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Prolog

 

Es war in der Nacht. In der Nacht zum sechsten Dezember. Die Welt lag in eisiger Ruhe, der Schnee ließ sie glitzern und der Mond schien hell und groß am Himmel. Niemand merkte die zwei Gestalten in der dunklen Gasse. Nicht einmal der alte Bettler, der an die verschimmelte Hauswand gelehnt seinen Schlaf hielt. Wäre jemand an den beiden vorbeigekommen, er hätte wohl geglaubt zu träumen.
Sie waren in die Enge gedrängt und unterhielten sich gedämpft im Dunkeln. Ihre Gesichter trafen sich fast an der Nasenspitze. Ihre schlaffe, schwarze Haut erzitterte leicht, als ein kalter Wind durch die Gasse streifte. Sie waren die Kälte nicht gewöhnt. Dort, wo sie her kamen, war es heiß. Und zwar durchgehend.
Ihre langen Flügel berührten den Boden, lagen im dreckigen Schnee der dunklen Straße. Der ältere von beiden sah miesgelaunt die Gasse runter. Sie waren nicht weit von der Innenstadt entfernt, wenn man ganz genau hinhörte, konnte man das Autohupen hören. Die Stadt war immer überfüllt. Ständig neue Menschen. Ständig Touristen. Aber für einen längeren Besuch in der New Yorker Innenstadt hatten die Gestalten keine Zeit. Sie warteten auf jemanden. Auf den Dritten. Auf den, der sie hier hin berufen hatte. Für ihn gab es keinen besseren Ort mehr.
Der jüngere drückte seine langen, schmalen Füße mit den knochigen Zehen – er trug keine Schuhe – in den flockigen Schnee. Er hinterließ eine Einbuchtung, die seinem Fuß entsprach und wäre ein Mensch in der Nähe, er würde denken, die Spur gehöre zu einem Bär.
Langsam wurden die beiden ungeduldig. Der Dritte verspätete sich. Auch wenn er es durfte, der Dritte durfte alles, sie waren allmählich wütend. Aber sie würden nicht verschwinden. Dafür lag zu viel in den Worten des Erwarteten.
Der junge schnaubte. Aus seinen Nasenlöchern kam ein sich kringelnder Nebel. Der andere lachte tief und wollte den immer höher fliegenden Nebel mit der Hand umfassen, aber er konnte ihn nicht ergreifen.
»Das ist Luft«, knurrte der jüngere in einer für einen Menschen unverständliche Sprache. Er schlug die Hand des anderen runter und wand sich zu dem aufgewühlten Schneesturm etwas weiter die Straße runter. Der Dritte war angekommen. Sobald er zu sehen war, kam er schnellen Schrittes auf die zwei Wartenden zu. Seine Flügel zogen eine lange Spur hinter ihm und die Schneekristalle blieben in den versengten, schwarzen Federn hängen. Die spitzen Finger des Ankömmlings packten die anderen beiden an den knochigen Schultern und er zerrte sie weiter in die Dunkelheit.
Die flatternden Flügel der drei Gestalten sahen von weitem aus, wie wehende Umhänge, die sie über ihre skelettartigen Körper geworfen haben. Als sie in einer Sackgasse landeten, blieb der Neue stehen und drehte sich langsam zu den anderen beiden herum. Sein nur mit zarter, schwarzer Haut überzogenes Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck.
»Vater«, flüsterte der jüngste.
»Herr, ich danke Euch für diese Verkörperung. Ich kann Dinge spüren … berühren. Ihr habt nicht die geringste Ahnung, wie viel mir das-«
»Schweig«, zischte der Herr. Der Mond schien auf die drei hinab und warf tiefe Schatten in des Neuen Gesichts. Seine langen Finger umfassten das abgemagerte Kinn des jüngsten. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. »Wie der Vater.«
»Ja«, hauchte der Sohn und sah ehrfürchtig zu seinem mächtigen Vater auf. Er war stolz sein Sohn zu sein und nun waren schon wieder siebzehn Jahre vergangen. Siebzehn auf der Erde, 170 in der Hölle. So lange hatte er seinen Vater nicht gesehen, ist bei seiner Engelsmutter geblieben. »Mutter hat Hoffnung.«
»Die hat sie jedes Mal«, sagte der Vater und zwinkerte. Es war eine merkwürdige Situation. Ein Mensch könnte nie verstehen, dass diese Gestalten Gefühle hatten oder gar den Reiz hatten zu lachen. Der Vater ließ das Kinn los und blickte hochnäsig auf den dritten herab. Er war nicht in der selben Stellung, wie Vater und Sohn. Der Vater sah die Seele lange an, sodass der Dritte sich unwohl zu fühlen begann. Doch dann lachte der Vater ironisch. »Keine falsche Scheu, Cornald. Wo ist dein Mut?«
Der Dritte senkte beschämt den Kopf, entschied sich dann aber anders, hob den schwarzen Schädel und richtete die dunklen Augen auf seinen Herrn. »Er ist nicht verschwunden. Hundert und siebzig Jahre, mein Herr, habe ich auf diesen Moment gewartet. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie stolz ich bin, dass Ihr mich habt ausgewählt«, in der aufkommenden Aufregung vergas der Sprechende zu flüstern. »Als Euer Sohn mir den Befehl gab, ihn zu begleiten, wenn es wieder so weit sein würde, ich spürte wieder die Luft in meiner Lunge.«
»Leise«, knurrte der Mächtige. »Ich wusste, dass ich mit dir richtig liege, Cornald. Sag, wie lange bist du schon tot?«
»Heute auf den Tag genau 3980 Jahre, mein Herr.«
»1615 … interessantes Jahr.«
»Todestag und Geburtstag ist gleich-«
»Dann feierst du heute gemeinsam mit der kleinen Ally Geburtstag.«
Der Sohn lachte. »Aber nun, Vater, es ist so schön dich wieder zu sehen.«
Der Herr nickte, seine Nasenflügel blähten sich auf, er befeuchtete seine Lippen, drehte sich zum Mond, sodass sein kantiges Gesicht von hellem Licht erleuchtet wurde. Seine Stimme war rau und leise, sodass die beiden nur Mühe hatten ihn zu verstehen. »Heute wird das Mädchen Siebzehn. Ich kann die Magie ihres Herzens bis hier hin spüren. Ich kann das Licht des Sternes, das von ihr ausstrahlt sehen. Ich kann meine Unsterblichkeit erfassen.« Er machte eine kurze Pause, in der die anderen versuchten die Hoffnung, die in des Sprechers Worte lag, zu erfühlen. »Ich schmecke das Blut, das vor siebzehn Jahren vergossen worden ist, dass an meinen Händen geklebt hat. Ich sehe die sterbenden Augen des Jungen. Wie er mich anfleht, wie er die schutzlose Zara versucht zu retten.« Ein leises Auflachen. »Es ist jedes Mal das Selbe. Und schon wieder sind siebzehn Jahre vergangen. Und schon wieder fängt das Märchen von vorne an.« Nun lag Wut in dem Zischen. »Und wieder einmal blickt er von seinen Wolken hinunter und lacht mit seinen Engeln über mich.«
Der Junge versuchte ihn zu beschwichtigen. »Vater, diesmal wird es dir gelingen. Deine Strategie mit Cornald wird funktionieren! Nur du bist der wahre Herrscher über die Erde.«
Die Gestalt nickte zustimmend und drehte sich herum. »Dieses Mal wird es gelingen, du hast Recht, Sohn. Ich werde mir meinen Respekt zurück holen.«
Mit den letzten Worten grinste er den betrunkenen Jugendlichen an, der sich leise an die drei herangeschlichen hatte. Die Gestalten hatten ihn bis jetzt nicht gemerkt. Geschockt musterte der Junge sie.
»Koste es was es wolle«, hauchte der Teufel und packte den zarten, rosigen Hals des Jungen mit seinen heißen, schwarzen, langen Fingern.

 

Kapitel 1 - Das Date




»Sieh nur wie wunderschön sie aussieht, Magda«, sagte meine Mum und klatschte entzückt in die Hände.
»Umwerfend«, entgegnete Tante Magda und schüttelte ebenfalls den Kopf und lächelte dämlich vor sich hin. Ich hingegen sah meinem Spiegelbild entgegen und verzog angewidert den Mund. Ich kam mir vor wie ein Geschenk.
»Ist das dein Ernst, Mum?«
Ich drehte mich einmal in dem ganzen Tüll und sah dann wieder in meine geschminkten Augen, während ich neben mir im Spiegel meine Mum sah. »Aber natürlich, Schätzchen. Perfekt für das erste Date.«
Ich grummelte leise vor mich hin und seufzte schließlich, aber das bekamen meine Mutter und meine Tante gar nicht mit. Sie waren so versessen in meinen Anblick, dass sie ganz abzuschweifen schienen. »Ich gehe die Handtasche und die Schuhe holen, in Ordnung?«
Meine Tante verließ mit kleinen, aufgeregten Schritten mein Zimmer und kam mit hellgrünen Absatzschuhen, die etwas glitzerten, und einer Handtasche wieder, die etwa genauso wie die Schuhe aussah. Ich schluckte. Jedes Mädchen wäre wahrscheinlich total begeistert von all dem Märchengeglitzer gewesen, aber mich nervte es einfach. Vor allem, wenn ich daran dachte, für wen ich das trug. Beziehungsweise, wenn ich daran dachte, dass ich es für einen Wildfremden trug, den ich laut Traditionen heiraten werden müsse.
»Aber, Mum, was ist, wenn wir uns gar nicht lieben?«, hatte ich auf die Information hin meine Mum gefragt.
»Aber Schatz«, hatte sie geantwortet. »Sieh dir deinen Vater und mich an. Und deine Großeltern. Alle Males und Silvers haben sich bis jetzt ineinander verliebt.«
Dann hatte sie wieder so dämlich gegrinst und mir durch die rötlichen Haare gestrichen. »Und er kann gar nicht anders, als sich in dich verlieben.«
Ich setzte mich auf mein Bett und zog mir die Schuhe an. Ich könnte mich ja auch einfach wieder schnell umziehen, aber da ich mit einer Limousine zu dem Restaurant gebracht werden würde, ging das wohl schlecht.
Meine Mum und meine Tante ließen mich allein, weil sie meinten »Sie muss sich noch auf ihr Date einstellen«.
Da saß ich also auf meinem riesigen Doppelbett und starrte vor mich hin. Am liebsten würde ich einfach alles von mir reißen und an den Strand rennen. Dort würde ich mich in den Sand in die Sonne legen und die Augen schließen und von meinem Traummann träumen. Einem durchschnittlichen Jungen, der zerzaustes, schwarzes Haar hatte und einfach ganz normal über Witze lachen konnte, anstatt ein Lachen unterdrücken zu müssen, weil das als unhöflich galt. Einem Jungen, der ganz normale Sachen trug, wie eine Jeans und ein T-Shirt. Einem Jungen, der mich durch romantische, spontane Einfälle überraschte und nicht zu geplanten Dates kam. Aber das würde wahrscheinlich nie so sein.
Ich stand von meinem Bett auf und blickte noch einmal in den Spiegel. Ich betrachtete meine unnatürlichen Locken, die unnatürlich perfekt lagen, mein hellgrünes Kleid, dass unter der Brust in fünf Lagen Tüll überging und meine langen, schlanken Beine, die darunter hervor lugten.
Es klopfte.
»Ally, kommst du?«
Ich atmete einmal tief ein und drehte meinem Spiegelbild den Rücken zu.

»Ally, schön dich zu sehen«, sagte der Mann und kam auf mich zu. Er hatte ergrauende braune Haare und einen grauen Bart, der bis zu den Ohren reichte. Seine Augen waren verengt, aber anscheinend war das normal bei ihm, und er hatte eine sehr spitze Nase. Er streckte die Arme nach mir aus und drückte mich kurz an seine Brust. Er stank nach Männerparfüm und Rasierschaum.
Bah!
»Ha-Hallo?«, sagte ich und lächelte. Wer war das? Meine Mum schaltete sich dazwischen.
»Owen! Lange nicht gesehen, wenn ich es so ausdrücken darf!«
Owen lachte. »Ja, darfst du, Zara. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, kann ich dir immer nur wieder sagen, wie leid mir das mit Luca tut.«
Meine Mum wurde ernst. Mein Vater war ein heikles Thema bei uns. Er war noch vor meiner Geburt gestorben, hatte meine Mutter mir mal erzählt. Immer wenn das Gespräch auf ihn gelenkt wurde, fing sie schrecklich an zu weinen und rannte aus dem Raum. Sie musste ihn sehr geliebt haben, dachte ich.
Owen sah meine Mum mitleidig an, schien sich dann aber wieder zu fangen und nickte.
Wir setzten uns an den langen Tisch, und ja, das war auch schon das Date. Und zwar lief das ganze Essen unter den strengen Blicken der Familienangehörigen von beiden Seiten ab. Ich saß neben Owen und irgendeinem anderen Mann, den alle Edward nannten und gegenüber von meinem Zukünftigen.
Die Sitzordnung war immer gleich, also vermutete ich, dass Edward Owens Bruder war, da meine Mum und Tante Magda jeweils neben dem Jungen saßen.
Hätte Owen, wahrscheinlich dann mein Schwiegervater, nicht einmal gesagt »Riley, erzähl Ally doch von deinem Tischtennisturnier!« hätte ich nach diesem Date bestimmt noch nicht einmal gewusst, wie mein Mann hieß.
Riley räusperte sich und sah mich an. Ich sah gelangweilt zurück und obwohl es mir so vorkam, als ob er gerne damit geprahlt hätte, hielt er sich zurück, als er merkte, dass mich sein Tischtennisturnier einen Scheiß interessierte.
Ich stopfte mir die Bratkartoffeln eine nach der anderen in den vollen Mund und verschluckte mich fast daran, weil sie so heiß waren. Tante Magda warf mir einen strengen Blick zu, aber das war mir egal, da Riley grinste.
»Es schmeckt dir?«, fragte er und lächelte mich an. Plötzlich war es totenstill am ganzen Tisch. Ich schielte nach rechts und links den Tisch hinunter, noch immer die heißen Kartoffeln im Mund. Meine Mutter und ihre Schwester sahen mich erwartungsvoll an.
»Ähm«, nuschelte und hielt mir schnell eine Hand vor den Mund, weil ich Angst hatte, die Kartoffeln könnten heraus fallen. Aber ich musste gar nicht weiterreden, da Tante Magda das schon für mich erledigte.
»Sehen Sie doch, das Kind hat den Mund ganz voll. Wie soll es denn dabei reden?«
Stimmt.
Die Gespräche fingen wieder an und ich konnte neben mir aus Owens Mund sowas wie »Erste der Males, die keine Manieren hat, also wirklich« verstehen. Aber lästern war natürlich höflich, oder wie?
»Sag mal, Riley«, sagte ich zu laut und die Stimmen verstummten wieder. Ich verdrehte genervt die Augen, wahrscheinlich erwarteten sie jetzt, da ich die Kartoffeln im Bauch hatte, eine sinnvolle Unterhaltung zwischen dem zukünftigen Paar. »Spielst du auch sowas wie Fußball? Oder nur so langweiliges Zeug wie Tischtennis?« Ich zog eine Augenbraue hoch. Riley überlegte kurz und ich setzte lachend hinzu: »Wahrscheinlich spielst du auch noch Schach oder?«
Tante Magda sah mich entgeistert an und ich konnte Owen schon wieder sagen hören »Also wirklich, diese Manieren!«.
Doch Riley legte sein Besteck auf den bereits leeren Teller und stellte die Ellenbogen auf den Tisch. Oh, ich wusste gar nicht, dass das erlaubt war!
»Naja, als kleiner Junge hab ich mal Fußball gespielt, weißt du? Aber dann habe ich mich eben mehr für Tischtennis interessiert.«
Beim letzten Satz sah er mir eindringlich in die Augen und ich verstand was er meinte. Er hatte sich nicht wirklich mehr für Tischtennis interessiert, sondern sein Vater und sein Onkel hatten ihn zu seinen Stunden geschickt. So ähnlich war es mir auch ergangen. Ich war immer reiten gewesen, sogar bis ich auf die High School gekommen war, aber danach war Schluss damit. Ich fing an erwachsen zu werden und musste Klavierstunden und all den restlichen Klassikkram erlernen. »Und nein Schach spiele ich nicht.«
Er grinste schief und mied jeglichen Blickkontakt mit seinem Vater. Ich lehnte mich zurück und nahm das Seidentuch von meinen Schultern, weil mir von dem Essen so warm war. Ich versuchte die anderen auszublenden und mich einfach auf Riley einzulassen. Vielleicht fand er das Ganze ja genauso lächerlich wie ich?
»Und was machst du sonst so in deiner Freizeit?«
»Lesen.«
»Lesen?! Keine Computerspiele spielen oder auf Partys gehen oder so?«, fragte ich bestürzt.
»Muss man das denn?«, sagte Riley und zog amüsiert eine Augenbraue hoch. Ich fühlte mich langsam wie eine Hauptdarstellerin in einem Film, da ich noch immer die Blicke der anwesenden Familienmitglieder auf mir ruhen spürte. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. Normale, coole Jungen machen das nun mal.
»Warst du schon mal auf einer Party, Riley?«
»Wenn du Geschäftsessen dazu zählst?«
Ich lachte laut auf. »Geschäftsessen?!«
»Ich glaube das reicht!«, sagte Owen angespannt und alle sahen ihn an. Außer ich.
»Ja, find ich auch«, sagte ich und legte meine Serviette auf den Teller. Dann stand ich unter den geschockten Augen der anderen auf und ging zu der Eingangstür des teuren Restaurants. Ich hatte genug von diesem Deal. Es kam mir nicht so vor, als wäre das eine Tradition. Vielleicht hatten sich unsere Ururururururgroßeltern einmal verliebt und die Kinder sich dann in die Kinder der Geschwister der Ururururururgroßeltern. Und irgendein Blödmann, der nichts zu tun gehabt hatte, hatte sich dann sowas wie diese Sache ausgedacht. »Hey, wir könnten unsre Kinder doch jetzt immer verheiraten? Ob sie sich lieben oder gar nicht ausstehen können, ist doch egal!«
Sauer stampfte ich durch die belebte Stadt, als ich anfing zu frösteln. Ich löste meine Glitzer besetzte Haarklammer und wuschelte mit der Hand einmal durch meine weichen Locken, bis sie mir warm auf den Rücken fielen. Jetzt wusste ich wozu der Seidenfummel gut gewesen war, auch wenn ich mir nicht vorstellen könnte, dass mich so dünne Seide jetzt vor Kälte schützen könnte.
Neben mir tauchte plötzlich eine Gestalt auf. Riley. Er hatte die Hände in seinen Hosentaschen und ging lässig neben mir her. Eigentlich sah er gar nicht mal so schlecht aus. Er bemerkte, dass ich ihn von der Seite beobachtete und zwinkerte mir zu.
»Ist dir kalt?«
»Ein wenig«, antwortete ich ehrlich und er gab mir seine Anzugjacke, die süß nach Honig roch. Ich zog sie mir über und dankte ihm. »Sind sie sehr sauer? Dein Vater zum Beispiel?«
»Es geht …«, sagte er ausweichend und sah wieder nach vorne. Ich stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Verarsch mich nicht. Dein Vater hat ja schon beim Essen über meine Manieren gelästert.«
»Echt? Hat er?« Ich nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Eigentlich ist mein Vater voll cool. Aber in dieser Angelegenheit fühlt er sich einfach verpflichtet das Richtige zu tun.«
»Und wieso?«
Rileys Kiefer spannte sich an und ich dachte schon das Thema wäre gegessen, als er stehen blieb und mich ansah. »Mein großer Bruder ist vor einem Jahr abgehauen und eigentlich sollte er mit dir vermählt werden.«
»Und wie ist dein Bruder so?«
»Ungezogen«, sagte Riley grinsend. »Nein, am liebsten würde ich es ihm gleich tun. Ich meine, nichts gegen dich oder so, du bist echt total sympathisch und hübsch«, er lächelte, »aber, keine Ahnung, ich würde mir meine Liebe gerne selber aussuchen.«
»Da geht’s dir wie mir«, sagte ich und hoffte, dass er das mit dem hübsch und sympathisch nicht auch dazu zählte.
Wir gingen weiter die Straße entlang, bis wir am Strand ankamen und wir uns in den Sand fallen ließen. Über uns glitzerten die Sterne und obwohl ich Riley erst ein paar Minuten kannte, kam es mir nicht falsch vor hier mit ihm zu liegen. Zwei Menschen, die dazu gezwungen werden sich zu lieben.
Riley lachte plötzlich.
»Was ist so witzig?«
»Ich habe mir gerade so vorgestellt, wie wir später, wenn wir mal älter sind unseren Eltern vorspielen, wir wären ein glückliches Paar, aber jeder von uns eigentlich seine Affäre hat.«
Ich musste grinsen. Ein Ausweg wäre das natürlich, wenn auch ein etwas fragwürdiger. Ich seufzte und sah einem blinkenden Flugzeug am Himmel hinterher.
»Wir sind so am Arsch. Ich beneide jedes Pärchen, das ich sehe«, gab ich ehrlich zu und ich war froh, dass es schon Nacht war und wir uns nicht ansahen. »Ich meine, von klein auf war klar: Ich würde mal den Sohn von der anderen Familie heiraten. Beängstigend, oder?«
Er antwortete nicht und ich überlegte, ob ich ihn wohl fragen sollte, ob er je eine heimliche Freundin gehabt hatte. Doch als er sich plötzlich aufsetzte und sein Rücken sich straffte, ließ ich es bleiben. Ich sah wieder zum Himmel und versuchte ihn nicht in dem Glauben zu lassen, dass ich gerne noch mit ihm hier gelegen hätte.
»Ich sollte vielleicht wieder zurück gehen. Ich hab kein Auto. Nachher stehe ich hier noch dumm rum und komm nicht mehr heim.«
Er lachte leise und ich musste lächeln. Gut, dass ich es nicht weit hatte. Ich könnte also ruhig noch etwas in dem lauwarmen Sand liegen und die Ruhe genießen. Riley seufzte abschließend und rappelte sich auf. »Tja, dann gute Nacht, Liebste.«
Als ich ihn reflexartig ansah, zwinkerte er und lächelte amüsiert. Dann drehte er sich einfach um und verließ über die kleine Holztreppe den Strand.
Eine kleine Weile sah ich zur Seite auf die mit Sand überhäuften Treppenstufen, bis ich wieder zum Himmel aufblickte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass eine Ehe mit Riley gar nicht so langweilig wäre. Aber von Liebe konnte man da nicht reden. Und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich mich nicht in ihn verlieben würde, egal wie viel Zeit wir in nächster Zeit verbringen würden. Einen guten Freund konnte ich mir in ihm irgendwie besser vorstellen.
Ich atmete die Meerluft ein und schloss die Augen. Am liebsten würde ich hier einfach so einschlafen und morgen auf einem überfüllten Strand aufwachen, der mit tausenden von bunten Badetüchern und Schirmen bedeckt war. Okay, letzteres war vielleicht nicht unbedingt mein Wunsch. Aber ich könnte mich auch einfach irgendwo verziehen, denn auf Zuhause hatte ich nun wirklich keine Lust!
Ich setzte mich auf und bereute, dass ich mich überhaupt in den Sand gelegt hatte, da meine schönen Haare und mein teures Kleid nun voller Sand war. Okay, was könntest du statt nach Hause gehen machen?
»Sie muss einfach am Strand sein, Zara. Der Junge hatte ganz klar Sandkörner an seinem Hemd.«
Fuck!
Ich hörte die Stimme meiner Tante Magda und als ich zur Seite blickte, sah ich die beiden auch schon mit ihren High Heels die Treppe hinunter torkeln.
Na, super, Riley. Und jetzt?
Ich rappelte mich schnell auf und verkroch mich in einem Gestrüpp, das zufälligerweise da so wuchs. Ich fiel hinten über und kratzte mir mit den Ästen das Gesicht auf.
Was machte ich hier eigentlich?
Ich versteckte mich in einem 2000 Dollar Kleid in einem Busch mit Dornen vor meiner Mum und meiner Tante! Was war denn los mit mir?
Aber irgendwie hatte ich jetzt Angst hervorzutreten. Weil ich wusste, dass Tante Magda irgendwelche Vorwürfe ausrufen würde und Mum wütend auf mich sein würde.
»Na, ich weiß nicht, Magda. Das ist gar nicht so ihre Art. Sie mag den Strand und das Meer nicht mal. Nur weil Riley da war, heißt das noch lange nicht, dass sie auch zusammen da waren oder?«
Hallo? Natürlich mochte ich den Strand!
»Jaja, aber ich glaube da ist was Bestimmtes passiert, Schwesterherz«, sagte jetzt wieder Magda. »Ich glaube die beiden Süßen wollten einfach nur alleine sein.«
»Ha!«, meine Mum lachte auf. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Riley und Ally sich geküsst haben, oder?«
»Oder mehr«, flüsterte meine Tante und ich riss den Mund auf.
Was dachte meine Tante bitte von mir? Das ich mit wildfremden Typen schlief? Noch dazu in der Öffentlichkeit? Wahrscheinlich dachten sie, würde ich denken: Ach, mit dem werde ich eh irgendwann mal Kinder haben. Wieso also nicht schon anfangen?


Mir wurde schlecht.
»Jetzt übertreibst du aber«, sagte meine Mutter hart und ich sah durch die Äste, wie sie an meinem Busch vorbei wackelten. Sie sollten besser ihre Schuhe ausziehen, nachher brachen sie sich noch den Fuß. So dumm konnte man doch nicht sein!
Als sie weit genug weg waren, befreite ich mich aus den Dornen und lief mit meinen Schuhen in der Hand in die andere Richtung. Irgendwann wurde ich müde und außerdem fing der Wald bald an und alleine im Dunkeln durch den Wald zu rennen, war nicht gerade das, was ich jetzt vorhatte.
Ich wollte schon umdrehen, als ich plötzlich ein Licht im Wald aufflackern sah. Es war eine Taschenlampe und der Schein kam immer näher, bis der Träger am Strand stand. Um zu ihm zu gelangen, müsste ich noch eine kleine Kurve gehen und er war noch ungefähr geschätzte 100 Meter entfernt. Hinter ihm kamen noch mehr Leute aus dem Wald und jeder Zweite hatte eine Taschenlampe in der Hand. Einer, der ganz hinten gegangen war, rannte schreiend zum Ufer und zog sich währenddessen, soweit ich das erkennen konnte T-Shirt und Hose aus.
Okay, da wollte ich bestimmt nicht hin. Aber Umkehren war auch dumm. Und wenn ich es mir Recht überlegte, konnte ich auch am Park vorbei gehen und dann nach Hause. Dazu musste ich allerdings bei den Menschen, die jetzt Holz aus dem Wald brachten und ein Lagerfeuer machten, vorbei und die nächste Treppe über die Dünen.
Okay, ganz ruhig. Was sollten die auch schon von dir wollen? Hoffentlich waren sie nicht betrunken!
Ich torkelte ängstlich auf die Menge zu, die ich ungefähr auf zehn Stück schätzte, und beim Näherkommen erkannte ich, dass es sich alles um Jungen, die entweder in meinem Alter und ein paar Jahre älter waren, handelte.
»Ey, Sam, hol mir mal ‘ne Bierflasche, Bruder!«
»Hol dir die selber, du Trottel.«
Typisch Jungengruppe.
»Hört mal auf so ‘ne Scheiße zu labbern und helft mir das Feuer anzumachen.«
Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte nicht sagen, woher ich sie kannte. Ich musste an Riley denken, aber das war unmöglich. Er hatte gesagt, er ginge wieder zu seinem Vater und durch meine Tante wusste ich schließlich auch, dass er wirklich dort angekommen war. Und ich glaube kaum, dass Owen ihn wieder zu seinen Freunden hatte gehen lassen, damit sie ein Lagerfeuer machen konnten.
»Josh, hab doch mal ein bisschen Spaß und sei nicht so spießig!«
»Ja, genau«, pflichtete der eine dem andren bei und der Typ im Wasser schrie irgendwelche Laute aus. Ich war nur noch zehn Meter entfernt und meine Panik stieg an. Ich schluckte den Kloß hinunter und richtete mich gerade auf.
Genau, schön selbstbewusst, Ally, dann sprechen die dich schon nicht an. Die wollen doch lieber wehrlose Mädchen, mit denen man was anstellen konnte. Und darüber denkst du jetzt ja nicht nach, befahl ich mir.
Fünf Meter.
»Alter, jetzt schmeiß mal die Bierflasche weg und hilf mir!«
Drei Meter.
Doch näher konnte ich nicht mehr kommen, da der eine Typ die Worte des anderen ernst genommen hatte und mir seine Bierflasche direkt gegen die Schläfe warf. Ich verdrehte die Augen und spürte noch einen heftigen Schmerz im Kopf, als ich in den Sand fiel.

Eine ganze Weile musste ich bewusstlos gewesen sein, denn das erste, was ich hörte, als ich wieder zu mir kam, war das Knistern von Feuer. Verwirrt setzte ich mich auf und rieb mir über die Stirn. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen.
»Ah, endlich sie ist wach«, sagte eine Jungenstimme. »Man, du bist so ein Holzkopf! Das hatte Josh doch nicht ernst gemeint!«
»Junge, tut mir leid, okay?«, konterte eine andere Jungenstimme in Streitlust. »Kann ich ja nicht ahnen, dass irgendwo ein aufgetakeltes Mädchen rumstolziert und direkt aus den Schlappen rutscht, wenn ich ihr eine Flasche überhaue.«
»Ach, halt’s Maul«, meinte ein Dritter und plötzlich tauchte ein Gesicht vor mir auf. Der Junge war groß und kräftig gebaut. Er hatte ziemlich breite Schultern und eine Menge Muskeln, wie die anderen auch alle, wie ich mit einem schnellen Blick feststellte. Der Typ vor mir hatte blonde Haare, die ihm nass ins Gesicht fielen und er hatte dieselben eigenartigen, grünen Augen, die ich irgendwoher kannte, aber mal wieder wollte mir nicht einfallen woher.
Der Typ lächelte mich freundlich an und half mir mich aufzurappeln und bot mir seinen Platz auf dem Bierkasten an. Dankbar setzte ich mich und stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ mein Gesicht dort hinein sinken. Ich fühlte mich total schlapp und irgendwie betrunken. Ich hoffte bloß, dass sie mir nicht irgendwas eingeflößt hatten, Drogen zum Beispiel.
»Geht es dir gut?«
»Man, sie hat ‘ne Platzwunde am Kopf, wie soll’s ihr da gehen?«, sagte der eine, der mir gegenüber saß. Er hatte tief dunkelblaue Augen, soweit ich das in dem Flackern des Feuers erkennen konnte und seine Haare waren etwas länger als normal und rabenschwarz. Er hatte eine spitze Nase und irgendwie konnte ich nicht anders, als ihn länger zu betrachten. Er verdrehte die Augen und regte sich in Gedanken wahrscheinlich gerade über seinen Kumpel auf.
»Haha, sie ist voll high! Schaut mal wie die guckt!«
Der Typ neben dem schwarzhaarigen sah mich amüsiert an und lachte. Der Blonde setzte sich in den Sand und stellte die Knie auf. Sie trugen alle eine Badehose und die meisten hielten eine Bierflasche in der Hand. Allerdings waren es nicht mehr die zehn, die ich zu Anfangs geschätzt hatte. Jetzt waren es höchstens noch sechs. Aber ich war zu schwach um zu zählen.
»Alles klar?«, fragte der Blonde noch mal, ohne auf das Aufstöhnen des Schwarzhaarigen zu achten. Ich nickte und mir wurde etwas schwindelig. Ich kippte ein wenig zur Seite, konnte mich aber gerade noch so halten, bevor die Hand des Blonden bei mir sein konnte.
Irgendwie war mir das Ganze hier peinlich. Sechs wirklich gut aussehende Jungen sahen mich abwartend an. Aber am hübschesten war immer noch das Gesicht des genervten Jungens. Ich sah noch einmal auf, um ihn mir nochmal anzuschauen, doch er sah nachdenklich zu Boden und hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Er trug ein schwarzes, enges T-Shirt, was viel besser aussah, als die noch so coolen Sixpacks der anderen.
Wie konnten so viel gut aussehende Jungen sich anfreunden?
»Ja. Ja, mir geht’s gut«, brachte ich dann hervor und der Junge, der mir wahrscheinlich die Flasche an die Birne geworfen hatte sagte laut »Siehste!«
»Darf man fragen, was du hier so spät abends getrieben hast?«, fragte ein Junge, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Er stand hinter dem anderen blonden, den ich als den Übeltäter vermutete, mit einer Bierflasche in der Hand. Langsam wurde ich wieder stabiler und konnte ihn sogar spöttisch angrinsen.
»Was denkst du denn?«
Der zweite, schmächtigere Blonde lachte heiser auf. »Na, was denkst du, Sam?«
Also der Typ ging mir auf jeden Fall schon mal auf die Nerven!
»Was weiß ich. So wie du aussiehst, hattest du einen netten Abend.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es geht.«
»Ouh! Sie wurde versetzt!«, meinte der Dünne, Blonde.
»Kannst du nicht mal deine Fresse halten?«, warf der Schwarzhaarige ein und sah den Blonden vorwurfsvoll an.
»Dave«, sagte der andere, freundliche Blonde kalt. »Es reicht.«
Dave, der Schwarzhaarige, stöhnte und stand ruckartig auf. Er stellte seine Bierflasche in den Sand und entfernte sich mit harten Schritten von der Truppe. Irgendwie gab mir das einen Stich, auch wenn ich wusste, dass er nicht auf mich sauer war. Konnte man sich so schnell verlieben?
Ich lachte auf. Dumme Gedanken. Ich hoffte das kam von dem Schlag.
»Du kannst ja noch lachen«, sagte er der Blonde ernst. »Das ist schon mal was.« Er lächelte mich an.
»Wollen wir uns nicht mal vorstellen?«, meinte der andere und grinste. »Ich bin Logan, und du, Süße?«
Ich verdrehte die Augen. »Ally.«
»Hübscher Name, wie du«, sagte Logan zwinkernd, aber ich lachte nicht über den Kommentar und ich bedankte mich auch nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass es irgendwie nur so in den Satz gerade gepasst hatte. »Und das sind Sam und Josh.«
Er zeigte auf den Typen hinter sich und auf den großen Blonden. Beide nickten. »Ah ja und der schlecht gelaunte Sack dahinten ist Dave.«
Ja, das hatte ich mir schon gedacht. Ich lächelte.
»Das hab ich gehört, du Idiot«, rief Dave von hinten und kam langsam wieder ins Licht des Feuers. »Wir sollten sie nach Hause bringen, was meinst du, Josh?«
Josh runzelte die Stirn. »Wieso?«
Dave warf mir einen kurzen Blick zu und irgendwie hatte ich immer mehr den Eindruck, dass er mich doch nicht leiden konnte.
»Dann komm mal, ich muss mit dir reden.«
Josh zuckte mit den Schultern und stand auf. Bevor er Dave folgte, lächelte er mich noch freundlich an.
»Also, cool. Dann sind wir ja jetzt allein«, sagte Logan und grinste. Gott, dass man jemanden nach so wenigen Minuten schon hassen konnte!
Ein Junge kam aus dem Wasser und fuhr sich durch die dunklen, gelockten, nassen Haare. Er trug eine rote Badehose, die ihm ziemlich tief hing und hatte wie die anderen ein monstermäßiges Sixpack, dass ich gleich wieder in eine Starrtrance fiel.
»Hey«, sagte er und grinste schief. »Wer bist denn du?«
»Das ist Ally«, kam mir Logan zu vor und sah den neuen Jungen lange an. »Sie gehört mir, damit das klar ist.«
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Dave hatte Recht. Ich wollte heim.
»Pff«, machte der neue Junge und setzte sich neben mich auf den zweiten Bierkasten. Er hielt mir seine nasse, große Hand hin. Ich nahm sie zögernd entgegen. »Hey Ally, ich bin Ethan.«
Ich lächelte ihn an und Logan räusperte sich. Ethan ließ meine Hand schnell los und nahm sich eine Bierflasche aus seinem Kasten. »Ich mein’s ernst, Eth.«
»Jaja«, sagte Ethan, doch es schien so, als hätte er ihm gar nicht richtig zugehört. Er starrte mit der ungeöffneten Bierflasche in die Richtung, in der Dave und Josh am Waldrand standen und sich unterhielten. »Was bereden die denn da schon wieder? Dauernd will Dave mit Josh unter vier Augen sprechen. Das stresst.«
»Ach, der will sich eh nur wichtigmachen«, meinte Sam und grinste mich an. »Dave, musst du wissen, ist so ’n kleiner Schleimer weißt du?«
»Naja, das würde ich so nicht sagen«, entgegnete Ethan und öffnete seine Flasche. »Ich werde das Gefühl bloß nicht los, dass Dave mehr weiß.«
Oh, Gott, das war hier doch wohl keine Sekte, oder?
»Naja, ich sollte vielleicht auch mal nach Hause«, warf ich schnell ein und stand auf, wobei ich zur Seite kippte und mir schwarz vor Augen wurde. Ethan war aufgesprungen und hatte mich aufgefangen. Na, toll, jetzt war mein Kleid auch noch nass!
»Ähm, danke«, stotterte ich und steckte mir verlegen ein paar Locken hinter das Ohr.
»Kein Ding«, sagte Ethan und lächelte so, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Ethan sah plötzlich an mir vorbei und spannte sich an. Anscheinend floss kein gutes Blut zwischen Dave und Ethan.
Ich stellte mich wieder sicher hin und sah in dieselbe Richtung wie die anderen drei auch. Dave kam mit energischen Schritten auf uns zu und Josh trottete ihm nachdenklich hinterher.
»Ich bringe dich nach Hause«, meinte Dave und sah mich mit angespanntem Kiefer an. Irgendwie war das alles etwas komisch. Normal wären Jungen, die ich so kannte, die ein verbotenes Feuer am Strand machten, ganz anders drauf. Ich hätte eigentlich erwartet, sowie Logan ja schon irgendwie angedeutet hatte, dass sie sich um mich rangeln würden, wer mich nun zum Nachtisch verspeisen konnte. Wie hatte ich mich da bloß geirrt.
Dave nickte in Richtung Holztreppe und steckte seine Hände in die Hosentaschen. Verwirrt setzte ich mich in Bewegung und umrundete einmal das heiße Feuer.
»Ich hoffe wir sehen uns wieder, Ally«, meinte Logan. Ich drehte mich noch einmal zu ihnen um und winkte schnell und bemerkte, wie Ethan mich freundlich anlächelte, sodass mir wieder ganz warm ums Herz wurde. Dann sah ich nach vorne auf Daves harten Rücken und ärgerte mich darüber, dass er so ein Spielverderber war. Wieso durfte ich nicht bei ihnen ein wenig am Feuer sitzen? Außerdem fand ich es ziemlich unhöflich, dass er mindestens drei Meter Abstand von mir hielt.
Als wir an der Treppe ankamen, blieb er stehen und gewährte mir den Vortritt. Ich wunderte mich, dass er dabei sogar lächeln konnte. Auf der Straße gingen wir dann nebeneinander und er sah sich in der Stadt um, als wäre er noch nie hier gewesen.
»Wieso bist du eigentlich so grimmig?«, fragte ich dann. »Hast du keine Lust, dass ein Mädchen bei eurem Jungen-Grillabend dabei ist, oder was?«
Dave schnaubte lachend. »Klar«, sagte er dann und grinste mich an. Ich lächelte. Vielleicht war er doch gar nicht so hart, wie es eben schien? Nur bei gewissen Themen eben.
»Nein, sag mal. Wieso bringst du mich überhaupt heim? Ich meine, ich finde den Weg auch alleine und außerdem weißt du gar nicht wo ich her komme!«
Dave überlegte einen Moment, aber sein Lachen war verschwunden. »Ich hatte gedacht, dass ein so wehrloses Wesen wie du vielleicht gerne-«
»Einen Beschützer haben würde?« Ich musste lachen. »Nein, danke, ehrlich. Ich finde den Weg schon alleine.«
Doch Dave ließ sich nicht abschütteln. »In deiner Situation schon«, murmelte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
»In meiner Situation?!«
»Vergiss es«, sagte Dave schnell. »Wo lang?«
»Über den Seapointe Boulevard und dann in der Rochester Avenue auf der linken Seite«, sagte ich etwas verärgert. Wieso machte er immer so dumme Anspielungen auf ein Thema, dass mir so mysteriös vorkam, und wies mich dann wieder ab? Naja, okay, wir kannten uns auch gerade mal eine halbe Stunde vielleicht. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das nicht das letzte Mal war, das ich die Jungs treffe und ich hoffte auch, dass es das nicht war!
»In Ordnung«, sagte er nur knapp und wir gingen schweigend bis zu meinem Haus. In den Straßen war kaum noch was los und ich war komischerweise froh darüber. Denn so hatte es eigentlich keinen Grund gegeben, dass er mich nach Hause gebracht hatte.
Vor der Haustür blieb ich stehen und überlegte, was ich sinnvolles und einprägendes zum Abschied sagen könnte. »Verrätst du mir noch deinen Namen, oh großer Beschützer?«, wohl er nicht.
»Ähm, na, dann«, stotterte ich stattdessen und hätte meinen Kopf am liebsten gegen die Tür gehämmert.
Dave grinste. »Na, dann …«, echote er und trat rückwärts die drei Eingangsstufen runter. Irgendwie ärgerte ich mich darüber, dass wir uns erst so kurz kannten. Sonst hätte ich mich jetzt in seine Arme werfen können und ihn küssen können. Okay, Ally, komm mal wieder auf die Erde. Was denkst du denn da?! Du hast dich doch nicht verliebt, oder?
Dave drehte sich um und winkte mir noch über die Schulter. Als er schon bei dem kleinen Tor angekommen war rief ich seinen Namen.
»Dave?«
»Mh?« Er drehte sich wieder zu mir um und hob eine Augenbraue. Ich kaute auf meiner Unterlippe und fingerte an dem Tüll meines Kleides herum.
»Sehe ich dich wieder?«, sagte ich leise, aber er hatte es gehört. Er lächelte warm und legte den Kopf schief. Mein Herz raste. Hoffentlich würde er mir etwas Haltkräftiges geben, damit ich ihn und seine Kumpels wirklich wiedersehen würde.
»Wer weiß«, antwortete er allerdings. »Ich glaube … Man sieht sich im Leben immer zwei Mal, hab ich Recht?«
Er lächelte noch einmal, wartete allerdings meine Antwort nicht ab und schlenderte unter den Straßenlaternen zurück in Richtung Strand. Ich seufzte.
»Hoffentlich hast du das«, flüsterte ich und sah seiner schwarzen Silhouette nach, bis sie um die Ecke in die Atlantic Avenue verschwand.


