«
Die Hand auf meiner Schulter wird nun immer fester und drängt mich dazu, mich zu ihm umzudrehen. Sein Arm schnellt an meinem Gesicht vorbei und kurz darauf liegt auch seine zweite Pranke auf meiner Schulter. »Ich kenne da so ein nettes Spielchen ...«
Ich kann ihm nicht mehr antworten, weil er mich von dem Rand weg zieht und mich mit dem Rücken auf den Boden drückt. Die plötzliche Übelkeit steigert sich, bis sie in meinem Rachen angekommen ist. Ich muss mich beherrschen nicht zu kotzen. Das Grinsen den Mannes ist widerlich und als sein Oberkörper immer näher kommt, verspüre ich wie einen Elektroschock und das nächste was ich sehe, ist, wie ein schreiender Mann zehn Meter in die Tiefe fällt. Ich lehne an der Wand von dem kleinen Schlafzimmer und starre die Silhouette auf dem Boden an. Ich muss ihn von mir und den Abgrund hinunter gestoßen haben. Das Ganze war so schnell gegangen, dass ich es nicht richtig wahrgenommen hatte.
Er bewegt sich nicht.
Als sich mein Atem beruhigt hat, klettere ich so schnell ich kann das Seil runter und in diesem Moment vergesse ich sogar, dass mir die Höhe eben solche Angst gemacht hatte.
Ich weiß, dass der Mann mich misshandeln wollte. Ich weiß, dass er mich vielleicht sogar töten wollte und trotzdem gehe ich auf den Mann zu und schaue, ob er noch lebt. Die Frage ist schnell geklärt, als er den Kopf leicht anhebt und mich anblickt. An seiner Schläfe ist ein Rinnsal Blut. Er stöhnt und versucht aufzustehen. Ich stolpere schnell zwei Schritte zurück, bis ich mich dafür entscheide loszurennen. Ich höre nicht mal mehr sein Schmerzensstöhnen - es wird durch das Laubgeraschel völlig verstummt.
Der Wind peitscht mir wieder einmal die Haare ins Gesicht und ich habe das Gefühl, als würde man mir mit einem Messer in die Lunge und in die Haut stechen. Meine Finger werden starr und mein Mund steht leicht offen. Ich höre mich hecheln und spüre den Schmerz in den Lippen, die vor Kälte nun aufplatzen. Mein Hals schreit, da ich nicht, wie meine Mutter mir eingeschärft hatte, als ich klein gewesen war, durch die Nase zu atmen. Die eisige Luft gelangt immer und immer wieder in meinen schmerzenden Hals.
Ich will hier weg. Bloß hier weg.
Ich hoffe, dass der Mann nicht die Kraft hat mir nachzurennen. Ich hoffe, dass ich bald nach Hause kann, dass ich bald -
»Es tut mir leid, Mrs Jill. Aber das Krankenhaus konnte nichts mehr für sie tun. Ihr Herz war schon im Stillstand, als man sie am Morgen fand.«
»Und was ist mit dem Mann?«, schluchzte die Frau und der Mann verfestigte seinen Arm um ihre Schulter.
»Er liegt im Koma. Er war zunächst mal wärmer angezogen, als ihre Tochter und er war an dem Morgen noch nicht so unterkühlt. Wir denken, er kommt durch. Also, die Ärzte sagen fast hundertprozentig. Nicht so bei ihrer Tochter…«
»Das heißt ... sie ist -«
»Ja, Sir. Ihre Tochter ist tot. Sie ist auf einen Stein gefallen, weshalb sie ihr Bewusstsein verloren hatte und ... erfroren ist. Es tut mir sehr leid.«
»Wissen Sie - Wissen Sie schon, ob Jana mit dem Mann in Verbindung gestanden hatte?«, fragte der Vater.
»Nein, aber wir vermuten es.«
»Danke, Sir. Wir schätzen ihre Mühe.«
Der Kommissar erhob sich von dem Sessel und verließ das Haus.
Texte: Lara Grohmann
Bildmaterialien: Lara Grohmann
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Grillen.
Für Toni, für dessen Wettbewerb ich die Geschichte schrieb.