Kapitel 2 - Ein Märchen





Als ich am Morgen aufwachte, hatte ich schreckliche Kopfschmerzen. Als erstes setzte ich mich auf und sah in den Spiegel, der an meinem Kleiderschrank hing. Ich sah total fertig aus, also huschte ich sofort ins Badezimmer, das glücklicherweise direkt neben meinem Zimmer lag und duschte mich. Danach fühlte ich mich schon viel besser. Meine Haare rochen nicht mehr nach Rauch und Meersalz sondern nach Rosenshampoo und meine Haut war so weich wie Baby Haut. Ich föhnte ein kleines Guckloch in den beschlagenen Spiegel und betrachtete mich. Die Locken waren verschwunden und meine Haare lagen wieder leicht gewellt auf meinen Schultern. Zufrieden lächelte ich, sodass meine Sommersprossen im Gesicht anfingen zu tanzen. Meine Spiegelbildaugen sahen in meine Rehaugen zurück und glitzerten leicht. Du bist schön, dachte ich und seufzte. Wieso darf ich das nur nicht dem zeigen, dem ich will?
Ich föhnte schnell meine Haare und öffnete das Fenster, da es schrecklich heiß in dem Bad war. Dann zog ich mir ein einfaches, weißes Top und meine Lieblingsjeans an. Es klopfte.
»Ally, bist du da drin?«
Ich packte den Föhn wieder in seine Schublade und öffnete die Tür. Meine Mum stand wie immer in ihrem Rock und dem passendem Blazer vor der Tür und sah mich ernst an.
»Die Silvers sind da und möchten mit dir über den gestrigen Abend sprechen. Beeil dich.« Sie betrachtete mich einen kleinen Moment. »Und mach was mit deinen Haaren, die sehen ja schrecklich aus.«
Danke?
Ich schloss vor ihrer Nase die Tür und schminkte mich nur noch. Meine Haare ließ ich in den sanften Wellen so bleiben und rannte dann die Treppe hinunter. Im Flur jedoch stockte ich. Wie würde es gleich ablaufen? Würde Riley mich auf unser Gespräch am Strand ansprechen? Würde Owen mich anschreien?
Ich atmete einmal tief ein und durchquerte unser helles Wohnzimmer. Riley und sein Vater standen auf der Terrasse und blickten in die Ferne. Als ich durch die große Glastür trat, drehte sich Riley zu mir um und lächelte. »Hey.«
»Hallo«, entgegnete ich und nickte. Riley kam zu mir und blieb kurz vor mir stehen. Er trug eine helle, verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Und ich musste zugeben, dass er gar nicht mal so schlecht darin aussah, im Gegensatz zu seinem Vater, der mal wieder einen schlichten, grauen Anzug an hatte.
»Du siehst anders aus«, bemerkte Riley und musterte mich. Ich zuckte mit den Schultern.
»Bestimmt schrecklich, jedenfalls meint meine Mum das.«
Owen hatte unserem kleinen Dialog gelauscht und kam nun mit einem missbilligenden Blick auf mich zu. »Ally«, sagte er ernst. »Schön dich wiederzusehen.«
Ich nickte nur stumm. Zu erwidern, dass es bei mir ebenfalls so war, wäre gelogen und zu sagen, dass ich ihn gerne aus meinem Zuhause schmeißen würde, unhöflich. Also war Nicken ganz gut.
Aber überhaupt hätte ich nicht viel sagen können, da Tante Magda mich zur Seite schubste und mit einer Kuchenplatte durch die Tür lief.
»Mensch, Kind, pass doch auf wo du stehst! Wir müssen doch mit dem Essen hier durch!«
Ich verdrehte die Augen und sah Owen hinterher, der durch die Terrassentür ins Wohnzimmer schritt und meine Mum fragte, ob er ihr helfen könne. Riley lehnte sich zu mir und meinte:
»Willst du mir dein Zimmer zeigen?«
Ich führte ihn schnell die Treppe hoch, damit sein Vater und meine Mutter nicht merkten, dass wir verschwanden und schloss hinter ihm meine Zimmertür.
Mein Zimmer war normal groß, würde ich mal so sagen. Von der Tür ausgesehen war links an der Wand ein großer, weißer Kleiderschrank mit einem Spiegel, gegenüber der Tür war ein Doppelfenster und davor ein Schreibtisch, daneben mein zweiter Standspiegel und daneben mein großes Doppelbett. Rechts an der Wand war nur Glas, das auf mei¬nen kleinen Balkon führte. Ich ging zu meinem Bett und ließ mich darauf erleichtert nieder.
Riley sah sich noch eine Weil mein Zimmer an, dann setzte er sich vorsichtig auf den Bettrand. »Schön hast du’s hier.«
»Danke.«
Er sah mich plötzlich sehr ernst an. »Hör mal, wegen gestern. Das mit meinem Bruder, das hättest du eigentlich gar nicht wissen dürfen«, sagte er. »Aber da du es ja jetzt weißt … sag es einfach keinem, okay?«
Ich nickte.
»Wenn mein Dad davon erfahren würde, dass du von Josh weißt-« Er stockte. Und erst als er sich nachdenklich abwand, merkte ich, dass ich ihn misstrauisch angeblickte hatte. Schnell glättete ich meinen Gesichtszug.
Aber Moment. Das konnte nicht sein. Ich hatte bei dem Namen sofort an den Josh von gestern Abend gedacht. Das würde auch die Vertrautheit der Stimme und der Augen erklären. Aber das war unmöglich.
»Riley, mach dir da mal keine Gedanken«, meinte ich dann. »Was soll ich mit so einer Information schon anfangen? Außerdem«, ich musste grinsen, »wieso sollte ich mit deinem Dad über solche Dinge sprechen? Geschweige denn, dass ich mich mit deinem Dad überhaupt unterhalte.«
Riley schielte zur mir rüber und grinste schief.
»Versprochen?«
»Indianerehrenwort!«

Wir saßen gerade bei Kaffee und Kuchen im Garten, als es im Haus klingelte. Verwirrt stand ich einfach auf und beachtete nicht das Kopfschütteln von Owen.
Es war die Hausklingel.
Ich öffnete unsere große, blaue Tür und wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ich sah, wer bei uns geklingelt hatte. Mit Badetüchern und einem Picknickkorb standen Logan und Sam auf unserer Türschwelle und grinsten mich an. Beide hatten nur eine Badehose an und einen nackten Oberkörper, schließlich hatten wir es nicht weit bis zum Meer. Ich trat aus dem Haus und lehnte die Tür an.
»Seid ihr verrückt? Was macht ihr denn hier?« Ich wandte mich an Sam, da ich dachte, dass er vielleicht einen sinnvolleren Satz als der Spanner Logan zusammen bringen würde.
»Naja, wir haben Dave so lange ausgefragt, bis er uns widerstrebend erklärt hat, wo du wohnst. Und dann dachte wir uns, laden wir dich einfach auf eine kleine Runde Schwimmen ein.«
Ich konnte nicht anders. Ich musste lachen. Das war so richtig dumm. Aber andererseits hätte ich sie am liebsten angeschrien, und vor allem Dave, weil er meine Adresse ausgeplaudert hatte.
»Ich kann jetzt aber nicht«, sagte ich leise, weil ich Angst hatte, meine Mum oder Tante Magda könnten mich hören.
»Wieso nicht?«, sagte eine andere Stimme und ich erkannte Ethan, der sich lässig über unser kleines Tor schwang und auf uns zukam. Er trug eine lange Jeans und ein grünes Sommerhemd. Seine Locken waren diesmal trocken und kringelten sich um sein braunes Gesicht.
Ich seufzte. Am liebsten würde ich einfach die Tür zuziehen und mit ihnen zum Strand gehen, aber das konnte ich nicht schon wieder machen.
»Weil wir Besuch haben.«
»Ally?«
Riley zog die Tür hinter mir auf und meine Eingeweide gefroren zu Eis. Logan sah so ziemlich genauso aus.
»Wer ist denn das?«, fragte er und blickte mich an.
»Das ist Riley«, meinte Riley grinsend und lehnte sich in den Türrahmen.
»Aber …«, flüsterte Logan. »Das ist unmöglich!«
Ich sah ihn stirnrunzelnd an und überlegte, was die drei so fassungslos machen konnte. Sie kannten Riley doch nicht etwa, oder? Aber da fiel mir Josh wieder ein und ich hoffte bloß, dass sie ihn nicht darauf ansprechen würden. Auch wenn ich mir noch nicht sicher war, in meiner Theorie, dass Josh Rileys abgehauener Bruder war.
»Das sind ähm Logan, Sam und Ethan«, sagte ich dann etwas verlegen. »Ich hab sie gestern bei unserem Strandbesuch kennengelernt.«
»Aha«, machte Riley und musterte die drei. »Hi.«
Die drei murmelten eine Begrüßung. »Du bist aber nicht zufällig Allys Freund, oder?«
Ich verdrehte die Augen und wollte am liebsten im Erdboden versinken, so peinlich war mir Logans Verhalten vor Riley. Riley lachte.
»Keine Ahnung, vielleicht könnte man das so sagen.«
»Ähm, nein, wir sind nicht zusammen«, sagte ich schnell und hätte Riley am liebsten eine geklatscht. Was labberte er denn da? Wir waren vielleicht für einander bestimmt, nicht im übertragenden Sinne, aber das hieß noch lange nicht, dass wir schon ein Paar waren!
»Also, gehen wir dann schwimmen?«, fragte Ethan dazwischen und stellte sich auf die unterste Stufe.
»Schwimmen? Klar!«, sagte Riley und grinste dämlich. Na, toll, das war doch echt das Letzte. Mit meinem zukünftigen Ehemann und meinen neuen Kumpels (jedenfalls hoffte ich, dass sie das waren) schwimmen gehen. Aber irgendwie fand ich das auch wieder cool von Riley, da er sich aus seinem Vater gar nichts machte. »Ich hab schon ‘ne Badehose an.«
»Okay, dann zieh ich mich schnell um«, sagte ich. »Und du sagst, ich wäre auf Toilette und guckst dann, dass du auch wieder wegkommst, okay?«
Riley nickte und wir verschwanden wieder im Haus.

Ich stand unschlüssig vor meinem Kleiderschrank und überlegte, wo mein Bikini bloß sein könnte. Ich hatte meinen Kleiderschrank schon dreimal umgekrempelt, aber ich fand ihn einfach nicht.
Ich wurde leicht panisch, vor allem weil ich mich hatte beeilen wollen. Ich rannte ins Bad und lehnte mich soweit es ging aus dem Fenster, aber ich konnte nicht bis zur Haustür gucken. Mist!
Dann suchte ich im Wäschekorb, aber dort fand ich auch nichts. Aufgewühlt stand ich in dem Bad und ließ mich dann auf den Klodeckel sinken.
Na, toll. Das würde mit schwimmen also nichts werden. Und es war total peinlich jetzt runter zu gehen und zu sagen, dass ich meinen Bikini nicht finden konnte!
Die Tür wurde leicht aufgeschoben und ich sah erschrocken auf. Owen?!
»Alles in Ordnung?«, fragte er mit einem schleimigen Unterton und ich sprang von der Toilette auf.
»Finden Sie es nicht etwas unhöflich bei einer Dame einfach in das Badezimmer reinzuplatzen?!«, entgegnete ich gereizt und verschränkte die Arme vor der Brust. Owen grinste.
»Naja, Riley sagte, dass dir schlecht sei und als Gentleman guckt man doch mal nach.« Er zwinkerte mich an und lehnte sich gegen den Türrahmen. Irgendwie sah das dem Owen, den ich seit gestern kannte, gar nicht ähnlich. Und was mich am meisten beängstigte: Was machte er hier? »Aber dir scheint es ja schon viel besser zu gehen!«
Ich nickte steif und wollte an ihm vorbei wieder in mein Zimmer. Er hielt mich am Oberarm fest. Und der Griff war so eigenartig heiß, dass ich augenblicklich erstarrte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Arm gleich verbrennen würde und ich biss die Zähne vor Schmerz zusammen. Owen senkte seinen Kopf zu mir herunter und seine Lippen berührten fast meine Ohrmuschel.
Ganz ruhig bleiben!
»Ich weiß nicht, was für ein Spiel du hier treibst«, knurrte er und das Blut in meinen Adern gefror, wenn das überhaupt möglich war, da er eine solche beängstigende Hitze ausstrahlte, dass ich auch anfing zu schwitzen. »Aber eins kann ich dir sagen, wenn du das so weiter machst«, sagte er und sah mir fest in die Augen. Sie waren sehr, sehr dunkel und irgendwie passte es, dass sie so verengt waren. »Wird das Ganze kein Happy End haben.«
Mein Atem beschleunigte sich und ich versuchte seinen Worten einen logischen Sinn zu geben. Doch es misslang mir. Er ging auf Abstand und ich fiel fast in mich zusammen, als er meinen Arm losließ. Sein schleimiges Lächeln war wieder da.
»Ich werde den anderen Bescheid geben, dass du dich ein wenig ausruhen willst und dann wieder kommst.«
Ich starrte ihm hinter her wie er mit einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck die Treppe hinunter ging. Ich ließ mich an dem Türrahmen hinunter auf den Boden gleiten und legte meinen hitzigen Kopf auf meine Knie. Und wirklich, ich würde jetzt nichts lieber machen, als mich von dem zu wiederholen. Das war irgendwie merkwürdig gewesen. Welche Sache? Und was für ein Spiel trieb ich denn? Ich schluckte einen Schluchzer runter. Heulen war jetzt nicht die beste Lösung.
Am besten würde ich wieder runter in den Garten gehen und Owen zeigen, dass ich nichts im Schilde führte, auch wenn ich plötzlich eine Höllenangst vor ihm hatte.
Im Wohnzimmer knallte ich mit Riley zusammen. Er kam wie sein Vater eben mit dem Mund ganz dich an meine Ohren, aber ich sprang wie elektrisiert zurück und flüsterte verstört: »Fass mich nicht an!«
Riley blickte mir perplex entgegen, doch ich ließ ihn einfach so da stehen und torkelte in den Garten, wo meine Mum, meine Tante und Owen noch immer am Tisch saßen. Als sie mich bemerkten, sahen sie alle drei auf und Owen lächelte eindringlich. Ich mied seinen Blick und setzte mich wieder neben meine Tante.
»Geht es dir wieder besser, Kind?«
Ich nickte nur stumm und nahm mir einen Zitronenkuchen. Riley tauchte auf der Terrasse auf und sah mich fragend an. Dann nickte er in Richtung Haustür, aber ich schüttelte den Kopf und er zog die Augenbrauen zusammen. Wahrscheinlich fragte er sich, was mich plötzlich so umgestimmt hatte. Ich hoffte bloß, dass Ethan, Logan und Sam mir das nicht übel nehmen würden. Vielleicht könnte ich es ihnen ja irgendwann erklären. Aber jetzt wollte ich es einfach nur vergessen. Und nicht mal Riley konnte ich es anvertrauen.
Er verschwand kurz im Haus und setzte sich dann wenige Minuten später wieder mir gegenüber. Hoffentlich hatte er die drei weggeschickt, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieses Spiel, von dem Owen geredet hatte, etwas mit den Jungen zu tun hatte. Auch wenn das schlicht weg unmöglich war.
Die ganze Zeit über sah Riley mich stirnrunzelnd an und sein Vater tat es ihm gleich, allerdings hatte er diesen eindringlichen Blick, der mein Herz zum Rasen brachte. Ich verschlang meinen Kuchen und sah dann auf meine Hände. Ich wollte hier sofort weg. Ich wünschte mir den gestrigen Abend herbei. Ich wünschte mir, ich könnte wieder seelenruhig in dem Sand liegen und die Augen schließen.
Die Stimmen von Tante Magda und meiner Mutter drangen in mein Bewusstsein, aber sie störten mich. Sie sollten endlich ruhig sein! Mach doch was, dass es endlich aufhört.
Verblüfft starrte ich vor mich hin und verstand nicht, was plötzlich mit mir los war. Wieso war ich so durcheinander? Wovor hatte ich eine solche Angst? Wieso braute sich in meinem Hinterkopf ein Unwetter auf, das mir sagte, dass irgendetwas passieren würde, wenn ich mich falsch entscheiden würde.
Als ich wieder aufblickte, sah mich Owen immer noch an und ich hatte das Gefühl, dass er mir dieses Gefühl gab. Ich musste hier weg. Und zwar bevor ich völlig abdrehen würde. Aber irgendwie konnte ich meine Füße nicht antreiben. Ich konnte einfach nicht. Als wäre ich an diesem Stuhl festgeklebt.
Hilfe, schrie ich innerlich und sah Hilfe suchend zu Riley, doch der merkte nichts von alldem.
»Alles in Ordnung, Ally, oder ist dir wieder schlecht?«, sagte Owen langsam und gedämpft.
Mistkerl! Natürlich ist mir nicht gut, weil du das so machst! Oder?
Wieso war ich mir plötzlich so sicher, dass Owen Schuld an dem komischen Gefühl war? Wieso wusste ich, dass irgendetwas hier total falsch war? Etwas, dass nur ich merkte? Und dann fühlte ich mich auf einmal total verloren. Allein gelassen von allen, die nicht merkten, wie falsch Owen war. Er hatte irgendetwas vor, doch ich wusste verdammt noch mal nicht was! Ich sah Owen in die Augen und versuchte heraus zu finden, was er wollte.
»Ich glaub mir ist schwindelig von der Sonne«, brachte ich hervor und erhob mich von meinem Stuhl.
»Du hast bestimmt nicht genug getrunken, Kind«, sagte meine Tante besorgt und legte mir eine ihrer Hände an den Oberarm. Ich sprang erschrocken zur Seite, weil ich das Gefühl hatte, das Owen mich wieder berührte. Eine Hitze durchströmte meinen Körper und am liebsten hätte ich mich einfach auf dem Gras zusammengerollt und geschrien. Aber ich blieb stehen und starrte Owen bissig an. Er sollte ruhig merken, dass ich wusste, dass er es war, der das gerade hier mit mir anstellte, auch wenn ich nicht verstand wie. An Magie glaubte ich sicherlich nicht!
»Ich glaube, ich gehe einfach noch mal ins Haus und kühl meinen Kopf ein wenig von der Hitze«, sagte ich, wobei ich die Betonung auf das letzte Wort legte, während ich Owen noch immer ansah. Er lächelte wieder so, dass mein Blut gefror und ich drehte mich schnell von ihm weg.
Ich rannte schon fast zur Terrassentür und spurtete die Treppe hoch in mein Zimmer. Ich knallte die Tür zu und schloss mit zitternden Fingern ab. Als ich mich umdrehte und zu meiner Balkontür rennen wollte, um sie ebenfalls zu schließen, rannte ich den Jemand, der in meinem Zimmer gestanden hatte um.
Als wir zusammen auf dem Boden lagen, rollte ich mich sofort zur Seite und unterdrückte einen Schrei, da ich mir schon vorstellte, wie Owen neben mir erschien. Doch der, der sich da nun stöhnend aufrappelte war nicht Owen, sondern … Dave.
»Dave?!«, sagte ich entgeistert und ließ mich von ihm hoch ziehen. Ich zog mein Top zu Recht und riss die Augen auf. »Was machst du denn hier? Und – Wie bist du hierein gekommen?!«
»Das ist jetzt nicht so wichtig, Ally«, antwortete Dave aufgebracht und verschloss für mich die Balkontür und das Doppelfenster.
Dann drehte er sich auf der Unterlippe kauend zu mir um. Ich sah ihn fragend an. Das war alles schwer merkwürdig. Er konnte nicht einfach so in mein Zimmer spaziert sein.
»Wolltest du was klauen?«, fragte ich bissig und verschränkte die Arme vor der Brust. Dave zog eine Augenbraue hoch.
»Hast du ‘nen Knall? Für wen hältst du mich?«
»Naja, wovon soll ich sonst ausgehen, wenn du hier auftauchst? Immerhin kenn ich dich erst seit gestern«, konterte ich schlagfertig.
Dave verdrehte die Augen und rieb sich dann sie Schläfen. »Okay, was hat Owen zu dir gesagt?«
»Was? Woher - Woher weißt du denn davon?!«
Total fertig ließ ich mich auf mein Bett fallen und hätte am liebsten geheult, weil so viel Frust in mir aufstieg. Was war denn nur los? Gestern traf ich auf eine mysteriöse Jungenbande, und am nächsten Tag ist mein Schwiegervater total merkwürdig und ich habe Depressionen. Ich legte meine Hände auf mein Gesicht, damit Dave nicht die kleinen Tränen in meinen Augen sah. Das war einfach zu viel für mich. Und irgendwie klang das schon so, als wäre ich in diesem Spiel, das Owen erwähnt hatte, mittendrin.
»Ally, alles in Ordnung?«
»Nein!«, schrie ich hysterisch. »Was soll der ganze Scheiß? Ich fühl mich wie die Hauptrolle in einem Psycho-Film! Was ist denn plötzlich los? Und was machst du hier?!«
Dave biss die Zähne zusammen und stand einfach nur so vor mir. Er dachte über die Worte nach, die er mir gleich hoffentlich sagen würde. Hoffentlich würde er etwas sagen, dass irgendwie erklärend war. »Du musst mir bitte sagen, was Owen zu dir ge-sagt hat, Ally. Es ist sehr wichtig.«
»Ich hab zwar keine Ahnung, wieso das wichtig ist-«
»Das weiß ich, Ally. Und das tut mir leid. Aber es ist nicht die Zeit für Erklärungen. Bitte sag es mir! Du musst einfach!«
»Ist ja okay, komm mal von der dramatischen Spur runter!«, entgegnete ich und verdrehte die Augen. »Er meinte, wenn ich mein Spiel weiter machen würde, dann ähm … würde es kein Happy End geben.«
»Und, war da noch was anderes?«
»Naja, mir war irgendwie plötzlich total heiß und so … Aber das ist ja meistens so, wenn man bedrängt wird«, letzteres sagte ich schnell, als ich Daves geschocktes Gesicht sah. Er setzte sich neben mich auf das Bett und seufzte mehrmals.
»Du musst dich von ihm fernhalten«, sagte er, jedes einzelne Wort betonend. Ich zog eine Augenbraue hoch.
»Schön, kannst du mir das vielleicht auch noch erklären?«
»Tu es einfach, okay?«, sagte Dave plötzlich gereizt und ich sah ihn empört an. »Immer muss man alles erklären, verdammt.«
Ich sprang vom Bett auf und sah ihn zornig an. Wieso wechselte er dauernd so schnell seine Stimmung? Wieso war es so schwer es mir einfach zu erklären? Und wie verdammt noch mal war er hierein gekommen!?
»Jetzt hörst du mir mal gut zu, ja? Es ist nicht gerade üblich, dass wenn ich jemanden am Strand kennenlerne, dass er mich am nächsten Tag vor meinem zukünftigen Schwiegervater warnt! Geschweige denn, dass er ihn überhaupt kennt«, ich hatte so richtig Lust mal meinen Frust an ihm auszulassen. »Und da ich das Gefühl habe, dass das alles hier etwas mehr ist, als ich im Moment noch weiß, verlange ich, dass du es mir endlich erklärst. Ich bin doch kein kleines Kind mehr!« Verdammt, aber auch! »Und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich eine ziemlich große Rolle in diesem Spiel bin!«
Dave sah zu mir auf und hatte die Lippen aufeinander gepresst. Mein Atem ging vor Aufregung ganz schnell und ich versuchte mich von dem Wutschwall wieder zu beruhigen. »Ich weiß, was du meinst. Aber Josh und ich glauben, es ist besser, wenn sie es dieses Mal nicht weißt. Vielleicht kann man es dann endlich stoppen.«
»Wer ist sie? Und was stoppen?«
»Naja, du bist sie. Ihr seid immer sie … und wir sind immer er und Josh und seine Generationen sind immer er … aber in diesem Fall wollten wir es einfach anders machen! Es brechen«, erwiderte Dave zerstreut. »Wir wollten versuchen, es dieses Mal durcheinander zu bringen.«
Ich setzte mich auf den Teppich vor seine Beine und sah ihn lange an. »Bitte, bitte erklär es mir«, sagte ich dann und machte einen bittenden Gesichtsausdruck. Dave biss die Zähne zusammen.
»Ich weiß nicht, ob das gut ist«, sagte Dave.
»Dann wenigstens so viel, dass ich ein wenig damit anfangen kann.«
Dave seufzte und starrte auf seine Hände. Hoffentlich würde es endlich etwas sein, damit ich diesen Unsinn verstand.
»Es gibt ein Märchen. Ein Märchen, das vor Jahrhunderten ge-schrieben wurde. Ein Märchen, das nie in die Märchensammlung eingebracht worden ist, weil ein Fluch drauf liegt. Ein Märchen, das nur wenige kennen«, fing Dave an zu erzählen und blickte mir tief in die Augen. Er sprach langsam, damit ich jedes Wort verstand. »Ein Märchen … das sich in den Generationen ihrer Hauptfiguren immer wieder zu wiederholen scheint. Ein Märchen, dessen Geschichte nie aufgehört hat zu enden.« Dave machte eine kleine Pause. »Es geht um eine Prinzessin, die mit einem Prinzen vermählt werden soll, den sie allerdings nicht liebt.« Dave überging mein erschrockenes Aufatmen. »Sie verliebt sich in den gewöhnlichen Bauerssohn vom Land. Aber wie in jedem Märchen, gibt es auch Fantasy. Der Teufel wurde seiner Unsterblichkeit beraubt, stattdessen wird er nach dem Tod immer wieder wiedergeboren. So auch in dieser Zeit lebt er gleichzeitig wie die ahnungslose Prinzessin. Er schickt seinen Sohn, sie zu verführen, damit sie zu ihm kommt und er ihr das Herz entreißen kann, durch das er seine Unsterblichkeit zurückbekommt.« Meine Finger hatten angefangen zu zittern und ich faltete sie schnell im Schoß, damit Dave nichts davon mitbekam. »Die gute Fee, die schon lange ein Auge auf Nayla, die Prinzessin, geworfen hatte, schickt also ihre Elfen, um sie zu retten. Der Bauerssohn erfährt die Nachricht von den Elfen und sucht Nayla beim Teufel auf, dort wird er allerdings von dessen Sohn umgebracht. Edward, der Prinz wurde schon vor langer Zeit von dem Teufel ermordet, da er ihn aus dem Weg haben wollte. Er wollte Nayla das Leben so schwer machen, dass sie keinen Ausweg mehr als den Tod sah.« Dave atmete einmal tief ein und befeuchtete seine rauen Lippen. »Bis heute, hat es der Teufel nicht geschafft, seine Unsterblichkeit zurückzugelangen. Deswegen, Ally, spielt sich das Märchen immer und immer wieder ab. Deswegen, musst du dich von Owen fern halten. Deswegen, hast du mich kennengelernt, weil du die Hauptrolle in der Geschichte bist.«




Kapitel 3 - Zweifel





Owen und Riley waren spät am Abend erst gegangen und Dave hatte mit mir solange oben die Zeit verbracht. Ich hatte ihn tausend Fragen über das Märchen gestellt und wer denn dann wer war und ob er mir den Grund dazu erklären könnte. Aber irgendwann hatte er mir seine beiden Finger auf den Mund gelegt und gemeint: »Es ist genug für heute Abend, findest du nicht?«
Danach hatten wir nebeneinander im Bett gelegen und über unsere Lieblingssachen geredet. Zum Beispiel wusste ich jetzt, dass Dave das Meer und die frische Luft über alles liebt, sowie Fußball und Pizza. Ich hatte ihm anvertraut, dass ich den Geruch von frischer Wäsche und Honig liebte. Was natürlich nicht hieß, dass ich Riley anziehend fand!
Und an diesem Abend war Dave so ganz anders gewesen, als er manchmal rüberkam. Er war überhaupt sehr offen und humorvoll gewesen. Dann, fiel mir am nächsten Morgen peinlich berührt ein, war ich an seine Schulter gekuschelte eingeschlafen.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete sah ich, dass ich alleine im Bett lag. Doch Dave stand auf dem Balkon und hatte sich gegen das Geländer gelehnt.
»Na, endlich wach?«, sagte er zur Begrüßung und kam wieder in mein Zimmer. »Es war schrecklich warm hier drin gewesen, also habe ich mir erlaubt das Fenster zu öffnen.«
Ich nickte und setzte mich auf. Ich trug noch immer meine Jeans und das weiße Top, schließlich hatte ich mich schlecht vor Daves Augen umziehen können! Ich stellte mich vor meinen Spiegel neben dem Bett und kämmte durch meine verstrubbelten Haare. Unzufrieden blickte ich mir entgegen.
»Sitzt alles perfekt«, meinte Dave lächelnd hinter mir und ich wurde leicht rot. »Hey, das ist doch kein Grund zu erröten«, meinte Dave dann und grinste. »Wer schön ist, sollte das auch zeigen.«
Ich sah ihn nicht an, weil mir das Kompliment zu sehr unter die Haut ging. Die Hitze schien in meinem Kopf nicht zu verschwinden wollen, weswegen ich schnell zur Tür ging und sie aufschloss.
»Okay, darf ich dann heute wieder aus diesen vier Wänden?«
»Sicher. Nur solltest du vermeiden in die Nähe von … du weißt schon zu kommen.«
»Das wird wohl schlecht gehen«, murmelte ich, als plötzlich meine Mum in der Tür erschien und sich vor Schreck ans Herz fasste.
»Oh, mein Gott«, sagte sie. »Wer ist denn das?!«
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah Dave verzweifelt an. Dave zuckte mit den Schultern und streckte meiner Mum die Hand entgegen.
»Ich bin ein Freund von Ally. Entschuldigen Sie, dass ich hier einfach so reingeplatzt bin, aber ich musste etwas Wichtiges mit Ally besprechen.«
»Ein ... Freund?« Dave schielte stirnrunzelnd zu mir.
Natürlich. Er konnte ja nicht ahnen, dass man, wenn man so ein Schicksal wie ich hatte, keine Freunde hatte. Aber was sollte ich jetzt schon groß sagen? Meine Mutter war total empört und verlangte eine Erklärung von mir, Dave war etwas verwirrt über die Reaktion meiner Mutter und ich? Ich hatte mich ziemlich in die Scheiße geritten.
»Ja, Mum. Ein Freund. Ein ganz normaler Freund, verstehst du? Sowas kann man auch haben, wenn man verlobt ist!«
Meine Mum schnaubte und musterte Dave von oben bis unten. Zum Glück sah er nicht so aus wie ich. Er trug noch immer die schwarze Jeans und das dunkelblaue Shirt, passend zu seinen Augen. Seine Haare lagen nicht perfekt gekämmt auf seinem Kopf, aber sie waren auch nicht fettig oder etwas anderes.
Ich lächelte erleichtert, als meine Mutter missbilligend mit den Schultern zuckte und wieder die Treppe nach unten schlürfte.
»Puh«, sagte ich und grinste. »Das war aber knapp.«
Dave sagte nichts, sondern scannte mich mit einem scharfen Blick, den ich nur auf die Sache mit Riley und der Tradition schieben konnte. »Willst du jetzt gehen?«, fragte ich also zaghaft.
Eigentlich wollte ich nicht, dass er geht. Immerhin war noch eine Woche Sommerferien und ich hatte nichts Besseres zu tun. Wir könnten das Schwimmen von gestern nachholen, kam mir in den Sinn, doch Dave sagte erst einmal nichts. »Hallo? Noch da?«
Dave schüttelte schnell den Kopf und hatte sich wohl wieder gefasst.
»Ich weiß nicht«, sagte er und sein Lächeln war wieder da. »Was hast du denn heute noch so vor?«
»Nichts.«
»Das trifft sich gut. Ich könnte dich mit zu den anderen nehmen? Hast du Lust?«
»Und was machen wir dann da?«, fragte ich zurück.
»Schwimmen?« Dave grinste aufgeregt. »Wir kennen da so eine bestimmte Bucht. Wenn du natürlich nicht so gerne springst ... ist das kein Problem.«
»Springen? Von einer Bucht?«, sagte ich leise. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte schon seit ich klein gewesen war Höhenangst gehabt und das hatte sich bis heute nicht geändert oder verbessert. Dave merkte mein Unbehagen und legte seine kühle Hand auf die Schulter.
»Keine Angst. Die meisten Mädchen find das nicht so aufregend, wie Jungen.« Sein Grinsen erleichterte mich kein bisschen. »Du musst das nicht tun. Allerdings musst du dann warten, bis wir oben angekommen sind und zu dir ins Wasser springen.«
Das kalte Gefühl verließ meine Füße und Hände nicht und ich nickte nur leicht. Ich würde einfach am Strand auf sie warten, damit ich nicht sah, wie sie hinein sprangen, denn das konnte ich genauso wenig haben, wie selbst springen.

Ich rannte dieses Mal in den Keller, um meinen Bikini zu suchen, da ich dieses Mal nicht versäumen wollte, dass ich mit den Jungen schwimmen ging.
Dave hatte ich schon vor geschickt und er hatte gemeint, er würde jemanden schicken, wenn er nicht die Zeit finden würde, um noch mal zu kommen. Das war mir eigentlich ganz recht und so stand ich nun zwischen den Wäschehaufen in unserer kleinen Waschküche. Ja, obwohl wir so reich waren, hatten wir nicht genug Platz für unsere ganzen, teuren Kleidungsstücke.
Ich fand ihn zwischen dem neuen, roten Kleid meiner Mum und meiner alten Hose. Mist, wenn er hier unten lag, musste er dreckig sein. Naja, was hieß dreckig, nicht frisch eben. Ich musste über diesen sinnlosen Gedanken grinsen. Manchmal dachte man einfach zu viel.
Ich schmiss meinen dunkelblauen Bikini in die Waschmachine und stellte sie auf Turbo. Wie peinlich war das denn, wenn Dave gleich wieder hier aufkreuzen würde und ich vor der Waschmaschine stand und meinen Bikini wusch?
Ich setzte mich irgendwann auf die kalten Fliesen, weil mir das Stehen zu anstrengend wurde.
Sobald ich saß, musste ich meinen Gedanken einfach freien Lauf lassen. Und wohin schweiften sie? Natürlich zu dem Märchen. Es kam mir noch total unwirklich vor, dass ich die Hauptrolle in der ganzen Sache spielte. Und überhaupt das war alles so unrealistisch! Ein Märchen, das sich in der Gegenwart noch einmal abspielte. Ha, das ich nicht lache. Aber ich konnte nicht davon abkommen. Anscheinend musste dann der sterbliche Teufel unter uns wandern. Und wie es mir schien, musste ich ihn schon eine Weile kennen. Das heißt er war irgendwo in meiner Nähe. Eine Gänsehaut überzog meine Haut und ich wusste, dass es nicht von der üblichen Kälte des Kellers kam. Nein, man konnte es drehen und wenden wie mal wollte, und egal wie merkwürdig das Ganze war: Ich war in Lebensgefahr.
Meine Mum riss mich aus meinen Gedanken, als sie plötzlich in der Tür erschien und mich wütend ansah.
»Ein Freund von dir wartet oben an der Tür auf dich«, schnaubte sie und verließ den Keller wieder.
Das hieß es war nicht Dave. Sonst hätte sie seinen Namen gesagt. Meine Mum konnte sich einfach jeden Namen merken!
Ich wartete trotzdem noch fünf Minuten, dann war mein Bikini fertig, dank der Turboeinstellung und ich ließ das Guckloch der Waschmachine offen stehen. Ich sprang die Treppe immer zwei Stufen nehmend nach oben und erkannte Ethan in der Tür. Ich lächelte ihm kurz zu und zeigte entschuldigend nach oben.
»Klar, mach dir keinen Stress«, antwortete er und steckte lässig die Hände in Hosentaschen.
»Danke«, erwiderte ich und spurtete die Treppe hoch. Ich hatte mich zum Glück eben noch schnell geduscht, bevor ich in den Keller gegangen war, weshalb meine Haare nun frisch gewaschen und mit Rosenduft neben meinem Gesicht hin und her flatterten.
In meinem Zimmer packte ich in meine neue, braune Strandtasche schnell ein Handtuch, meine Sonnenbrille und Geld. Dann zog ich mich in Windeseile um und band meine Haare zu einem lockeren Dutt am Hinterkopf zusammen.
Als ich unten wieder angekommen war, unterhielten sich meine Mutter und Ethan gerade über unseren Ausflug.
»Ja, wir gehen nur ein wenig schwimmen. Ich bring sie heute Abend auch nach Hause, Ma’am.«
»Ja, das will ich auch hoffen. Und du bist ein Freund von Dave, wenn ich das richtig sehe?«
»Naja, ja, könnte man so sagen«, sagte Ethan ausweichend. »Hey, Ally. Können wir los?«
Er schien sichtlich erleichtert, dass ich aufgetaucht war und entfernte sich schon von unserer Eingangstür.
»Tschüss Mum«, rief ich noch über die Schulter, aber ich drehte mich nicht mehr zu ihr um, da ich sowieso wusste, dass sie nicht begeistert war. Tja, sie konnte mir eben nicht alles vorschreiben. Nur meinen Verlobten. Nicht mal meine große Liebe.
Ethan und ich gingen die Atlantic Avenue schweigend nebeneinander. Als wir auf dem Seapointe Boulevard angelangt waren, brach Ethan plötzlich die Stille. »Dave wollte eigentlich Josh schicken, aber das hielten wir alle für keine gute Idee.«
»Wieso?« Ich sah ihn fragend an. Natürlich wäre es mir egal gewesen, aber man durfte doch mal fragen.
»Ach ... nur so«, meinte Ethan dann und sah sich mit zusammen gezogenen Augenbrauen um. Na, schön. Eingeschnappt schürzte ich die Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl ich die Hauptrolle war, schien ich aber am wenigsten zu wissen. Und in dem Fall erlaubte ich es mir einmal egoistisch zu denken.
Ich dachte an Riley. Was er wohl heute machte? Ethan beschleunigte nun seine Schritte und ich hatte Mühe mit meinen Flip-Flops hinterher zu kommen. Nicht nur wegen der Sache mit Josh, die er so geheimnisvoll abgetan hatte, sondern wegen seinem ganzen Verhalten war ich plötzlich genervt von ihm. So wie er vor mir ging, so zielstrebig, so selbstgefällig, so bestimmend, das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich hasste es, wenn Jungen über mich bestimmten.
Also holte ich Ethan schnell auf und ging neben ihm. Er sah mich nicht mal an, sondern ging einfach weiter. Freute er sich überhaupt auf den Tag? Oder war es ihm egal? Ich hatte das Gefühl, dass der freundliche Junge, der mein Herz warm werden ließ nur an dem einen Abend existiert hatte. Wie konnte ich mich in so jemandem täuschen?
Stopp, dachte ich. Du bist doch verrückt. Du kennst den Jungen nicht mal drei Tage, vielleicht hat er heute nur einen schlechten Tag.
»Wo genau treffen wir eigentlich die anderen?«, traute ich mich zu fragen und auf Ethans Gesicht erschien ein spitzbübisches Grinsen.
»An einem Ort, an dem du wahrscheinlich noch nie gewesen bist, Kleine.«
Ich runzelte Stirn und dachte sofort an eine wunderschöne Bucht mit bunten Unterwasserwelten und Sand so weiß wie Schnee und Felsen so schön wie Marmor. Aber ich schüttelte schnell den Kopf. So einen Ort meinte Ethan bestimmt nicht. Aber schön wäre es trotzdem.
Wie ein kleines Kind hüpfte ich neben ihm hin und her und versuchte ein paar Informationen über den Ort herauszubekommen, aber er schenkte mir nur sein unergründliches Grinsen, mit dem ich nichts anfangen konnte.
Ich hoffte, dass Dave da sein würde. Er war gestern Abend und die ganze Nacht so nett zu mir gewesen, dass ich mich freute ihn wieder zu sehen. Würde er mich umarmen? Würde er eine Anspielung auf den Abend machen? Oder würde er vor den anderen einen auf cool machen? Das war schließlich nicht untypisch für Jungen, auch wenn ich glaubte, dass Dave anders war als typisch.
Aus Ethan bekam ich also nichts mehr heraus. Wir gingen ein Stück durch den Wald, bis Ethan plötzlich stehen blieb und mir die Augen zu hielt. Seine Lippen kamen ganz nah an meine.
Küsst er mich etwa gleich?
Das war absurd, ich weiß. Aber es war mein erster Gedanke. Ich spürte seinen warmen, süßen Atem auf meinen Lippen. »Wir wollen doch nicht, dass unser kleines Mitglied den Weg zum wundervollen Ort kennt. Schließlich können wir dir noch nicht trauen«, hauchte er kalt.
Sekte.
Ich musste wieder an meinen ersten Eindruck von den Jungen denken. Ich sollte den Weg nicht kennen? Wie bitte? Wem bitte sollte es schaden, wenn irgendwer den Weg dorthin wüsste? Außerdem, wem sollte ich das schon erzählen? Ich habe keine Freunde. Ich habe nur meine Mutter, Magda und Riley. Ach ja, und Owen. Aber Owen wäre wohl der letzte Mensch auf diesem Planeten, mit dem ich über geheime Sachen reden würde. Da würde ich sogar Logan vorziehen. Ich musste ein wenig grinsen, was Ethan natürlich auf die momentane Situation bezog.
»Schön, du hast also nichts dagegen, wenn ich dich jetzt führe? Keine Berührungsängste?«
Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie Ethan eine warme, große Hand an meinen Unterrücken legte. Er sagte mir Bescheid, wenn eine Biegung kam, oder wenn der Weg ein wenig herabfiel oder anstieg. Er war ein guter Fremdenführer und ich war schon fast ein wenig enttäuscht, als er seine Hand von meinem Rücken nahm und seine andere Hand von meinen Augen löste.
Ich blickte in ein Dickicht von Blättern. Eigentlich sah es genauso aus wie eben, als er angefangen hat mich zu führen. Sind wir im Kreis gegangen? Immerhin ging es einmal runter und einmal hoch.
»Wo sind wir?«
Ethan schüttelte nur den Kopf und verschwand in dem Dickicht. Schnell folgte ich ihm und gelangte nach ihm auf eine Küste. Ich sah schon vor hier aus das türkisene Meer. Die Sonne ließ das Wasser glitzern und ein paar kreischende Vögel flogen zum Horizont. Einen Moment konnte ich nur einfach da stehen und starren. Ethan hatte Recht gehabt. Es war ein Ort, an dem ich noch nie gewesen war. Aber wie war es möglich, dass hier der Strand, das Meer und die Sonne so anders wirkten, als Zuhause am Strand? Es war, als wäre ich in einer Parallelwelt. Es schien alles so unecht und falsch. Unheilverkündend, sobald ich mich auch nur zu sehr in diese Schönheit verwickeln ließ.
Ich musste an das Märchen denken. Augenblicklich ging ich einen Schritt auf Abstand. Wer war Ethan in diesem Spiel, wie Owen es nannte? War er gut? Wollte er mein Leben? Der Teufel war er auf jeden Fall nicht, das war ja schließlich Owen.
Er schickt seinen Sohn, sie zu verführen, damit sie zu ihm kommt und er ihr das Herz entreißen kann, durch das er seine Unsterblichkeit zurückbekommt.
War Ethan der Sohn?
Nein, Riley war der einzige Sohn von Owen, wenn man mal von dem verschwunden Bruder absah. Eine dunkle Frage machte sich in meinem Kopf breit. War dann Riley der Teufelssohn? Will er mich verführen?
Nein, sage ich mir. Riley würde so etwas nicht machen. Aber hat er überhaupt eine Wahl?
Ich atmete tief ein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Du solltest dich am besten nicht in diese Geschichte rein steigern. Du hast immer noch Dave und Josh, die sicherlich einen Überblick haben. Aber wer waren die beiden? Wäre Dave der Teufelssohn, dann hätte er mir sicherlich nicht das Märchen erzählt, da war ich mir sicher.
»Gefällt es dir nicht?«
Von Ethans Stimme zuckte ich ein wenig zusammen und fiel zurück in die Gegenwart. Stimmt ja, ich stand ja immer noch auf dieser wunderschönen Küste.
Ich wagte mich ein paar Schritte vorwärts. Meine Höhenangst setzte sofort ein, obwohl ich noch zwei Meter von dem Abgrund entfernt war. Locker kam Ethan mir nach.
Ich sah die ganze Zeit auf den Boden, um ja nicht zu nah an den Abgrund zu gelangen, als plötzlich zwei Hände mich um die Taille packten und durch die Luft drehten.
Jetzt ist es aus, dachte ich, als mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ich kniff die Augen zusammen, krallte die Fingernägel in die starken Arme und schrie aus vollem Leibe. Ich merkte, wie mir das Frühstück wieder hochkam, da spürte ich schon wieder den Boden.
Keuchend lag ich dort und traute mich nicht zu bewegen. Ich öffnete nicht mal die Augen. Meine Finger krallten sich nun in meine eigenen Arme, da die Arme von eben verschwunden waren.
War ich tot?
Nein, da waren Stimmen. Ganz weit entfernt.
»Bist du bescheuert? Ich hab euch doch gesagt, dass sie Höhenangst hat!«
Die klare, wütende Stimme kam mir bekannt vor, aber ich machte die Augen nicht auf. Ich fühlte den Luftzug, als sich jemand vor mich kniete und meine Hände langsam von meinen Armen löste. »Alles okay?«
Ich gab einen leisen Laut von mir, den ich am liebsten zurück genommen hätte, weil mir wieder in den Sinn kam, dass ich vor ungefähr sieben Jungen auf dem Boden gekauert lag und jammerte. Ich verbessere: Vor sieben unglaublich gut aussehenden, netten Jungen.
Noch schlimmer.
Ich öffnete nacheinander die Augen und sah vor mir Dave hocken. Er lächelte mich an, als er sah, dass ich mich ein wenig beruhigt hatte.
»Ja. Ja, mir geht’s gut.«
Ich rappelte mich schnell auf, aber Dave half mir sicherheitshalber dabei, weshalb ich ihm auch dankbar war. Als ich den – es waren nur fünf – Jungen in die Augen sah, wurde mir ein wenig schwarz vor Augen und Dave stützte mich. Irgendwie hatte ich ein kleines Déjà-vu.
»Sorry, Ally. Ich hatte das mit deiner Angst schon wieder vergessen, ehrlich«, sagte Logan und sah wirklich zerknirscht aus. Ethan sah mich ein wenig herablassend an, weshalb ich mich schnell dazu entschied, irgendetwas Cooles zu sagen.
»Ach, macht doch nichts, nur vielleicht sollte ich mich in nächster Zeit vor dir hüten, wenn wir in 30 Meter Höhe sind oder du eine Bierflasche hast.«
Erleichterte grinste Logan und lachend klopfte Sam ihm auf die Schulter. Ich versuchte ebenfalls zu grinsen und mied Daves Blick. Ethans Gesichtsausdruck hatte sich nicht geändert. Was war bloß los mit ihm? Hatte ich Recht mit meiner Vermutung, dass er der Teufelssohn war? Ein kleiner Keim Angst machte sich in mir breit. Der Feind sollte besser nie die Schwächen seines Opfers kennen. Na, toll, dass ich schreckliche Höhenangst hatte, wusste er jetzt also.
Dave meinte zu den anderen, dass er mich zum Strand bringen würde und heute mal nicht springen würde. Als wir an Ethan vorbei gingen, versuchte ich nicht zu schnell zu gehen, aber meine Beine trieben mich so schnell wie möglich von ihm weg.
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, Dave fragte zwar ab und zu wie es mir ginge, aber mehr nicht.
Ich dachte wieder an Ethan. Wenn er wirklich der Sohn war, dann sollte ich mich besser von ihm fernhalten. Aber wie sollte ich das tun, wenn ich Dave doch anfing immer mehr zu mögen? Dave. Sollte ich ihn fragen, wer welche Rolle hatte? Welche Rolle er hatte?
»Dave?«, flüsterte ich und sah ihn von der Seite an. Dave zog die Augenbrauen hoch. Er wartete auf meine Frage, aber ich brachte es nicht raus. Was, wenn er mir dann sagen würde, er wäre der Teufelssohn und würde mich gleich darauf K.O. schlagen und zu Owen bringen?
Nein, Dave ist nicht der Sohn, Ally. Das kann nicht sein. Dann wäre er ziemlich dumm. Immerhin hatte er mir geraten, mich von Owen fernzuhalten.
Aber vielleicht wollte er genau das erreichen. Vielleicht wollte er, dass ich glaube, ich könne ihm vertrauen und dann würde ich direkt in die Arme des Teufels rennen. Hinzu kam die seltsame Tatsache, wie er in mein Zimmer gelangt war. Wenn er der Teufelssohn war, hatte er vielleicht besondere Kräfte.
Abrupt blieb ich stehen und ging mit immer schnelleren Schritten auf Abstand. Dave sah mich verwirrt an.
»Was ist denn jetzt los? Wo willst du hin?«
Wo willst du hin? … Wo willst du hin? …
Seine Worte hallten in meinem Kopf immer wider. Ja, was war denn jetzt los? Ich konnte nicht mehr klar sehen. Ich spürte wie-der die Hitze an der Stelle, an der mich Owen festgehalten hatte. Ich wollte hier weg. Aber wieso war ich plötzlich gegenüber allen so misstrauisch? Wieso verrate ich Dave, der sich immer so für mich einsetzt?
Weil sie wollen, dass du ihnen vertraust!
Sind sie die Bösen und Owen der Gute? Nein, dann wäre nicht der Zwischenfall vor der Badezimmertüre gewesen. Wem also trauen?
»Ally!«
Jetzt waren schon mehr als 40 Meter Abstand zwischen uns, aber Dave rührte sich nicht vom Fleck, vielleicht ahnte er, dass ich dann hysterisch werden würde. Vielleicht war es besser ich würde erst mal nach Hause gehen und über all das Märchengedöns nachdenken.
Ich schüttelte den Kopf, als Dave nochmal nach mir rief, drehte mich um und rannte blind den Waldweg entlang. Ich hoffte bloß, dass dies der Weg nach Hause war.




Kapitel 4 - Riley





Es waren einige Tage seitdem vergangen. Die Ferien waren vorbei und ich hatte keinen der Jungen bis jetzt gesehen. Keiner hatte sich gemeldet, bei mir geklingelt oder irgendeine Nachricht hinterlassen. Auch wenn ich das mit dem Märchen nun an den Acker legte, hielt ich mich so gut wie möglich von Owen fern, was nicht immer leicht war. In den letzten Tagen habe ich viel mit Riley verbracht, wir haben uns näher kennengelernt, aber nie hat mich nach dem Tag gefragt, an dem wir eigentlich zusammen hatten schwimmen gehen wollen. Worüber ich auch sehr froh war, denn ich wusste nicht, ob es eine gute Idee war, ihm das Märchen zu erzählen. Zwar war ich mir jetzt sicher, dass er nicht der Teufelssohn war – es musste einer der Jungen sein – doch dann müsste ich ihm auch von Owen erzählen.
Es war frühmorgens und ich stand in meinem Zimmer vor dem Spiegel neben meinem Bett. Ich betrachtete mein kurzes, weißes Kleid. Heute war Freitag. Morgen würde also das erste Wochenende nach den Ferien sein. Ich wusste schon, was ich tun würde. Riley hatte mich gefragt, ob ich mit ihm die beiden Tage am Strand zelten wolle. Wir würden nachts, wenn es dunkel war und die Sterne leuchteten, ins Meer gehen und schwimmen.
Meine Freiheit wurde mir immer mehr beraubt, ich musste sie immer mehr mit Riley verbringen, schließlich würden wir in drei Jahren heiraten.
Ich schluckte. Drei Jahre. Einerseits eine sehr lange Zeit, andererseits aber auch kurz.
Es klopfte. Meine Mum steckte den Kopf durch einen kleinen Türspalt. Man sah ihr die Erleichterung über das Fernbleiben meiner neuen Freunde an, was mich ein bisschen aggressiv machte. »Du musst los, Schatz.«
Ich nickte, atmete noch einmal tief ein. Heute Nachmittag würde Riley auf mich vor der Schule warten und wir würden irgendwo weit weg an eine einsame Stelle am Meer fahren. Meine Sachen waren gepackt und er würde sie noch davor hier abholen. Ich war gespannt, an welchen Ort Riley mich wohl entführen würde. Dieses Wochenende war Tradition. Es war sozusagen wie ein kleiner Vorgeschmack auf die Flitterwochen.
In der Schule war ich immer alleine, aber das machte mir nichts aus, ich war es gewöhnt. Eigentlich ganz im Gegenteil, ich würde es gar nicht aushalten, wenn ständig schnatternde Mädchen um mich herum wären.
Es klingelte gerade zum Schulschluss, da schulterte ich meine Tasche und blickte zum Ausgang. Und da stand er.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Sollte ich auf ihn zu rennen? Ihm sagen, dass mir mein merkwürdiges Verschwinden leid tat? Nein.
Die Entscheidung wurde mir sowieso genommen, als Riley direkt vor mir im Gang auftauchte und grinste.
»Bereit?«
Ich nickte, aber ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er hatte wie fast immer ein dunkles T-Shirt an und eine dazu passende, dunkle Jeans. Seine schwarzen Haare hingen ihm zerzaust ins Gesicht. Seine starken Arme verliefen in seine Hosentaschen und er hatte diesen ernsten, angestrengten Blick, der mir sagte, dass irgendetwas nicht stimmte
»Alles klar?« Riley hatte bemerkt, dass ich nicht ganz bei der Sache war, aber als ich nickte, ging er nicht weiter darauf ein. Er nahm mir meine Schultasche ab und führte mich zum Ausgang. Währenddessen redete er auf mich ein und erzählte womöglich von dem Ort, an den wir fahren würden, aber ich höre ihm gar nicht zu. Ich starrte Dave in die tief dunkelblauen Augen. Als er mich näher kommen sah, zogen sich seine Mundwinkel ein paar Millimeter vielleicht nach oben, aber das nur für kurze Zeit.
Riley stieß die Glastür auf und war immer noch am reden. Er steuerte sein silbernes Auto an, aber ich konnte ihm nicht folgen, da Dave mich am Arm packte und mich zu sich zog. Für einen Moment war ich umhüllt von seiner Wärme und seinem süßlichen Geruch. Dann stieß er mich von sich und auf seinem Gesicht war Wut zu sehen.
»Wieso bist du einfach weggelaufen? Wieso hast du dich nicht gemeldet? Wieso, Ally, wieso?«
»Ihr hättet euch ja auch melden können«, sagte ich kalt und schielte zu Riley rüber, der nun bemerkt hatte, dass ich nicht mehr hinter ihm war. Er runzelte die Stirn und entdeckte Dave und mich beim Eingang. Mit langsamen, bedachten Schritten kam er zu uns.
»Wieso bist du überhaupt weggerannt?«
Riley stellte sich neben mich und baute sich ein wenig auf. »Was ist hier los, Ally?« Die Frage war zwar an mich gerichtet, aber Riley blickte Dave unentwegt in die blauen Augen. Daves Nasenflügel blähten sich auf und er ging auf Abstand. Dann wanderte sein Blick zwischen mir und Riley hin und her und er versuchte zu verstehen.
»Wer bist du?«
»Das ist Riley-«
»Ihr Verlobter.«
Daves Augen weiteten sich bei dem Wort und er brachte noch mehr Abstand zwischen uns. Täuschte ich mich, oder sah ich da Verletzung in seinem Blick? Riley packte meine Hand und zog mich zum Auto. Ich riss mich los. »Warte, ich will ihm noch was sagen.«
Riley seufzte und stieg schon mal ins Auto. Ich lief zu Dave und achtete darauf, dass Riley schon um die Ecke war. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass sein Auto im Weg stand. Jetzt konnte er mich und Dave auf jeden Fall nicht mehr sehen.
Eine Zeit lang standen wir beide uns nur gegenüber. Dann fiel ich ihm in die Arme und krallte meine Finger in seinen starken Rücken. Ja, wieso war ich weggerannt? Während wir so da standen, bekam ich das Gefühl, dass ich das Ganze mir der Märchensache ohne Dave nicht bewerkstelligen würde, nicht los. Ich brauchte ihn, das wusste ich, obwohl ich ihn noch nicht so lange kannte. Ohne ihn würde ich das mit Owen nicht durchstehen.
»Dave?«
Wir lösten uns sicherheitshalber, aber er erwiderte nicht mein Lächeln. Nein, im Gegenteil er sah noch immer wütend aus.
»Was ist los?«
»Die Lage hat sich verschlechtert, Ally.«
»Wieso?«
»Josh hat die gute Fee gefunden.«
»Ja … und?«
»Ja und? Mehr fällt dir dazu nicht ein, Ally?«, sagte Dave aufgebracht. »Wir hatten darauf gehofft, dass wir nicht in Verbindung mit ihr kommen würden, dann würde sie nämlich auch nichts von dem Märchen wissen und dieses Detail hätten wir schon mal beseitigt.«
Jetzt erst wurde mir klar, was Dave damit meinte. Jetzt hatten wir alle Charaktere aus dem Märchen. Die Frage war zwar noch, wer wer war, aber das Märchen ließ sich zu Ende führen. Wir könnten wieder alle Opfer dieses Fluches werden.
»Wer ist es?«, fragte ich ganz leise.
»Sie heißt Jolina.«
Ich schaute mich panisch nach Riley um und drängte Dave um eine Ecke, wo das Stimmengewirr nur noch gedämpft zu uns durch kam. Meine Hände ruhten noch immer auf seinen Schultern. »Und woher kennt Josh sie?«
Dave schürzte missbilligend die Lippen. »Aus einem Café. Er hat sich in sie verliebt.«
Mir klappte die Kinnlade runter. Na, toll, was für ein Zufall. »Und, wie wusste er … naja dass sie es ist?«
»Es gibt gewisse Merkmale … deswegen hatte ich dich auch an dem Abend erkannt, als Logan dir die Flasche an den Kopf geworfen hatte.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich vorsichtig. Ich ließ meine Hände noch immer dort liegen. Die rechte ließ ich sogar ein wenig runter rutschen, sodass sie direkt auf seinem Herz lag, dessen Pumpen ich jetzt spüren konnte. Ich schloss die Augen. Dieses gleichmäßige Gefühl gab mir ein wenig Halt. Ich merkte, wie Dave mit zwei Fingern mein Gesicht erkundete.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Mir gingen die Worte von ihm durch den Kopf. Es gab Merkmale? Gab es die dann auch für den Teufelssohn?
Resigniert öffnete ich die Augen und starrte Dave an. Überwältigt von dieser Erkenntnis. Durfte ich es wagen, Dave danach zu fragen? Als ich es schon mal versucht hatte, war ich durchgedreht und weggelaufen. Aber diese kleine Zärtlichkeit, die wir gerade ausgetauscht hatten, bekräftigte mich dazu, ihn zu fragen.
»Dave? Wer ist eigentlich der Teufelssohn?«
Dave verkrampfte sich. Wir vorhin blähten sich seine Nasenflügel auf. »Das wissen wir nicht. Für ihn stehen im Märchen bloß die Merkmale, dass er verdammt gut aussieht.« Dave grinst leicht. »Jedenfalls aus der Sicht von Nayla.«
»Nayla?«
»Du.«
Oh. Der Teufelssohn sollte mich ja verführen, kein Wunder, dass er auf mich also extrem hübsch wirkte. Aber wie sollte ich ihn dann ausmachen, wenn ich sechs gut aussehende Jungen kannte? Dave zog eine Augenbraue hoch. »Schon eine Idee?«
Ich sah ihn etwas zu lange an. Da richtete Dave seinen Blick über meinen Kopf hinweg und löste schnell meine Hände von seinen Schultern. Ich drehte mich um und erblickte Riley etwas misstrauisch zu uns rüber stieren.
Ich ging einen Schritt zurück und atmete einmal tief durch. »Okay, dann treffen wir uns am Montag bei mir.«
Dave sah mich ein wenig verwirrt an, aber ich hatte keine Zeit, ich wollte unbedingt verhindern, dass Riley von diesem Märchen erfuhr. Ich nickte ihm nur eindringlich zu und kam um die Ecke.

Auf der Fahrt sagte lange keiner was. Ich hatte mich in meinem Ledersitz zurück gelehnt und starrte schon eine Weile aus dem Fenster. Wir fuhren auf irgendeinem Highway – ich wusste nicht wo wir waren – und rechts von uns glitzerte das Meer. Ich dachte an Dave. Und an Josh. Und an diese Jolina. Was sollten wir nun tun? Ich schielte zu Riley rüber, doch er war in den Verkehr vertieft. Egal, ihn würde ich sicherlich nicht um Rat fragen. Wenn er nichts von dem Märchen erfuhr, dann hatten wir vielleicht immer noch eine Chance es zu durchbrechen. Plötzlich fühlte ich mich wie eine Agentin, die etwas sehr schwerwiegendes verhindern musste. Aber irgendwie war es ja auch so. Hatte Dave nicht auch gesagt, dass welche sterben würden? So wie immer? Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, wer es gewesen war. Ich? Ja. Wenn Owen mich in die Finger kriegen würde, würde er mir … Ich musste tief schlucken, damit mir nicht schlecht wurde. Ja, er würde mir das Herz rausreißen und zwar wortwörtlich.
»Bist du schon aufgeregt?«
Rileys liebe Stimme riss mich fern von den Gedanken an meinen schrecklichen Tod und dafür war ich ihm in vielerlei Hinsicht dankbar. Er machte nicht einmal eine Anspielung auf Dave und das war auch gut so. Er sollte für ihn besser ein Fremder sein.
»Ja«, sagte ich und da fiel es mir auch selbst auf. Natürlich war ich aufgeregt, ich freute mich sogar richtig. Auch wenn ich Riley nie lieben werden würde – das wusste ich einfach – ein guter Freund war er trotzdem. Das wusste ich von dem Moment an, als wir zusammen in dem Sand gelegen hatten. »Sicher, dass du nichts vergessen hast? Unser Zelt zum Beispiel?«
Grinsend sah ich ihn von der Seite an. Riley lachte. Das laute, freundliche Lachen ließ mich entspannen und die Märchensache für einen Moment vergessen. Er strich sich einmal durch das blonde Haar, kurbelte das Fenster runter und legte seinen rechten Arm hinaus.
»Klar. Ich vergesse so schnell nichts, glaub mir.«
Ich schüttelte lachend den Kopf. Typisch Junge. Ich musste wieder an Dave denken. War Riley denn typisch? Nein. Er war genauso wie wir alle eine Figur in einem gottverdammten Spiel.
Traurig blickte ich auf seine Hand, mit der er geschickt das Lenkrad drehte. Wie konnte ich es bloß verhindern, dass der Teufel ihn umbrachte? Und da fiel es mir wieder ein. Riley würde sterben. Wegen mir.
Geschockt sah ich von ihm weg. Ich kurbelte ebenfalls das Fenster runter und hielt mein plötzlich ganz heißes Gesicht in den kalten Fahrtwind. Ich merkte, wie mir schlecht wurde. Er würde sterben. Owen, sein eigener Vater, würde ihn umbringen!
Den Tränen nah, schielte ich noch einmal zu ihm. Und auf einmal hatte ich Angst, er könnte einfach so tot umfallen. Mich im Stich lassen. Jetzt hatten wir alle Spieler zusammen. Alle Rollen. Wann fing das Märchen also an? Verfolgte uns Owen gerade? Oder ließ er sich noch ein wenig Zeit? Bis es anfing sollte ich vielleicht doch noch wissen, wer der Teufelssohn war. Toll, wen fand ich denn besonders attraktiv? Dave.
Ich musste ihn unbedingt fragen, wen er verkörperte. Ich atmete die kalte Luft ein und schloss die Augen.

Als ich die Augen das nächste Mal öffnete stand der Wagen im Sand und Riley streckte sich gerade neben der offenen Tür. Sein fröhliches Lachen drang zu mir und ich hätte am liebsten angefangen zu weinen.
Hast du eine Ahnung in welcher Gefahr du bist? Weißt du, dass du sterben wirst? Vielleicht sollte ich ihn genauso wie Dave mich bitten, dass er sich von Owen fernhielt. Aber wie brachte man einen dazu, sich von seinem eigenen Vater fernzuhalten?
Aber wie konnte er der Prinz sein, wenn Owen doch sein Vater war? Der Teufelssohn … musste der nicht auch Owens Sohn sein? Wenn Riley der Prinz war, dann musste … Josh der Sohn sein.
Okay, ganz ruhig. Am Montag, wenn du dieses Wochenende überstanden hast, wirst du Dave einfach fragen. Ich hoffte bloß, er würde zu dem Treffen kommen.
»Komm und sieh es dir an, Ally.«
Riley schlug die Tür zu, bückte sich kurz, wahrscheinlich um seine Schuhe auszuziehen und rannte dann durch den weißen (!) Sand zum Meer. Ich lächelte. Dann zog auch mich das Meer an. Ich sprang aus dem Wagen, schmiss meine Ballerinas von mir und stolperte hinter Riley her. Dieser war schon bis zur Hüfte im Wasser, obwohl er noch seine Klamotten – ein weißes T-Shirt und eine rot-blau karierte Dreiviertelhose – trug.
Mit einem hellen Schrei rannte ich zu ihm und ließ mich mit meinem Kleid ins Wasser fallen.
Ich blinzelte zu Riley herauf, der mich angrinste. Vielleicht würde das Wochenende gar nicht so schlecht werden. Riley kniete sich zu mir kam mit dem Gesicht ganz an meins heran. Und dann, so schnell konnte ich gar nicht nachdenken, berührten seine Lippen meine.
Wütend stieß ich ihm vor die Brust. »Was sollte das denn?!«
Verletzt ging Riley ein wenig zurück. »Ich dachte … naja … vielleicht könnten wir es mal probieren. Vielleicht spüren wir ja was.«
Wie vor den Kopf gestoßen starrte ich auf meine Hände im Wasser. Die wackelnde Oberfläche ließ sie verzerrt aussehen. Da hatte er natürlich nicht ganz Unrecht. Wir könnten es tatsächlich mal ausprobieren und wenn wir nichts spüren sollten, dann … ja was dann? Dann war alles so wie vorher?
»Tut mir leid …«, flüsterte ich. »Aber du hättest mich vorwarnen sollen!«
»Vielleicht hättest du dir dann aber eingeredet, dass du sowieso nichts spüren wirst?«
Hm. Vielleicht. Aber hatte ich denn jetzt was gespürt? Hatte ich ein Kribbeln gespürt?
Nein.
Aber diese Antwort erschien mir so hart, dass ich sie vor Riley einfach nicht aussprechen konnte.
»Und? Hast du was gespürt?«, fragte ich lieber zuerst und lächelte leicht. Rileys Kieferknochen spannten sich an und ich wusste, dass er genauso nichts gespürt hatte, wie ich. Ich legte meine nasse Hand an seine weiche Wange. »Macht nichts. War bei mir auch so.«
Er ließ seinen Kopf in meine Hand sinken. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Es tut mir leid. Ich glaube einfach, mein Herz kann nicht auf Kommando lieben.«
»Das muss es auch nicht! Meins kann es auch nicht«, sagte ich beschwichtigend. »Weißt du noch, als du gesagt hattest, wir könnten unsere Eltern täuschen?«
Riley grinste. »Ja.«
Ich nickte und er wusste damit, dass ich einverstanden war. Ich beugte mich nach vorne. »Freunde?«
»Freunde.«
»Und keine weiteren Zärtlichkeit auf dieser Reise, ja?«
»Einverstanden.«
Wir gingen aus dem Wasser und legten unsre Klamotten in die Sonne. Mir machte es nichts aus, dass Riley mich in Unterwäsche sah. Dann räumten wir das Auto aus und versuchten das Zelt und den Grill aufzubauen. Selbst mit Rileys Hilfe und der sehr aufschlussreichen, leider auf französischen Anleitung, hatten wir es dann endlich am Abend fertig.
Lachend ließ ich mich in den Sand fallen. Die heiße Sonne hatte uns auch nicht sehr damit geholfen gehabt. Jetzt kühlte uns die Abendluft ein wenig.
»So, fehlt noch der Grill«, sagte Riley und rümpfte die Nase. Er sah genauso erschöpft aus, wie ich mich fühlte.
»Komm, das machen wir morgen. Du hast doch Kekse und Chips und Cola dabei, oder?«
Riley nickte, ging zum Auto und trug eine große Einkaufstüte und eine Kühltasche zum Zelt.
Wir zogen unsere Pyjamas an und bliesen die Matratzen auf. Dann machten wir es uns im warmen Zelt gemütlich und fraßen drei Packungen Chips und tranken eine Flasche Cola leer.
Wir unterhielten uns über die Sachen, die unsere Eltern uns für diese Tradition aufgedrängt hatten und lachten sie, geschützt von dieser Wildnis, aus.
Riley hatten sie sogar ins Ballett stecken wollen, aber da hatte er sich dann doch noch raus winden können, dafür musste er Tennis spielen.
»Besser diese enge, weiße Tennishose, als ein Trikot!«
Ich lachte. Ich kannte einige Männer, die bei mir im Ballett tanzten, aber keiner von denen war schwul. Einer hatte mich sogar schon mal zu einem Kaffee eingeladen, aber da hatte ich traurig absagen müssen. Das war vor zwei Jahren gewesen. Jetzt würde ich nicht mehr nein sagen. Ich war über die Aktion herausgewachsen. Die Tradition durfte einfach mein Leben nicht ruinieren.
»Hach ja …«, seufzte ich, nachdem ich mich vom Lachen wieder erholt hatte.
»Bist du schon müde?«
Als Riley das erwähnte, musste ich auch gleich darauf kräftig gähnen. Er suchte seine silberne Armbanduhr und meinte, es sei halb zwei Uhr morgens. Also beschlossen wir uns schlafen zu legen. Wir räumten noch schnell die restlichen Sachen entweder ins Zelt oder ins Auto, was Riley dann auch abschloss. Wir waren gerade auf dem Weg zurück zum Zelt, als Riley stehen blieb.
»Ich gehe aber noch kurz auf Klo, in den Wald.«
»Nein!«, rief ich und sah mich panisch um. Die ganze Zeit hatte ich das Märchen und Rileys Tod verdrängt. Aber ihn jetzt im Dunkeln gehen zu lassen, schien mir nicht sehr gut. Was war, wenn Owen plötzlich hier lauerte und ihn umbrachte? Und mir danach das Herz rausriss?
Mein Atem wurde schneller. Riley runzelte die Stirn und verstand zuerst nicht recht, was los war. Aber ich konnte es ihm nicht erzählen, er würde mich für krank halten. Dann erhellte sich sein Gesicht und er grinste.
»Du hast Angst?«
Ich wollte schon die Augen verdrehen und Nein sagen, als mir klar wurde, dass das die perfekte Ausrede war.
»Ähm … Ja.« Ja, um DICH!
Riley hörte nicht auf zu grinsen und kam zu mir. Er strich mir einmal kurz über die Wange. »Tut mir leid. Aber ich muss wirklich mal ganz dringend. Ich bin sofort wieder da, ja?«
Ich schluckte und nickte. Ich schwor mir, dass ich hier auf ihn warten würde, dann würde ich sein Schreien, falls er denn Zeit zum Schreien hatte, bevor er starb, besser als im Zelt hören. Dann könnte ich so schnell wie möglich zu ihm rennen und ihn retten. Aber würde Owen mich dann nicht auch umbringen? Würde er auf mich warten? Würde er Riley vielleicht nur foltern, damit ich kam? Würde er Riley vielleicht dazu zwingen meinen Namen zu rufen, damit ich in die Falle tappte?
Ich ließ mich in den Sand sinken und es war mir egal, das meine nachtblaue Pyjamahose dadurch voller Sandkrümel wurde. Ich drückte meine Augen auf meine Knie und betete, dass Riley gleich wieder gesund auftauchen würde.
Ein Schrei.
Erschrocken richtete ich mich auf. »Riley!« Aber es war bloß ein dummer Vogel, der jetzt aufgeschreckt von meinem Ruf aus seinem Versteck flog. Ich packte einen Stein, der in dem Sand ruhte und warf ihm sauer dem Vogel nach, aber er war zu hoch, als dass ich ihn hätte treffen können.
Ich hörte ein Rascheln hinter mir. Für einen Moment dachte ich, es wäre Owen, der mich durch meinen Ruf ausfindig hatte machen können, aber es war nur ein hektischer und panischer Riley. Er raste zu mir und packte mich an den Schultern.
»Was ist los? Alles okay? Wieso hast du gerufen? Was ist passiert?«
Ich lachte hysterisch. Es ging ihm gut. Und wahrscheinlich hatte ich ihn beim Pinkeln auch noch gestört. »Nein, nein. Mir geht’s gut«, sagte ich. Ich würde ihm von dem Vogel nicht erzählen, denn dann müsste ich ihm auch gestehen, dass ich Angst um ihn hatte und dann wären wir direkt bei dem Thema Märchen und das wollte ich ja schließlich vermeiden.
»Ich wollte dich nicht stören«, sagte ich ein wenig beschämt und senkte den Kopf.
»Ach Quatsch. Ich war sowieso schon fertig und auf dem Weg zurück, als ich deinen Ruf hörte.«
Ich nickte erleichtert und wir krochen zurück ins Zelt. Er zog den Reißverschluss zu und wir kuschelten uns unter die warmen Fließdecken, mit den Gesichtern zueinander.
Wir lächelten leicht. »Gute Nacht, Ally.«

Diese Nacht träumte ich von Vögeln die, um mich zu verspotten, immer wieder aufschrien und sich dann vor Lachen nicht mehr einkriegten.
Langsam zog mich die Realität aus dem Traum und müde öffnete ich die Augen. Riley war schon auf und von draußen hörte ich Geklapper. Ich hockte mich an den Eingang und sah Riley, wie er in der warmen Mittagssonne sich am Grill zu schaffen machte. Er trug nicht mehr seinen Schlafanzug, sondern war schon in Badekleidung. Seine Haare tropften, also ging ich davon aus, dass er schon eine Runde schwimmen war.
Als er mich bemerkte grinste er und hielt die Gitterplatte hoch, die er gerade versuchte anzubauen. »Guten Mittag!«
Ich grinste. Ich krabbelte aus dem Zelt und breitete mich im Sand aus. Er war herrlich warm und die Sonne schien mir direkt ins Gesicht. So könnte ich den ganzen Tag liegen bleiben. Auch die Geräusche von Riley besänftigten mich. Das regelmäßige Klirren, wenn Metall an Metall schlug. Irgendwann fing ich an zu schwitzen und entschied mich ebenfalls in Bademontur zu begeben. Ich huschte hinters Auto und zog mich in Windeseile um. Auch wenn Riley und ich uns jetzt schon besser kannten, wollte ich nicht unbedingt, dass er mich nackt sah. Aber entweder hatte er gar nicht bemerkt, dass ich mich umzog, oder aber er war so höflich und arbeitete einfach weiter an dem Grill.
Ich stopfte meinen Schlafanzug in meinen Rucksack und schmiss diesen auf die Rückbank des Autos. Dann schlug ich die Türe zu und stampfte durch den Sand zu Riley. Er drehte sich um und pfiff durch den Zähne. Lieber hätte ich gelacht und irgendeinen Spruch abgelassen, aber stattdessen blieb ich ruhig, lächelte nur dumm und wurde wie immer rot. Riley war immer noch ein gut aussehender, großer, muskulöser Junge mit goldblonden Haaren, die im Sonnenschein zu glitzern schienen und wunderschönen grünen Augen. Er war immer noch ein Traummann, zwar nicht meiner, aber trotz all dem.
Riley kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchte meine Reaktion zu analysieren. Dann grinste er und drehte sich wieder zum Grill. Hm, wahrscheinlich war er jetzt selbstzufrieden, weil er genau wusste, dass mich das in einem Pfiff ausgedrückte Kompliment eingeschüchtert hatte. Aber ich war mir sicher, dass wenn Dave gepfiffen hätte, ich zu einer Tomate geworden wäre. Ganz sicher.
»So, du warst also schon ohne mich schwimmen, ja?«, sagte ich so überheblich wie ich konnte und stemmte die Hände in die Hüften. Amüsierten Blickes drehte sich Riley wieder um und überlegte einen Moment, bevor er den Schraubenzieher fallen ließ und auf mich zu rannte. Er packte mich um die Taille und schmiss mich über die Schulter. Das hatte ich schon oft bei Pärchen in Filmen gesehen, oder wenn jemand gekidnappt wurde, aber ich hätte nie gedacht, dass Riley das mit meinem Gewicht schaffen würde. Ich trommelte auf seinen warmen Rücken und kicherte wie ein kleines Kind, aber Riley ließ mich erst runter, als wir schon weit im Meer waren. Schreiend fiel ich in das salzige Wasser und tauchte keuchend oben wieder auf.
»Du bist so-«, fing ich an, aber mir fiel kein passendes Adjektiv ein. Riley sah mich erwartungsvoll an und um aus der Situation zu weichen spritzte ich im Wasser ins Gesicht und schwamm so schnell ich konnte weg.
Ich dachte schon ich hätte mich weit genug entfernt, als ich plötzlich eine warme Hand an meinem rechten Fuß spürte. Lachend versuchte ich sie wegzutreten, aber sie ließ sich nicht entfernen. Immer fester wurde der Griff und fing allmählich an zu schmerzen.
»Riley, hör auf, bitte … das tut weh«, sagte ich und drehte mich um. Riley war nicht hinter mir. Ich tauchte meinen Kopf unter und suchte unter Wasser nach einem Anzeichen nach ihm, aber er war nirgends. Panisch blickte ich um mich. Am Strand stand noch immer sein Auto, unser Zelt und der nicht fertige Grill. »Riley?« Ich versuchte auf dem einen Bein an Land zu hüpfen, denn das andere wurde immer heißer und ich hatte das Gefühl, dass sich die Finger, die nicht vorhanden waren, in mein Fleisch bohrten. »Riley!« Meine Stimme wurde immer greller und mir wurde schwindelig. Mein Fuß schien zu kochen und neben mir stiegen auch Bläschen im Wasser auf. Heiß. Hitze. Owen.
»Riley! Riley!«
So gut ich konnte transportierte ich mich zum Strand und krabbelte zu unserem Zelt. Aber Riley war auch dort nicht. Ich schnappte mir den Schraubenzieher und unterdrückte die Erinnerung an den grinsenden Riley. Wenn Owen gleich auftauchen würde, hätte ich wenigstens eine kleine Waffe, mit der ich mich verteidigen konnte.
Ich konnte noch immer nicht auftreten. Als ich Riley auch im Auto nicht fand, besah ich mir erst einmal meinen Fuß.
Er war angeschwollen und rote Streifen zierten mein Fußgelenk. Wie Schatten einer Hand. Ich wagte nicht meinen Fuß anzufassen. Da saß ich also im Sand, mit dem Rücken an das von der Sonne aufgewärmte Blech des Autos, mit einem Schraubenzieher in der Hand und einem auf mysteriöse Weise angeschwollenen, unbrauchbaren Fuß.
Ich blickte auf die Weiten des Meeres. Leise kullerten mir ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Ich wischte sie nicht weg. Sollte Owen mich doch finden und mir das Herz rausreißen. Dann hätte das Misstrauen vor allem und jeden endlich ein Ende.
Ich starrte weiterhin das blaue Meer an, als mir plötzlich klar wurde, dass ich gar nicht im Wasser nachgeschaut hatte. Voller Hoffnung stand ich auf und ignorierte den heißen Schmerz der mir durch den Körper schoss, als ich den Fuß aufsetzte.
»Riley … Riley!«
Stöhnend kam ich am Wasser an und krabbelte in die Wellen hinein. Ich tauchte meinen Kopf wieder unter und öffnete die Augen. Sofort floss das Salzwasser in die Augenhöhlen, aber ich zwang mich dazu die Augen offen zu halten. Ich krabbelte weiter vorwärts, bis ich schließlich weiter hinten einen schwarzen Schatten sah. Hektisch fing ich an zu schwimmen, ein wenig verlangsamt durch meinen Fuß, aber ich versuchte so schnell zu sein, wie ich konnte. Vielleicht kam ich noch nicht zu spät. Vielleicht konnte ich Riley noch vor Owen bewahren.
»Riley!«
»Ally!«
Durch den verzweifelten Ruf bestärkt beschleunigte ich mein krüppelhaftes Schwimmen, bis ich bei dem Schatten ankam. Doch der Schatten schien wieder weiter weg zu sein. Ich blickte hinter mich. Nein, ich war wirklich geschwommen, aber wie eine Fata Morgana flimmerte sie weitere 50 Meter entfernt. »Riley …«
Erschöpft ließ ich mich auf dem salzigen Wasser gleiten und stierte auf den Schatten.
»Ally! Bitte wach auf! Ally! Verdammt!«
Verwirrt öffnete ich die Augen. Wann hatte ich sie geschlossen? Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich bekam überhaupt keine Luft. Riley, der über mir kniete drückte mich zur Seite und ich hustete. Aus meinem Mund kam eine Menge Wasser und vermischte sich mit dem warmen Sand unter mir zu Schlamm.
Keuchend setzte ich mich auf und starrte Riley fassungslos an. Wie kam ich an den Strand? War ich nicht eben noch im Wasser gewesen und hatte auf einen Schatten geschaut? Einen Schatten, den ich als Riley vermutete, und der unerreichbar schien?
»Was-«
»Du bist von einer Qualle berührt worden und hast das Bewusstsein verloren. Bevor ich bei dir sein konnte warst du schon ein paar Minuten unter Wasser.«
Ich blickte auf meinen Fuß und sah die roten Streifen. Eine Qualle? Also war Owen nie hier gewesen? War das gar nicht passiert? Hatte ich das in meinem Dämmerzustand, als ich kein Bewusstsein hatte, mir bloß eingebildet? Habe ich Riley nie gesucht? Habe ich nie weinend mit einem Schraubenzieher an seinem Auto gelehnt?
Besser ich sprach Riley nicht darauf an. Völlig fertig legte Riley sich auf den warmen Sand und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Als ich ihn so betrachtete stiegen mir wieder die Tränen in die Augen. Ich war so nah dran gewesen ihn zu verlieren. Das wurde mir mit einem Schlag plötzlich so bewusst, dass mir die Tränen nur so übers Gesicht rannen.
Riley nahm die Hände vom Gesicht als er mein Schluchzen hörte und setzte sich schlagartig auf.
»Ganz ruhig, Ally. Es ist doch nichts passiert.«
Besänftigend nahm er mich in den Arm und drückte mich an seine freie Brust. Geborgen schmiegte ich mich an ihn. Wie froh ich doch war, dass ich ihn hatte.
S achte hob ich den Kopf an und sah in seine grünen, ehrlichen Augen. Ich dachte an den Kuss gestern. War es wirklich falsch sich in Riley zu verlieben? Aber da war doch noch Dave. Oder? Ich legte meine Hände auf seine Wangen und umrahmte somit sein Gesicht. Dann küsste ich ihn spontan auf den Mund. Riley wich nicht zurück, nein er ließ es zu, öffnete sogar den Mund.
Während des Kusses musste ich daran denken, dass ich ihn retten musste. Er würde sterben, wenn das Märchen ablief. Er würde von Owen getötet werden. Sollte ich nicht doch lieber einen Versuch starten und ihn irgendwie von seinen Vater fernhalten? Aber wird er es mir glauben? Wird er mich nicht eher für verrückt halten? Vielleicht war ich das ja auch. Immerhin glaubte ich irgendwelchen wildfremden Jungen, das mein Leben ein Märchen war. Vielleicht war es besser, wenn ich mich einfach von Dave und seiner Crew fernhielt und mich auf mein Leben konzentrierte. Ich würde Riley heiraten und vielleicht würden wir uns ja doch noch ineinander verlieben, wer weiß.
Aber da war immer noch Owen.
Riley löste meinen Mund von seinem. In seinen Augen war keine aufgeflammte Liebe zu sehen, wie ich es vielleicht erhofft hatte. Nein, sein Blick war ernst.
»Ich dachte wir hatten beschlossen keine Liebe auszutauschen?«
Ich wusste nicht was ich darauf sagen sollte. Er hatte Recht. Ich selbst hatte gesagt, dass wir nur Freunde waren. Ich hatte ihn abgewiesen, als er mich geküsst hatte. Und jetzt? Jetzt küsste ich ihn einfach, weil ich so frustriert war? Das war totales Ausnutzen.
»Tut mir leid«, sagte ich schnell und rappelte mich auf. Die Sonne schien erbarmungslos auf den verlassenen Strand und die ganze Situation kam mir einfach nur total falsch vor. Vor allem weil ich die ganze Zeit an Dave denken musste. War ich wirklich in ihn verliebt? Denn dieses Wochenende mit einem anderen Jungen … das fühlte sich nicht richtig gegenüber Dave an.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und stellte mich wieder vor Riley, der noch immer im Strand hockte. Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Er war nicht verletzt. Er war nicht sauer. Nein, er hatte eine gleichgültige Miene und ich konnte nicht erraten, wie es ihm dabei ging.
»Lass uns nach Hause fahren. Bitte. Mein Fuß sollte untersucht werden, meinst du nicht auch?«
Das mit dem Fuß war natürlich nur einer der vielen Gründe, warum ich plötzlich nach Hause wollte, aber wahrscheinlich der beste, den ich gegenüber Riley erwähnen konnte. Riley nickte nur kurz, stand auf und fing an den Grill abzubauen.
Ich unterdrückte das schlechte Gewissen und humpelte zum Zelt. Ich kramte unsre Matratzen, unsre Schlafsachen und Essensreste heraus, packte sie ins Auto und wollte mich gerade ans Zelt ranmachen, als Riley mir die Hand auf die Schulter legte.
»Ally, du musst mir nichts vormachen. Ich hab doch gesehen, wie du diesen komischen Jungen vor der Schule gestern angesehen hast. Und das ist okay«, sagte er, aber seinem Blick nach zu urteilen war das mit dem Okay wohl nicht der richtige Ausdruck. Ich setzte zu einer Erwiderung an, doch er redete einfach weiter. »Vielleicht sollten wir einfach ehrlicher zu einander sein.« Ehrlicher? Hieß das etwa ich belog ihn? »Ich meine, wir können doch Freunde sein. Und Freunde erzählen sich alles.« Er zögerte einen Moment, bevor er mit dem rausrückte, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Ich liebe dich nicht. Ich meine, ich habe das Gefühl, dass ich dich nicht lieben kann. Ich- ich weiß nicht wieso aber ich sehe in dir einfach keine Liebe.«
Er sah mich nicht an. Das konnte er nicht. Es hatte ihn schon viel gekostet mir das überhaupt zu erzählen.
Und ich sagte nichts. Blickte ihn jedoch an.
»Es ist nicht so, dass ich dich nicht hübsch finde oder sympathisch. Ich … finde dich klasse, so wie du bist. Aber das schlägt bei mir nicht an.«
Er wagte einen Blick in meine Augen. Ich stolperte einen Schritt zurück. Obwohl er Recht hatte, obwohl ich genau das Gleiche über ihn dachte, obwohl er mir nicht hatte weh tun wollen und obwohl ich nie erwartet hatte, dass er mich liebte, ließ ich die Heringe fallen, die ich schon rausgezogen hatte und rannte über den Strand zu der Waldstraße, über die wir hergekommen waren. Riley rief mir nach.
»Was ist denn jetzt los? Wo willst du hin?«
Ich dachte an Dave. Dieselben Worte hatte er mir nachgerufen, als ich weggerannt war. Und sie hatten beide Recht gehabt. Ich drehte wahrscheinlich den Falschen den Rücken zu.
Ich kam an der Hauptstraße an und humpelte über die Straße. Autos hupten und machten einen Bogen um mich. Wie musste ich auf sie wirken? Ich war ein Mädchen mit nassen Haaren, nur im Bikini und einem roten, geschwollenen Fuß, den ich nicht aufsetzen konnte.
Unglücklich hinkte ich also die Hauptstraße entlang bis plötzlich laut quietschend ein Auto neben mir zum Stehen kam. Ich hatte mich so erschrocken, dass ich rücklinks auf die Straße gefallen war und meine Hände aufgeschrammt waren. Die Autos drum herum hupten verärgert und viele Autofahrer zeigten dem Mann, der nun aus dem Auto stieg den Mittelfinger. Der Mann war sehr groß und ungefähr Mitte 40. Er schlug die Tür zu und achtete nicht auf den Verkehr um ihn herum. Er kam auf mich zu und hockte sich vor mich. Ein schleimiges Grinsen lag auf seinen Lippen. Seine ergrauenden, braunen gelockten Haare hatte er mit ein wenig Gel zurück gekämmt. Er streckte seine große, raue Hand aus und zog mich hoch. Die Berührung war wie immer heiß und ich ließ seine Hand direkt wieder los, nachdem ich auf dem Beifahrersitz saß.
Owen hatte ein sehr teures Auto und ich wunderte mich, dass er sich nicht weigerte mich in dem Prachtstück mit nassem und mit Sand überstreutem Bikini sitzen zu lassen. Er ging um sein Auto herum und stieg ebenfalls ein. Owen fuhr ein schwarzes Auto und innen waren beige Ledersitze. Sein Armaturenbrett war ebenfalls wie der Lack außen in Hochglanz poliert. Ich fragte mich was für ein Auto das war.
»Es ist ein Tesla. Model S.« Anscheinend hatte Owen meine Miene deuten können. Mit dieser Angabe konnte ich allerdings nichts anfangen. »Ein sehr teures Auto«, sagte Owen und startete den Motor. Ich konnte nicht anders als in sein Gesicht zu schielen. Er grinste.
Irgendwie fühlte ich mich überhaupt nicht unwohl. Im Gegenteil ich war froh, dass ich den Weg nicht zu Fuß hatte gehen müssen. Das Einzige was mich störte, war, dass Owen während der Fahrt immer mal wieder zu mir rüber sah und jedes Mal wurde mir unglücklicherweise bewusst dass ich halbnackt war. Ich faltete die Hände in meinem Schoß und krallte die Nägel in die Handflächen.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Nein!«, sagte ich schnell und Owen lachte laut und rau. Erst da musste ich daran denken, dass er überhaupt keinen Aufstand machte, wieso ich das Wochenende mit Riley und so mit den Plan der Tradition durcheinander brachte. Aber ich traute mich nicht zu fragen. Allerdings konnte ich nicht nach Hause. Nur weil Owen komischerweise so leicht damit umging, hieß das nicht, dass meine Mutter und meine Tante nicht überaus empört wären, wenn ich plötzlich vor ihrer Tür stände.
»Irgendein anderes Ziel?«
Am liebsten würde ich für mich alleine sein. Nicht mal zu Dave wollte ich jetzt. Aber es gab ja noch die anderen drei. Ethan, Logan und Sam. Wenn ich doch nur wüsste, wo die drei wohnten!
»Ich kenne einen netten Jungen, zu dem ich dich fahren könnte. Er ist ein alter Freund von Rileys großem Bruder.«
»Josh?«
Misstrauisch sah Owen mich an. »Du kennst ihn?«
»Nein. Also ich meine, nein ich kenne ihren älteren Sohn nicht, nein.«
Verdammt. Ich hatte Riley doch versprochen nicht mit Owen über seinen Bruder zu reden. Aber ein gutes hatte es doch gehabt. Jetzt war ich mir sicher, dass der Josh, den ich kannte, Rileys Bruder war. Josh hatte ich natürlich auch noch. Aber Owen jetzt vorzuschlagen, mich zu Josh zu fahren, wäre wohl nicht so gut.
Owen nickte nur und blickte wieder auf die Straße.
»Wie gesagt, er ist nur drei Jahre älter als du und ich denke er würde dich bis Montag beherbergen. Er hat eine große Wohnung weiter in der Stadt.«
Ich versuchte diese merkwürdige Seite von Owen zu ignorieren – immerhin bot er mir eine Nacht und einen Tag mit einem anderen Jungen an! Ich könnte mich ja – nur mal theoretisch – in den Jungen verlieben und somit die Tradition gefährden.
»In Ordnung, danke«, sagte ich also.
Owen kutschierte mich noch ungefähr eine Viertelstunde in seinem Wagen, dann hielt er vor einem Haus, in dem wohl geschätzte 12 Wohnungen waren.
Ich bedankte mich und machte mir erst Gedanken über mein Auftreten, als Owen schon davon gefahren war und ich auf die Klingel gedrückt hatte. Dieser unbekannte Freund hieß mit Nachnamen Strong. Ein ganz normaler Name. Aber als der junge Mann mir öffnete war er alles andere als normal.
»Ethan?!«




Kapitel 5 - Ethan





»Ally?!«
Geschockt sahen wir uns beide an, bis Ethans Blick an meinem Körper herunter glitt. Ich wurde rot im Gesicht und kreuzte die Arme vor der Brust. Und auch Ethan war nur ein junger Mann, der bei so einem Anblick anfing zu grinsen.
»Klamottenmangel?«
»Nein«, sagte ich und mied in jeder Hinsicht den Blickkontakt mit ihm. Konnte er mich nicht einfach rein lassen?
»Und woher weißt du wo ich wohne?«
»Ein … ähm Bekannter hat mich hergefahren. Könntest du mich bitte rein lassen?«
Ethan trat zur Seite und ich tapste auf den kalten Marmorboden des Treppenhauses. Ethan schloss die große, weiße Tür und sprang leichtfüßig die Wendeltreppe nach oben. Ich dachte schon das Haus würde nie mehr enden, als wir schließlich ganz oben angekommen waren und er in die offene Wohnungstür trat. Er bat mich hinein und schubste die Tür mit einem Fuß zu.
Da standen wir also. Seine Wohnung war sehr modern eingerichtet. Sie war sehr hell und offen. Weiße Fliesen und weiße Tapete. Etwas zu kahl und auch kalt für meinen Geschmack. Bei uns zu Hause war zwar auch alles aufgrund unseres Reichtums modern eingerichtet aber trotzdem schien es wohnhafter als hier.
Ich hatte noch immer nicht meine Arme gelockert. Ethan verschwand in einem Zimmer und kam mit einer schwarzen Strickjacke wieder. Er hielt sie mir hin und lächelte. Um mein Herz wurde es wieder ganz warm, wie an dem Abend, als ich die Jungs zum ersten Mal getroffen hatte. Ich lächelte ebenfalls und nahm die Jacke entgegen. Sanft glitt der Stoff über meine Arme.
Natürlich war sie mir zu groß, aber das war egal. Die Jacke roch nach einem perfekten Männerparfüm. Einfach himmlisch. Aber ich versuchte nicht zu sehr an ihrem Kragen zu schnüffeln.
»Hast du Hunger, Durst?«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich heute noch nichts zu mir genommen hatte. Ethan atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann steckte er seine Hände in seine tiefe Jeans und wippte auf den Sneakers vor und zurück. Er wusste wohl nicht so recht, was er nun mit mir anfangen sollte.
Plötzlich hörte ich ein Vibrieren und Ethan kramte umständlich sein iPhone aus der Hosentasche. Er sah kurz auf das Display – seine Augen weiteten sich –, dann zeigte er entschuldigend auf das Handy und verließ den Flur. Unschlüssig stand ich nun alleine auf dem roten, weichen Teppich und schämte mich für mein Auftreten.
Ich hörte aus dem Zimmer, in das Ethan gegangen war, seine Stimme.
»Aber ich glaube nicht, dass ich sie so schnell dazu bringe. Ich kenne sie doch erst seit ein paar Tagen. Und wir haben uns seit Tagen wiederum nicht gesehen!«
Meinte er mich? Zutreffen würde es auf jeden Fall. Ich kämpfte mit mir, aber schließlich schlich doch zur Holztür und legte mein Ohr daran.
»Ja … okay, ich versuch es. Naja, ich denke vom Aussehen her wird das kein Problem sein.« Er lachte laut. »Nein, das ist nicht arrogant, das ist bloß Selbstkenntnis.«
Dann murmelte er irgendetwas leise, was ich nicht verstehen konnte und musste wohl aufgelegt haben. Aber zu spät. Dadurch dass ich das Auflegen nicht durch ein Tschüss identifizieren konnte, war ich noch immer in Lauschstellung, als Ethan die Tür öffnete.
Peinlich berührt hüpfte ich zurück und wagte es nicht ihn anzusehen.
»Du spionierst mir also nach?«
Ich schielte hoch. Er sah nicht wütend aus, nicht mal ein wenig sauer. Nein, ich konnte sein Gefühl nicht ausmachen. Er war … ja, verschlossen.
»Nein, ich-«
»Sag einfach Ja, das reicht, Ally.«
Ich wollte es wieder verleugnen, aber im Grunde war das sinnlos. Ich hatte spioniert, auch wenn ich das nicht so hart ausdrücken würde, und das wusste Ethan.
»Ja.«
Ethan grinste. »Jetzt Hunger?«
»Ein wenig …«
»Ich könnte Spagetti kochen, zu mehr bin ich leider nicht fähig«, meinte Ethan und führte mich in eine große Küche.
»Wie isst du dann? Du kannst dich ja nicht nur von Nudeln ernähren!«
»Ich hab da so eine nette Haushelferin, die mir immer etwas kocht. Außerdem habe ich genug Geld, um mir jeden Tag etwas fertig Gekochtes zu kaufen.«
Ethan stellte einen Topf auf den Herd und schmiss mir ein Parmesantütchen und eine Nudelpackung entgegen. Nur mit großer Mühe konnte ich die Gegenstände noch grade so fangen. Ethan kam auf mich zu und nahm mir langsam die Nudeln ab.
»Mehr Reaktion, Süße.«
In dem Ton, in dem er das sagte, kroch mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Wer war der Anrufer gewesen?
Während Ethan Wasser in den Top füllte und den Herd anstellte beobachtete ich ihn genau. Nichts, aber auch gar nichts ließ auf einen Hinterhalt führen. Und doch wurde ich das komische Gefühl nicht los, dass der Anrufer nicht unbedingt mein Wohlergehen wollte.
Ich ging in der Zeit, in der die Nudeln kochten, in das große Wohnzimmer mit Blick auf die Stadt und stellte mich ans Fenster. Die Aussicht war atemberaubend. Und für einen Moment vergaß ich vollkommen alles. Dave. Riley. Das Märchen. Und dass mein Leben wahrscheinlich vollkommen im Arsch war.
»Pasta ist fertig, meine Liebe.«
Durch diesen kleinen Satz wurde ich so hart wieder in die Realität geschleudert, dass ich mir sogar den Kopf rieb, als wäre ich wirklich auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen.
Lächelnd drehte ich mich um und setzte mich mit Ethan an den dunklen Holztisch, der mitten in dem weißen Raum stand.
Wir aßen schweigend. Nicht mal Ethan brachte ein Wort raus. Aber ich hatte das Gefühl, dass er mich ständig anstierte und das machte mich fast wahnsinnig.
»Darf ich fragen, wer eben am Telefon gewesen ist?«
Ich sah ihn nicht an, aber ich spürte die Anspannung, die ich in den Raum gerufen hatte. »Ein … Bekannter.«
Ich sah hoch. Sein rechter Mundwinkel war herausfordernd nach oben gezogen, aber das Grinsen schaffte es nicht bis in seine Augen. Diese braunen Knopfaugen funkelten mich gefährlich an, als würden sie sagen wollen »Pass lieber auf.«
Vielleicht sollte ich das in Zukunft auch.
»Du willst also hier hausen … für wie lange, wenn ich fragen darf?«
»Bis Montagmorgen, wenn das okay wäre.«
Ethan grinste. »Für hübschen Mädchenbesuch bin ich immer zu haben.«
Ich war unfähig ihm abräumen zu helfen. Dauernd diese Anspielungen, das gefiel mir nicht. Und plötzlich wünschte ich mir Dave herbei. Auch wenn er genauso geheimnisvoll und gefährlich wahrscheinlich war, vertraute ich ihm noch immer am meisten. Und vielleicht war das wiederum der Fehler. Aber ich konnte nicht allen misstrauen. Irgendwann musste ich mich entscheiden.
»Tja, eigentlich bin ich morgen ja auf ‘ner Party eingeladen …«
Er ließ den Satz in der Luft hängen und zeigte mir damit, dass er wollte, dass ich nachfragte. Also tat ich ihm den Gefallen.
»Welche Party?«
Ethan drehte sich um und kam zurück ins Wohnzimmer. Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Von Dave.«
Wieder ein Schlag ins Gesicht. Eine Party von Dave? Auf der ich nicht eingeladen war? Hatte ich mich so täuschen lassen? »Dave macht eine Party?«
Ethan deutete meine Miene genau richtig. Sein Mund formte sich zu einem überraschten O. »Du …« Er schlürfte zu mir und hockte sich neben meinen Stuhl. »Du fragst dich bestimmt, warum du nicht eingeladen bist, oder?« Mein Schweigen war meine Antwort. »Tja … also«, sagte Ethan seufzend. »Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass du kommst. Weißt du sie hat es nicht so gern, dass Dave immer so schnell der Mädchenschwarm ist.« Mitleidig sah er mich an und streichelte mir über die Wange.
»Sie?«
»Daves Freundin?«
Und schon wieder. Ich hätte gerne in einen Spiegel gesehen, um die Hinterlassung der Schläge zu begutachten, aber natürlich war dort nichts. Die Schläge trafen nicht mein Gesicht, sondern mein Herz. Dave war vergeben. Das versetzte mich in eine solche Traurigkeit, dass Ethan mich umarmte und somit tröstete. Dumm von mir zu glauben, dass so ein gut aussehender Junge mit so viel Charisma und Charme könnte mich mögen. Beziehungsweise, dass so ein Traumtype noch nicht zu einer hübschen Blondine gehörte.
Ethan kraulte mit seinen warmen Fingern mein feuchtes Haar. Und auf einmal kam Hass in mir hoch. Wie konnte Dave mir das antun? Wie hatte er mich so umgarnen können, wenn er doch in einer Beziehung war? Wie hatte er mit mir in einem Bett schlafen können, wenn irgendwo seine Freundin wartete? Oder war das von seiner Seite aus nie eine Anspielung auf mehr? Sah er mich nur als die Hauptrolle aus einem Märchen? Sah er mich vielleicht sogar als Bedrohung? Schließlich wollte er das Märchen verhindern. Vielleicht war er auch eine der Personen die dabei draufgingen? Tzz, sollte er drauf gehen. Sicher hatte er das mit Owen nur erfunden, um mein Vertrauen zu gewinnen. Pah, darauf konnte er jetzt verzichten. Wenn Owen wirklich der Teufel wäre, dann hätte er mich im Auto schon längst getötet oder entführt. Und die Sache nach dem Abend im Restaurant, als er mich so bedrängt hatte, hatte ich sicherlich schlimmer angesehen, als es gemeint war. Das Spielchen war bloß auf die Tradition bezogen. Ja.
»Wenn du mit möchtest, dann frage ich sie einfach, ob du doch kommen kannst«, sagte Ethan. Es war lieb gemeint, und doch wusste ich, dass Ethan ahnte, dass ich ganz sicher nicht möchte.
»Nein … ich will nicht zu dieser Party. Wenn Dave mich nicht eingeladen hat, dann wird das schon einen triftigen Grund haben, oder?«
Traurig sah ich Ethan an. Langsam nickte dieser. Okay. Dave habe ich also abgehakt. Und das Märchen auch.
»Alles klar, dann bleiben wir morgen zu Hause?«
Ich lächelte darüber, dass Ethan für mich eine Party von seinem Freund sausen ließ, aber da fiel mir wieder ein, dass Ethan und Dave ja gar nicht so einen guten Draht zueinander hatten. Vielleicht könnten Ethan und ich uns ja gut verstehen, jetzt, wo wir beide gegen Dave waren. Ich grinste.
»Und was werden wir tun?«
»Vielleicht dir erst einmal etwas zum Anziehen besorgen?«
»Ich fühle mich eigentlich ganz gut in deiner Jacke«, lachte ich und umarmte mich selber. Ethan stimmte in mein Lachen ein und half mir dann vom Stuhl auf.
»Trotzdem, ich kann meine liebe Nachbarin fragen. Die hat bestimmt noch was für dich.«
Ethan ging also zu der »lieben Nachbarin« und ich verschwand im Badezimmer. Ethan hatte mir erlaubt mich zu duschen – nicht ohne dabei zu grinsen und zu zwinkern.

Nachdem ich ein schwarzes Top und eine dunkle Jeans angezogen hatte, meine Haare geföhnt und zu einem Dutt geknuddelt hatte, hatten Ethan und ich uns auf zum Strand gemacht.
Er stellte das Auto an der Strandpromenade ab und half mir zum Wasser zu gelangen. Er hatte sich im Internet schlau gemacht, was man bei einer Berührung von einer Qualle – ich hatte ihm davon erzählt – am besten tun sollte. Und da ich nicht in ein Krankenhaus wollte, wegen meiner Mutter, schöpfte Ethan nun mit Händen Salzwasser und schüttete es über meinen Fuß. Dann schaufelte er haufenweise Sand darauf und ließ sich neben mich fallen.
Seufzend zog er mit einer geschmeidigen Bewegung sein Shirt aus und legte sich zurück in den Sand. Er blinzelte mir durch die Sonne entgegen. Es war schon später Nachmittag, aber die Sonne gab noch immer – wie jeden Tag eigentlich – eine Menge Kraft ab.
»Wer war denn der Bekannte, der dich hergefahren hat?«
»Wer war der Bekannte, der dich angerufen hat?«
»So clever die Gegenfrage ist, ich hab mehr Recht auf eine Antwort, Liebes.« Und wie Recht er hatte.
Aber ich wollte ihm nicht sagen, dass es Owen gewesen war, dann würde er sicher fragen, woher ich Owen kannte und dann müsste ich ihm von Riley erzählen und von der Tradition. Auch wenn er das wahrscheinlich schon alles wusste, wollte ich im Moment nicht an Riley denken. Erst heute Morgen hatte ich mit ihm im Wasser rumgetrollt. Hatte ich ihn geküsst.
Die Tränen stiegen mir sofort in die Augen und ich wendete den Blick ab. Hatte ich ihn jetzt in Gefahr gebracht? Wie vom Blitz getroffen war ich auf den Beinen, verzog das Gesicht wegen meinem Fuß und rannte zu den Dünen. Umständlich stand Ethan hinter mir auf, ließ sein Shirt einfach liegen, und war mit wenigen Schritten neben mir.
»Was ist denn jetzt los? Wo willst du hin?«
»Verdammt noch mal, könnt ihr mal aufhören immer den gleichen Satz zu sagen?«
Ethan lachte. »Welchen Satz denn?«
»Na, was ist denn los? Wo willst du hin?

« Genervt versuchte ich Ethan abzuhängen, aber er war natürlich mit seinen beiden gesunden Füßen viel schneller als ich.
»Wer hat den denn noch benutzt?«
Aus dem Ton seiner Stimme konnte ich raus hören, dass er sich immer noch darüber amüsierte. »Riley und Dave.«
»Dave?«
»Ja, am Tag am Strand. Als ich nach Hause gelaufen war.«
Ethan blieb abrupt stehen und packte mich am Arm, sodass ich gegen ihn knallte und mein Fuß höllisch anfing zu schmerzen.
»Du bist nach Hause gelaufen?!« Verwirrt sah ich ihm in die Augen und nickte dann. Seine Nasenflügel blähten sich auf und sein Griff um mein Handgelenk wurde etwas unangenehm. »Er hat gelogen. Er hat uns angelogen.«
»Wer? Dave? Wieso? Au, könntest du mich bitte loslassen?«
»Er hat gesagt, dir wäre schlecht geworden und du wolltest nach Hause. Also hätte er dich heimgebracht und wäre dann noch mit dir dort ein wenig geblieben.«
Okay, das war wirklich gelogen. Ein komisches, unglückliches Gefühl machte sich in mir breit. Wieso hatte Dave gelogen? Wusste er irgendwoher, dass ich damals über den Sohn des Teufels nachgedacht hatte? Hatte er geahnt, dass ich mich nun von ihm fernhalten würde? Wusste er, dass ich ihn attraktiv fand? Dachte er, dass ich mich entschieden hatte, wen ich hübsch fand? War er der Teufelssohn?
»Ethan, wer ist der Teufelssohn?«
Die Frage hätte ich nicht stellen sollen. Nicht, weil er mir überhaupt keine Antwort geben konnte, sondern weil ich mir immer noch nicht sicher war, wie ich Ethan einordnen sollte. Welche Rolle er spielte.
»Das weiß man nicht.«
»Na, aber der Teufelssohn muss es doch wissen oder hängt das ganz von mir ab?«
»Nein, der Teufelssohn weiß natürlich, dass er der Sohn ist … und was seine Aufgabe ist«, meinte Ethan. Er sah mir lange in die Augen und irgendwann musste ich den Blick senken, da mir das zu sehr unter die Haut ging. Keine Ahnung, wieso.
»Dann könnte man doch einfach alle fragen, oder?«
Ethan lachte rau und laut auf. »Einfach fragen? Frägst du auch einfach alle Männer auf der Straße, ob sie vielleicht der Mörder sind, nach dem gesucht wird?« Ethan schüttelte den Kopf. »Geschweige denn, dass der wahre Mörder – in unserem Fall der Teufelssohn – Ja sagen würde.«
Wie dumm von mir. Aber für einen Moment war es so eine plausible Lösung.
»Und weißt du, wer die anderen sind? Ich meine, wenn man doch weiß, wer die anderen sind, dann bleibt doch am Ende nur noch einer übrig, der Sohn.«
Wieder steigerte ich mich in diesen Ausweg rein.
»Ally, das ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst. Wir sind alles auch nur Menschen. Und jedem ist sein eigenes Leben wichtig. Wenn also jemand weiß, wen er verkörpert, so behält er das für sich. Entweder, wie der Teufelssohn, um nicht aufzufallen, oder, wie der Bauerssohn, um nicht zu sterben beziehungsweise zu seiner leichten Beute zu werden.«
»Seiner?«
»Weißt du denn nicht mehr, wer den Bauerssohn umbringt?« Ich schüttelte den Kopf. Es würde noch jemand sterben. Wegen mir. Nicht nur Riley. Riley!
»Ich muss los!«, rief ich und stolperte weiter die Düne hoch. Es war mir egal, dass ich noch nicht wusste, wer den Bauerssohn umbrachte. Jetzt zählte erst einmal jede Sekunde für Riley, wenn er denn noch lebte.
Ethan schaltete den Wagen meiner Meinung nach nicht schnell genug an und ich tippte nervös mit dem gesunden Fuß. »Beruhig dich mal wieder, Prinzessin, und sag mir lieber wo es überhaupt hin geht.«
Ich sah gereizt aus dem Fenster und versuchte ihn nicht anzukeifen. »Zu Riley.«
»Riley?«
Dafür, dass ich genau wusste, dass Ethan Riley kannte, konnte Ethan echt gut lügen. »Ja, Riley Silver, der Bruder von Josh.«
Zunächst wollte Ethan noch etwas erwidern, aber dann entschied er sich doch anders. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich wusste, dass er wiederum wusste, wo Riley wohnte. Also startete er den Motor und raste über die Straße. Und obwohl wir schon schneller als die Begrenzung waren, konnten wir nicht schnell genug sein. Mit jeder Minute, die wir länger an einer Ampel standen, setzte mein Herz aus. Wie konnte ich ihn so schutzlos am Strand zurück lassen? Wie konnte ich so egoistisch sein? Ich hätte mir Gedanken um ihn machen sollen. Und der nächste Gedanke, der mir kam, war so unerträglich, dass mir schlecht wurde.
War es kein Zufall gewesen, dass gerade Owen mich abgeholt hatte? War er davor noch bei Riley am Strand gewesen und hatte ihn erledigt? Würde ich ihn gar nicht antreffen, wenn wir bei ihm Zuhause sein würden? War er schon tot?
Okay, jetzt mal ganz tief ein und aus atmen, Ally, befahl ich mir. Du musst jetzt positiv denken.
»Fahr schneller, verdammt!«, sagte ich und ich merkte, dass sich meine Stimme anhörte, als würde ich heulen.
»Ist ja gut, man. Bleib mal locker, was ist denn nur los?« Toll, jetzt war Ethan auch noch genervt von mir. Konnte ich ihm davon erzählen? War er auf meiner Seite?
»Weißt du wer den Teufel verkörpert?«
»Also, nur damit das mal klar ist, Ally. Verkörpern, wie du es nennst, tut hier keiner.«
»Den Teufel gibt es wirklich?!« Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Gab es dann auch Gott? Und Jesus?
»Natürlich«, entgegnete Ethan und schaute mich an, als sei ich total bescheuert. »Wieso fragst du?«
»Nur so … Also weißt du es nun, oder nicht?«
»Ja. Du?«
»Ich habe eine Vermutung von Dave. Wer glaubst du?«
»Hab ich dir nicht eben beigebracht, dass man seine Figur für sich behält?« Ein geheimnisvoller, bedrohlicher Unterton schwang in seinem Satz mit, als sei er der Teufel. Aber das war unmöglich, oder? Der Teufel, dachte ich bis jetzt immer, war älter. Tat ich gerade genau das Falsche? Brachte ich Riley jetzt in Gefahr, indem ich den Teufel direkt zu ihm schickte?
Auf Ethans Frage antwortete ich nicht. Es konnte nicht mehr weit sein, denn ich sah, wie wir an dem Restaurant vorbei fuhren, in dem Riley und ich unser erstes Date gehabt hatten.
»Hier ist es!«, rief ich plötzlich aus und hatte die Hand schon an der Türklinke. Sobald Ethan langsamer wurde, stürzte ich aus dem Wagen und stolperte, das schmerzende Bein hinterher ziehend, zur Haustür und klingelte.
Ein in Bademantel gehüllter Owen öffnete mir und schien ein wenig verdutzt. Doch seine Augen verengten sich schnell, als er Ethan hinter mir bemerkte. Ich hielt mich gar nicht lange an der Wohnungstür auf, sondern quetschte mich an Owen vorbei und rief laut immer wieder Rileys Namen. Ich sah in allen Räumen nach und hetzte dann die Treppe rauf.
Von unten hörte ich wie Owen leise mit Ethan flüsterte. Owen schien wütend zu sein, aber ich konnte kein einziges Wort verstehen. Egal, jetzt ging Rileys Wohlergehen meiner Nachforschung, wer der Teufelssohn war, vor.
»Riley!«
»Ally Male! Komm sofort aus meinen Wohnräumen! Mach, dass du nach unten kommst. Sofort.«
Owens tiefe, zornige Stimme, ließ mich innehalten. Was um Gottes Willen war los mit mir? Ich hatte gerade Hausfriedensbruch begangen. Ich war einfach in Owens Haus rein gestürmt und hatte nach Riley gesucht.
Ich schämte mich. Vielleicht war Riley nicht in Gefahr. Vielleicht hatte Dave sich die ganze Sache mit dem Märchen auch nur ausgedacht, immerhin hatte ich noch mit niemandem sonst darüber gesprochen, aus ein wenig mit Ethan. Aber dann konnte es auch wieder nicht ausgedacht sein. Verdammt. Wieso konnte es nicht einfach ein paar erklärende Regeln geben? Dieses ganze Misstrauen und diese Ängste gingen mir auf die Nerven.
Langsam ging ich die Holzstufen der Treppe hinunter und trat Owen unter die Augen.
»Was hast du da oben gesucht? Riley ist nicht hier. Er ist wohl noch irgendwo am Strand, wo du ihn sitzen gelassen hast.«
»Ich habe ihn nicht sitzen gelassen«, knurrte ich plötzlich und funkelte Owen an.
Owen und Ethan grinsten sich an. »Naja, ich nenne das schon sitzen lassen, aber wie du meinst-«
»Sie«, sagte ich plötzlich und zeigte drohend mit dem Zeigefinge auf Owen. »Sie haben ihn umgebracht, habe ich Recht? Sie haben ihn noch kurz bevor Sie mich an der Straße eingesammelt haben, erledigt. Stimmt das?« Zum Ende hin war ich immer lauter geworden. Kurz war Stille. Dann prustete Ethan laut los und hielt sich am Türrahmen fest. Auch Owen grinste wieder. Sie nahmen mich nicht ernst, was mich noch wütender machen.
»Ich glaube die Sonne hat ihr ein wenig zugesetzt, Owen.«
Ich grummelte leise vor mich hin. »Sie wollen ihn doch sowieso nur umbringen, weil Sie wieder unsterblich werden wollen. Sie blöder Mistkerl!«
Jetzt war Owen das Lachen vergangen. Sein Blick war hart und mir wurde wieder mächtig heiß. »Ethan, fahr heim.«
»Aber Owen, ich will dabei sein! Das ist nicht fair.«
»Ethan«, rief Owen laut und der Junge verschwand. »Woher weißt du davon, Mädchen?«
Ich sah in seine schwarzen Augen und die Hitze nahm nicht ab. Mein Fuß fing wieder an zu schmerzen und ich klammerte mich an das Geländer hinter mir. So sehr ich Dave auch hasste, ich würde ihn nicht verraten.
»Wer hat dir davon erzählt, Ally!«
Wie im Wasser legte sich eine Hand um meinen Hals. Aber Owen hatte beide Hände bei sich. Er würgte mich nicht in echt, nur in Gedanken. Ich spürte, wie der Griff enger wurde, fester, heißer. »Sie sind krank. Wieso reißen Sie mir nicht einfach das Herz raus und bereiten dem ein Ende?«
Meine Stimme war brüchig, da ich kaum noch Luft bekam. Wir hörten einen Schlüssel und die Tür wurde aufgestoßen. Der Druck an meinem Hals ließ sofort ab und ich brach zusammen. Ich keuchte und würgte. Die frische Luft, die nun wieder in meine Kehle gelangte, war erdrückend.
Es war Riley.
»Dad? Ally?«
Er schmiss den Schlüssel auf die Kommode, die am Eingang stand und zog seine Schuhe aus. Kümmerte er sich denn gar nicht darum, dass ich auf dem Boden hockte?
»Riley«, sagte Owen so, als wäre nichts geschehen. »Nachdem Ally vom Strand weggelaufen war, ist sie zu mir gekommen, um sich zu entschuldigen. Nicht wahr, Ally?«
Ich wusste sofort, was er meinte. Er wollte keine Entschuldigung dafür, dass ich das Wochenende der Tradition zerstört hatte. Er wollte keine Entschuldigung dafür, dass ich Riley hatte sitzen lassen. Nein, die Entschuldigung war für meinen Ungehorsam ihm gegenüber. Und zwar erst gerade eben.
»Ja, es tut mir leid, Sir.«
»Okay«, sagte Riley gedehnt und hängte seine Jeansjacke auf. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen und schreien: »Du lebst!« aber das ging wohl schlecht. Vor allem musste ich erst mal mit Owen fertig werden. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Einfach alles auszuplaudern?
»Am besten ich gehe jetzt heim«, sagte ich und rappelte mich auf. Ich blickte Owen nicht mehr an, denn mir war es zu peinlich und außerdem hatte ich zu viel Angst. Auch Riley sah ich nicht an, weil ich die heißen Tränen in meinen Augen spürte.
Owen schloss die Tür hinter mir und ich stolperte die Treppe hinunter, blind vor Tränen. Mein Fuß pochte, mein Hals ebenfalls und mein Kopf tat vom Heulen weh.
Egal wie weh Dave mir ohne es zu wissen getan hatte, jetzt war er der einzige, den ich zu mir wünschte.




Kapitel 6 - Dave





Ich saß gerade in meinem Zimmer und lauschte der Musik, die aus meiner iPodanlage kam. Irgendwie fand ich, dass es zu meinem Leben passte. Als würde Dave es für mich singen.
Ich lächelte traurig. All der Hass war verschwunden. Ich würde ihn morgen nach seiner Freundin fragen. Ich war gestern Nacht wieder nach Hause gekommen. Meine Mutter und meine Tante waren geschockt, als ich wie ein Haufen Elend vor der Haustür gestanden hatte. Meine Tante eher wegen dem Ausflug, meine Mum wegen meiner Stimmung. Und da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass meine Mutter sich Sorgen um mich machte. Und trotzdem war ich einfach an ihnen vorbei die Treppe hoch in mein Zimmer. Keiner kam mir nach. Keiner fragte, was los sei. Aber ich wusste, dass meine Mutter das schwer mitgenommen hatte.
Heute war Sonntag. Erst morgen nach der Schule würde ich Dave sehen. Heute den ganzen Tag würde ich noch überstehen müssen, bis ich ihn morgen sah. Und obwohl es mir lächerlich vorkam, war plötzlich wieder Dave der einzige, dem ich vertraute. Wo ich ihn doch noch vor ein paar Stunden so sehr verabscheut hatte. Aber das würde er nie erfahren, jedenfalls hoffte ich das.
Das Lied fing wieder von vorne an und es klopfte.
»Ally? Alles okay? Ich wollte dich zum Frühstück rufen«, sagte meine Mum behutsam und ganz leise. Ich schaltete meinen iPod aus und schloss die Tür auf. Meine Mum stand in ihrem roten Kostümchen vor mir, wie immer alles perfekt. Aber Moment. Nicht alles war perfekt. Unter ihren Augen sah ich Ringe. Ihre Augen waren träge und sie sah heute viel älter aus, als sie eigentlich war. Meine Mutter und mich trennte eigentlich nicht viel Altersunterschied, schließlich hatte sie mich mit siebzehn Jahren bekommen. Etwas, das ich versuchte in meinem Leben zu vermeiden. Kinder bekam man, in meiner Sicht, erst mit 27 oder älter.
»Alles okay bei dir, Schatz?«
Ich antwortete immer noch nicht, denn mir war etwas in den Sinn gekommen, was mir die Sprache verschlagen hatte.
Ein Märchen … das sich in den Generationen ihrer Hauptfiguren immer wieder zu wiederholen scheint. Ein Märchen, dessen Geschichte nie aufgehört hat zu enden.


Daves Worte schwirrten in meinem Kopf. In den Generationen ihrer Hauptrollen immer wieder zu wiederholen scheint. War meine Mum auch einmal ein siebzehnjähriges Mädchen gewesen, das sich vor dem Teufel verstecken musste?
Weinend fiel ich meiner Mum um den Hals. Ich krallte meine Finger in ihren Rücken. Wie konnte ich so dumm gewesen sein? Wie hatte ich so schlecht über sie denken können, weil sie mich mit siebzehn bekommen hatte? Sie war damals auch nur ein armes Mädchen gewesen, das nicht weiter gewusst hatte. Ein Mädchen, das verzweifelt gewesen war. Aber wer war dann mein Vater gewesen? Jemand, der in dem Märchen starb? Immerhin ist er mit jungen neunzehn Jahren gestorben. In der Zeit, in der meine Mutter siebzehn war, so wie ich jetzt. In der Zeit, als das Märchen in ihrer Generation stattfand.
Schluchzend sah ich meiner Mum in die Augen. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid, mein Schatz?«
»Ich habe immer so schlecht über dich gedacht … wegen Dad … und weil du mich mit siebzehn bekommen hast.«
Meine Mutter sah traurig zu Boden und in ihren Augen glitzerte es sofort wieder. Dann atmete sie tief ein und wieder aus. »Ally. Du bist jetzt siebzehn … und-«
»Ich weiß von dem Märchen.«
Meine Mutter riss die Augen auf und ihre Hände um meine Schultern verkrampften sich. »Woher?«
»Von Dave.«
Sie nickte. Wahrscheinlich hatte sie sich das gedacht. Ihr Blick wurde ernst. »Ally, ich weiß, du magst diesen Dave sehr gerne, aber du musst dich von ihm fernhalten.«
Ich löste mich abrupt von ihr. »Was?! Wieso?«
Die Tränen liefen nun nur noch so über das Gesicht meiner Mutter und am liebsten hätte ich sie getröstet, aber die Aussage mit Dave hatte mich nachdenklich gemacht. Fernhalten? War er also doch der Teufelssohn? Würde ich eigentlich jemals wissen, wer, wer war? »Wieso, Mum!«
»Joshua war bei mir.« Mir klappte die Kinnlade runter. Wusste meine Mum etwa schon mehr als ich. Das machte mich plötzlich so wütend, dass ich fast die Tür vor ihrer Nase zugeschlagen hätte, wenn ich nicht wissen hatte wollen, was Josh zu ihr gesagt hatte. Verdammt nochmal, wieso redete denn niemand mit mir? »Er hat mir von ihrem Plan erzählt … und ich habe eingewilligt ihnen zu helfen.«
Sie sah sich schnell, wie ertappt, im Flur um und drängte mich dann in mein Zimmer. Sie drückte die Tür zu und sah mich eindringlich an. Das zögernde, verzweifelte, alleingelassene Mädchen war verschwunden. Jetzt stand meine Mutter vor mir, wie ich sie kannte. Stark und unverletzbar. »Es ist sehr wichtig, dass du dich richtig verhältst.«
»Verdammt, wie soll ich mich denn richtig verhalten, wenn mir nie jemand den Plan anvertraut? Wie soll ich nichts falsch machen, wenn ich nie was weiß?«, sagte ich gereizt und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Geste, die abwehrend wirken sollte. Meine Mutter schloss kurz die Augen.
»Ich möchte nicht, dass du so leidest, wie ich.«
»Wegen Dad oder was?«
Meine Mutter schwieg. War mein Vater der Bauerssohn gewesen? Nein, oder? Aber wenn der Vater dann immer der Bauerssohn gewesen war, wenn mein Opa auch der Bauerssohn gewesen war, dann wurde die Tradition ja nie durchgeführt? Dann wurde die »Prinzessin« nie mit dem »Prinzen« vermählt.
»Mum, wer war Dad?«, ich frage sie leise. Sanft. Wollte sie nicht verletzen. Wir redeten nie über meinen Vater. Ich wusste nur, dass er mit neunzehn starb, schwarze Haare hatte, meerblaue Augen und Luke hieß.
Schwarze Haare und blaue Augen? Dave.
»Der Bauerssohn, Ally, deswegen ist er ja auch … deswegen ist es ja auch …« Meine Mutter brachte den Satz nicht zu ende. Der Bauerssohn. Das Aussehen. Das Schicksal.
Dave war der Bauerssohn. Und er würde sterben.
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und fing urplötzlich bitterlich an zu weinen. Natürlich, wie hatte ich daran denken können, dass Dave der böse Teufelssohn war? Wie konnte ich denken, dass der liebe Dave mir etwas anhaben könnte? Wie hatte mir nicht auffallen können, dass ich mich schon in ihn verliebt hatte?
Es war schon zu spät. Ich konnte mich jetzt nicht mehr von ihm fernhalten. Er würde sterben, wegen mir. Genau wie Riley.
»Oh, Mum, du musst ihn retten. Er darf nicht sterben! Nicht wegen mir!«, schluchzte ich und meine Mum nahm mich in den Arm. Zärtlich strich sie mir über die Haare, während ich an ihre Schulter geschmiegt meinen Frust ausweinte. Ich wollte Dave nicht verlieren. Nicht jetzt, wo ich ihm doch endlich vertraute. Nicht jetzt, wo ich doch endlich wusste, wer er war. Wer er für mich war. »Bitte …«

Wie sieht man jemanden an, der sterben wird? Wie begrüßt man jemanden, der wegen einem sterben wird?
Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, als Dave leicht lächelnd auf dem Schulhof wartete. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als er mich mit einem leisen »Hey« umarmte.
Also tat ich einfach gar nichts.
Es war Montag. Meine Mum und ich hatten gestern den ganzen Tag miteinander verbracht, uns gegenseitig gestützt. Meiner Tante war das natürlich nicht entgangen, aber immer wenn sie uns argwöhnisch anblickte, lachten meine Mutter und ich nur und drehten ihr den Rücken zu.
Ich war froh, dass ich jetzt zu meiner Mutter mehr Verbindung hatte. Und jetzt erst merkte ich, wie sehr mir so eine Mutter gefehlt hatte.
Aber jetzt saß ich in Daves Wagen und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Im Radio lief irgendein Sommerhit und Dave tippte mit den Fingern zum Rhythmus aufs Lenkrad. Sein Tippen machte mich nervös und am liebsten hätte ich ihn angeschrien, er solle damit aufhören, aber das ließ ich bleiben.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte ich angespannt. Dave schielte zu mir rüber und seine Laune änderte sich schlagartig. War ihm meine Anspannung erst jetzt aufgefallen?
»Zu einem Ort, an den du letztes Mal nicht wolltest.« Seine Stimme war klar, aber emotionslos. Ein Ort, an den ich letztes Mal nicht wollte?
»Und wo wäre das?«, sagte ich, genervt von den ständigen Geheimnissen.
»An der Bucht.«
Ach so, er spielte mal wieder auf den Tag an, an dem ich einfach fortgelaufen war. Als ich noch geglaubt hatte, er wäre der Teufelssohn. Obwohl ich diese Erinnerung schrecklich fand, freute ich mich an diesen wundervollen Ort zurückzukehren. Ich fragte mich noch immer, wie der Strand dort so aussehen konnte.
»Dann los«, sagte ich lächelnd und Dave gab Vollgas.
Wir hielten an der Stelle, an der Ethan mir letztes Mal die Augen wieder geöffnet hatte, an der ich weggerannt war. Ich hatte gar nicht darauf geachtet mir den Weg anzuschauen, denn letztes Mal war ich blind hier lang gegangen. Warum, wusste ich immer noch nicht.
Dave stieg aus und ich folgte ihm. Es war unglaublich, dass so ein Ort existieren konnte. Hier waren einfach alle Farben so unbeschreiblich leuchtend, viel schöner, als man sie kannte. Der Sand war so weich wie Federn, das Wasser hatte die perfekte Temperatur und die Sonne war hier viel wärmer, als es heute eigentlich war. Es war, als wäre man plötzlich aus seinem Leben herausgetreten. Als wäre man in einem Paradies.
Lachend drehte ich mich zu Dave. »Das ist – Wie soll ich sagen? Das ist unglaublich! Wie kann so etwas existieren?«
Dave grinste nur schief. »Willkommen im Märchen.«
Meine Hochstimmung war mit einem Mal verschwunden. Willkommen im Märchen. Ja, danke. Hieß das, dass dieser Ort überhaupt nicht echt war?
»Wie meinst du das?«
»Hier wird es spielen. Hier hat es immer gespielt«, sagte er und nickte nach rechts. Ich blickte das erste Mal vom Meer weg und sah, dass im Sand, umringt von Pflanzen, ein wunderschönes kleines Schloss thronte. Es war nicht groß, nein, es hatte nur zwei Stockwerke, aber die Türmchen ließen auf ein Schloss schließen. Die Dächer waren hellgrün, wie in einem Märchenbuch, und die Wände waren aus hellem Gestein, das an ein paar Stellen schwarz wurde.
»Wow …«, hauchte ich und tapste langsam durch den Sand auf das Gebäude zu. Ich spürte, wie Dave mir folgte. War das mein Schloss? War das Naylas Schloss?
Als ich die schwere, braune Tür aufstieß, kam mir ein modriger Geruch entgegen und ich wurde wieder aus der magischen Märchenwelt geschmissen.
Hier sind Menschen gestorben. Und zwar jede Generation zwei. Immer. Und so wird es immer sein. Das hier war ein Schloss des Todes.
Ich drehte mich schnell um. Dave würde auch hier sterben. Ich schubste ihn von der Tür weg. »Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du der Bauerssohn bist? Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du sterben wirst!«
Dave schien sichtlich geschockt über mein Ausrasten. Ich jedoch sah ihn so zornig an, wie ich konnte. Obwohl ich wusste, dass er natürlich nichts dafür konnte, dass ich ihn verlieren würde, musste ich ihm jetzt einfach die Schuld geben. Ich wollte nicht die Schuld von zwei Toden auf mir tragen.
Dann, ganz langsam, spiegelte Dave meine Wut wider. »Woher weißt du davon?! WOHER! ALLY, WOHER!« Er schrie. Nein, er brüllte mich richtig an. Wie ein Tiger. Sofort schossen mir die Tränen in die Augen, was natürlich lächerlich war, aber ich wollte nicht von Dave verletzt werden. Als ich nicht antwortete, besann sich Dave eines anderen und kehrte mir den Rücken zu. Er raufte seine Haare und seine Schultern hoben sich schnell an und fielen wieder in sich zusammen. Schluchzte er? Weinte er?
»Dave?«, flüsterte ich und streckte eine Hand nach seinem Rücken aus, ließ sie aber wieder sinken. Ich hatte einfach keine Ahnung, wie Dave und ich zueinander standen. Waren wir Freunde? Nur Bekannte? »Es tut mir leid … ich wollte dich nicht damit be-«
»Schon gut, Ally«, unterbrach Dave mich und drehte sich wieder um. Und ja, seine Augen glitzerten. Er hatte geweint. Das zu sehen tat mir noch mehr weh, als daran zu denken, ihn zu verlieren. Denn er würde sterben. Hier ging es nicht darum, ob ich ihn verlieren würde, oder nicht. Nein, er wird sterben und niemand wird das verhindern können.
Ich fiel ihm in den Arm und legte meinen Kopf in seine Kuhle zwischen Hals und Schulter. Spürte das Pochen seines Puls, fühlte die Wärme, merkte den Halt seiner Arme, die um meinen Rücken geschlungen waren.
Ja, wir waren Freunde. Freunde, die sich unterstützen würden, bis sie starben.
Ich würde sterben. Auch wenn es bis jetzt die hunderte von Male, nie so geschehen ist, dass die Prinzessin gestorben war, dass der Teufel gewonnen hatte, könnte es diesmal anders sein. Das konnte ich Owen zutrauen.
»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal und sah ihm diesmal direkt in die Augen. »Es tut mir leid. Die Tatsache dich zu verlieren, hatte mich wahrscheinlich zu viel unter Druck gesetzt.«
Dave lächelte. »Du hast ehrlich Angst mich zu verlieren, oder?«
»Natürlich!«, sagte ich überrascht.
»War ja klar, dass wir so enden würden.«
»Wie denn?«
»Na, so! Umschlungen vor der Bühne. Bangend um das Leben des anderen.«
Ich verstand nicht recht, was er meinte. War es so klar gewesen, dass ich mich in ihn verliebte?
Ja, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Wie meine Mum und mein Dad.
»Du liebst mich«, sagte ich und ich wurde nicht einmal rot dabei, denn ich wusste, dass es stimmte. Es war immer so. Ich liebte Riley nicht, nein, ich konnte ihn nicht lieben. Das war von Anfang an klar gewesen, nur dass ich damals noch nicht wusste wieso. Es gab und würde immer nur Dave geben, ich hatte ihn nur erst finden müssen.
Daves Mundwinkel hoben sich sachte an. »Von Anfang an.«
Ich atmete lachend aus. So schön sich das gerade anhörte, dass musste ich erst mal verarbeiten. Ich lag gerade in den Armen eines gut aussehenden, starken, witzigen Jungen, der mich liebte! Wie konnte so jemand mich lieben?
Da fielen mir die Worte von Ethan ein. Ich löste mich von Dave. »Und was ist mit deiner Freundin? Warst wohl mit der Prinzessin nicht zufrieden, was? Und hast gegen deine Gefühle angekämpft, was?«
Daves Augenbrauen zogen sich zusammen. »Woher weißt du davon?«
»Ethan.«
Dave stöhnte laut und zornig auf. Wie immer, wenn er mit diesem jungen Mann konfrontiert wurde. Sie hassten sich.
»War ja klar«, murmelte Dave in seine Hände, die er nun auf sein Gesicht gepresst hatte.
»Was war klar? Dass dein kleines Geheimnis raus kommen würde? Dass du mir die große Liebe gestehst, während du irgendwo mit deiner kleinen Freundin rummachst?«
Meine Stimme hatte einen hysterischen Unterton, aber es war mir egal. Er sollte ruhig merken, wie verletzend das war. Sowas taten nur Idioten.
»Nein?!«, sagte Dave gereizt. »Verdammt, das habe ich nicht gemacht, um ein bisschen Spaß zu haben, klar? Ich habe nie auch nur daran gedacht, dass das vielleicht so aussehen könnte. Vielleicht hast du es in deinem kleinen Gehirn schon vergessen, ja, aber ich werde sterben, wenn wir das Märchen nicht stoppen. Und nur damit du es weißt, eigentlich würde ich gerne noch etwas weiter leben! Es ist nicht so alltäglich, wie du vielleicht denkst! Ja, es tut mir leid, dass ich das Mädchen, dass du als meine Freundin kennst, dafür ausnutze. Und ja es tut mir weh, nicht mit dir zusammen sein zu können! Es ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst! Verdammt ich zwinge mich dazu das arme Mädchen zu lieben! Spiele ihr jeden Tag etwas von edlem, liebem Beschützer vor!« Er atmete kurz ein und sah mich weiter wütend und vorwurfsvoll an. »Das Mädchen ist krank! Ich habe es im Krankenhaus kennengelernt. Es braucht Hilfe! Ich hätte eine viel bessere Wahl haben können, aber es ist nun mal jetzt so. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, jemanden lieben zu müssen, den man nicht liebt…«
Mein Schock von seiner Ansprache hielt sich anfangs in Grenzen. Denn ich lachte über den letzten Satz laut auf.
»Du denkst, ich weiß nicht, wie das ist? Das glaubst du? Soll ich dir mal was sagen? Seit ich auf der Welt bin, war immer klar, dass ich mal Riley Silver heiraten würde, okay? Ich habe mich nie verlieben dürfen! Es ist für mich genauso schwer damit zu leben, wie du! Glaub mir, am liebsten würde ich einfach nur mit dir zusammen sein, aber ich kann nicht!«
»Nein, Ally«, sagte Dave. »Das ist nicht das Gleiche. Riley ist eine Person in dem Märchen, es ist vorgesehen, dass er am Ende alleine steht. Aber Claya nicht! Sie gehört nicht in diese Geschichte! Sie wurde damit reingezogen, wegen mir! Und jetzt kann ich sie nicht einfach verlassen, weil sie meine Hilfe braucht! Sie hat ihren Zwillingsbruder verloren, kannst du dir das vorstellen? Sie ist total psychisch krank! Wenn ich am Ende auch noch sterbe-« Dave sah mich lange an. Und dieser Blick machte mir klar, dass er Recht hatte. Es war nicht das Gleiche. Claya, oder wie das Mädchen hieß, hatte sich, indem sie sich in Dave verliebt hatte, nur selbst weh getan. Sie würde ihn verlieren. Und dann fiel mir noch etwas auf, was aus Daves Worten sprach. Er tat das nicht nur zum Guten für sich. Nein, es war sogar sehr schwer für ihn Claya zu lieben, weil er mich liebte. Er liebte mich. Und wir versuchten ja das Märchen zu brechen und im Märchen stand geschrieben, dass der Bauerssohn und die Prinzessin sich verliebten.
»Okay«, sagte ich und achtete nicht auf Daves fragenden Gesichtsausdruck. Er war erschöpft, weil er sich so in die Rede rein gesteigert hatte, weil er verzweifelt wegen Claya war. Und ich war es ebenfalls. Verzweifelt, erschöpft und ja total traurig. Aber ich war entschlossen. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte in dem Plan, auch wenn es mir niemand gesagt hatte.
»Okay«, sagte ich noch einmal, leiser. Dann prägte ich mir Daves Gesicht noch einmal genau ein, um es nicht zu vergessen. Vielleicht dachte ich viel zu dramatisch, aber wenn man jemandem Auf Wiedersehen sagt, dessen Leben in meinen Händen lag, konnte man wohl nicht anders. »Wir schaffen das, stimmt’s?«
Daves Mund öffnete sich leicht. Vielleicht versuchte er meinen Wandel zu verstehen. Meine Augen sahen ihn träge an, ich spürte keine Tränen, aber ich wusste, dass sie sobald ich ihm den Rücken zugedreht hatte, kommen würden.
»Wir schaffen das«, sagte ich. Dann drehte ich mich um und stampfte durch den Sand davon.

Dave kam mir nicht nach. Er rief auch nicht den Standardsatz. Er tat gar nichts. Und das war vielleicht auch ganz gut so. Auch wenn ich mich ab und zu immer mal wieder umsah und darauf hoffte, dass er wie in einem Hollywoodfilm angerannt käme und rufen würde: »Nein, Ally, geh nicht! Ich liebe dich doch!«
Aber Schluss damit. Ich hatte einen Entschluss, er würde meine Gefühle zu Dave zwar nicht ändern, aber er würde vielleicht sein Leben retten. Und ob ich dann am Ende mit ihm zusammen sein könnte, wusste ich nicht. Schließlich hatte er mir ja weiß gemacht, dass Cayla seine Hilfe brauchte und sie es nicht verkraften würde, wenn er sie verließe.
Aber mein Entschluss hatte noch ein anderes gutes Ziel. Riley. Ihn würde ich vielleicht auch retten. Vielleicht, wie gesagt.
Meine Füße taten langsam von den Keilabsatzschuhen weh, aber ich zwang mich dazu keine Pause zu machen. Das hier war ein Spiel. Und die, die schwach waren, waren die ersten, die dran waren.
Es war schon später Nachmittag, als ich endlich vor Rileys Tür angekommen war. Wie immer machte mir Owen auf. Diesmal trug er allerdings keinen Bademantel, sondern einen grauen Anzug.
»Ally?«
»Ich möchte bitte zu Riley.«
»Der ist oben. Riley! Ally ist da!« Er lächelte. Er lächelte wie an dem Abend vom Date. Wie, als er noch nicht der Teufel für mich war. Als es nur die Tradition gab. Als hätte es das Märchen nie gegeben.
Riley kam die Treppe runtergesprungen und lächelte mich so lieb an, wie am Abend am Strand, wie in meinem Zimmer, wie an unserem Ausflug am Strand.
Aber ich, ich lächelte nicht. Nein, ich hätte lieber geweint. Und zwar nicht, weil ich tausend Blasen an den Füßen hatte.
Ich trat durch die Haustür und sah Owen in die dunklen Augen, während er dir Tür schloss. Ich sah kurz etwas Schock in ihnen aufleuchten. Sicher hatte er meinen Entschluss verstanden. Und dann wusste ich plötzlich, wann das Märchen anfangen würde. Dann, wenn ich mich gegen Riley entschied und für Dave. Denn das war der erste Akt in der Geschichte.
Aber das würde nie passieren, nicht bis er tot war.
Ich sah ihm noch einmal tief in die Augen und lächelte dann genauso. Wir hatten uns verstanden und zwar ohne Worte.
»Tut mir außergewöhnlich leid, wie ich mich bisher wegen der Tradition benommen habe, Sir. Ich werde das wieder gut machen.«
Ja, genau. Und zwar bis an das Ende meiner Tage. Ich würde nie Kinder mit Riley bekommen, ich würde Dave nie wieder sehen.
Ich würde das Märchen brechen.




Kapitel 7 - Owen





Riley fragte nicht nach der Situation, als er nach Hause kam und ich auf dem Boden lag. Nein, ich ahnte sogar, dass Owen ihn das irgendwie vergessen gelassen hatte. Besser für ihn. Besser für mich.
Ich saß auf seinem Bett und er hockte vor seinem CD-Player und zeigte mir irgendeine Musik, die er »total geil« fand. Ich wippte mit dem Fuß im Takt und lächelte mechanisch, aber mit den Gedanken war ich nicht bei der Rockmusik. Ich war bei Dave. Seine Wärme. Seine Arme um meine Taille. Sein Gesicht so nah an meinem, dass wir uns hätten küssen können. Aber das würden wir nie können. Ich dachte an Shakespears‘ Romeo und Julia. Wir würden uns nie lieben dürfen. Außer ich würde Owen töten. Und an diese Lösung wollte ich als aller letztes denken.
»Und?«
»Ähm, ja, ist echt cool«, log ich und versuchte mir wenigstens eins der Lieder wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Von wem ist die?«
»Linkin Park«, sagte Riley etwas verwirrt. »Sagte ich doch schon?«
Ach, ja. Linkin Park. Überhaupt war die Frage dumm, da mir diese Band ja nicht unbekannt war. Ich schlug mir gespielt lachend vor die Stirn und meinte: »Stimmt! Hatte ich schon wieder vergessen.« Unglaubwürdig.
»Okay«, sagte Riley mal wieder gedehnt und schürzte die Lippen. Er hatte das rechte Bein aufgestellt und stützte seinen rechten Arm darauf ab. Den anderen hatte er locker im Schoß liegen. »Was sollen wir heute machen? Willst du hier übernachten?«
»Ja!«, sagte ich zu schnell, aber ich konnte es nicht mehr zurücknehmen. Das war die perfekte Idee. Ich würde mich einfach hier beim Teufel in der Hölle einnisten. Das hatte zwei gute Folgen. Erstens, ich konnte Riley beschützen – auch wenn das auf den ersten Blick erst mal lächerlich war – und zweitens ich konnte Owen unter die Lupe nehmen. Er würde nie das Märchen beginnen können. Niemals.
»Gut, okay.« Riley lächelte, aber ich merkte, dass er etwas verwirrt und misstrauisch war und das konnte ich ihm nicht übel nehmen, ich war eine schlechte Schauspielerin. »Willst du noch etwas zu Hause holen?«
»Nein, danke. Ich finde hier bestimmt alles«, meinte ich und zog die Beine aufs Bett, um zu zeigen, wie wohl ich mich hier schon fühlte. Vielleicht schaute uns der Teufel mit seinen tollen Fähigkeiten ja gerade zu. Ich lachte in mich hinein.
Riley stand auf und fuhr sich einmal durchs blonde Haar, bevor er aus seiner kleinen Kommode eine dicke Wolldecke und ein Kissen kramte und sie auf das breite Bett warf. »Ich könnte dir nur ein T-Shirt und eine Jogginghose von mir geben, aber wenn du lieber-«
»Ne ne, ist schon in Ordnung, danke!« Ich stand vom Bett auf und umarmte Riley. »Hör zu, du musst mir einen Gefallen tun«, flüsterte ich so leise, dass ich hoffte, dass Owen es mit seinen Kräften nicht hören konnte, wenn er überhaupt solche Kräfte hatte. »Keine Frage stellen, einfach tun, okay?«
»In Ordnung, aber wenn ich mich recht entsinne, bist du mir noch etwas schuldig-«
»Vergiss das! Es ist sehr wichtig, dass du mir hilfst!« Davon hängt dein Leben und das meiner großen Liebe von ab, aber das sagte ich lieber nicht. »Es gibt ein paar Personen, vor denen wir besonders verliebt tun müssen, in Ordnung?«
»Okay«, sagte Riley wie immer gedehnt, aber ich war froh, dass er wenigstens mitmachte. »Und die wären?«
»Meine lieben Kumpels vom Strand, Logan, Sam, Josh, Dave, aber besonders Ethan und Owen, dein Vater.«
Und vielleicht noch Claya, falls ich das mysteriöse Mädchen jemals treffen sollte, aber mit dem Namen konnte Riley ja nichts anfangen.
»Versprich es mir«, sagte ich eindringlich und ich spürte wie Riley nickte. Ich wusste, dass ihn das nicht kränkte, da ich ja genau wusste, dass er mich nicht liebte, aber er war misstrauisch und ich konnte ihm einfach keine haltkräftigen Erklärungen liefern. Ich musste an den Tag denken, an dem Dave einfach in meinem Zimmer gestanden hatte. Ich hatte mich genauso gefühlt, wie Riley jetzt auf mich wirkte. Hatte Dave genauso damals gedacht wie ich jetzt? Aber ich durfte nicht schwach werden, ich würde ihm nicht von dem Märchen erzählen.
»Josh? Den habe ich aber noch nicht getroffen«, murmelte Riley und sah mir in die Augen. Oh, Mist! Ich konnte jetzt nur noch hoffen, dass Riley nicht an seinen verschollenen Bruder dachte. Und überhaupt, eigentlich mussten wir vor Josh gar nicht verliebt spielen, da Josh Riley nie treffen würde. Deswegen war er ja schließlich abgehauen. Und mal wieder hatte ich mich mit Josh total verplappert.
»Ein netter Kerl, schwarze Haare, eher ein Einzelgänger, wahrscheinlich treffen wir ihn sowieso nicht, er ist nicht so gerne in Gesellschaft«, redete ich mich schnell raus und hatte sein Misstrauen damit wahrscheinlich nur noch mehr geweckt, da meine Stimme am Ende immer heller und schneller geworden war. Aber vielleicht hatte ich ihm wenigstens den Gedanken, dass dieser Josh sein Bruder sein konnte, aus dem Kopf geschlagen.
Hoffentlich.
»Okay, also, ich verspreche es«, meinte Riley und nickte noch einmal nachdrücklich. Dann lösten wir uns voneinander. Gut, das war eine tolle Idee von mir gewesen. Hoffentlich konnte Owen nicht Gedanken lesen! Ich dachte an Eclipse, das dritte Buch der Twilight-Saga. Was hatte Alice da noch mal getan, damit Edward nicht ihre Gedanken las? Ich würde mir wohl etwas einfallen lassen müssen.
Ich musste lachen, ich hätte ja nie gedacht, dass ich mal so handeln würde, wie Alice Cullen! Hallo? Sie war eine Buchfigur! Geschweige denn, dass ich je daran gedacht hätte, dass ich mal den Teufel überlisten müsste. Und eigentlich könnte ich immer noch denken, dass das totaler Schwachsinn war, aber dann war die Verlockung von einem Abenteuer doch zu groß. Man glaubte einfach gerne solche Dinge.
»Was ist so witzig?«, fragte Riley und sein misstrauischer, nachdenklicher Blick war verschwunden, er war wieder der Strandabend-Riley.
»Ähm, ich musste an etwas Witziges aus einem Buch denken.« Tja, gelogen war das nicht. Lustig war es irgendwie schon gewesen, aber wie ich auf das Buch gekommen war, durfte Riley sich jetzt selbst zusammenspinnen. Ich grinste.
Sehr gut, Agent Male.

Es war ganz still. Man hörte nur das leise Geklapper des Bestecks und wenn man ganz genau hinhörte, konnte man sogar unser Kauen hören.
Owen saß am Kopfende und Riley und ich rechts und links von ihm. Es war das zweite Mal, dass ich mit Owen an einem Tisch saß und ich hatte wie damals keine Angst. Nein, im Gegenteil, jetzt war ich sogar richtig gut gelaunt. Immer mal wieder, wenn Owen auf seine Bratkartoffel – was für ein Zufall – sah, blickte ich ihn amüsiert an. Und auch wenn er mich nicht direkt ansah, ich wusste, dass er es bemerkte und das reichte mir. Er sollte ruhig merken, wie ich mich über seine Ohnmacht lustig machte. Ich war immer noch die Hauptrolle und würde mir von ihm nicht die Show stehlen lassen.
»Wie lang willst du bleiben?«, fragte Owen zwischen zwei Bissen und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Oh, ich dachte schon ich könnte eine Weile hier bleiben. Ich werde Sie nicht stören-«
»Wie lang«, sagte Owen eisern. Okay, er war wohl nicht für einen Spaß aufgelegt. Bitte, ich schon.
»Eine Weile«, sagte ich wieder und ließ mir durch Owens Blick das Grinsen keineswegs vergehen.
»Wie lang wäre denn diese Weile

?« Man konnte aus seiner Stimme heraushören, dass er versuchte sich zu beherrschen. Ich lächelte einfach schelmisch weiter und antwortete nicht. Bis Owen schließlich mit der Faust auf den Tisch schlug und brüllte: »Wie lang!«
Riley war aufgesprungen. »Vater! Beruhig dich! Was ist denn hier nur los?« Er sah mir direkt in die Augen und ich wusste, dass er eine Antwort verlangte. Aber ich konnte mir das Lachen einfach nicht verkneifen. Owen hatte mich hier auf dem Servierteller liegen, könnte mir direkt das Herz rausreißen. Könnte. Aber er konnte es nicht. So wie ich Riley nicht lieben konnte. Und das machte ihn rasend.
»Mister Silver, wenn Sie sich nicht wohl fühlen, legen Sie sich ruhig etwas hin. Das macht mir nichts aus, dir, Riley?«
Jetzt hörst du mir mal gut zu. Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben, was? Ich habe sehr wohl deinen Plan verstanden, aber du kannst mir nicht meine Kräfte entnehmen. Ich kann dich zwar noch nicht töten, aber ich kann sehr wohl alles andere machen, was nicht mit dem Märchen zu tun hat. Und du wirst es nicht verhindern können.


Mein Blick drehte sich. Die zischende Stimme in meinem Kopf hinterließ einen heftigen Schmerz, aber ich wehrte mich nicht. Was meinte er? Was würde er tun?
Wo willst du, dass ich anfange? Bei deiner reizenden Mum? Ich könnte sie selbst umbringen, oder meinen Sohn schicken. Er könnte sie genauso umbringen wie deinen jämmerlichen Vater. Weißt du wie er starb, Ally? Weißt du das? Es war tragisch, ja, sehr tragisch.


»Aufhören!«, schrie ich und kippte seitlich vom Stuhl. Ich wollte nichts darüber wissen und der Schmerz machte mich langsam wahnsinnig. Ich wollte nicht wissen, was der Teufelssohn ihm angetan hatte. Wollte nicht wissen, was dann Dave passieren würde.
Oh, deinen kleinen Dave könnte ich natürlich auch besuchen fahren. Denn weißt du noch, was im Märchen steht?


»Hören Sie auf! Hören Sie auf! Bitte!«, wimmerte ich und hielt mir die Hände auf die Ohren. Um Riley kümmerte ich mich im Moment am wenigsten.
Sag, was im Märchen über Dave stand! Sage es!


»Nein«, jammerte ich, denn ich hatte verstanden, worauf er hinaus wollte. Dave würde vom Sohn getötet werden. Nicht vom Teufel. Nicht von Owen. Owen konnte sich ihm also ohne weiteres nähern. Ihm weh tun. »Bitte, tun Sie ihm nichts an, ich flehe Sie an! Ich tue alles, aber bitte tun Sie ihm nicht weh!«
Die Tränen rannen über mein Gesicht. Mein verdammter Plan hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Aber wenn ich jetzt doch das Märchen spielen würde, nur um meine Mum und all die anderen zu retten, dann würde Dave zwar nicht gequält werden, aber getötet. Und das war ja nun nicht die Lösung.
Ja. Ich würde es mir nochmal überlegen. Mit mir spielt man nicht, verstanden?


Der Schmerz ließ ab. Ich öffnete die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Riley mich und sah mich über den Tisch hinweg an. Ich saß am Tisch? War ich nicht eben noch vom Stuhl gefallen? Was machte Owen nur mit mir?
Ich starrte zu ihm. Er aß genüsslich seine Bratkartoffeln. Ich dachte an den Tag am Strand. War er das da auch gewesen? Um mir zu zeigen, dass ich Riley nicht beschützen konnte? Um mir zu zeigen, wer die Macht hatte?
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und blickte starr auf mein Essen. Ja, er hatte die Macht. Ich konnte überhaupt nichts tun. Ich meine, er war der Teufel! Ich stöhnte. Der Teufel. Zuvor war mir das nie so bewusst gewesen. Es war einfach wie alles nur ein Akt im Märchen, eine Figur im Märchen. Aber Ethan hatte gesagt, es gab den Teufel wirklich. Und ich saß gerade mit ihm am Tisch.
Ich schielte zu Owen. Er sah noch immer auf seine Bratkartoffeln, aber ein Grinsen lag auf seinen Lippen. Er verfolgte meine Gedanken.
»Ally«, sagte Riley und sah mich eindringlich an. »Alles okay?«
Wie viel davon war wirklich passiert? War Owen ausgerastet? Ich sah Owen fragend an. Was ist passiert und was nicht?, fragte ich ihn in Gedanken. Bist du ausgerastet?
Und fast unmerklich nickte Owen. Gruselig, wenn man auf seine Gedanken eine Antwort bekam. Das hieß danach ist alles nur in meinem Kopf passiert. Aber irgendwie war es ja doch passiert, schließlich hat Owen mit mir geredet. Wir beide wussten, was gewesen war, Riley nicht. Für ihn ist Owen vor ein paar Sekunden ausgerastet und ich habe danach die Augen geschlossen. Okay.
»Ja, alles in Ordnung, nur ein kleiner Schwächeanfall.«
Riley nickte erleichtert. »Wieso hast du Ally so angeschrien, Dad?«
Dass Riley Owen Dad nannte, störte mich. War Riley dann überhaupt Owens Sohn, wenn Riley doch der Prinz war?
Owen musste sich ein Grinsen, sicher über meine Gedanken, verkneifen. »Es tut mir leid, Ally. In letzter Zeit bin ich wohl etwas angespannt. Meine Arbeit überschüttet mich.«
Er lächelte und Riley schien nicht mehr so misstrauisch und verstört. Wenn er doch nur wüsste.
»Schon okay«, sagte ich und nickte. Aber was jetzt viel wichtiger war: Was sollte ich jetzt verdammt noch mal tun?! Mir war zum Heulen zu Mute. Entweder Dave würde gefoltert oder getötet. Warum nur war ich auf mich allein gestellt? Konnte ich nicht jemanden haben, der mir Rat geben konnte? Wen hatte ich denn, der mir helfen konnte? Ethan? Logan? Josh? Sam? Dave.
Ich konnte die Tränen nicht aufhalten. Ich stand einfach auf und stürmte aus dem Zimmer. Riley rief meinen Namen, aber Owen beschwichtigte ihn und meinte: »Frauen, weißt du doch.«
Dabei wusste dieses Arschloch ganz genau, wieso ich weggerannt war. Ich hielt das nicht mehr aus. Ich rannte in Rileys Zimmer, knallte die Tür – es war mir egal, dass das hier nicht mein eigenes Zuhause war – und schmiss mich auf den Teppich. Ich zog die Beine an und weinte. Ich wünschte Dave würde jetzt einfach wie damals in diesem Zimmer auftauchen und mich in den Arm nehmen. Mit mir wie damals den Abend verbringen. Mich vor Riley und Owen beschützen.
Ich wollte nicht mehr dieses Spiel spielen. Ich wollte nicht mehr die Hauptrolle sein. Konnte ich nicht einfach kündigen? Ging so etwas nicht? Wollte vielleicht jemand anderes mit dem Teufel spielen?
Ich schrie mir den Frust raus. Und es war mir noch immer egal, dass Owen mich hörte, dass er meine Gedanken lesen konnte. Und es war mir egal, dass er sah, wie schwach ich war, dass ich Angst vor ihm hatte, dass er schon fast gewonnen hatte. Ich wollte nicht, dass Dave etwas angetan wurde. Ich wollte nicht, dass irgendwem weh getan wurde, wegen mir. Ich musste was tun. Ich öffnete die verweinten Augen und sah geschockt, dass Owen im Türrahmen lehnte und mich beobachtete.
»Was tun Sie da?«
»Ist immer noch mein Haus«, sagte Owen lächelnd. Er kam ins Zimmer und hockte sich vor mich. Wie sah ich aus? Wie ein Haufen Elend mit roten Augen und einem gebrochenen Herzen. Und einem verrückten Verstand. »Hör zu, ich habe eine sehr sensible Art für Frauen.« Er lächelte mich immer noch an, aber die Augen blieben schwarz, leuchteten nicht. »Und doch muss ich dich enttäuschen, wir können leider nicht kooperieren, auch wenn ich mir sicher bin, dass wir uns gut verstehen würden, wenn, naja meine Macht nicht von dir abhängen würde.«
Ich lachte hysterisch auf.
»Eher von meinem Herzen.«
»Ja, aber ohne das bist du ziemlich aufgeschmissen«, meinte Owen. »Und ich muss dich wieder enttäuschen, so gerne ich einen Deal machen würde … ich kann nicht. So ist das Märchen nun mal. Weißt du ich hab auch keine Lust den jungen Mann, der unten am Tisch auf mich wartet, zu töten, aber für meine Macht tue ich alles.« Seine schwarzen Augen wurden plötzlich ganz hart und er packte mich am Oberarm. Eine Hitze durchschoss meine Adern. »Und ich werde mich nicht durch ein kleines, dummes Mädchen aufhalten lassen.«
»Ally, Dad?«
Owen drehte sich schnell um und stand auf. Riley stand etwas verwirrt in der Tür und blickte zwischen mir und seinem Vater hin und her.
»Alles in Ordnung, Ally und ich hatte nur gerade ein sehr wichtiges Gespräch von Schwiegertochter zu Schwiegervater, nicht wahr?«
Ich war überrascht, wie gut Owen schauspielern konnte. Ich nickte, um Riley zu beruhigen.
»Gut, es ist spät geworden, finde ich. Ich lege mich jetzt hin. Bleibt nicht zu lange auf«, sagte Owen und strubbelte Riley im Vorbeigehen durchs Haar. Dieser nickte und schloss hinter Owen die Tür.
Lange sagte keiner etwas. »Es ist okay, wenn du mir nicht alles sagst, Ally«, sagte Riley, »aber lüg mich nicht an.«
»Riley, es ist nicht so wie du denkst! Bitte, du musst mir glauben!«
»Was denke ich denn?«
Das machte mich stutzig. Der Spruch hatte eben irgendwie gut gepasst. Aber er hatte Recht, ich wusste nicht, wie es darüber dachte. Ihm musste aufgefallen sein, dass ich ihm etwas verschwieg, nämlich das Märchen.
Ich stand auf und umarmte Riley einfach. Er jedoch erwiderte die Umarmung nicht mal ein bisschen und dass verletzte mich so tief, dass ich mich selbst bei ihm allein fühlte.
»Riley, ich kann es dir nicht erklären«, meinte ich verzweifelt und löste mich von ihm. »Ich will dich doch nur nicht verlieren.«
»Woran denn verlieren?«, sagte Riley.
Ich atmete tief ein. »Hattest du mir nicht versprochen, keine Fragen zu stellen?«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Wieso war er so hart zu mir? Weil er nicht versteht, was du hier abziehst, flüsterte wieder die Stimme in meinem Kopf. Er fühlt sich benutzt.
»Stimmt, das habe ich«, sagte Riley. »Weißt du, Ally, ich merke doch, dass es dich enorm viel Kraft kostet bei mir zu sein. Am liebsten würdest du doch direkt zu deinem Dave gehen. Dann geh doch.« Riley lachte herzlos. »Ich dachte, wir hätten uns geeignet, dass wir uns nicht lieben. Ich dachte, wir hätten versprochen uns nicht zu irgendetwas zu zwingen. Liege ich da falsch?« Ich konnte die Tränen nicht zurück halten. »Ally, ich will das nicht. Ich dachte … du hättest mich verstanden, als ich dir sagte, dass ich dich nicht liebe.«
»Darum geht es nicht«, flüsterte ich bedrückt.
»Worum dann, Ally, worum dann?«, sagte Riley laut. »Hast du was gegen meinen Vater? Ist es das?« Riley zeigte hinter sich, als würde Owen dort stehen. »Weißt du, es ist schon komisch, euch beide andauernd zusammen anzutreffen. Und andauernd liegst du irgendwie geschwächt auf dem Boden, Ally. Was würdest du sagen, wenn du mich mit deinem Vater sehen würdest und wir würden so geheimnisvoll tun? Dass du das Gefühl hättest, wir würden irgendetwas gegen dich ausmachen?«
»Mein Vater ist tot!«, schrie ich plötzlich.
Dann war Stille.
»Tut mir leid«, flüsterte Riley. »Ich hatte nicht daran gedacht, dass dein Vater-«
»Vergiss es«, sagte ich bestimmt. Am liebsten würde ich einfach an ihm vorbei aus diesem Haus rennen, aber ich konnte nicht. Wo sollte ich schon hin? Ich hatte doch niemanden mehr. »Wenn du wüsstest, wieso ich das alles tue, würdest du nicht so reagieren, Riley.«
»Ich weiß es aber nicht!«, antwortete er wieder lauter, versuchte sich aber schnell wieder zu beruhigen. »Sag es mir doch einfach, Ally!«
»Kann ich mir dein Auto leihen?«
»Was?! Wo willst du denn jetzt noch hin?«
»Bitte«, flüsterte ich. Riley seufzte und gab mir die Schlüssel. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe dich, wenn auch auf eine andere Art und Weise.«
Riley lachte kurz, aber schnell verzog sich sein Gesicht wieder zu der harten Maske. Ich öffnete die Zimmertür und wollte schon die Treppe runter laufen, als Riley noch etwas sagte. »Ally?«
»Hm?«
»Pass auf dich auf.«




Kapitel 8 - Für Riley





»Ein wunderschöner Ort, oder?«
Ich hatte die Stimme zunächst überhaupt nicht gehört und stöpselte jetzt erschrocken meinen iPod aus den Ohren. Hinter mir stand ein kleines Mädchen mit kurzen, hellbraunen Haaren und einem lieben Lachen im Gesicht. Es hatte helle grau-grüne Augen, die mich anfunkelten. Ihr Gesicht war so zärtlich und so wunderschön, so makellos. Auch wenn sie knapp einen Kopf kleiner war als ich, glaubte ich, dass sie genauso alt wie ich war.
»Claya?«, fragte ich vorsichtig und versuchte in der Dunkelheit Dave auszumachen. Vielleicht war er ja mit ihr hier? Natürlich war das totaler Schwachsinn, aber ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass ich mir wünschte, er wäre hier. Bei mir.
»Claya? Wer ist Claya?«, antwortete jedoch das Mädchen und verzog im Mondlicht fragend das Gesicht.
»Wer bist du dann?«, sagte ich und wich einen Schritt zurück.
»Mein Name ist Jolina. Du musst Ally sein, oder? Dave hat schon viel von dir erzählt«, meinte das Mädchen und lächelte wieder. Die Fee. Ich stand doch wahrhaftig meiner eigenen Retterin gegenüber. Aber was mir wichtiger war, dass sie Dave kannte. Dass er von mir erzählt hat. Es machte mich eifersüchtig, dass sie ihn getroffen hat, während ich nicht mehr konnte. Sie wird ihn immer sehen können, ich nie wieder.
»Ja, die bin ich«, sagte ich kalt. »Wenn du mich entschuldigst, ich möchte jetzt bitte alleine sein.«
»Nicht sehr gut gelaunt heute?«, ließ Jolina nicht locker und ihr dämliches Grinsen ging mir allmählich genau wie ihre Anwesenheit auf die Nerven.
»Wie bist du eigentlich hier her gekommen, wenn man fragen darf?«, motzte ich weiter.
»Dave wartet im Auto auf mich.«
Das war ein harter Schlag ins Gesicht. Dave war hier draußen? In meiner Nähe? Am liebsten würde ich jetzt raus rennen und ihm glücklich wie in einem Film in die Arme rennen. Zwei sich Liebende, die sich wieder sehen.
»D-Dave wartet auf dich?«, fragte ich zittrig nach und umklammerte meinen iPod so fest, dass die Ränder in meine Handflächen drückten. Hatte ich das gewollt? War ich deshalb an diesen Ort gefahren? Hatte ich gehofft, Dave hier anzutreffen? Alles weg zu schmeißen, was ich mir vorgenommen hatte und einfach mit ihm zusammen sein? Das Märchen anfangen?
»Ja«, sagte Jolina fröhlich. »Soll ich ihn rein holen?«
Sie wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern verließ direkt die Eingangshalle des Schlosses. Die schwere Tür fiel krachend hinter ihr zu. Von den Wänden hallte der Knall wider. Und als ich wieder alleine war, kehrte die Gänsehaut zurück, die mir dieser Ort auf die Haut trieb.
Wie konnte ich Dave retten? Wie konnte ich ihn außer Reichweite von Owen bringen? Gab es so einen Ort überhaupt? Schließlich war Owen der Teufel. Und wenn er mir schon Wahnvorstellungen schenken konnte, konnte er Dave sicherlich auch aus der Ferne foltern. Wie nur konnte ich ihm helfen? Wie konnte ich es wieder gut machen?
»Ja, sie ist hier drin«, hörte ich Jolina draußen sagen. Sie waren gleich da. Ich konnte Dave nicht unter die Augen treten. Auch wenn wir uns erst seit gestern nicht mehr gesehen hatte, kam es mir vor, als sei es schon eine Ewigkeit. Ich wollte ihn nicht sehen, ich verkraftete es nicht.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Dave ganz tief und so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Ich musste mir was überlegen, wie ich ihm helfen konnte, ohne dass wir uns sahen. Er musste hier weg. Ja, vielleicht würde ich dann auch über ihn hinweg kommen. Vielleicht würde ich ihn vergessen.
Schnell kramte ich mein Handy aus der Hosentasche und schaltete Dauerbeleuchtung ein. Dann tippte ich in das Nachrichtenfeld eine Nachricht und legte es auf den Boden. Im letzten Moment konnte ich noch zum Hintereingang in die völlige Dunkelheit schleichen, bevor Dave und Jolina durch die große Tür traten.
»Ally?«
Jolina sah sich suchend in dem Raum um. Aber Dave hatte sofort das Handy entdeckt. Na, bitte. Er hockte sich ganz langsam hin, hob das kleine Handy bedächtig auf und stellte sich wieder hin. Jolina hatte noch immer nicht bemerkt, was Dave tat und er zeigte ihr mein Telefon auch nicht.
Jetzt war die perfekte Gelegenheit durch den Hintereingang zu verschwinden, auch wenn die Tür ein wenig quietschte, beide waren abgelenkt.
Ich löste mich von der Wand und trat die Holztür auf. Laut schlug sie gegen die Wand und ließ noch mehr Mondlicht in die Halle. Ich jedoch wartete nicht länger und rannte hinaus. Die Nacht war in der Stunde, die ich in dem Haus verbracht hatte, kühler geworden und ich wünschte ich hätte mir heute Morgen in der Schule etwas anderes als das weiße Kleid angezogen. Gut, dass ich die Absatzschuhe von vorne herein im Wagen gelassen hatte.
»Ally!« Ich sah über die Schulter und erkannte Dave, der im Hintereingang stehend mir nachsah. Aber ich hielt nicht an, sondern stolperte ums Schloss herum und zu Rileys Wagen. Ich hatte keine Ahnung, ob es helfen würde. Ich wusste nicht, ob es schlecht gewesen war, dass ich mit Dave nicht von Ge-sicht zu Gesicht geredet hatte. Aber ich wusste, dass ich mein Bestes geben musste.
Ich startete schnell den Motor, bevor einer der beiden mich aufhalten konnten und raste von der Bucht weg.
Dave. Hau ab. Owen ist hinter dir her. Er will mich dazu zwingen, mich für dich zu entscheiden. Fahr irgendwohin. Weit weg. Nimm Jolina mit, damit sie dich beschützen kann. Pass auf dich auf. Ally



»Schon wieder zurück?«
Ich nickte und stellte meine Schuhe in den Flur. Riley schloss nach mir die Haustür und wartete, dass ich noch etwas sagte. Ich atmete tief ein.
»Was du … eben gesagt hast«, fing dann doch Riley an und biss sich auf die Lippen. »Möchte ich gerne erwidern.« Wir sahen uns an. Beide gerührt von der Zuneigung des anderen. Aber dann fing Riley an zu grinsen und wir lachten zusammen los. »Tut mir leid, ich kann sowas nicht so gut«, brachte Riley hervor.
Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, hing noch immer das glückliche Lachen auf unseren Lippen. Ich war nicht allein. Ich hatte Riley. Und ich wusste, dass er hinter mir stehen würde, egal was passieren würde. Er hatte akzeptiert, dass ich es ihm nicht sagen konnte. Er war nicht mein Geliebter, nicht mein Verlobter. Nein er spielte die Rolle des besten Freundes.
»Danke«, flüsterte ich. Meine Augen glitzerten schon wieder. »Danke, Riley.«
Riley zog mich an den Schultern in seinen Arm und drückte mich an sich. Ich schloss die Augen und genoss diese Geste. Sie war nicht so falsch, wie alles an dem Strandausflug gewesen war. Sie war echt. Sie war pure Freundschaft. Ich kannte Riley noch nicht lange, aber ich konnte sagen, ich würde für ihn meine Hand ins Feuer legen.
»Was ist denn hier unten los?«
Ich wollte mich nicht von ihm lösen. Noch nicht. Wollte noch mehr Kraft tanken. Und nichts konnte mich jetzt noch von Riley lösen. Auch nicht Owen, der jetzt verwirrt – natürlich gespielt – auf dem Treppenabsatz stand.
»Ally ging es nicht gut. Wir waren runter etwas trinken und wollten jetzt schlafen gehen, Dad.«
Nein! Nein! Riley, lüg ihn nicht an! Lüg ihn nicht an!
Obwohl ich es total süß fand, dass er mich schützte, wo er doch gar nicht wusste, ob das nötig war und wo ich eigentlich gewesen war, hatte ich das Gefühl, dass Owen es nicht mochte, wenn man ihn anlog.
Nette Denkweise über mich.


»Hör auf damit«, sagte ich scharf und merkte zu spät, dass ich es eigentlich nur denken wollte. Riley löste sich von mir.
»Was?«
»Du hast …« Riley zog die Augenbrauen zusammen. Ja, was hatte er? An meinen Haare gezogen?
»Ally meinte, dass ich euch nicht dauernd stören soll«, kam Owen mir zur Hilfe und lächelte. »Am besten lasse ich euch zwei Turteltäubchen mal alleine.«
Riley grinste und streichelte mir über die Wange. Er konnte auch gut schauspielern, nur blöd, dass er jetzt sicherlich gedacht hatte: Jetzt schön verliebt spielen, wie Ally es gesagt hat.
Fast

, schaltete sich Owen in mein Gehirn. Es war in die Richtung: Wie soll ich ihn überzeugen?


Ich schielte zu Owen. Seine Augen funkelten, als würde er den Mund zu einem Grinsen verziehen, was er aber nicht tat, sonst würde Riley es merken.
»Tut mir leid«, murmelte ich und küsste Riley auf die Wange. Das war falsch. Ja, ganz falsch. Es fühlte sich überhaupt nicht richtig an. Der Kuss eben, war nicht gespielt gewesen, den hatte ich selbst entschieden zu tun. Nicht wie jetzt.
Aber sei’s drum. Plan gescheitert, küssen hin oder her.
»Schon gut«, sagte Riley, nahm meine Hand und führte mich schnell an seinem Vater vorbei die Treppe rauf. Im Gehen flüsterte er mir ins Ohr: »Wie wäre es mit verspieltem Lachen?«
Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte meinen Kopf gegen die Wand geschlagen, so blöd war das. Als ob Owen das nicht hören könnte!
»Okay«, wisperte ich dennoch und sprang hüpfend die Treppe hoch. Riley packte mich an der Taille und drehte mich lachend.
Ouh. Obwohl ich es an letzter Stelle von meinen Gefühlen schrieb, war es mir peinlich, denn ich hörte in meinem Kopf, wie Owen uns und damit meinen Plan auslachte.
Riley schloss hinter uns die Tür und grinste. »War das so, wie du mich gebeten hast?«
Ähm … »Ja«, sagte ich lachend und hoffte, dass er mir nicht anmerkte, dass er sich gar nicht mehr anzustrengen brauchte. Riley nickte erleichtert und musste wieder lachen.
»Meinst du er hat es uns abgekauft?«
»Bestimmt«, murmelte ich und betete innerlich, dass er endlich auf ein anderes Thema kommen würde.
»Was?«
»Bestimmt!«, sagte ich lauter und zerrte mir ein Lachen aufs Gesicht. Wenn es den Teufel gab, gab es dann auch Gott? Konnte der mir nicht mal helfen? Dazu war er doch da, oder?
»Finde ich auch, sonst hätte er das mit den Turteltäubchen nicht gesagt«, meinte Riley und zog sich um. Er warf mir meine Schlafsachen entgegen.
Ich zögerte. Er war jetzt mein Freund, also konnte ich mich auch ruhig vor ihm umziehen. Ich musste leise lachen. Auch wenn man mit dem Teufel im selben Haus schlief, machte man sich darüber Gedanken. Oh je, was wäre, wenn Owen mich beim Umziehen sehen würde? Das wäre mein Ende, noch bevor er mir das Herz rausgerissen hätte.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Er konnte Gedanken lesen.
Keine Angst, ich habe andere Interessen, Mädchen.


Miesgelaunt dachte ich zurück: Erstens, halten Sie sich ge-fälligst aus meinen Gedanken raus und zweitens, haben Sie nichts Besseres zu tun, als dauernd meine

Gedanken zu überwachen?
Doch. Aber es ist sehr amüsant, was du immer denkst.


Rosen sind rot, Veilchen sind blau und Kleeblätter grün? Ich habe in letzter Zeit meine Hausaufgaben ziemlich vernachlässigt. Nächste Woche fängt wieder mein Ballettunterricht an. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Das würde wahrscheinlich ganz anders sein, wenn ich im Hintergedanken immer hatte, dass ich jetzt die Hauptrolle in einem Märchen war, der ein schrecklicher Tod bevor stand. Stopp, nicht ans Märchen denken! Ich hab Blasen an den Füßen. Dave ist hoffentlich schon im Flieger.
Verdammt, das letzte sollte doch nicht in meine Gedanken!
Mach dir nicht unnötig Mühe. Ich werde Dave sowieso finden.


Super, danke.
»Soll ich wegschauen?«, schmunzelte Riley und ich fand, dass dieser Satz eher aus Ethans Mund stammen könnte. Ich nickte unsicher und er tat mir den Gefallen. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich glaube, ich hatte mich gerade in Lichtgeschwindigkeit umgezogen. So, gut, schnell gucken, ob alles gut saß – auch wenn man an den weiten Jungenklamotten nicht viel zurecht rücken konnte. Mir egal, wie lächerlich die Gedanken waren, ich war immer noch ein Mädchen und er ein Junge.
»Fertig«, sagte ich und verhaspelte mich ein wenig bei der letzten Silbe. Ich verdrehte über mich selber die Augen und setzte mich dann kerzengerade auf sein tiefes Bett. Ich war das gar nicht gewohnt. Mein Bett war extra hoch, während seine Matratze ja fast auf dem Boden lag. »Ganz schön tief der Abgrund«, scherzte ich und schaute an meinen Beinen herab auf den Holzboden.
Riley lachte und klettere zu mir aufs Bett. Er schaltete am Kopfende das Licht aus und schlug sein Kissen auf. »Schläfst du immer im sitzen?«
»Äh, ja«, antwortete ich und kuschelte mich dann mit ihm unter die schwarze Decke. Mein Kissen und die Wolldecke, die Riley für mich rausgesucht hatte, lagen unachtsam auf dem Boden. Wahrscheinlich hatte Riley da noch nicht gedacht, dass wir auch im Stande waren, zusammen unter einer Bettdecke zu schlafen.
»Es tut gut eine weibliche Freundin zu haben«, flüsterte Ri-ley und lächelte mich im Dunkeln an. »Hatte ich seit ich dreizehn bin nicht mehr. Obwohl ich auch nicht von vielen Freundinnen davor berichten kann.«
»Ich auch nicht, also von Jungen. Aber bei mir fing das schon früher an.« Wir schwiegen für einen Moment. Dann wagte ich mich zu sagen: »Dann war Josh 14, als er wegrannte?«
»Fünfzehn«, widersprach Riley. »Ich kann mich an den Tag noch erinnern, als wäre er gestern gewesen.«
»Hört sich an, wie in einem Film«, flüsterte ich und wir lachten. »Nein, erzähl mir davon.«
»Es war ein Tag vor meinem dreizehnten Geburtstag. Mein Vater hatte gesagt, er wolle noch ein wichtiges Gespräch führen und hat uns schon hoch geschickt.« Riley sah kurz nachdenklich aus und überlegte sicherlich genau wie ich, wer der Anrufer wohl gewesen war. »Ich bin in mein Zimmer gegangen und hab noch mit Freunden gechattet. Plötzlich kam Josh rein und grinste mich an.« Riley lächelte bei der Erinnerung. Ich versuchte mir den großen, starken Josh mit fünfzehn vorzustellen. »Er meinte: ‚Und, schreibst du mit deiner süßen Freundin?‘ Damals war ich ja erst zwölf und voll in der Pubertät«, erklärte Riley grinsend. »Ich war also gleich auf 180 und sagte, dass sich mein großer Bruder, ich zitiere wortwörtlich, andere Hobbys suchen solle.« Wir lachten. Ich sah einen 20cm kleineren Riley mit wuscheligen, blonden Haaren vor mir, der sich von seinem großen, nervenden Bruder bedrängt fühlte. »Jedenfalls lachte Josh da bloß und verschwand. Dann kam er kurz darauf wieder und ich hatte ihn schon anbrüllen wollen, als ich sein Gepäck sah. Er hatte zwei große Rucksäcke vollgepackt. Ich fragte, wo er hin wolle und er antwortete ganz ernst: ‚Ich hau ab, Brüderchen. Wehe du sagst unserem Alten, dass du es wusstest!‘ Dann kam er zu mir, boxte mich in den Oberarm und umarmte mich kurz.«
»Und dann war er weg«, beendete ich Rileys Erzählung. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr Josh Riley die ganzen Jahre über gefehlt hatte. Ein großer Bruder, der den kleinen in Schutz nimmt. Ich konnte ihn gut verstehen, schließlich hatte ich so jemanden auch nie gehabt.
»Er fehlt dir, oder?«
Riley lächelte halbherzig. »Lass uns schlafen«, sagte er knapp, drehte mir den Rücken zu und zog die Decke höher. Traurig sah ich auf seinen Hinterkopf.
Du kannst ihn sehen! Ich kann dich zu ihm führen! Ich kenne ihn! Er ist nur gegangen, um dich zu retten! Sei nicht mehr traurig!
Nichts von all dem konnte ich sagen. Dabei würde ich ihm doch so gerne den Schmerz nehmen. Aber ich konnte nicht. Ich musste es tun, wie Josh damals. Ihm weh tun, um ihm das Leben zu retten. Er sollte jedoch vielleicht besser nie erfahren, dass ich Josh kannte, das würde er sicher in den falschen Hals bekommen.
Ich seufzte. »Gute Nacht, Riley.«

Das Radio war auf volle Lautstärke gedreht und all die Traurigkeit von gestern Abend war verschwunden. Heute war Riley nicht mehr der kleine Junge, der sein großes Vorbild vermisste, sondern der robuste junge Mann. Ich nahm drei Messer und drei Gabeln aus der Schublade und schubste diese mit einem Hüftschwung zu. Ich hatte die Trauer, die ich bei Riley gestern gespürt hatte, noch nicht überwunden, da ich ständig die Spuren dieses Leides an Riley bemerkte, aber ich spielte mit Riley mit.
»Hey Soul Sister, ey, that mister mister on the radio«, trällerte Riley in einer viel zu hohen Stimmlage und schnipste mit den Fingern. Ich lachte und tanzte an ihm vorbei aus der Küche ins Esszimmer. »Los, Ally, zeig mir was du kannst!«
Wie ein kleines Mädchen kicherte ich und weigerte mich zu singen. Das wäre alles kein Problem gewesen und es wäre mir auch vor Riley nicht peinlich gewesen, mich wie ein Kind aufzuführen, wenn Owen nicht plötzlich schmunzelt im Türrahmen gestanden hätte. Ich konnte ihn vielleicht nicht mehr glauben lassen, dass ich Riley liebte, wie es sein sollte, aber ich konnte ihm immer noch zeigen, wie viel Riley mir dennoch bedeutete.
»It’s to late to apologize!«, sang ich so laut ich konnte zu dem nächsten Lied und klatschte im Rhythmus mit den Händen über den Kopf. Ich stieß Riley mit der Hüfte an und bewegte ihn dazu mit mir zu tanzen. Wir trollten rum, wie Hunde. Lachten, dass uns die Tränen in den Augen standen und der Bauch weh tat. Und ich hatte Owen tatsächlich vergessen, bis er plötzlich die Blase platzen ließ und sagte: »Ich störe euren Gesangsauftritt ja nur ungern, aber ich hätte jetzt Hunger auf Frühstück.«
Riley drehte sich überrascht um, er hatte ihn anscheinend die ganze Zeit überhaupt nicht bemerkt. Gerührt stellte ich fest, dass er nur Augen für mich gehabt hatte.
»Guten Morgen, Dad«, sagte Riley und lächelte von einem zum anderen Ohr. »Wir waren schon Brötchen holen.«
»Das sehe ich, dankesehr.« Owen lächelte.
Ich erwischte mich dabei, Owen aus Rileys Sicht zu sehen. Wenn man mal die ganze Sache mit dem Teufel wegließ, konnte Owen vielleicht ein guter Vater sein.
Danke.


In dem Tonfall, wie das Danke in meinem Kopf ankam, zerbrach meine Sicht von Riley. Er liebte Riley nicht. Er würde ihn töten, wenn ich es nicht verhindern würde. Plötzlich wurde mir etwas klar. Ich würde mich entscheiden müssen. Und zwar richtig. Ich durfte mich in gar keinem Fall für Dave entscheiden, denn das würde Rileys Tod kosten.
»Gut, dann lasst uns essen«, meinte Owen und ließ mich zusammen fahren. Wir setzten uns so wie letztes Mal auch. Owen zwischen uns. Ich musste wieder an Twilight denken. Bei Alice hatte es doch auch geklappt! Dumm nur, dass Owen auf die weitesten Entfernungen auch meine Gedanken lesen konnte und ich konnte ja nicht für immer über die Farben von Blumen nachdenken.
Mir fiel ein Lied ein.
There’s a possibility.


Ich schürzte die Lippen und nahm mir ein helles Brötchen. There is verdammt nochmal keine possibility.
»Wollt ihr heute irgendetwas unternehmen?«
Riley sah mich über den Tisch hinweg an und grinste abenteuerlustig. »Sollen wir von einer Klippe springen? Hast du das schon mal gemacht? Das ist der totale Adrenalin-Kick, sag ich dir!«
Rileys Augen leuchteten genauso wie Daves, als er vom Springen erzählte. »Naja …«, zögerte ich und spürte schon wieder die Kälte in meinen Füßen und in meinem Bauch. »Also ich … ich springe nicht so gerne, weißt du?«
»Du hast Schiss«, stellte Riley fest. »Aber das brauchst du wirklich nicht. Wir springen einfach zusammen. Ich halte dich fest.«
Ich sagte nichts mehr. Owen lachte. »Ich glaube für Ally ist der Tag jetzt gelaufen, wenn du sie wirklich zu einer Klippe schleppst.«
»So schlimm?«, meinte Riley, aber seine plötzliche Lebensfreude konnte wohl keiner trüben. Für einen Moment überlegte ich, ob Owen ihm etwas in den Kaffee getan hatte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder, als Owen laut auflachte.
Glücklicherweise schob Riley das auf die Tatsache mit der Bucht.
»Ich habe sehr stark Höhenangst. Aber es gibt für alles ein erstes Mal, oder?«
Riley klatschte in die Hände und freute sich, dass ich mitmachte. Ich betete in Gedanken allerdings schon eindringlich zu Gott, dass er mich ja am Leben ließe. Mir kam meine letzte Überlegung zu Gott in den Sinn. Er hatte mir bis jetzt ja auch nicht geholfen, also würde er mir dort also auch nicht helfen.
Nur für einen ganz, ganz kleinen Moment war ich sauer auf Gott, dann kam dir Angst zurück. Oh, nein! Bitte, nicht! Gott, es tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe, dass ich an deiner Existenz gezweifelt habe! Lass deinen Zorn jetzt ja nicht an mir aus.
Ich sah von meinem Teller auf und beobachtete, wie Riley genüsslich sein Nutellabrötchen in sich hinein stopfte. Owen war wie immer am grinsen. Sicherlich über meine Gedanken von seinem Erzfeind. Sein Grinsen wurde breiter.
Riley hetzte mich am frühen Nachmittag, dabei wollte ich doch nur mal in Ruhe duschen. Aber Riley ließ sich nicht abwimmeln, weshalb ich die Kur für die Haare wegließ. Nachdem Riley mich von der Schule abgeholt hatte, sind wir zu mir nach Hause gefahren, holten ein paar Klamotten von mir und sagten meiner Mum Bescheid, dass ich jetzt für ein paar Tage bei Riley wohnen würde.
Ich trat aus der Dusche und trocknete mir schnell die Haare. Ich schlüpfte in den blauen Bikini und ließ meine Haare nass. Wirr fielen sie mir ins Gesicht. Im Rausgehen, huschte mein Spiegelbild neben mir über den beschlagenen Spiegel. Ich blieb stehen und sah es mir genauer an.
»Das bist du«, murmelte ich und fuhr über meine Spiegelwange. Kam es mir nur so vor oder sah meine Haut grau aus? Irgendwie stachen meine roten Haare viel deutlicher raus, als sonst. Meine Lippen waren trocken, also suchte ich irgendeine Feuchtigkeitscreme in dem Badezimmer, die ich mir auf die Lippen schmieren konnte.
»Ally, wir sollten vielleicht noch los, bevor es dunkel wird, was meinst du?«
»Man, jetzt mach mal nicht so einen Stress«, motzte ich und erschreckte mich selbst über meinen Tonfall. Ich ließ mich allerdings nicht länger beirren, sondern suchte weiter nach der Creme. Jetzt war nur noch ein kleiner, weißer Schrank in der Ecke übrig. Kurz zögerte ich. Wieso zögerte ich? Ich schüttelte den Kopf und ging schnurstracks auf den Schrank zu.
Verlass das Zimmer.


Ich lachte dreckig. War ja klar gewesen. Ich ging weiter auf den Schrank zu, aber jetzt langsamer, bedächtiger, provozie-render.
Geh raus.


»Gleich«, flüsterte ich und wurde immer neugieriger, was in dem Schrank war. Ich legte die Hand auf den Griff … und öffnete die kleine Tür.
Vor Schock, was ich darin sah, stolperte ich zurück und knallte mit den Ellenbogen auf die Fliesen. In dem einzigen Fach in dem Schrank lag eine abgetrennte, blutende Hand!
»Wie kommt die darein? Von wem ist die?«, flüsterte ich angewidert und sah stur auf die Fliesen. Mein Magen drehte sich um. Ich hatte alles erwartet, aber nicht das.
Ich bemerkte Owens ekelhaftes Lachen in meinem Kopf.
Ich wagte einen weiteren Blick auf die Hand, aber sie war verschwunden. Stattdessen war der kleine Schrank mit Handtüchern gefüllt. Ich krabbelte zu dem flauschigen Haufen und tastete jedes an, um mich zu vergewissern, dass sie echt waren.
Interessante Wahnvorstellungen, die du da hast.


Ich knurrte. Er hatte mich verarscht.




Kapitel 9 - Eine Versammlung





»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, warf Ethan ein und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ally ist noch ein Kind. Sie hat doch keine Ahnung, was sie da tut! Wir sollten ihr Anweisungen geben.«
Dave schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Du unterschätzt Ally.« Und leide fügte er hinzu: »Und ich auch …«
Logan stöhnte laut, sodass alle ihn ansahen. »Das bringt doch alles nichts. Wir werden das Märchen sowieso nicht stoppen können!« Stille. Aber Logan ließ sich nicht einschüchtern, er sagte, wie er es meinte. »Dave und Ally werden sich sowieso nicht von einander fern halten können, das merke ich jetzt schon.«
Dave ballte die Fäuste, versuchte seine Wut zu kontrollieren. »Bist du derjenige, der sterben wird? Bist du derjenige, dessen Leben davon abhängt?«, knurrte er den schmächtigen Logan an.
Josh legte Dave die Hand auf die Schulter und Dave entspannte sich wieder. Ethan hatte dem kleinen Schauspiel belustigt zugeschaut und hielt sich von nun an leicht im Hintergrund. Er wusste, wie es enden würde. Er wusste, wie Ally sich entscheiden würde.
»Logan, das ist ein wenig voreilig, findest du nicht? Wir sollten es wenigstens versuchen.«
»Meinst du eigentlich, du hast deinen Bruder damit gerettet?« Jolina, das einzige Mädchen in dem stickigen Raum, kam aus dem Schatten der großen Kommode und stellte sich nun direkt in den Schein der Öllampe.
»Ich verstehe nicht ganz-«
»Ich dachte nur so … ich weiß ja nicht, wie er es sieht … aber vielleicht hast du damit eher dein Leben gerettet, Josh, und das Leben von Riley behindert?«
Ethan lachte leise. Er wusste, wie es enden würde. Er wusste, wer sterben würde. Er wusste es, sagte aber nichts. Half nicht.
»Wieso?«, fragte Josh kalt nach. Dave überlegte angestrengt über Jolinas Worte nach. Hatte sie recht?
»Schau doch mal. Jetzt ist er der Prinz, oder?«, meinte Jolina und fing an im Raum auf und ab zu gehen. »Jetzt spielt er deine Rolle. Er spielt sie von Anfang bis zum Ende.« Sie blieb kurz stehen, blickte dem großen, blonden Jungen fest in die grünen Augen. »Liebst du Ally?«
Ethan lachte wieder, diesmal aber etwas lauter, sodass Sam ihn misstrauisch ansah. Ethan war in der gesamten Gruppe nicht gerne gesehen.
»Nein?!«
»So abwegig ist das jetzt auch wieder nicht«, meinte Logan und grinste, aber keiner stimmte in seinen Auflockerungsversuch mit einem Lachen ein. Der Raum war mit zu viel Spannung gefüllt. Keiner wusste so recht, was er tun sollte und was er besser lassen sollte. Außer einer.
»Aber du könntest sie lieben.«
»Nein«, widersprach Josh wieder direkt, zögerte dann aber doch. »Ich meine, keine Ahnung, wieso?«
Jolina atmete tief ein. Sie ließ Josh nicht aus den Augen, wartete auf eine konkrete Antwort, um ihre Gedanken zu offenbaren. Sie war die Fee. Die Wissende. Doch hatte sie ein ganz anderes Wissen, als derjenige, der noch immer an dem staubigen Tisch in der Ecke lehnte.
»Ich glaube, ich weiß, worauf Jolina hinaus will«, murmelte Dave und blickte Josh nachdenklich an. Er nickte, um sich in seinem Beschluss zu bestärken.
Niemand sagte was. Jolina blickte noch immer Josh an und dieser starrte fest zurück.
»Ich könnte sie lieben, ja. Wenn es das Märchen nicht geben würde, und die Tradition wirklich so wäre, wie Riley es glaubt … ich könnte sie lieben.«
Jolina grinste selbstzufrieden. Sie strich sich bedenklich, langsam die Haarsträhnen, jede einzeln hinter die Ohren. Ließ die Jungen zappeln.
»Aber der Prinz kann das Mädchen nicht lieben. Kann Ally nicht lieben«, sagte Jolina. »Versteht ihr denn nicht? Josh hat damit seine Rolle überreicht!« Jolina befeuchtete ihre Lippen und sah in die Runde, einbeschlossen Ethan. »Ich meine, könntet ihr euch nicht vorstellen, dass wir das auch hinbekommen könnten?«
Jetzt war das Lachen, das dritte, so laut, dass es schien, als würde die Stille noch ruhiger werden. Als würden nun alle Geräusche ausgeschaltet werden. Der junge Mann trat ebenfalls ins Licht. Gruselig schien ihm die Lampe von unten ins Gesicht, ließ seine Gesichtszüge härter erscheinen, geheimnisvoller, gefährlicher.
»Nette Sichtweise, Fee, sehr interessant«, sagte er bedacht, »dennoch muss ich etwas dagegen erwidern.« Ethan machte eine kleine Pause, sah durch das schmutzige Fenster, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem dreckigen Grinsen. »Glaubst du wirklich, das Ganze ist so einfach gestrickt?« Er lachte kurz. »Ich meine … hast du wirklich geglaubt, man könnte den Teufel überlisten? Bist du so naiv wie Ally?«
Jolina sah ihn bissig an. Sie war eines dieser starken, selbstbewussten Mädchen, ließ sich nicht beirren, ließ sich nichts sagen. Ja, sie war naiv.
»Ally ist nicht naiv«, meinte Josh ruhig. »Sie versteht nur nicht ganz die Lage und ist unsicher, in dem was sie tut.«
»Und trotzdem glaubt sie, den Teufel überlisten zu können«, hielt Ethan fest und grinste, als er merkte, dass Josh dagegen nichts sagen konnte. Er hatte recht. Wenn sie wüssten, wer er war, dachte er sich. »Meine Meinung ist auch, dass wir es nicht schaffen können.« Dave riss die Augen auf, er sagte aber nichts. Ethan schielte bösartig zu ihm, hob jedoch leicht die Mundwinkel. Er würde schweigen, da war sich Ethan sicher. »Was wollen wir denn tun?«
»Ally …«
»Ally hier, Ally da«, warf Sam ein. »Denkst du eigentlich auch mal an was Andres?«
Dave wollte schon etwas erwidern, doch er hielt sich zurück. Nein, er dachte an nichts Anderes mehr. Er konnte gar nicht anders. Er liebte sie.
»Ich finde die Idee von Ally gut«, pflichtete Jolina Dave bei und lächelte ihn freundlich an, Dave reagierte nicht. »Wir werden fahren. Noch heute Nacht.«
Ethan drehte sich um, lachend. Die Lachtränen verschlechterten seine Sicht. Das Ganze war für ihn total unnötig, aber sehr unterhaltend. »Dann fahrt mal.«
Logan grinste. Ethan verdrehte die Augen, darüber, dass Logan wahrscheinlich dachte, dass sie durch ihre gemeinsame Ansicht, dass sie das Märchen nie brechen würden, nun so etwa wie Verbündete waren. Aber Ethan hatte keine Verbündeten. Keine Freunde. Er war das schwarze Schaf, der Miesepeter, der Stich im Auge, der Dorn an der Rose.
»Bist du dir da sicher, Jolina?«
Das Mädchen rollte mit den Augen, fasste Dave am Oberarm und zog ihn aus dem Raum zur Treppe. Dave wehrte sich nicht, er hatte zwar keine Ahnung, ob es falsch war zu fahren oder ob es richtig war. Das einzige, woran er dachte, und ja Sam hatte ins Schwarze getroffen, war Ally. Würde er sie nie wieder sehen? War das jetzt ihre Bestimmung?
Im Raum sagte lange keiner was. Hatte die Besprechung so enden sollen? Waren alle damit einverstanden? Aber am Ende waren eben doch alle Einzelspieler. Jeder hoffte auf sein Überleben. Aber was Josh am meisten beängstigte, war die Tatsache mit Riley. Hatte er wirklich das Falsche getan? Hatte er es noch schlimmer gemacht? Hatte er damals vielleicht sogar aus Egoismus gehandelt? Nein, den letzten Gedanken schlug er schnell nieder. Er war zwar ein arroganter Jugendlicher gewesen, aber sein Bruder war sein Lebensinhalt gewesen.
»Dann ist diese mysteriöse Veranstaltung also zu Ende?«, brach Logan die Stille. Er grinste Ethan an. Ja, Ethan lag richtig mit seiner Überlegung. Er sah ihn an, ausdruckslos, und wieder weg. Das sollte genügen, um ihm zu zeigen, dass er keine Lust auf so einen schlaksigen Volltrottel hatte.
»Ja, ja ich denke schon«, murmelte Josh durcheinander und verließ ebenfalls den Raum.
Ethan hob die Augenbrauen. Dann ging er in die Mitte des Raumes. »Mir ist klar geworden, dass ich mit meiner Rolle nicht klar kommen werde«, sagte er dramatisch und fasste sich wie in einem Theaterstück ans Herz. Logan lachte. Jetzt zeigte Ethan ihm mal, wer ihr ganz unten in der Nahrungskette stand. »Schon nachgedacht, wer du bist, Froy?« Logan Froy verging bei dem scharfen Ton von Ethan nicht das Lachen. Nein, er stachelte es damit nur noch mehr an. Was konnte er also sagen, dass Logan endlich begriff, wer er war? »Schon gefragt, wer der Teufelssohn ist?« Ethan verzog sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen. Der Schein der Öllampe verstärkte die Gefahr in seinem Gesicht noch mehr. Jetzt war der Groschen gefallen. Logan blickte ängstlich wie ein Kaninchen kurz bevor man ihm in den Kopf schoss. Ethan lachte freundlich und löste die bedrängende Stellung. Er boxte Logan in die Schulter und nickte Sam, der genauso aussah, kumpelhaft zu.
»Nicht so angespannt, Dude. Oder haben wir etwa Angst?«
Logan lachte leicht hysterisch und versuchte sich zu lockern, aber etwas hatte sich geändert. Vielleicht, dachte Ethan, hatte er jetzt verstanden, dass sie keine Verbündete waren.
»Nein, Kumpel«, sagte Logan bemüht locker, »alles cool.«
Ethan grinste. »Ich weiß.«
Dann drehte er sich um und ärgerte sich, dass er einen genauso blöden, dramatischen Abgang hingelegt hatte, wie Dave und Josh.
Logan sah unsicher zu Sam rüber. »Weißt du, was er damit sagen wollte?« Es war ihm zu peinlich zu fragen, ob Sam auch glaubte, dass er der Teufelssohn war.
»Nö«, antwortete Sam schulterzuckend und ging ebenfalls. Logan lief ihm nach und meinte: »Ich auch nicht.« Das brüchige Lachen überzeugte Logan selbst nicht.



Kapitel 10 - Ein wichtiges Gespräch unter vier Augen





Riley lehnte sich nach hinten und kramte umständlich aus der Kühltasche eine Flasche Wasser. »Hier«, sagte er und reichte sie mir.
Die Sonne schien so heiß wie an keinem anderen Tag und wir beide lagen auf zwei Handtüchern im Sand. Ich nahm einen tiefen Schluck Wasser und legte die Flasche in den Sand.
»Ready to jump?«
Ich rümpfte grinsend die Nase und rollte mich von ihm weg. Riley lachte. »Na, komm. Du hast eingewilligt! Jetzt kannst du keinen Rückzieher machen.«
Ich hob den Kopf und guckte ihn an. »Du bist fies.«
»Ich weiß.«
»Okay, ich möchte nur noch kurz in das Strandhaus und auf die Toilette, okay?« Riley nickte und machte sich dennoch schon startbereit. Ich lief so schnell ich konnte auf die öffentlichen Toiletten. Ich schloss mich in eine der Kabinen und atmete tief ein und wieder aus. Okay, du schaffst das. Gott steht dir bei, sagte ich mir und musste lachen.
Die Tür wurde aufgedrückt und fiel wieder zu. Jemand war reingekommen. Ich kümmerte mich zuerst nicht wirklich darum, bis ich die Füße des Jemanden unter meiner Tür sah. Es waren Straßenschuhe. Und zwar große, schwarze. Männerschuhe. Männerfüße.
Ich war doch nicht etwa in die Männertoilette gegangen, oder? Ich sah auf den Türknauf, ich hatte abgeschlossen, und außerdem war er rot. Die Männertoiletten waren blau. Aber was mich besonders beunruhigte war, dass der Mann nicht einfach in eine der Kabinen ging, sondern direkt vor meiner Tür stehen blieb. Auf mich wartete.
Was nun? Was das ein Frauenschänder? Wollte er mich entführen? Am helllichten Tag? Ich tat so, als würde ich mir ein Handy ans Ohr halten und sagte laut und gut vernehmlich für den Mann: »Hey, Mary, ja ich hab ein kleines Problem. Könntest du bitte schnell kommen? Ja in die Damentoilette!«
Hoffentlich würde der Typ abhauen. Tat er aber nicht. Scheiße was jetzt?
»Wer ist Mary?« Mein Herz setzte aus. Hatte der Typ mich grade angesprochen? »Komm raus, Ally, ich muss mit dir reden.«
Okay, ganz ruhig. Ich nahm den Deckel von dem Mülleimer fest in die Hand und schloss die Tür auf. Der Mann stürmte sofort in die Kabine und drehte den Riegel wieder um. Wie vom Blitz berührt stolperte ich über die Toilette in die hinterste Ecke der Kabine und sah den Mann angsterfüllt an.
»Wer sind Sie?«
Der Mann zog die schwarze Kapuze und die riesige Sonnenbrille aus. »Was soll der Deckel?«
»Dave?!«
»Hast du mich denn nicht an meiner Stimme erkannt?«, fragte er verwirrt zurück. Da stand er. In einem schwarzen Kapuzenshirt, einer schwarzen Jeans und seinen schwarzen Sneakers, die er immer getragen hatte, wie mir jetzt erst bewusst wurde. Sein wunderschönes Gesicht sah mich an. Seine dunkelblauen Augen glitzerten in der schlechten Beleuchtung des Klos. Wir sahen uns eine Weile an. »Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass du vor mir weggelaufen bist«, sagte Dave und lächelte so lieb, dass es mir die Tränen in die Augen trieb.
»Mir auch«, flüsterte ich. »Am liebsten würde ich einfach alles hinschmeißen-«
»… und mit dir durchbrennen«, beendete Dave meinen Satz. »Ja. Ich auch.«
Eine Träne lief mir über die Wange. »Ich habe Angst.«
Dave lächelte und strich die Träne weg. »Ich auch.« Ich ließ den Deckel fallen und umarmte ihn so fest ich konnte. Ich wollte nicht, dass er ging. Wollte nicht, dass er nie mehr zurück kommen würde. Dass er mit Jolina alleine war.
»Es ist ganz schön schwer euch zu sehen«, flüsterte Dave in meine Haare. »Dich und Riley.«
»Wieso? Hast du uns beobachtet?«
»Ja«, antwortete Dave. »Ich wünschte, ich

könnte mit dir gleich springen.«
»Apropos springen«, sagte ich und löste mich von ihm, »wieso hast du die Jungen angelogen, als ich damals weggerannt war?«
»Ich … naja … ich wollte nicht, dass sie wissen, dass du ängstlich weggerannt bist«, meinte Dave verwirrt.
»Du wusstest, warum ich gegangen bin, oder?«, stellte ich fest. »Du wusstest, dass ich über den Teufelssohn nachgedacht habe?«
Dave sah mich lange an, dann nickte er. »Wenn ich ihnen gesagt hätte, dass du Angst gehabt hast, dann hätten sie nachgefragt wieso und hätten sich das später selbst denken können. Und unter uns wandert immer noch der Teufelssohn, das weißt du ja.«
Ich nickte. Er wollte mich beschützen. Wie immer. »Küss mich«, flüsterte ich. Aber Dave reagierte nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Er riss die Augen auf und ging auf Abstand.
»Du weißt, dass wir das nicht können!«, murmelte er aufgebracht. »Damit würden wir das Märchen beginnen!«
»Scheiß auf das Märchen«, flüsterte ich und fasste sein Kinn mit meinen Fingern, »es ist mir egal. Ich will nicht, dass du gehst.«
»Es ist dir egal, dass ich dadurch sterbe?«
Diese Frage ließ mich wieder klar denken. Was hatte ich da gerade getan? Ich hatte mich von Daves Anwesenheit total blenden lassen. Ich musste wieder die Agentin werden, die ohne eigene Gefühle dies regelte.
»Wieso bist du überhaupt noch hier? Du solltest doch mit Jolina von ihr verschwinden!«
»Ich … ich wollte dich vorher noch einmal sehen«, murmelte Dave. Ich lächelte wehmütig.
»Das hast du ja jetzt«, meinte ich so hart ich konnte, »und jetzt hau ab.«
Dave biss sich auf die Unterlippe. Er zog die Kapuze über den Kopf und schob sich die Sonnenbrille auf die Nase. »Sag es. Sag es mir, bevor ich gehe.«
»Nein, ich werde nichts von alldem anfangen, Dave. Du hast Recht. Es kostet dein Leben. Also hau ab und komm nie wieder.«
Dave öffnete leicht den Mund. »Ja.« Dann drehte er sich um, entriegelte die Tür und ging zum Ausgang. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, dabei wollte ich doch stark sein.
»Dave?«, sagte ich brüchig. Er blieb stehen, drehte sich allerdings nicht um. »Versprich mir, dass du überlebst.« Ich atmete tief ein. »Versprich mir, dass du nie mehr zu mir zurückkommst.«
Er nickte hart und verschwand. Verschwand aus dem Klo. Verschwand aus meinem Leben. Für immer.

Als ich meine geröteten Augen wieder etwas in den Griff bekommen hatte, verließ auch ich die Damentoilette und stolzierte über den überfüllten Strand. Eine blöde Blondine starrte auf meine Augen und ich keifte sie an: »Was? Noch nie Sonnenbrand auf den Augen gesehen?«
Ich hätte nicht gedacht, dass ich Dave so hart Auf Wiedersehen sagen konnte, vor allem, da es ja kein Wiedersehen geben würde.
Riley stand noch immer bei unseren Handtüchern. Wie lang war ich weg gewesen? Eine kleine Traube von Mädchen umzingelte ihn. Sie waren alle in meinem Alter, aber größer. Ich rief Rileys Namen, aber er reagierte gar nicht darauf. Ich wollte eines der Mädchen wegschubsen.
»Hey, hau ab, Pumuckl«, giftete sie. Hallo? Sie hatte ebenfalls einen Rotsticht in ihrem blondierten Haar.
»Riley, verdammt«, motzte ich und endlich sah er mich und kam zu mir. »Wer sind die alle?«
»Freizeitgruppe«, grinste er und drehte sich wieder zu den Mädchen. »Wollen wir heute Abend nicht was zusammen machen?«
War Riley auf Drogen oder was? Ich ertappte mich, wie ich das braunhaarige Mädchen, mit dem Riley sich jetzt unterhielt und Nummern austauschte, eifersüchtig ansah.
»Hey, ich bin die Jenny«, stellte es sich vor und reichte mir die Hand.
»Hi, ich bin die Ally«, äffte ich sie ein wenig nach, ohne jedoch, dass sie es merkte. »Riley, könnte ich dich bitte unter vier Augen sprechen?«
Riley nickte verwirrt und wir entfernten uns ein paar Meter von der Fanversammlung.
»Was ist denn?«, fragte er und winkte einem der Mädchen. Er grinste unentwegt und sah mir nicht mal in die Augen.
»Sag mal, was ist denn plötzlich hier los? Ich war doch nur ein paar Minuten auf dem Klo und dann komme ich wieder und du amüsierst dich mit so Vakuumgehirnen?«
Endlich sah Riley mich an und ihm verging das Lachen. »Du warst fast eine halbe Stunde weg. Außerdem, warum machst du so ein Drama? Darf ich etwa keine Strandbekanntschaften machen?«
Ja. Das war die Frage. Wieso sollte er das nicht dürfen? Ich schürzte die Lippen. Jetzt brauchte ich eine gute Antwort. Ich sah über Rileys Schulter auf den Steinweg, der an den überfüllten Strand führte. Eine Familie mit zwei kleinen Töchtern kam gerade mit großen Schwimmtieren.
Im Gras neben dem Steinweg stand ein Mann in einem schwarzen, langen Regenmantel. Das war schon so ungewöhnlich, dass ich sein Grinsen und dass er mich genau ansah, erst danach bemerkte. Er trug genau wie Dave eben eine Sonnen-brille und hatte einen Hut auf. Seine Hände steckten in den großen Taschen seines Regenmantels. Sonst war er auch in schwarz angezogen.
Ich blickte zu dem Mädchenschwarm und wieder zu dem Typen.
»Wo siehst du denn da die ganze Zeit hin?«, meinte Riley und drehte sich um. »Da ist doch gar nichts?«
»Doch dieser Mann da in dem Regenmantel.«
»Ein Mann im Regenmantel? Da ist absolut niemand, Ally.« Riley sah mich sorgend an »Geht es dir gut?«
»Aber da steht er doch! Dieser Mann!«
Warum sah Riley ihn denn nicht? Riley atmete tief ein, sah nochmal zu den Mädchen. »Willst du dich vorm Springen drücken?«
»Was?«, sagte ich abgelenkt und ließ den Mann nicht aus den Augen. »Was, nein, was denkst du denn?«
»Okay, wenn du dich beruhigt hast, dann kannst du ja zu uns kommen.«
Ich sagte nichts mehr, der mysteriöse, anscheinend nur für mich sichtbare Mann hatte mich zu sehr in seinen Bann gezogen. Riley ging an mir vorbei zu den Mädchen und rief irgendwas wie »Die erste Runde geht auf mich, Ladies«.
Der Mann wollte mir irgendetwas sagen. Er zog seinen Hut aus und ich konnte einen Blick auf seine Haare erhaschen. Er hatte graubraune, gelockte Haare, die er mit etwas Gel zurückgekämmt hatte.
Er sah nicht mehr zu mir, sondern zu Riley und den Mädchen. Dann grinste er. Ich drehte mich auch um und sah plötzlich aus Owens Sicht. Die Mädchen sahen nicht mehr so aus, wie Riley und ich sie sahen. Sie hatten schwarze Flügel und waren so dünn wie Skelette. Ihre Gesichter waren erschreckend hässlich. Sie hatten eingefallene Wangen und rote Augen. Ihre Zähne waren ebenfalls dunkel und ihre Haare waren allesamt schwarz und sahen aus, als wären sie von Feuer versenkt worden.
Mit einem Schlag in den Kopf, der heftig schmerzte, war ich wieder in mir selber und der Mann im Regenmantel verschwunden. Was sollte das bedeuten?
Riley ging gerade lachend mit den vielen Mädchen zur Strandbar. Ich versuchte mir das Bild von den Mädchen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Ihre gekrümmte Stellung, ihre Flügel (!), ihre schwarzen Knochen, die nur mit millimeterdicken Haut überzogen waren. Und sie waren in Zusammenhang mit Owen. Dem Teufel.
Flügel. Schwarze Flügel. Rote Augen.
»Riley!«, schrie ich verzweifelt und rannte zur Bar. Die Mädchen umzingelten ihn. Ich konnte ihn nicht erreichen. Das helle Lachen drang in meine Ohren, ihre Stimmen zerbrachen mein Gehör. Alles drehte sich.
»Was will denn die Bitch schon wieder hier?«
»Nein, Riley«, wimmerte ich. »Du musst mit mir verschwinden. Du darfst ihnen nicht vertrauen! Riley!«
Von außen her wurde mein Blick schwarz und ich befand mich kurze Zeit darauf in völliger Dunkelheit. Gott, wie kannst du zulassen, was der Teufel hier anrichtet? Wie kannst du zulassen, dass er einen Jungen tötet?
Hatte Gott den Teufel dazu verbannt? Half er mir deshalb nie? Aber Gott konnte doch nicht zulassen, nur weil der Teufel irgendetwas Böses getan hatte – wobei ich mich fragte, ob er das nicht schon immer tat – dafür Menschen sterben mussten. Und zwar immer zwei in jeder Generation.
Ich hoffte, dass Gott irgendwie merkte, was für eine blöde Idee das gewesen war. Und zwar bevor Riley tot war.

Ich öffnete die Augen und merkte die harte Unterfläche unter mir. Neben mir erblickte ich einen Stapel Papiere und auf der anderen Seite sah ich einen Lederstuhl, dahinter ein großes Fenster, das einen Garten zeigte. Der Raum, in dem ich lag roch nach Holz, Zigarettenrauch und Leder und ganz leichtem Männerparfüm. Mein Kopf tat ziemlich weh und dann erst kam der Rest Leben in mich zurück. Ich spürte an meinen Beinen und Armen und auch im Gesicht Stellen, die brannten. Ich hob die rechte Hand und hielt sie vor die Augen. Geschockt stellte ich fest, dass mir Hautstücke an Fingern und Handrücken fehlten. Rote, blutige Wunden klafften nun dort, wo einmal Haut gewesen war. Was war bloß mit mir passiert?
Ich versuchte zu überlegen, wo ich zuletzt gewesen war. Ich war mit Riley am Strand gewesen und hatte Dave getroffen. Dave! Hoffentlich war er jetzt endlich weg. Ein Kloß machte sich in meinem Hals breit. Er würde nicht zurückkommen, jedenfalls hoffte ich doch, dass er nicht zurückkommen würde, dann würden wir das Märchen vielleicht endlich brechen.
Was war gewesen, nachdem Dave aus dem Klo verschwunden war? Ich dachte an Owen. Hatte ich ihn nicht auch getroffen? Ja, da waren doch diese ekelhaften Engel gewesen. Die Engel!
Elektrisiert setzte ich mich kerzengerade hin. Mein Rücken meldete sich wehklagend. Ich tastet mit einer Hand nach meinem Rücken und spürte mehrere Kuhlen, nasse Kuhlen, wie die an meinen Händen. Was war nur mit mir passiert?
Ich sah mich in dem Raum genauer um. Ich lag auf einem großen, breiten, dunklen Schreibtisch. Die Tür war rechts von mir an der Wand, genau gegenüber vom Tisch war eine große, schwarze Ledercouch. Ansonsten waren die Wände nur mit Regalen zugestellt. In der Mitte des Raumes lag ein riesiger, dunkelroter Teppich.
Ich stand von dem Tisch auf und biss die Zähne vor Schmerzen zusammen. Ich trug noch immer meinen Bikini, weshalb man die Wunden gut betrachten konnte. Ich konnte gar nicht zählen, so viele Wunden hatte ich. Ich fragte mich, wer oder was mir die Hautfetzen rausgerissen hatte. Es schauderte mich.
Die Tür ging leise auf und Owen stand in der Tür. In der Hand hatte er eine große Glasschüssel in der ein blauer Waschlappen schwamm. Er lächelte mich an und schloss hinter sich die Tür. Anscheinend war ich in seinem Büro.
»Du bist wach«, bemerkte er und stellte die dampfende Schüssel auf den Schreibtisch, auf dem ich eben noch gelegen hatte. Dann drehte sich Owen mir zu und seufzte. Ich verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Das tut mir wirklich außergewöhnlich leid«, meinte er und nickte zu meinen Wunden. »Diese Furien sind hässliche Dinger und dumm noch dazu.«
Furien? Welche Furien?
»Die ekelhaften Engel«, grinste Owen. Ach ja, er konnte ja Gedanken lesen, das hatte ich schon fast wieder vergessen.
»Und was genau haben sie mit mir gemacht?«, fragte ich und meine Stimme klang heiser, fremd. Ich humpelte auf die Couch zu und ließ mich darauf fallen. Das kalte Leder kühlte ein wenig die Wunden, aber ich konnte mich nicht lange anlehnen, da das auch wiederum weh tat.
»Sie haben … nun ja Stücke aus dir rausgerissen und sie gegessen.«
Mir wurde schlecht. Ich fasste mir an Bauch und Mund und suchte einen Eimer, in den ich mich übergeben konnte. Owen verstand, was ich wollte, huschte aus dem Raum und stand in weniger als einer Sekunde wieder mit einem Eimer vor mir. Ich nahm ihn dankbar entgegen und erbrach kurzdarauf.
Nachdem ich fertig war, Owen mir etwas zu trinken und ein Taschentuch gegeben hatte, ging es mir nicht unbedingt besser. Diese Mädchen, die Riley so umzingelt hatten, haben mich gegessen?
»Ja, ein paar Stücke von dir«, antwortete Owen auf meine Gedanken. Er nahm sich die Schüssel mit der heißen, schleimigen Flüssigkeit und hockte sich vor mich. Er tauchte den Waschlappen tief ein und wrang ihn danach gut aus. »Das ist eine Kräutermischung, die ich im Internet gefunden habe. Sie hilft gegen Bisse. Ob damit auch Furien gemeint sind, weiß ich natürlich nicht.«
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Owen nahm sanft mein linkes Bein in die Hand und ich zuckte ein wenig zusammen. Er nahm den Waschlappen und drückte ihn auf die erste Wunde. Ich schrie laut auf und griff nach Owens Schultern. Ich krallte meine Finger in sein Fleisch. Nach ein paar Sekunden hatte er das Schienbein fertig. Geschwächt sah ich auf mein Bein und stellte überrascht fest, dass die Wunden verschwunden waren.
»Aus dem Internet?«
»Naja, ein bisschen habe ich noch selbst dazu gemixt.«
Ich kaute an meiner Lippe. »Nämlich?«
Owen tauchte den Lappen wieder in die Flüssigkeit und schmunzelte. »Hast du vergessen, wer ich bin?«
Ach, ja. Nein, das hatte ich nicht und plötzlich war mir seine Hilfe unangenehm. Seine Hände, die ganz sachte meine Haut berührten, mich versorgten. Wieso tat er das? War es für ihn nicht einfacherer, mir das Herz rauszureißen, wenn ich geschwächt war?
»Du hast vergessen, dass ich dir nicht einfach deine Eingeweide entnehmen kann. Dadurch, dass Dave ja jetzt irgendwo in Mexico rumirrt und erst später irgendwann zurück kommen wird, wenn ich ihn nicht selbst hier hin zerren muss, muss ich noch warten.« Owen sah mir in die Augen. »Und solange muss ich dafür sorgen, dass du nicht schon vorher abkratzt.«
»Danke für die Einfühlsamkeit«, motzte ich. Owen lachte und behandelte weiter meine Wunden. Ich entspannte mich einfach und ließ ihn machen. So sehr mich seine Berührungen auch störten, ohne diese Flüssigkeit, würden das tiefe Narben werden.
Ich dachte während der Behandlung über die Worte von Owen nach. Bevor er mich umbringen konnte, sorgte er dafür, dass ich nicht vorher durch etwas anderes starb. Wieso hatte er mir dann überhaupt diese Furien auf den Hals gejagt?
»Ich habe sie lediglich geschickt, um dir ein wenig Angst zu machen.«
»Toll, hat ja gut geklappt. Zufrieden?«
»Die Sache mit der Hand hat mehr Spaß gemacht«, entgegnete Owen ehrlich und grinste ausnahmsweise mal nicht. Die abgetrennte Hand im Badezimmerschrank, ich erinnerte mich.
»Die Sache ist wohl nicht ganz so verlaufen, wie Sie vorgehabt hatten, oder?«
Owen stöhnte und tunkte den Waschlappen erneut ein. »Nein. Nein, so sollte es nicht enden. Ich habe dich beobachtet, als du endlich kapiert hattest, wer die Mädchen sind.« Owen befahl mir, mich auf den Bauch zu legen, um den Rücken zu behandeln und ich tat ihm etwas zögernd den Gefallen. »Du bist also zu den Furien und Riley gelaufen und hast vergeblich versucht ihm klar zu machen, dass die Mädchen nicht die waren, für die er sie hielt. Eine von ihnen hat dich gehört und hat verstanden, dass ich dir erzählt habe, wer sie sind. Natürlich stehen sie unter meiner Beeinflussung, aber seit ich nicht mehr die Unsterblichkeit besitze, denken sie, sie können sich mehr erlauben.« Owen verdrehte die Augen und tastete die Bisse an meinem Rücken ab. »Ich müsste deinen Bikini öffnen, wenn das in Ordnung wäre?«
»Äh«, sagte ich schnell und Owen lachte laut.
»Keine Angst, ich dachte ich hätte dir schon gesagt, dass ich nicht erpicht darauf bin, dich in irgendeiner Weise ohne Kleidung zu sehen.«
Unwillig nickte ich langsam und er öffnete langsam den Verschluss. Die Spannung um meinen Brustkorb legte sich und ich wurde rot im Gesicht, also drehte ich den Kopf einfach Richtung Wand, um Owen nicht ansehen zu müssen. Auch wenn ich wusste, dass er jetzt durch meine Gedanken auch wusste, dass ich errötet war, fiel es mir leichter die Heilungsprozedur am Rücken so zu überstehen.
»Und weiter?«
»Die eine hatte dich am Arm gepackt, da war dir schon schwarz vor Augen und dich vom Strand weggezerrt. Die Mädchen sind ihr gefolgt, sie können sich nämlich über Telepathie verständigen. Riley blieb verwirrt an der Bar stehen, er hatte dich unter ihnen allerdings nicht bemerkt. Dann kam ich ins Spiel«, meinte Owen und ich hörte ein Lachen aus seiner Stimme. »Ich ging zu Riley, schickte ihn mit deinen und seinen Sachen nach Hause, auf dem Weg ließ ich ihn alles vergessen. Dann rannte ich den Furien hinterher und fand sie im Wald über die hängen. Du warst bewusstlos.«
»Und wie haben Sie mich dann gerettet?«
»Naja, ich habe einfach ein bisschen meinen Zorn spielen lassen.«
Ich versuchte mir Owen vorzustellen, wie er die Furien verfluchte. Er war der Teufel. Und ich glaubte, wenn der Teufel wütend war, dann hatte man nicht mehr viel zu lachen. Ich dachte an Owens Worte zuvor. Die Furien dachten, sie könnten sich mehr erlauben, da er nicht mehr seine Unsterblichkeit besaß. Und ja, das mit der Unsterblichkeit wusste ich ja schon, das war ja schließlich der wichtigste Punkt im Märchen, aber wie konnte das Märchen immer wieder abspielen, wenn Owen gar nicht unsterblich war? Musste der Teufel dann nicht schon lange tot sein?
»Nein. Ich bin der Gleiche, wie beim ersten Mal. Mir geht es auch langsam auf die Nerven, glaub mir. Wäre ich unsterblich, könnte ich zurück.«
Ich schluckte. »In die … Hölle?«
»Ja. Wenn man sterblich ist, kann man nicht darein, genauso wenig in den Himmel. Man muss tot sein, verstehst du? Aber wenn ich tot bin, dann bin ich nur eine von den vielen toten Seelen in der Hölle.« Owen verschloss meinen Bikini wieder und drehte mich auf den Rücken. »Aber das Schlimmste wäre immer noch, dass ich nicht mehr aus der Hölle raus könnte und generell hätte ich auch keine Fähigkeiten mehr. Ich wäre wie ein normaler Mensch. Ich könnte nicht mehr meine Späße mit den Menschen treiben.« Ich lachte auf. Ein echt großer Verlust. »Gott hat mich verbannt, damit ich endlich merke, wie böse ich war.«
Owen zwinkerte mir zu, aber ich lachte nicht. Ich hatte Recht gehabt.
»Und wieso brauchen Sie dann gerade mein

Herz?« Und als ich die Frage stellte, fiel mir erst mal auf, wie wichtig sie war. Ja, warum brauchte er mein Herz? Konnte er nicht einfach ein anderes essen?
»Also erstens mal, ich werde es nicht essen

! Und zweitens, ich brauche dein Herz, weil du die Tochter eines Sterns bist.«
Ich lachte plötzlich einfach los. Das war so komisch, dass ich nicht anders konnte. Die ganze Sache wurde ja immer besser. Also war meine Mum gar nicht meine Mum. Das Lachen trieb mir Tränen in die Augen und immer wenn ich dachte, ich könnte endlich aufhören, sah ich wieder in Owens belustigtes Gesicht und fühlte wieder das Kitzeln in den Wangen, dass mich wieder lachen ließ.
»Deine Mutter ist ebenfalls die Tochter eines Sterns. Falls es dich beruhigt, sie ist deine wirkliche Mutter. Ihr stammt alle von einem Stern ab. Ich brauch euer Herz nur in der Hand zu halten, das reicht … zum Glück.«
»Und wieso können Sie dann nicht, dass von meiner Mutter nehmen? Nicht, dass ich es lieber wollen würde … nur rein theoretisch.«
Owen seufzte. »Tja, sobald die Tochter des Sterns schwanger wird, wird die Kraft von dem Herz auf das Herz der Tochter übertragen.«
Dann war es ja ganz einfach das Märchen zu brechen. Ich müsste einfach sterben. Und davor keine Kinder bekommen. Ich musste einfach Selbstmord begehen. Ich lachte abgehackt. So einfach?
»Nein, so einfach ist es nicht. Du kannst dich nicht selbst umbringen«, sagte Owen und behandelte jetzt meine Arme. »Du kannst es gerne ausprobieren.«
Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Als er wieder kam, setzte ich mich auf und starrte geschockt auf den Gegenstand, den er geholt hatte. Es war ein Dolch, der mit Diamanten besetzt war. »Wo haben Sie den denn her?«
Owen kniete sich wieder vor die Couch und reichte mir den Dolch vorsichtig. »Probier es aus.«
»Mich umbringen? Sind Sie bescheuert?«
Owen grinste. »Du kannst nur getötet werden. Das ist deine Bestimmung.«
Meine Bestimmung? Da kam ja immer mehr dazu, was ich alles nicht konnte. Ich konnte mir nicht aussuchen, wen ich liebte, konnte niemanden schützen, ohne es noch schlimmer zu machen, konnte mich nicht selbst umbringen.
»Und was ist mit Riley und Dave?«
»Ebenso. Wie mir mitgeteilt wurde, hat dein Kleiner nämlich mit seinen Freunden versucht sich umzubringen. Aber sie sind nicht darauf gekommen, dass er es nicht kann«, sagte Owen und schnappte sich wieder den Dolch. »Naja, und keiner konnte es über sich bringen ihn zu töten. Das muss man näm-lich wirklich wollen. Dave konnte keinen dazu zwingen, dann wäre es wieder seine Entscheidung gewesen, auch wenn der Dolch in der Hand des Freundes gewesen war. Du verstehst mich?«
Ich nickte langsam. Was mich an der Sache am meisten schockte, war, dass Dave so weit gegangen war, sich selbst umzubringen, um das Märchen zu brechen. Vielleicht sogar, um mich zu schützen. Wieso war ich nicht auf diese Idee gekommen? Zwar hätte es nichts geholfen, denn ich kann mich ja auch nicht umbringen, aber es wäre wenigstens ein heldenhafter Gedanke gewesen. Irgendwie kam mir das noch viel zu unwirklich vor. Ich sah auf den glitzernden Dolch. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich noch lebte, wenn ich mir dieses schwere, spitze Teil in den Bauch rammen würde. Das war einfach so unrealistisch.
»Real

, meine Liebe, war dein Leben noch nie.«
Ich musste also jemanden dazu bringen, dass er mich umbrachte und zwar aus eigenem Willen. Das würde bestimmt nicht so schwer werden. Auf der Welt gab es schließlich genug Mörder. Ich müsste mich einfach als Opfer bereitstellen. Einen Mörder würde ich sicherlich nicht dazu zwingen müssen mich zu töten, oder?
»Ally, so dumm kannst du doch nicht sein, oder?«, sagte Owen und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du dich als Op-fer bereitstellst

, dann ist es doch wieder deine Entscheidung.«
Oh, stimmt, wie dumm. Verdammt aber auch!
»So, ich bin fertig.«
»Danke … wo ist eigentlich Riley?« Überrascht fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit gar nicht an ihn gedacht habe.
»Er ist in seinem Zimmer. Aber denk dran, er weiß nichts mehr von dem Strandausflug.«



Kapitel 11 - Bedroht, erpresst und gezwungen





Krank, dachte ich. Krank. Krank. Krank.
Ich werde krank im Kopf. Ich stand in Rileys Zimmer, die Tür war abgeschlossen, in meiner Hand schimmerte eine Sche-re und meine Augen fixierten Rileys schlafendes, liebliches Gesicht. Was hatte ich vor?
Als ich aus Owens Büro gegangen war, kam mir der Gedanke, dass ich das Märchen vielleicht auch brechen könnte, wenn ich Riley jetzt und hier einfach gegen seinen Willen umbrachte, denn das sollte ja eigentlich Owen machen. Also entweder war Owen verhindern und konnte deshalb nicht kommen, oder er kam aus dem Grund nicht, da er wusste, dass ich es nie übers Herz bringen würde, Riley zu töten. Vielleicht könnte ich das, wenn er eingewilligt hätte, dafür zu sterben, was er bestimmt tun würde, so wie ich ihn kannte, aber dann wäre mein Plan gescheitert, da er ja dann wieder bereit war zu sterben. Wieso musste alles immer so verdammt kompliziert sein?
Riley zuckte und drehte sich dann auf die andere Seite. Ich legte ganz vorsichtig die Schere auf die Kommode, schloss die Türe leise auf und verließ das Zimmer. Vielleicht sollte ich ihm doch erzählen, wer er war und was das alles zu bedeuten hatte. Ich schlürfte die Treppe runter in die Küche und schüttete mir ein Glas Wasser ein, um besser denken zu können. Dann ging ich raus auf die Terrasse und legte mich in eine der Liegen.
Welche Nachteile hätte es denn, wenn ich Riley einweihen würde? Hätte es vielleicht sogar Vorteile? Wenn Owen ihn töten würde, dann könnte er sich im letzten Moment doch noch denken: Ja, ich will sterben!
Das war doch mal eine richtig gute Idee von mir. Aber ich hatte Angst diese Entscheidung selbst zu entscheiden. Ich würde Josh gleich morgen fragen, wenn ich doch nur wüsste, wo er wohnte. Ethan hatte ich ja auch noch! Ich könnte Owen fragen, ob er mich nochmal hinfahren würde.
Ich trank mein Glas leer und stellte es auf den kleinen Glastisch neben meiner Liege. Ich schloss die Augen und genoss die Sonne. Ich hatte in letzter Zeit viel zu viel Stress gehabt. Es würde mir gut tun, mich einfach mal zu entspannen.
Ich träumte von Dave. Wie wir zusammen hier lagen. Wie er mich anlächelte, wie er mich berührte, mich vielleicht sogar küssen würde. Ich hatte noch nie einen Jungen wirklich geküsst – die Küsse mit Riley zählten nicht, da ich Riley ja nicht liebte. Bei Dave wäre das etwas ganz Anderes. Ich sah Daves volle Lippen vor mir. Fühlten sie ich auch so weich an, wie sie aussahen? Wie würden sie sich auf meinen Lippen anfühlen?
Die Sonne neigte sich langsam gegen späten Nachmittag und kroch unter das Dach der Terrasse, schien mir sanft ins Gesicht. Die zarten Sonnenstrahlen fühlten sich an wie Finger, die mein Gesicht erkundeten. Wie Daves Finger.
Ich seufzte und öffnete die Augen. Ich musste ihn vergessen. Es würde nie etwas zwischen uns geben. Niemals, das musste ich endlich akzeptieren. Ich hoffte, dass er dort in Mexico, wie ich durch Owen erfahren hatte, sicher war, aber das war man wohl nirgends. Nicht vor dem Teufel.
Owen. Er konnte Gedanken lesen. Wie peinlich. Hatte ich jetzt nie wieder eine Privatsphäre?
»Ally?«
Ich drehte mich um und sah Riley in der Glastür. Die Nachmittagssonne ließ seine goldblonden Haare glitzern. Er lächelte mich so lieb wie immer an. Er war wirklich ein hübscher Junge, schade, dass ich mich nicht in ihn verlieben konnte. Würde es das Märchen nicht geben und Dave erst recht nicht, dann wäre Riley wohl meine nächste Wahl.
»Deine Mum ist am Telefon«, sagte er und nickte in Richtung Flur. Ich erhob mich aus der Liege und starrte Riley die ganze Zeit an, während ich ins Haus ging. Wieso sah er plötzlich so extrem attraktiv aus?
Ich lächelte ihn kurz an und nahm dann das Telefon aus Owens Hand. »Mum?«
»Na, Schatz, alles in Ordnung bei dir?«
Naja, ich befinde mich im Haus des Teufels, das ist dir sicherlich klar. Ich musste heute die Liebe meines Lebens verabschieden, wurde von Furien gebissen.

»Alles bestens, was willst du?«
Ich hörte meine Mutter seufzen, sie kannte mich einfach zu gut, aber vielleicht dachte sie sich, dass Owen immer noch im Flur war. »Ich wollte dir Bescheid sagen, dass Magda und ich am Wochenende zu Oma Josephine fahren, wenn du mit möchtest-«
»Ja«, sagte ich fröhlich. »Das würde ich wirklich super gerne, Mum.« Ich drehte mich mit dem Telefon zu Riley, der im Türrahmen zum Wohnzimmer lehnte, Owen stand in der Tür zum Esszimmer. »Meinst du Granny würde es stören, wenn ich einen Freund mitbringen würde?«
Ich sah Riley an, er grinste Owen zu.
»Nein, Schatz. Willst du Riley mitnehmen? Dann kannst du Owen auch gleich mitbringen.«
»Ähm … okay …«, sagte ich ein wenig enttäuscht darüber, aber er würde mich ja sowieso nicht belästigen. Er würde wahrscheinlich bei meiner Mum, meiner Tante und meinen anderen Verwandten am Tisch sitzen und quatschen, was die Erwachsenen immer taten. »Wir kommen dann am Freitag nach der Schule.«
Ich legte nach einem Abschied auf und lächelte Riley an.
»Ja, wir kommen mit«, lachte Owen. »Hättest du uns überhaupt gefragt?«
Ich grinste. »Sie nicht.«
Erst als ich mit Riley in seinem Zimmer hockte, fiel mir auf, dass Owen nur durch meine Gedanken wusste, dass meine Mum vorgeschlagen hatte, ihn auch mitzunehmen. Aber Riley hatte sich nicht gewundert.
»Hast du nicht eigentlich noch Hausaufgaben? Ich hab dich das noch nie machen sehen.«
Ich stöhnte und ließ mich aufs Bett fallen. Wie konnte Riley mich jetzt mit so etwas nerven? Nächste Woche, fiel mir ein, schrieb ich auch noch eine Arbeit in Biologie. Na, toll.
»Schule ist wichtig für dein-«
»…späteres Leben, ich weiß«, beendete ich den Standardsatz der Erwachsenen. Ich nahm die Hände von meinem Gesicht und sah Riley an. »Bist du gut in Bio?«
Riley zuckte mit den Schultern und kniete sich zu mir aufs Bett. »Keine Ahnung.«
Ich setzte mich auf. Schule hatte ich ja auch noch, daran dachte ich in letzter Zeit so wenig. Und Ballett fing nächste Woche auch wieder an, die Ferienpause war zu Ende. Ich kannte die Jungs jetzt erst seit fast zwei Monaten. Mir kam es schon wie eine Ewigkeit vor.
»Also gut, du wirst mit mir lernen«, sagte ich und ließ es so klingen, dass Riley gar nicht die Chance hatte, sich zu widersetzen.
»Und was bekomme ich im Gegenzug?«, erwiderte Riley schmunzelt und ich musste schwer nachdenken. Was könnte ich ihm schon geben? Vielleicht ein längeres Leben?
Riley lachte plötzlich laut los und ich runzelte die Stirn. Wäre er Owen gewesen, hätte ich gedacht, dass er über meinen Gedanken lachte. Aber er war Riley. Mein Riley. »Was ist so witzig?«
Riley streichelte meine Wange. Irgendetwas stimmte hier nicht. »Nichts, du hast gerade beim Nachdenken schlicht und einfach total süß ausgesehen.«
Süß. Aha. »Was möchtest du denn von mir haben?« Riley schürzte die Lippen und sah an mir vorbei, überlegte. »Was du willst.«
»Was ich will?«
Ich nickte und war mir schon jetzt unsicher über die Aussage. Hoffentlich würde er nicht etwas verlangen, was nun wirklich unmöglich war, zum Beispiel ihm von dem Märchen zu erzählen. »Gut, ich überlege es mir und werde es dir irgendwann sagen.«
Ein wenig erleichterte es mich und ich sprang vom Bett auf. »Gut, aber bitte noch, bevor ich sterbe.«
Dass der Zeitpunkt vielleicht schon in naher Zukunft liegen könnte, wusste Riley nicht. Ich sah ihm in die Augen, während er darüber lachte. Ahnte er nicht langsam mal etwas? Dass es vielleicht um Leben und Tod ging?
Aber vielleicht musste ich das auch erst mal selber realisieren. Es ging um Leben und Tod. Riley würde sterben, Dave würde sterben, ich würde sterben. Bis jetzt kam es mir bloß wie ein abenteuerlicher Traum vor, nichts weiter. Ich sollte vielleicht mal ernster an die Sache rangehen. Mehr Zeit mit Riley zu verbringen war mein erster Entschluss. So konnte ich ihn besser vor Owen beschützen. Was könnte ich als nächstes tun? Dave hatte ich auch schon aus dem Weg geräumt. Fehlte nur noch den Teufelssohn auszuschalten. Aber wer war der Sohn? Wenn ich so spontan raten sollte, würde ich auf Ethan tippen, aber sicher war ich mir nicht. Die Tatsache, dass ich so viele gut aussehende Typen auf einmal kannte, machte es nicht gerade leichter.
Riley holte uns Kekse und brachte den von Owen gekochten Tee nach oben, er schmeckte gar nicht mal so übel, aber er war extrem heiß und wir mussten ihn erst fünf Minuten stehen lassen – ich wusste nicht, ob das eine Botschaft an mich war oder nicht.
Riley stellte sich als ein sehr tauglicher Lehrer heraus und erklärte mir im Nu, wie und warum der Körper so und nicht anders aufgebaut war. Immer wieder, wenn er etwas länger erklärte, sah ich ihm in die Augen und schweifte ab und zu ab. Was war denn nur passiert, dass ich Riley plötzlich so unglaublich hübsch fand? Ich hoffte, er würde, wenn ich ihn retten konnte, jemanden finden, der ihn über alles liebte. Ein Mädchen, die ihn verdient hatte.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Überrascht nickte ich. Was hatte er noch gleich als letztes gesagt?
»Ich

schreib die Arbeit nicht am Dienstag.«
Ich lachte ironisch und klopfte dann auf mein Heft, als Aufforderung, dass er weiterreden sollte. Die Tür ging auf und Owen steckte den Kopf rein.
»Da ist Besuch für dich, Riley.«
Verwirrt sah ich Riley an und er erhob sich. Ich blieb sitzen, da ich es aufdrängend fand, wenn ich ihm folgen würde. Riley ging mit Owen nach unten und mich ließen sie alleine im Zimmer. Was für ein Besuch das wohl war? Naja, Riley hatte sicher noch ein Leben ohne mich. Freunde, die ich nicht kannte. Freunde, die zu Owen gehören könnten und gefährlich für Riley sein könnten!
Ich lief zum Geländer und blickte nach unten in den Flur, lauschte. Mir war es egal, dass Owen, der in der Tür zum Esszimmer lehnte, mich sah. Er blickte zu mir hoch und grinste darüber, dass ich Riley belauschte.
»Schön dich zu sehen, ich hätte nicht gedacht, dass du meine Einladung annimmst«, hörte ich Riley fröhlich sagen. Wer verdammt nochmal war an der Tür? Ein Mädchengekicher drang zu mir hoch. »Ich hab allerdings Besuch von einer Freundin, wenn dir das nichts ausmacht.«
»Was für eine Freundin?«, fragte das Mädchen resigniert und irgendwoher kam mir die Stimme bekannt vor. War es ein Mädchen aus meiner Klasse? Aber woher sollte Riley sie dann kennen?
Riley lachte. »Nur eine ganz normale Freundin. Ich sagte doch schon, dass ich single bin.«
Owen verdrehte die Augen und verschwand in der Küche. Ich hörte, wie Riley die Tür zu schlug und wie ein Schuhgeklapper ihm folgte. Schnell hüpfte ich zurück in Rileys Zimmer und setzte mich im letzten Moment noch auf sein Bett, bis zum Stuhl hatte ich es nicht mehr gepackt.
Riley kam rein und nach ihm schlüpfte ein großes, braunhaariges Mädchen durch die Tür. Es hatte die perfekten Modelgrößen und da fühlte ich mich gleich dick mit meinen kleinen Rundungen. Obwohl ich auch wieder fand, dass an dem Kind fast nichts mehr dran war – wenn man Kind noch sagen konnte.
Das Mädchen kam lachend auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Zögernd nahm ich sie, irgendwoher kannte ich das Gesicht.
»Hi, ich bin die Jenny.«
Ach, die Jenny

. »Die Ally, schön dich kennenzulernen.«
Riley grinste hinter die-Jennys Rücken über meinen Scherz. Auf die war Riley ja wohl hoffentlich nicht scharf, oder? Ich fasste an die spitzen ihrer braunen Haare. »Echte Länge oder Extensions?«
Statt beleidigt zu sein, hakte sich die-Jenny bei mir unter und lachte. »Ich glaube, Riley, da hast du dir die falschen Freundinnen ausgesucht«, meinte sie und ich sah wahrscheinlich so aus, als wäre ich vor die Wand gelaufen. »Wir werden tolle friends

, nicht wahr?«
Wie wäre es, wenn wir erst mal Freunde

wurden?
»Du bist echt so cute


Riley schaltete sich dazwischen. »Wollen wir heute Abend nicht was zu dritt machen?«
»Oh, ja!«, schrie die-Jenny so hell auf, dass ich zusammen zuckte. »Oh, yes

! Dann müssen Ally und ich aber erst mal shoppen gehen!« Sie sah Riley an. »Das ist eine Sache zwischen Girls

, Ri. Ich mach aus der sweety

Ally eine partyqueen

und du besorgst ihr einen perfect

Partner, ja?«
Ähm, hallo? Darf ich vielleicht auch noch mit abstimmen?
»Hey, ich kenne da jemanden, den ich gerne mitnehmen würde«, sagte ich schnell und sah erleichtert, dass Riley und die-Jenny mich interessiert ansahen. »Ich würde gerne Ethan mitnehmen.«
Kurz zögerte Riley, das sah ich in seinem Gesichtsausdruck, aber dann lächelte, überspielte er es. »Klar, hast du seine Nummer?«
Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. »Aber Owen weiß wo er wohnt!«
»Gut, dann frag deinen Daddy«, meinte die-Jenny, verfestigte ihren Griff an meinem Oberarm und grinste unentwegt. Erst als Riley schon die Treppe runtersprang, kam mir der Gedanke, woher die-Jenny wusste, dass der Vater von Riley, welcher bis jetzt eigentlich nur eine Strandbekanntschaft war, Owen hieß.
Scarry.



Die-Jenny hatte mich in ein grell grünes, mit Pailletten übersätes Cocktailkleid gesteckt, mir die Haare gelockt und mir eine schöne Hochsteckfrisur gezaubert und ich hatte ihr nicht mal den richtigen Nagellack im Drogeriemarkt bringen können. Die-Jenny stand nun ganz nervös neben mir, checkte dauernd ihre Locken, die sie sich selbst gemacht hatte, und ihr Make-up. Am liebsten würde ich sagen, dass sie gut aussah und dass es mich nervte, dass sie ständig ihr Aussehen prüfte, aber ich ließ es bleiben.
Wir standen vor einer kleinen Pizzeria, die mitten in der Stadt thronte. Obwohl sie so klein war, war sie die bekannteste. Riley hatte uns angerufen, dass er dort einen Tisch bestellt hätte und mit Ethan, wenn er mitkommen würde, uns dort treffen würde. Jetzt sagte ich schon uns, vielleicht sollte ich lieber bei die-Jenny und mir bleiben.
»Oh, da sind sie ja schon«, murmelte die-Jenny und pushte ihr Haar neu. Sie sah mich an. »Du bist so beauty zero

und trotzdem unbeschreiblich hübsch. Wie machst du das, sweetheart


Hä, was?
»Hey!«, rief die-Jenny schon, als die Jungs noch 50 Meter entfernt waren. Ich konnte allerdings von hier aus schon erkennen, wie Ethan die Augenbrauen zusammenzog und Riley irgendetwas fragte. Ich grinste in mich hinein, wahrscheinlich dachte er genau das Gleiche über die-Jenny, wie ich. Ich sollte ihm die Sache mit dem Die erzählen.
Riley kam auf uns zu, küsste die-Jenny auf die Wange und lächelte mich an. Ach, und ich bekam keinen Kuss? Soweit ging es jetzt schon, ja? Nicht, dass ich es nötig gehabt hätte, nur machte es mich rasend, dass die-Jenny sich irgendwie in unser Leben drängte. Wir hatten genug zu tun.
Riley ging mit die-Jenny schon ins Lokal. Ethan lächelte mich eindringlich an und sagte dann leise: »Hey.«
Ich nickte und lächelte ebenfalls. Wann hatte ich ihn das letzte Mal gesehen? Wieso war ich darauf gekommen, ihn einzuladen? Warum nicht Logan oder Sam oder Josh? Warum ihn?
»Sollen wir jetzt auch Küsschen austauschen, erfrieren oder mal den beiden folgen?«
Wir entschieden uns für letzteres. In der Pizzeria war einiges los und wir mussten Riley und die-Jenny erst suchen, bevor wir den Vierertisch auf der Veranda fanden. Riley hatte für uns schon die Getränkekarten bereitgelegt und unterhielt sich aufgeregt mit die-Jenny.
»Da seid ihr ja endlich«, trällerte Jenny und grinste von einem zum anderen Ohr. Ich hoffte innerlich mit all meiner Kraft, dass sich die beiden ja nicht verlieben würden! »Wir haben uns beiden schon ein Bier bestellt.«
Ethan und ich setzten uns nebeneinander und bestellten uns ebenfalls etwas zu trinken. Irgendetwas war anders. Riley und die-Jenny turtelten die ganze Zeit über mit einander und Ethan und ich saßen einfach nur stumm dabei. Das war überhaupt nicht der Riley, den ich kannte.
Zum Glück wurde unser bestelltes Essen schnell gebracht und ich konnte den Blick auf meine Spagetti gleiten lassen. Ethan stocherte neben mir etwas miesgelaunt in seiner Lasagne herum und ich ärgerte mich, dass ich ihn eingeladen hatte. Ethan war ein arroganter Schönling, ja, das war er. Ein arro-ganter Schönling, der irgendwie eine nähere Beziehung zu Owen hatte. Ein arroganter Schönling, der … mein Herz warm werden ließ, sobald er mich anlächelte.
Jetzt stocherte ich ebenfalls schlecht gelaunt in meinen Nudeln herum, weil ich den Gedanken ätzend fand. Wieso, ich wusste es einfach nicht mehr, wieso hatte ich ihn eingeladen? Eigentlich hatten wir doch so gar nichts miteinander zu tun, oder? Gut, er war eine Person im Märchen und ich hatte einen Tag bei ihm verbracht, der allerdings etwas merkwürdig geendet hatte.
An diesen Abend hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich hatte ihn so in den Hintergrund verdrängt, wahrscheinlich, weil es mir so peinlich gewesen war vor Owen. Es könnte ja auch alles nur Spaß sein. Nein, sagte ich mir schnell, du hast schon so viel mit Owen darüber gesprochen, es muss stimmen. Oder war Owen einfach nur ein computerspielsüchtiger, fantasiebezogener Freak? Ein wenig musste ich darüber grinsen, während ich mir Owen, den edlen, anmutigen Owen mit den perfekt gestylten Haaren, vor einer Spielkonsole vorstellte.
Ich verschluckte mich an meinen Nudeln und griff keuchend nach meinem Glas. Oh, das war echt eine erheiternde Vorstellung. Ich stellte das Glas wieder hin, blickte in die verwirrten Gesichter von Riley und Ethan und musste wieder anfangen zu kichern. Wenn sie bloß wüssten, was ich mir grade vorgestellt hatte, müssten sie sicherlich auch lachen. Ich schielte zu Ethan und sah, wie er ein kleines Bisschen die Mundwinkel nach oben zog. Wirklich nur ein kleines Bisschen, aber so weit, dass ich es bemerken konnte und ich war mir für einen Moment nicht sicher, ob er darüber lachte, dass ich mir Owen als Computerfreak vorgestellt hatte, oder ob er einfach nur belustigt war, dass ich ohne Grund auflachte.
»Können wir mit lachen?«, fragte Ethan und sah grinsend auf seine Lasagne. Er schaufelte sich einen großen Happen in den Mund und sah mich schmunzelnd an. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Das konnte ich nicht laut sagen.
»Ich fand es nur so … lustig … wir sitzen hier so still«, log ich schnell, »da musste ich plötzlich irgendwie lachen.«
Riley grinste mich an. Seine weiche, warme Hand fand mein Knie und er drückte es kurz. Überrascht sah ich zu Jenny und hoffte, dass sie es nicht gesehen hatte. Was sollte das denn bitte? Aber Riley lächelte mich einfach an. So lieb, so warm, so Riley

. Nein, er war nicht anders. Wahrscheinlich sollte mir der Kniedruck nur zeigen, dass er immer noch mein Freund war, auch wenn er sich jetzt vielleicht in Jenny verliebt hatte. Ich zögerte einen Moment zu lang, in dem Riley schon wieder auf sein Essen blickte und mein Lächeln nicht mehr sah. Also musste ich ihm einfach anders zeigen, dass es okay war. Dass es mir nichts ausmachte. Ich würde auch für ihn da sein, immerhin war ich seine Beschützerin, auch wenn er das nicht wusste.
»Und, schon eine Idee, wo wir nach dem Essen hingehen, Jenny?«
Ich sah sie freundlich an. Sie legte behutsam ihr Besteck hin und platzte fast, als sie eifrig von einem Nachtclub in der Nähe erzählte. Ich hörte ihr irgendwann gar nicht mehr zu, auch wenn ich höflich und gut gelaunt sein wollte. Ja, ich wollte heute Abend Spaß haben. Einen Abend mit meinem Riley. Ein Abend ohne Hindernisse. Ein Abend, an den ich in dunkleren Tagen denken konnte.
»… und die Cocktails, die die da haben, sind fantastical

. Ich sag’s euch, ich sag’s euch. Ich war da letztens mit einer Freundin von mir. Oh, guys

, da müssen wir hin! Die Musik ist der Burner

…«
Ich stupste Ethan an. »Und du? Kommst du auch mit?«
Ethan schüttelte hart den Kopf. Ich war direkt enttäuscht. Aber egal, sagte ich mir, sollte der blöde Schnösel doch machen was er wollte, ich würde heute Abend Party machen. Das Märchen wieder vergessen. Dave vergessen.
»Hast du schon was vor, oder wieso kommst du nicht mit?«, fragte Jenny. Erst jetzt, wo sie so normal redete, fiel mir auf, dass ich sie in Gedanken gar nicht mehr die-Jenny nannte. Vielleicht war sie ja doch ganz nett. Ethan zuckte die Schultern. Erst, als ich wieder zu Riley sah, bemerkte ich, dass dieser mich die ganze Zeit so gierig angesehen hatte. Ich blickte ihm in die Augen und da war wieder sein liebes Lachen. Irgendetwas an ihm machte mir Angst, ich wusste nur nicht was.
»Naja, dann machen wir drei uns aber einen tollen Abend, oder?«, quietschte Jenny und ich wurde aus den tristen Gedanken gezogen. Nein, an Riley war nichts Komisches dran. Ich war wahrscheinlich schon total naiv, wegen dem Märchen.
»Ja«, sagte ich und grinste. »Ja, das machen wir.«

Ethan war doch nicht nach Hause gefahren, da Jenny einen so gut überzeugen konnte, hatte er sich aufgerafft mitzukommen. Und obwohl ich eben noch so genervt von ihm war, jetzt war ich froh, dass er dabei war. Nach dem Essen hatten wir uns schon mal eine Vorladung im Restaurant genehmigt. Ich hatte noch ein zweites Gläschen von dem Schnaps genommen und fühlte mich jetzt schon so benommen, dass ich mich bei Ethan auf dem Weg zur Diskothek einhakte und dauernd dumm rumkicherte. Wir waren alle so gut drauf, dass ich wirklich alles vergaß. Das Märchen, Dave, den Tod.
Ich lehnte meinen Kopf gegen Ethans Schulter und summte, dann war ich wieder total aufgedreht und hüpfte neben ihm her. Ich konnte nicht mehr still gehen. Ich wollte jetzt tanzen, wollte endlich in der Disko sein.
»Ich glaube, auf Ally müssen wir heute Abend besonders ein Auge werfen«, sagte Riley, löste den Arm von Jenny und legte ihn stattdessen um meine Schultern. Er kam mit seinen Lippen ganz nah an mein Ohr und sein Atem kitzelte meine Haut, sodass ich sofort anfing zu kichern. »Du siehst wunderschön aus.«
Ich grinste und legte im Gehen die Arme um seine Taille. Ich drückte ihn so eng an mich, dass ich in einen so starken Duft von Honig eingenebelt wurde, dass ich die Augen schloss und davon schweifen schien. Ich wollte Riley nie mehr hergeben. Er gehörte mir, schon seit wir auf der Welt waren. Er war schon immer für mich bestimmt, auch wenn wir diese Bestimmung jetzt als Freunde auslebten. Und auch wenn ich tolerant sein wollte, diese Jenny hatte einfach nichts bei uns verlo-ren.
Ethan drückte Riley weg und meinte: »Heute Abend ist das meine Begleitung, also verzieh‘ dich.«
Riley lachte und gab Jenny einen Klaps auf den Hintern. Diese kreischte laut auf und lachte danach künstlich. Ich verdrehte die Augen und Ethans und meine Hände fanden sich. Er verschränkte seine Finger mit meinen und drückte sie ganz fest. Irgendwie war er für mich wie ein Beschützer. Er war so riesig – bestimmt fast zwei Köpfe größer als ich, obwohl ich dazu sagen muss, dass ich wirklich klein bin – und er hatte breite Schultern und diese starken Arme, die großen Hände.
Ein böser Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Mit Ethan sollte ich es mir also nicht verscherzen.
»Darf ich wissen, wieso du gerade mich

eingeladen hast?«, flüsterte Ethan von oben und ging ein wenig langsamer, damit wir zurück lagen. »Was ist mit Dave? Knistert da nichts zwischen euch?«
Ich löste meine Hand von seiner. Sobald Dave erwähnt wurde, fühlte es sich falsch an, obwohl ich wusste, dass ich diesen Jungen endlich vergessen musste. »Dave ist nicht hier.«
Ethan lachte leise. »Zweite Wahl also.«
Ich verdrehte die Augen. So wie er das sagte, hörte es sich an, als wüsste er gar nicht, wo Dave war.
»Schon was von ihm gehört?«, fragte ich, um ihn zu prüfen, ob er wusste, wo Dave war. Ethan blieb stehen und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich

? Du fragst, ob ich

was von deinem Dave gehört hätte?« Ethan lachte laut und etwas in seiner Art und Haltung, machte mir Angst. Er sah auf mich herunter, in seinem Gesicht lagen tiefe Schatten. »Nein, habe ich nicht.« Er hob eine Hand und zeichnete meinen Kiefer nach, bis er langsam zum Kinn überging. »Ich dachte, du wüsstest, dass … nun ja, Dave und ich nicht unbedingt die besten Freunde gewesen sind. Eigentlich … lass es mich ehrlich ausdrücken, ich kann ihn nicht leiden. Er nervt mich. Er ist der typische Sunnyboy, auch wenn ihm die blonde Mähne fehlt.« Er prüfte mein Gesicht, wie ich auf seine Worte reagierte. »Lässt jedes Mädchen ran, was hübsch ist … die hässlichen lässt er links liegen.«
»Das ist nicht wahr!«, sagte ich und ging auf Abstand. Aber Ethan lachte mich nur aus und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah mich eine Zeit lang an und wartete, dass ich noch etwas sagte, ehe er schließlich meinte: »Ally, warum, meinst du, ist er sonst so hinter dir her?« Wieder kam er auf mich zu und erkundete meine Gesichtskonturen. Seine Finger fühlten sich hart, heiß an. »Du bist wunderschön. Alles an dir.«
Die Worte gingen mir tief unter die Haut. Solche Worte von Ethan zu hören, machte mich verlegen. Ethan legte seine zweite Hand an meine andere Wange und zog mein Gesicht zu mir heran.
»Darf ich dir was sagen?«, flüsterte er, wartete meine Antwort aber gar nicht ab. »Ich weiß, dass du genauso hinter Dave her bist, wie er hinter dir, aber ich will dir sagen, dass du noch gar nicht genug erfahren hast … überlege dir erst die Chancen, die du haben könntest, Ally Male.« Seine Nasenspitze berührt meine. »Es gibt immer eine zweite Möglichkeit.«
Und ehe ich über seine Worte nachdenken konnte, war ich umhüllt von seinem Körper, seinem scharfen Geruch, seinen Lippen, die weich und irgendwie in einer anderen Hinsicht auch wieder hart auf meinen lagen. Seine großen Hände wühlten meine Haare auf, zerstörten die Hochsteckfrisur und drückten meinen Körper noch enger an seine Brust. Zwischen den Küssen hörte ich ihn leise aufstöhnen. Und so weh es innerlich auch tut, ich kann nicht ausschließen, dass es mir nicht auch Spaß gemacht hätte.
Aber war Ethan nicht der Teufelssohn? Hatte ich mich nicht für ihn als den Sohn entschieden? Versuchte er mich nicht gerade zu verführen? Tappte ich in seine Falle? Aber seine weichen, heißen Lippen ließen meine Gedanken nur verschwommen zu meinem Verstand durchdringen. Ich war viel zu viel eingenommen von diesem unbeschreiblichen Gefühl von Hitze und Leidenschaft.
Als Ethan sich von mir löste, fiel mir wieder ein, dass ich das Märchen erst beginnen musste, bevor er mich verführen konnte, oder? Aber er konnte ja auch immer schon Vorarbeit leisten. Ich blickte Ethan in die Augen, er lächelte.
Jemand räusperte sich neben uns. Riley. Er sah Ethan ein wenig wütend an und ich war erschrocken über seinen Tonfall.
»Wollt ihr den Abend vielleicht doch lieber ohne uns verbringen?«
Er sah dabei nicht uns beide, sondern gezielt mich an. Seine Augen starrten anklagend zu mir. Ethan aber legte einen Arm an meine Taille und zog mich an sich. Er verengte die Augen und blickte Riley an. Sie stritten sich doch nicht etwa um mich, oder? Nein, Riley hatte mir klipp und klar gesagt, dass er mich nicht liebte, aber vielleicht wollte er mich trotzdem beschützen? Wie eine kleine Schwester?
»Nein, Riley, wir kommen natürlich mit«, sagte ich und lächelte ihn an. Das mit Ethan war ein Versehen. Seine Nähe konnte ich jetzt schon nicht mehr ertragen. Ich löste seinen Arm um meine Taille und packte Riley an der Schulter, drehte ihn herum und ging mit ihm weiter zur Disko. Es war unmöglich Ethans bohrenden Blick nicht in meinem Rücken zu spüren. Aber plötzlich wollte ich nur noch weg von ihm. Es fühlte sich an, als hätte er mich zum Küssen gezwungen, und irgendwie war es ja auch ein wenig so gewesen. Natürlich, ich hätte nicht mitmachen müssen, aber meine Idee war es schließlich nicht gewesen.
Ich ließ meine Hand an Rileys Schulter liegen, krallte meine Finger nur noch mehr in seine Haut.
»Au, könntest du das bitte lassen?«, fragte Riley und lockerte meinen Griff. Verwirrt sah er mich an, schielte dann hinter uns und blieb stehen. »Wo ist er hin?«
Erschrocken drehte ich mich ebenfalls um. Ethan war weg. Hatte sich in Luft aufgelöst. Hatte ihn mein Verhalten so gekränkt? Oder – wenn er wirklich der Teufelssohn war – war er mit seinem Werk nicht zufrieden? Immerhin hatte das Gefühl bei mir nicht lange angehalten. Ich spürte die Hitze auf meinen Lippen und plötzlich wollte ich mir den Mund waschen. Die Hitze, die Bedrängung wegspülen.
»Hast du mal ein Taschentuch für mich?«, fragte ich Riley und er kramte aus seiner Hosentasche ein Packung heraus. Wortlos nahm er eins heraus und reichte es mir. Dankbar wischte ich damit auf meinen Lippen und in meinem Mund die Erinnerung an den Kuss weg. Ich wusste, dass das total arrogant, eingebildet und einfach nur total abscheulich von mir war, jedenfalls in Rileys Sicht, aber ich war froh, als ich fertig war.
»War das eben also so ‘ne Art Mitleidsknutschen?«
Ich zuckte mit den Achseln und war über mich selbst geschockt. Wieso hatte ich Ethan überhaupt geküsst? Galt meine ganze Liebe nicht ausschließlich Dave? Auch wenn ich mich gegen ihn richtete? Konnte ich mich überhaupt neu verlieben oder war ich für immer an Dave gebunden? Ich überlegte, ob meine Mum je einen anderen Mann gehabt hatte. Rileys Vater war für sie bestimmt gewesen. Mein Mund öffnete sich langsam, gleichzeitig, wie der Gedanke in meinem Kopf Gestalt annahm. Meine Mum war für Rileys Vater bestimmt gewesen. Prinz und Prinzessin. Und der Prinz starb. Er starb immer. Rileys Vater war tot.
»Wo ist eigentlich dein Vater?«, fragte ich Riley. Dieser zog die Augenbrauen hoch und lachte.
»Zuhause, schätze ich mal?«
Ach, ja. Owen tat wahrscheinlich schon von Anfang an so, als sei er Rileys Vater, weshalb Riley gar nichts über seinen wahren Vater wusste. Diese Erkenntnis stieß mich in eine solche Traurigkeit, dass ich Riley einfach umarmen musste. Er hatte niemanden mehr, oder? Seine Mutter hatte ich noch nie gesehen und sein Bruder hatte ihn vor Jahren einfach verlassen. Und Owen war nicht sein leiblicher Vater. Wenn er das alles wüsste … wie würde er bloß damit umgehen?
»Ally, alles in Ordnung?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Tränen kamen sofort, sobald mir meine ganzen Problemen und Sorgen durch den Kopf gingen, unter anderem der Gedanke an Dave. Ich schüttelte noch einmal den Kopf. »Nein, Riley, nein.«
Riley streichelte behutsam mein Haar und flüsterte beruhigende Worte. Ich würde ihm so gerne alles erzählen. Ich wusste, dass er der Einzige war, der mir wirklich zuhören würde, mich verstehen würde und keine Geheimnisse vor mir haben würde. Warum nur konnte ich nicht einfach Riley lieben und das Märchen für immer vergessen? Aber Riley liebte mich nicht. Eine Zukunft zwischen uns würde es wohl nie weiter als Freunde geben. Könnte ich das Märchen vielleicht noch mehr brechen, indem ich mich neu verliebte? Sollte ich mich vielleicht mehr mit Ethan beschäftigen? Vielleicht fand er ja wirklich was an mir? Aber sollte ich das ausnutzen?
Ich schluchzte. Warum, verdammt, warum

musste immer alles so kompliziert sein?
»Willst du es mir erzählen?«
Ich nickte und löste mich von ihm. Auf Rileys Gesicht war Sorge zu sehen, aber in seinen Augen glitzerte ein wenig Neugier und Wissen. Und ich wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Ahnte er doch etwas? Ahnte er, dass ich seinen Bruder kannte? Was sein Schicksal war?
»Ich will, Riley, ja. Aber ich kann nicht. Ich darf nicht.«
Riley legte eine Hand an meine nasse Wange. »Ally, wenn dich einer bedroht, dich erpresst oder«, er suchte die passenden Worte, »zu etwas zwingt, was du nicht willst«, er nickte zu dem Taschentuch und meinte damit ganz eindeutig Ethan, »dann sprich mit mir … ich kann dir vielleicht helfen.«
Sein Blick war ehrlich, aufmunternd, und trotzdem schüttelte ich den Kopf. Ein wenig musste ich sogar lächeln. Aber nicht, weil es komisch war, das war es bestimmt nicht. Denn ja, ich wurde bedroht, erpresst und gezwungen. Bedroht von Owen und seinem Sohn, erpresst, das Märchen zu stoppen – ich könnte es ja auch einfach anfangen – und gezwungen, Riley zu beschützen, zu lügen, Dave zu lieben.
»Willst du mir was sagen?«
Riley zog die Augenbrauen hoch und erinnerte mich für einen Moment an Albus Dumbledore, als er Harry fragt, ob er ihm nicht etwas sagen möchte. Ich blickte Riley unverwandt in die Augen.
»Ja. Ja, ich werde bedroht, gezwungen und erpresst.«
Riley riss die Augen auf, obwohl ich ein wenig fand, dass das etwas zu sehr wissend rüber kam, als hätte er schon gewusst, dass das alles zutraf. »Von wem?«
Er nahm meine Hand und drückte sie, zeigte mir, dass ich nicht allein war. Dass er auf meiner Seite war, mir helfen würde. Und zwar immer. Statt zu antworten, sah ich auf den Boden. Wer war der Teufelssohn? Ich hatte keine Ahnung, wieso mir diese Frage plötzlich in den Sinn kam. Aber wie immer behielt sie mich in ihrem Bann. Wen fand ich besonders anziehend?
Ethan.
Ich konnte es leugnen so viel ich wollte. Nach Dave würde ich immer Ethan aufzählen. Seine Größe, seine Muskeln, sein makelloses Gesicht, sein Lachen, dass mein Herz erwärmen ließ, seine Hände, die meine Haut erkunden, seine Lippen. Ich schloss die Augen und ging den Kuss noch einmal durch. Ja, ich fand Ethan toll. Ethan war

toll. Wenn es Dave nicht geben würde, würde ich mich sicherlich in Ethan verlieben. Wenn Ethan ein ganz normaler Junge auf meiner Schule wäre, wäre ich ihm verfallen. Und auch obwohl ich den Kuss mit dem Taschentuch versucht habe wegzuwischen, kann ich nicht behaupten, so einen Kuss nicht nochmal erleben zu wollen. Er war perfekt gewesen. Sicherlich hatte ich nur nicht wahr haben wollen, dass meine größte Gefahr direkt vor mir stand.
Ich schielte auf das Taschentuch in meiner Faust und drückte die Hand noch fester zusammen. Hoffte, dass Riley merkte, auf was ich blickte. Rileys Hand schloss sich um meine Faust mit dem Taschentuch, mit der anderen Hand hob er mein Gesicht an. »Ethan?«
Ich presste die Lippen aufeinander. Ich war noch nie gut im Schauspielern gewesen, aber ich hoffte, dass es für Riley reichen würde. Ich schloss, um es dramatischer wirken zu lassen, die Augen und drehte mich weg. Ließ es so aussehen, als würde ich Ethan lieben, aber er mich zu mehr zwingen.
»Ally … kurze Frage, auch wenn sich das jetzt unhöflich anhört … Was ist mit Dave?«
Ich schluckte und hätte beinahe geschockt die Augen geöffnet. Was jetzt? Ich versuchte mich wieder in die bedrückte Stimmung sinken zu lassen und murmelte: »Was soll mit dem sein?«
»Naja … ich dachte, du und er …«
»Nein«, sagte ich, öffnete die Augen und sah ihn an, tat so als wäre es total abwegig, dass ich Dave lieben könnte. »Nein«, wiederholte ich und lachte gespielt. »Dave und ich waren nur gute Freunde.«
»Waren?«
»Er ist weg«, sagte ich und legte ein wenig Wut mit in meine Stimme, als wäre Dave einfach abgehauen und nicht um sein und Rileys Leben zu retten. »Ist mit seiner Freundin durchgebrannt und abgehauen.« Ich schürzte die Lippen, um deutlich zu machen, wie mich das Thema Dave nervte. »Ethan dachte auch immer, ich würde … naja auf Dave stehen …«
Ich hatte tatsächlich einen Kloß im Hals und konnte nicht umhin stolz auf meine Schauspielerei zu sein. Zwar hatte ich noch keine Ahnung, wieso ich das Ganze tat, aber ich hatte so das Gefühl, dass es gut war.
»Ally«, murmelte Riley bedrückt, versucht mir zu helfen, aber nicht wissend wie. Ihn so zu erleben, vergrößerte meinen Kloß. Ich log ihn die ganze Zeit an. Oder? »Bist du mit Ethan jetzt zusammen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe so Angst, dass er es nicht ernst meint … weißt du, dass er nur … nur mit mir schlafen will …«
»Bist du dir da-«
Ȁhm, hallo

?!« Wir drehten uns zu der Kreuzung und sahen, wie Jenny mit saurer Miene auf uns zu stampfte, die Hände in der Hüfte. »Ich will euer inniges Gespräch ja nur ungern stören, aber

ich warte jetzt bestimmt schon mehr als eine halbe Stunde und langsam vergeht mir die Lust auf diesen Abend.«
Zornig funkelte sie mich an, ich spannte ihre ihren zukünftigen Freund aus. Stand mit ihm Hand in Hand auf der Straße, vertraute ihm meine Sorgen an, während sie versetzt wurde.
»Jenny, tut mir leid … wirklich … es ist nicht so, wie du denkst!«
»Wie ist es denn?«, keifte sie.
»Ich steh‘ nicht auf Riley«, sagte ich schnell. »Du hast immer noch freie Bahn … wir sind nur gute Freunde.«
Aber ihre Miene besserte sich nicht, nein, sie wurde nur noch negativer. »Na, vielen Dank, jetzt hast du mich vor Riley auch noch schön blamiert, Ally.«
Ich schielte zu Riley, dieser hatte eine Augenbraue hoch gezogen. Mir wurde peinlich bewusst, dass Riley nicht gemerkt hatte, dass Jenny ihn toll fand. Schuldig sah ich Jenny an. In ihren Augen glitzerten Tränen. Dann blinzelte sie sie weg und verließ den Bürgersteig. Sie überquerte die Straße und verschwand in der Menschenmenge in der Fußgängerzone. Getroffen sah ich zu Boden.
»Noch mal zu Ethan-«
Ich unterbrach ihn: »Riley! Sie hat dir grade sozusagen die Liebe gestanden!« Verständnislos sah ich ihn an.
Riley zuckte grinsend die Schultern. »Du hast ja keine Ahnung, wie oft das schon passiert ist. Ich habe noch ein andres Leben. Ohne dich, Ally.«
Für einen Moment war ich woanders. Hatte er nicht mal gesagt, er hätte nie weibliche Freundinnen seit seinem 13. Geburtstag gehabt? Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich auf das Jetzt zu konzentrieren.
Ich hätte nie gedacht, dass Riley so einer war.
»Sie war sowieso nicht so hübsch, fandest du?«
Ich kam aus dem Starren nicht mehr raus. »Riley! Ich sag’s nur ungern … aber du kannst mir mit Ethan schlecht weiterhelfen, wenn du selbst so bist, wie ich Ethan vermute!«
Das ließ Rileys Grinsen vergehen. Ich drückte das Taschentuch in meiner Hand, versuchte in meine Augen Tränen zu zaubern und es gelang mir glücklicherweise.
»Aber danke für das Kompliment.«
»Welches Kompliment?«, war Riley so dreist zu fragen.
»Dass ich hübsch bin«, sagte ich und ließ ihn allein auf dem Bürgersteig stehen.



Kapitel 12 - Logan





Pech. Sowas nennt man Pech.
Ganz einfach.
Und einfach nur scheiße.
Riley und Owen waren nicht mit zu dem Besuch meiner Familie gekommen. Seit Riley und ich den Streit in der Stadt gehabt hatten, habe ich direkt bei ihm Zuhause angerufen.
»Silver?«
»Hi, hier ist Ally-«
»Willst du Riley?«, hatte Owen geantwortet.
»Nein«, hatte ich geantwortet. »Ich wollte nur sagen, dass ich Sie und Riley wieder auslade.«
Dann hatte ich einfach aufgelegt und mich nicht mehr gemeldet. Blöd nur, dass mir meine Mutter heute Morgen einen blauen Briefumschlag in die Hand gedrückt hatte, auf dem groß und fett Einladung draufstand. Genauer stand dann im Brief:
Herzliche Einladung zu meinem 19. Geburtstag. Du brauchst nichts mitbringen, deine bloße Anwesenheit reicht.

(Ein total blöder Lachsmiley) Die Party steigt am 19. 8. bei mir daheim. Ich hoffe du kommst.

(Wieder dieser Smiley)
Und wahrscheinlich nur unter meiner Einladung stand in krakeliger Jungenschrift: Ally, es tut mir leid, bitte komm. Riley.


Tja. Und was sollte ich jetzt tun? Riley hatte Geburtstag. Ich wollte gar nicht wissen, wen er noch so eingeladen hatte. Ethan? Wenn Ethan kommen würde, dann müsste ich die ganze Party verliebt spielen, als hätte ich nicht schon genug Probleme, man! Warum hatte ich Riley aber auch so einen Blödsinn erzählen müssen? Ich musste es immer nur schlimmer machen.
»Ally?« Meine Mum stand im Türrahmen und musterte mich. »Da steht ein junger Mann unten vor der Tür.«
Ein junger Mann? Welcher denn von den vielen die ich mittlerweile kannte? Ich stopfte die Einladung unter mein Kopfkissen und sprang die Treppe runter zur Eingangstür. Im Türrahmen lehnte Logan.
»Logan?!«
»Ally?! Ich hatte eigentlich jemand anderen erwartet«, äffte er meine Reaktion nach. »Auch hallo.«
Ich lächelte. »Hi, was willst du?«
Ich lehnte die Tür an und tapste auf die warmen Eingangsstufen. »Ich dachte, wir zwei könnten mal was zusammen unternehmen?«
Ich lachte. Das war ja mal was ganz Neues. Ein Vergnügungstag mit Logan. Ohne Dave, Ethan oder Riley. Wieso nicht? Vielleicht war das zur Abwechslung gar nicht mal so schlecht. »Und was machen wir?«
»Worauf du Lust hast«, antwortete Logan, erfreut darüber, dass ich einwilligte. Ich hoffte bloß, dass er mich nicht immer noch für reserviert hielt. »Eis essen? Durch die Stadt bummeln? Schwimmen? Kino?«
»Okay, aber schwimmen nicht.«
Vom Schwimmen hatte ich genug. Ich hüpfte schnell die Treppe hoch in mein Zimmer, zog mir eine lange Hose und ein anderes T-Shirt an – heute war es ausnahmsweise mal nicht so heiß –, schnappte mir meine Umhängetasche, ein bisschen Geld und ein Haargummi. Dann schloss ich mit einem aufgeregten Grinsen unsere Eingangstür und hakte mich bei Logan ein. Ich hätte mir nie erträumt, dass ich einmal mit Logan shoppen gehen würde. Aber genauso wenig hätte ich mir je erträumt einmal die Hauptrolle in einem mörderischen Märchen zu sein.

Logan und ich hatten uns fürs Bummeln entschieden und wollten danach zusammen ins Kino gehen. Wir standen gerade in einem Souvenirladen und betrachteten die kleinen Nachbildungen von Delfinen und anderen wunderschönen Wassertieren.
»Du wolltest doch bestimmt schon immer mal so einen Porzellandelfin haben, nicht?«, scherzte Logan und nahm eins der kleineren vom Regal. Ich schaute mich panisch um, da ich Angst hatte, Logan könnte ihn fallen lassen. Schützend hielt ich meine Hände darunter, immerhin kosteten die Tiere nicht gerade wenig!
»Nein, leg‘ ihn wieder hin, bitte!«
Logan lachte und ich kam an meine Grenzen, als er ihn mit der ganzen Faust umschloss. Ich hatte keine Lust so Nippes zu kaufen, nur weil Logan ein Stück davon abbrach. »Bleib mal locker, Ally.«
Logan stellte den Delfin sorgfältig wieder ins Regal und ging um das Regal zum nächsten. Ich folgte ihm um die Ecke. Auf dem nächsten Regal standen etliche Schleichtierchen. Von Pferden über Katzen zu Hühnern und Löwen. Ich schmunzelte Logan an.
»Lieber ein Schleichtier zum Hinstellen?«
»Ich frag‘ mich, wer so’n Schrott kauft«, murmelte ich und Logan lachte. Ich nahm einen der Löwen in die Hand und besah ihn mir von allen Seiten. Ich musste an Riley denken. Er war Löwe als Sternzeichen. Ich stellte den Löwen schnell wieder hin und zog Logan in den nächsten Gang. Der Souvenirladen war erstaunlich groß und überall stand der gleiche Unsinn. Irgendwelche kleinen Tierchen, Figürchen oder Postkarten. Aber da ich keine Verwandten hatte, die besonders weit wegwohnten hatte ich nicht das Bedürfnis eine Karte irgendwohin zu schicken. Der Einzige, der jetzt weiter als 500 Meilen von mir entfernt war, war Dave. Und selbst wenn ich wüsste in welchem Hotel die beiden waren, ich würde keine schicken. Was sollte ich schon drauf schreiben?
Hey, ihr ist super Wetter! Bin grad mit Logan im Städtchen und hab gedacht ich schreib dir! Wie ist es denn so in Mexiko? Genauso heiß? Ich wünsch dir noch einen schönen Urlaub mit Jolina.
Ally. PS: Lebst du noch?


Haha, sicher nicht.
»Lust auf ein Eis?«
Ich nickte und Logan tanzte vor mir herum, nahm meine Hand und wir hüpften wie durchgeknallt durch die Fußgängerzone. Ich freute mich, dass ich endlich wieder unbeschwert lachen konnte. Wann hatte ich das letzte Mal so wirklich richtig gelacht? Ich dachte an den Abend mit Riley, Jenny und Ethan in der Pizzeria. Aber irgendwie ließ sich das nicht mit dem Moment jetzt vergleichen. Jetzt war ich einfach glücklich. Es war, als würde Logan die ganzen Sorgen auslöschen. Wer war er eigentlich?
Ich ärgerte mich, dass ich schon wieder an das Märchen denken musste. Nie konnte ich es mal in den Hintergrund schieben. Wer blieb denn noch übrig? Die Feen. Gut, dass ich darüber lachen konnte und nicht wie bei Ethan, dem Teufelssohn angespannt sein musste. Ich stützte mich auf Logans Schulter ab und sprang die Stufen zur Eisdiele hoch. Er war mein Beschützer. Mein Retter. Wollte er deshalb mit mir etwas unternehmen? Darüber war ich ein wenig enttäuscht, aber sobald ich wieder in Logans grinsendes Gesicht sah, konnte ich nicht anders, als gut gelaunt zu sein.
»Schoko? Vanille?«
»Hm.« Ich beugte mich über die Glasscheibe, unter der das Eis in Massen thronte. »Mango, Himbeere und Zitrone«, sagte ich zu dem Mann hinter der Theke und er machte mir drei extra große Kugeln drauf. Logan stellte sich neben mich und bestellte zwei Kugeln Schokolade und eine mit Vanille. Ihm gab der Italiener spärlich kleine Kugeln, weshalb ich Logan einfach auslachen musste. Logan bezahlte mir mein Eis und beim Hinausgehen zwinkerte mir der Eismann zu.
»Kann es sein, dass du immer alle Männer in deinen Bann ziehst?«, fragte Logan und schleckte an seinen kleinen Kugeln. »Dafür musst du mich wenigstens von deinem Mango probieren lassen.«
Ich kicherte über seine gespielte Eifersucht, hakte mich wieder bei ihm ein und legte den Kopf an seine Schulter. Logan roch nach süßem Männerparfüm, eins, das nicht extrem stark war, aber gerade so, dass man nicht an seiner Haut saugen musste, um es zu riechen. Kurz gesagt: Es war himmlisch.
»Du riechst gut«, bemerkte ich also und lächelte ihn an. Logan war nicht viel größer als ich, ich würde schätzen, dass sein Kopf meinen zwei Zentimeter überragte, aber das konnte auch wiederum durch seine kurzen, stacheligen Haare vertuscht werden.
»Danke, du auch.«
»Wonach rieche ich denn?«
Logan überlegte einen Moment und meinte dann: »Nach süßen Rosen, glaube ich. Und ein bisschen Vanille.«
»Das gefällt mir«, murmelte ich und genoss die warmen Sonnenstrahlen in meinem Gesicht. Ob Dave das auch so empfunden hatte? Hatte er meinen Geruch auch gut gefunden? Anziehend?
Ich seufzte. Ich musste ihn endlich aus meinen Gedanken bekommen. Ich kostete mein Eis und ließ das Kalte auf meiner Zunge zergehen. Es schmeckte gut, sehr gut sogar. Wieso konnte mein Leben nicht so sein, wie mein Mangoeis? Einfach und gut. Ich dachte an die Party von Riley. War Logan auch eingeladen?
»Kommst du zu Rileys Party?«
Logan spannte sich an. »Riley?«
»Riley Silver. Josh‘ Bruder.«
Logan blieb stehen und starrte mich an. »Du weißt davon?«
Ich blieb ebenfalls stehen und sah Logan verwirrt an. »Natürlich weiß ich, dass Josh der verschwundene Bruder von Riley ist. Das ist ja wohl schlecht nicht zu erkennen, wenn man beide kennt, oder?«
»Mh, ja, schon«, murmelte Logan. Überzeugt klang er allerdings nicht und meinte dann resigniert: »Weiß Riley von Josh?« Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Gut, dann wäre dieser Teil nämlich gescheitert.«
»Genau wie der Mordversuch an Dave«, murmelte ich und drängte Logan weiter zum Steg. »Also, kommst du jetzt, oder nicht?«
»Ich glaube, ich bin nicht eingeladen«, antwortete er und ließ sich in den Sand sinken. »Wann ist die denn? Hat er Geburtstag?«
Ich nickte. »Am 19. August.«
»Neunzehnter, sagst du? Stimmt … wie konnte ich das vergessen?« Logan seufzt und als er aufs Meer hinaussieht, sieht er plötzlich viel älter und reifer aus, als wie ich ihn eigentlich kenne. Er hat kein bisschen die Spur von einem Spanner oder Idioten, wie ich ihn am ersten Tag kennengelernt habe. Nein, er sieht so ernst und nachdenklich aus, dass ich mich willkürlich frage, ob ich Logan eigentlich kenne.
»Was vergessen?«
Die Lust auf mein Eis ist mir bei dem Gedanken an Rileys Party vergangen. Also halte ich es nur noch in meiner Hand und das Eis läuft an meiner Hand herunter und tropft in den Sand.
»Josh und Riley haben am gleichen Tag Geburtstag. Das kommt so selten vor, dass man es eigentlich kaum vergessen kann.«
»Also kommst du nicht?«
Logan zuckte mit den Schultern und knabberte an seiner Waffel. Wenn Josh immer am selben Tag Geburtstag hatte, dann ist er auch in der Nacht zu seinem eigenen Geburtstag verschwunden. Wieso hatte Riley das nicht erwähnt? Hatte er es nicht für wichtig empfunden? Wieso nur hatte ich im Moment dauernd das Gefühl, dass mit Riley irgendetwas nicht stimmte? Lag es an Jenny? Woher kannte ich sie nur? War sie nicht auch ein Mädchen vom Strand?
Ich riss die Augen auf und dachte zurück an den Tag am Strand, nachdem ich Dave Lebewohl gesagt hatte.
»Hey, ich bin die Jenny«, stellte es sich vor und reichte mir die Hand.


Ich krallte meine Hand um das Eis. Jenny war eine Furie. Eine Furie, die hinter Riley her war. Eine Furie, die ihm das Leben nehmen soll. Aber hatte Owen nicht gesagt, dass sie nur zum Zweck meiner Angst gedient hatte? Ich hatte meine Waffel mit dem Eis zerdrückt und Logan sah mich fremd an. Wahrscheinlich fragte er sich, wieso ich mein Eis gerade über meinem T-Shirt zerdrückte. Ich stand auf und schmiss das zerdrückte Eis in den Müll. Logan stand ebenfalls auf und stopfte sich das letzte Stück Waffel in den Mund. Fragend zeigte er auf mein verschmiertes T-Shirt.
»Kommst du jetzt zur Party oder nicht?«, fragte ich und versuchte damit meine Nervosität zu überspielen. Jenny verarschte Riley gewaltig. Aber Riley hatte sich ja noch nicht in sie verliebt. Zum Glück. War ich jetzt vielleicht in Gefahr, weil ich ihre Gefühle verletzt hatte? Oder war das Ganze mit der Liebe nur Show gewesen? Vielleicht sogar von Owen organisiert? Wieder um mir Angst einzujagen?
Ich knurrte. Er benutzte Riley dafür, mir Angst zu machen. Ich würde mit ihm ein ernstes Wort reden, dass er Riley gefäl-ligst daraus halten soll.
»Ich weiß nicht, lass uns doch bei Riley vorbei schauen und fragen, ob ich auch kommen kann.« Logan lächelte, aber ich merkte, dass irgendetwas ihm sträubte zu dieser Party zu gehen. Dann fiel der Groschen.
Logan wusste, dass Owen der Teufel war. Hatte er Angst vor ihm? Tolle Frage, wer hatte schon keine Angst vor dem Teufel? Ich verdrehte über mich selbst die Augen. Aber wieso hatte ich dann nie ein Problem bei Riley zu sein, bei ihm zu übernachten?
Weil du diejenige bist, die ihn erst gefährlich machen lässt. Wenn du das Märchen anfängst, wird er für jeden, der ihm in den Weg kommt, gefährlich. Und Logan konnte ja nicht wissen, wann ich es anfange, oder ob ich bei dem Brechen mitmachte. Aber er wusste doch, dass Dave in Mexiko war!
»Ähm, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, murmelte ich schließlich als Antwort. Ich hatte Riley schon eine kleine Weile nicht mehr gesehen und ich wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn ich zu seiner Party nur mit Logan auftauchen würde, alleine nicht. Aber wieso eigentlich nicht? Wieso wollte ich nicht alleine hingehen? Hatte ich Angst? Nein. Owen konnte mir nichts anhaben und der Teufelssohn- Ja, der Teufelssohn. Das war es, was mich ohne Begleitung störte. Riley dachte, ich würde auf Ethan stehen. Wenn Ethan also kommen würde, dann müsste ich auf verliebtes Lamm tun und wie würden Logan und Ethan erst darauf reagieren? Verdammt wo hatte ich mich da nur wieder reingeritten? Aber Ethan hatte doch gesagt, dass es noch eine zweite Chance gab, vielleicht würde er sich freuen, dass ich mich für ihn entschieden hatte … indirekt. Und Logan? Er würde bestimmt total perplex sein.
»Willst du plötzlich doch nicht mehr, dass ich mitkomme?«
Logan boxte mir freundschaftlich in die Schulter und grinste. Dann legte er den Arm um meine Schultern und führte mich zurück in die Fußgängerzone. Er schlug die Richtung zu Rileys Haus ein. »Nein, also doch, ich will, dass du mitkommst, aber Riley und ich … Naja … wir hatten in letzter Zeit so unsere Probleme.«
»Aha, das ist also der Grund für meine Einladung«, stellte Logan gespielt beleidigt fest. »Naja, ich denke Riley wird dir nicht lange böse sein können. Wie wir eben sehen konnte, kann keiner dich nicht mögen.«
Ich lachte, aber das Lachen reichte nicht bis in meine Gedanken. Die Frage war eher, ob ich auf Riley noch länger sauer sein konnte. Aber wieso war ich eigentlich sauer auf ihn? Warum wollte ich ihn nicht sehen? Das hatte ja nicht nur mit Ethan und meiner erfundenen Liebesgeschichte zu tun, immerhin hätte ich mich auch vor seiner Geburtstagsparty bei Riley melden können. Was hatte Riley gemacht, dass ich mich lieber von ihm distanzierte? Mir fielen seine Augen ein. Dieser Machtblick, als er von seinen anderen hoffnungslosen Freundinnen erzählte. Dieser Blick, diese Worte, das war nicht Riley gewesen, wie ich ihn kannte. Das war nicht der Strandabend-Riley gewesen. Der Riley, der mein bester Freund geworden war und das nur in ein paar Wochen.
Ich atmete tief ein, schüttelte alle Gedanken weg, hakte mich bei Logan ein und zog ihn weiter zu Riley. Ich würde einfach über den Abend wegdenken. Drüber hinwegsehen. Vergessen. Jeder sagte mal etwas, was er eigentlich nicht so meinte.
»Also gehen wir jetzt doch zu Riley?«
Ich nickte und beschleunigte meine Schritte. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis mich bei Riley für meine Distanz zu entschuldigen. Ich drückte mich durch die Menge und bekam ein, zwei Mal einen Arm ins Gesicht. Ich fühlte mich, als wäre ich auf einer wichtigen Mission, als ginge es um Leben und Tod. Haha, wie lustig.
»Was rennst du denn jetzt so?«, sagte Logan jetzt etwas ge-nervt hinter mir und zwang mich, indem er mich an der Schulter herumdrehte, stehen zu bleiben. »Was ist denn plötzlich los?!«
»Mir ist klar geworden, dass ich nicht weiter sauer sein sollte … also auf Riley«, erklärte ich lächelnd. »Ich meine, jede macht mal Fehler oder?« Ich lachte, als mir auffiel wie kindisch meine Reaktion gewesen war. »Riley will mir bestimmt trotzdem helfen und als ich ihn so vor den Kopf gestoßen habe, war er bestimmt verletzt. Ja, bestimmt.« Schuldig sah ich Logan an.
»Wobei denn helfen?« Logan zog die Augenbrauen zusammen und rief dem kleinen Jungen, der ihn gerade angerempelt hatte, ein fieses Schimpfwort hinterher. »Wenn man fragen darf?«
Oh, Mist. Die Liebesgeschichte. Ich musste es jetzt wirklich bis zum Ende durchziehen. Oh, nein. Für immer und ewig hieß das ja. Oder? Nein, nicht erwiderte Liebe vergeht mit der Zeit. Aber wenn Ethan mich so geküsst hatte … war er dann vielleicht in mich verliebt? Nein, stopp. Ich schüttelte hart den Kopf. Ethan war der Teufelssohn, das hieß, er wollte mich verführen. Wenn ich mich also in den Sohn verliebte, würde ich damit ebenfalls das Märchen brechen, weil das noch nie vorgekommen war. Ich grinste, sah aber schnell besorgt drein, weil ich daran dachte, was mich Logan gerade gefragt hatte. Ich musste jetzt wieder auf Mädchen mit Liebeskummer tun.
»Ach, ich hab da so ein kleines Problem …«, murmelte ich so leise, dass Logan nicht anders konnte, als nachzufragen. »Ethan. Ethan ist mein Problem.«
»Wieso, was macht er denn?«
Ich biss mir extra auf die Lippe und sah zu Boden. »Nichts, das ist es ja.«
Dann dachte ich, wenn ich es ihm jetzt einfach so erzählte, dann kam es vielleicht nicht so echt rüber, als wie wenn ich auf geheimnisvoll tat. Ich drehte mich von Logan weg, wischte mir eine nicht vorhandene Träne weg und ging wieder schneller in die Richtung zu Rileys Zuhause.
Nach kurzen Schritten hatte Logan mich eingeholt. Er sagte nichts. Ich glaubte nicht, dass er schon ahnte, was Ethan für mich für ein Problem war. Also nicht das, was ich vorspielte. Denn das eigentliche Problem an Ethan war, dass er Dave umbringen würde. Und sicherlich dachte Logan jetzt daran, dass ich mich endlich entschieden hatte, wen ich am heißesten von ihnen fand. Ich sagte allerdings auch nichts mehr. Ich versuchte mein Gesicht so viel wie möglich bedeckt zu halten, auf den Boden zu schauen und eine bedrückte Haltung einzunehmen. Anscheinend klappte meine Schauspielerei ein wenig, da Logan immer mal wieder besorgt und nachdenklich zu mir blickte und trotzdem war er so höflich nicht weiter zu bohren. Ein echter Mädchenfreund. Ich lächelte gequält bei dem Gedanken. Ja, er wäre ein gute Freund für mich, ganz sicher, und was tat ich? Ich belog alle. Riley auch, aber Riley belog ich schon die ganze Zeit. Dass ich herausgefunden hatte, dass Ethan der Teufelssohn war, sollte ich vielleicht nicht erwähnen, sonst könnten die Jungs vielleicht noch auf meinen genialen Plan kommen. Ob er so genial war, würde sich zwar erst noch rausstellen, aber bis jetzt war ich schon mal stolz auf die Idee.
Wir sprachen kein Wort mehr, bis wir vor Rileys Tür standen. Plötzlich war ich mir unsicher. Irgendwie war es mir immer, egal, was ich tat, peinlich vor Owen. Wieso?!
Ich schlug mir vor den Mund. Er konnte Gedanken lesen. Das war mir in letzter Zeit so unwichtig gewesen, dass es jetzt, da ich wieder dran dachte, ein heftiger Schlag war. Konnte er Ethan vorwarnen?
Logan sah mich fragend an. »Warum klingelst du nicht?«
Ich atmete tief ein und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich durfte nicht immer so schwach und kindisch vor Owen wirken. Ich musste mich als ebenbürtigen Feind erweisen. Gleichberechtigt. Gleichmächtig.
Fest presste ich meinen Finger auf die Klingel und hielt ihn extra doppelt solange drauf. Logan schüttelte hinter mir den Kopf. Wahrscheinlich war er ein wenig verwirrt von meinen Stimmungsschwankungen. Sollte ich das auch sein? Machte mich das Märchen vielleicht total kirre? Als Owen mir die Tür öffnete und grinste, verflog der Gedanke. Jetzt war nur wichtig den Wettkampf mit dem Teufel zu gewinnen.
Owen lachte.
»Lachen Sie nur, theoretisch kann man es so ausdrücken, Sir.«
Owens Lachen verging, als ich das laut aussprach und mir wurde kalt im Bauch als ich wieder an Logan dachte. Ich drehte mich schnell um und ließ mir nichts anmerken, dass ich gerade einen total sinnlosen Satz für ihn ausgesprochen hatte. Dass ich gerade total verrückt auf ihn wirkte.
»Kann man was ausdrücken?«, fragte Owen mich und ich wäre ihm am liebsten an die Gurgel gegangen. Wieso, wieso, verdammt, musste er mich immer so ärgern?
»Ich übe schauspielern«, sagte ich betont freundlich, grinste Owen an und hüpfte einfach unter seinem aufgestützten Arm hindurch in den Flur. »Wir wollen zu Riley.«
Owen zog scharf die Luft ein. »Der ist oben, Ally. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?«
»Logan Froy«, stellte sich der Junge vor der Tür, den ich andauernd fast zu vergessen schien, schnell vor und hielt Owen die offene Hand hin, um sie zu schütteln.
»Ah«, sagte Owen und ging ins Wohnzimmer. Obwohl ich Owen über alles nicht ausstehen konnte, musste ich ein wenig über sein Benehmen grinsen. Erste der Males, die keine Manieren hat, also wirklich.


Ich lachte.
»Alles okay mit dir?«, flüsterte Logan mir zu, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Ich zuckte mit den Schultern, sprang die Treppe immer zwei Stufen nehmend nach oben und klopfte gut gelaunt an Rileys Zimmertür.
»Dad, ich sagte doch schon, dass ich meine Party am organisieren bin!«, motzte Rileys vertraute Stimme. Ich lächelte glücklich.
»Mach bitte die Tür auf, Riley«, brummte ich in der tiefsten Stimmlage, die ich hinbekam und verkniff mir das Lachen. Logan stöhnte hinter mir und öffnete über meine Schulter hinweg einfach die Tür. Riley stand von seinem Schreibtischstuhl auf und seine Augen weiteten sich kurz, als er uns beide sah.
»Logan hat meinen Spaß kaputt gemacht«, schmollte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Logan verdrehte nur die Augen neben mir und verlagerte sein Gewicht. Riley befeuchtete in Zeitlupe, wie es schien, seine Lippen, musterte uns beide, bis er schließlich lächelte und mich ansah.
»Ally, wie komme ich zu der Ehre?«
Ich lächelte schief. »Ich war blöd zu dir. Dass ich mich solange nicht gemeldet war, war einfach nur Kinderkacke.«
Riley schürzte die Lippen. »Tja, was soll man da machen? Passiert halt. Du weißt ja wo die Tür ist.«
Damit setzte er sich wieder und drehte uns den Rücken zu. Logan starrte mich an, ich starrte Riley an und Riley? Er arbeitete, nein er organisierte

einfach weiter! Hallo?!
»Okay«, sagte ich gedehnt und war wirklich enttäuscht, dass Riley meine Entschuldigung nicht annahm. »Dann gehen wir mal wieder.«
»Mh«, murmelte Riley beschäftigt. Noch einmal sah ich ihn an und wünschte mir, er würde nur Spaß machen, als er sich auf seinem Stuhlrumdrehte und grinste. »Komm her, du dumme Nuss.«
Ich lachte hell und lief in seine offenen Arme. Danke, Gott, dass er nur rumgewitzelt hatte! Ich drückte mein Gesicht in seine Schulter und sog den Duft nach Honig ein. Erst jetzt merkte ich, wie sehr er mir gefehlt hatte.
»Du hast mir gefehlt.«
»Du mir auch.«
»Oooh«, machte Logan und als ich mich zu ihm rumdrehte, hatte er die Handflächen aneinander gepresst und sah aus wie ein kleines Mädchen, das sieht, wie ihre Lieblingsschauspieler sich küssen. Seine Augen sahen aus wie kleine Sternchen.
»Pff.«
Logan grinste. Er ließ sich auf Rileys Bett fallen und strich über die blaue Tagesdecke, die mir zuvor noch nie aufgefallen war. Ich ging zu Logan und streichelte das Stück Stoff ebenfalls. »Seit wann hast du die denn?«
Fragend sah ich Riley an. Dieser sah aus, als hätte ich ihn bei etwas extrem peinlichem erwischt. Seine Augen weiteten sich, aber er hatte sich schnell wieder gefasst und lachte etwas gespielt. »Hat mein Dad mir heute mitgebracht.«
»Owen?«
»Nein?«, sagte Riley und verdrehte die Augen. »Wer sonst?«
»Naja …«, murmelte ich und setzte mich auf die unbekannte Decke. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Owen Riley eine schöne Tagesdecke schenkte. Zumal Riley nicht mal sein richtiger Sohn war. Aber das wusste Riley ja nicht, also war für ihn und auch für Logan, der mich wieder so verwirrt ansah, nichts Schlimmes oder gar Ungewöhnliches daran.
»Und warum bist du hier, Logan? Ally brauchte dafür ja wohl keine Begleitperson, oder?«
Riley lehnte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete Logan von oben bis unten. »Nein, Ally hatte noch ein anderes Anliegen.«
Danke, Logan, dass du mir dafür den Vortritt gewährst! Wie kam das denn jetzt bitte rüber? Jetzt, wo Riley und ich uns vertragen hatten?
»Ähm, ich wollte fragen, ob Logan nicht auch zu deiner Party kommen könnte?«
»Klar, ich hab dir doch eine Einladung geschickt? Obwohl, nein, warte, ich habe Ethan glaube ich gesagt, er soll dir Bescheid sagen. Wahrscheinlich hat er dich noch nicht getroffen. Das war nämlich erst heute Morgen.«
»Na, dann. Cool, danke«, meinte Logan und grinste. Ich jedoch war nicht gut gelaunt. Bei dem Klang von Ethans Name, hatte sich mein Magen gefährlich zusammen gezogen. Ich musste den lieben, der dafür bestimmt war den zu töten, den ich eigentlich über alles liebte.
Ich versuchte meine Mundwinkel nach oben zu ziehen, aber jedes Mal kam es mir falsch vor und meine Augen sahen sowieso nur träge geradeaus. Stille drängte sich in den Raum und jeder von uns hing seinen Gedanken hinterher, starrte blind vor sich hin und man hörte nur unser Einatmen, bis ich mich geräuschvoll auf dem Bett anders hinsetzte und Riley einen Schritt auf mich zu machte. Irgendetwas war komisch an dieser Decke, nicht nur das Owen sie ihm einfach so geschenkt hatte, sondern, dass Riley, immer wenn das Thema darauf gelenkt wurde, merkwürdig reagierte.
Ich hob die Hand und legte sie auf die Mitte der Decke, mit den Augen auf Rileys Gesicht. Ich presste die Hand auf die Decke, drückte immer tiefer und quiekte erschrocken auf, als die Decke leicht feucht wurde. Ich besah mir meine Hand und stellte winzige Blutstellen fest. Riley sah mich scharf an und nickte zu Logan, der auf den Teppich starrte.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Sollte ich Angst haben? Auf wessen Seite stand ich? Ich blickte zwischen Logan und Riley hin und her. Wem konnte ich mehr vertrauen?
Riley.
Ich legte meine Hand auf meine Jeans und rieb die kaum sichtbaren Flecken daran ab. Erst im Nachhinein ekelte ich mich darüber und fragte mich, wessen Blut das war. Auf wessen Blut ich saß. Wie das Blut auf Rileys Bett gekommen war.
»Wollen wir jetzt den ganzen Tag schweigen? Ich würde nämlich gerne noch ein bisschen meine Party vorbereiten«, warf Riley ein und stieß sich vom Schreibtisch ab. Logan stand auf und klopfte Riley freundschaftlich auf die Schulter. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht sogar darüber gelacht, da Logan viel kleiner war als Riley.
»Wir halten dich schon nicht länger auf.« Logan drehte sich zu mir. »Kommst du?«
Ich schluckte. Nein, ich würde jetzt nicht gehen. Riley war mir noch eine Erklärung schuldig, vor der ich mich allerdings auch wieder sträubte. Am liebsten würde ich ja sowieso ein-fach irgendwo anders hinziehen, ein anderes Leben leben, ohne Märchen.
Aber da ich nun mal nicht einfach wechseln

kann, will ich auch alles wissen. Logan sah zwischen mir und Riley hin und her, dann zuckte er die Achseln, verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Bis wir unten hörten, wie Owen Logan Auf Wiedersehen sagte und die Tür schloss, blieb die Tür offen, dann ging Riley zur Tür, stellte sich an den Treppenrand und sagte etwas zu seinem Vater. Dann hörte ich die schweren Schritte von Owen. Schließlich tauchten beide wieder im Zimmer auf. Okay, gut, dann war Owen eben dabei.
Ähm?
»Ally.«
»Owen«, sagte ich in seinem Tonfall und zog kurz die Mundwinkel nach oben, um ihm zu zeigen, dass er unerwünscht war. Was machte er hier? Ich wollte doch gerade ein wichtiges, intimes Gespräch mit Riley führen. Unter anderem vielleicht auch noch mal ein bisschen wegen Ethan jammern.
»So, Dad, dann erklär mal bitte, was das Blut auf meinem Bett zu bedeuten hat.«
Ich sprang von der Bettkante auf und mir schossen tausend Möglichkeiten durch den Kopf. Wenn nur Owen wusste, wie es dahin gekommen war, dann konnte das alles heißen. Schließlich war er der Teufel, der seine Spielchen

mit den Menschen spielte. Der Teufel, dem ich ohne Zweifel auch ei-nen Mord anhängen würde. Gerne hätte ich mich an Rileys Arm geklammert, aber das war wiederum schwach. Und ich wollte ja schließlich ebenbürtig mit Owen werden. Zwar konnte er meine Gedanken lesen, und wusste, dass ich eigentlich nicht so stark war, wie ich versuchte zu sein, aber denken und tun war immer noch ein Unterschied.
»Los, Dad.«
Owen sah mir direkt in die Augen und beachtete seinen Sohn gar nicht erst. Deine Schutzaktion scheint sehr schwach zu sein.


Was?
Tu nicht unwissend, wenn ich genau weiß, was du machst. Du versuchst Riley vor seinem Schicksal zu bewahren. Auch wenn ich zuerst die größte Bedrohung für ihn bin, heißt das nicht, dass ich die einzige bin.


Ich war gefangen in den schwarzen, schmalen Augen. Gefangen in seinen Worten. Natürlich war Riley auch anderen Gefahren ausgesetzt, wie Krankheiten, Autounfällen und all dem anderen Zeug, aber etwas daran, wie Owen das gesagt hatte, meinte er nicht den alltäglichen Kram. Er meinte Dinge, die nur wir beide kannten, von denen Riley keine Ahnung hatte. Dinge aus der Hölle. Dinge wie … Furien.
Als ich darauf gekommen war, ließ Owen den Blick von mir und schweifte zum Bett. Er warf die Tagesdecke zurück und offenbarte eine große Blutlache, die das Spannbetttuch schon so gut wie es ging eingesogen hatte. Ich packte mit beiden Händen die Stuhllehne und schluckte die Übelkeit runter. So viel Blut, glaubte ich, hatte ich noch nie gesehen.
»Dad! Was ist das? Ist das ein schlechter Witz? Woher kommt das Blut! Sag’s mir! Jetzt!«
Riley schien richtig wütend auf Owen zu sein und ich war einfach nur angeekelt. Aber hinter Übelkeit versteckte sich ein anderes Gefühl. Angst. Jemand war hinter Riley her. Riley war in Gefahr. Und ich war so naiv zu glauben, ich könnte ihn beschützen. Beschützen vor übernatürlichen Dingen, die in der Hölle zu Hause waren. Ich blickte zu Riley. Musterte ihn von oben bis unten. Aber was wollten sie von ihm? Owen hatte nicht gerade begeistert gewirkt.
»Dad!«, brüllte Riley jetzt und man konnte das Zittern in seiner Stimme nicht überhören. Ich sah Owen an. Was wollte er Riley sagen? Wie konnte man sowas schon erklären? Und im nächsten Lidschlag war Owen vor Riley und schlug ihm ins Gesicht.
Ich kreischte auf und fiel vor Riley auf die Knie. Seine Nase blutete und er war bewusstlos. Hilflos versuchte ich das Blut aufzuhalten. Ich zog meine dünne Jacke aus und hielt sie unter seine Nase. »Sind Sie verrückt geworden? Was sollte die Scheiße?«
Owen kratzte sich am Hinterkopf und seufzte. »Ich wusste nicht, wie ich ihn sonst los werden sollte.«
Ich stand auf. Genervt. Wütend. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie gehen mir tierisch auf die Nerven. Ja, toll, Sie sind der Teufel. Uh, jetzt hab ich Angst«, motzte ich und ich wusste, dass das total sinnlos war, als ob er von mir eingeschüchtert werden würde, aber für den Moment tat es einfach gut, Owen mal anzuschreien. »Das Märchen hat noch nicht angefangen, also werden Sie gefälligst ihre dreckigen Finger von Riley lassen, verstanden? Und … nein«, ich hob die Arme und schüttelte den Kopf, »ich will gar

nicht wissen, wie das Blut dahin gekommen ist! Denn Ihre blöden Furien nerven mich ebenfalls. Schicken Sie sie einfach wieder dahin, wo sie herkommen. Ich weiß, Sie denken, Sie haben hier die Macht, aber ich bin immer noch diejenige, die hier das Sagen hat.« Und als ich es aussprach, wurde es mir bewusst. Ich, ja, ich war die, die das Märchen bestimmte. Sobald ich mich dafür entschied anzufangen, würde alles sich in Reih und Glied einfügen. »Verstehen Sie das? Ich habe das Sagen. Ich habe die Macht. Also hören Sie auf mit Ihren dummen Spielchen mir Angst einzujagen. Das ist nämlich total kindisch.«
Owen hatte meine Rede geduldig über sich ergehen lassen, aber jetzt, da ich fertig war, stöhnte er und tat so, als hätte ich gar nichts gesagt. Naja, ich hatte ja gewusst, dass es ihm überhaupt nichts ausmachen würde, aber das war immer noch besser, als dass er mich auslachte.
»Ally, das ist kein Spaß von mir. Wann kapierst du

das endlich? Ich weiß, dass wir auf anderen Seiten spielen und andere Ziele anstreben, aber ich glaube ich habe schon mal gesagt, dass ich dafür sorgen muss, dass alles schön in der Reihe bleibt. Ich muss dafür sorgen, dass keiner von euch umkommt, bevor du dich endlich deiner Bestimmung hingibst. Das ist anstrengender, als es sein sollte, aber das liegt daran, dass ich meine Unsterblichkeit nicht habe. Womit wir zum zweiten Punkt kämen. Ich habe meine Unsterblichkeit jetzt schon vor 800 Jahren verloren. Die Furien werden langsam aggressiv, da ich ihnen nicht erlauben kann, die Hölle zu verlassen, jetzt stehen alle unter Gottes Macht. Und auch all die Seelen.« Owen rüttelt mich an meinen Schultern durch. »Verstehst du das? Die Furien sind hinter Riley her, weil sie wissen, dass er ein Akt ist, aber sie verstehen die Abfolge nicht, sie kapieren nicht, dass du dich zuerst mit Dave zusammen tun musst. Das wäre eine Katastrophe.«
Als er fertig war, mich dramatisch ansah und man merkte, wie fiel es ihn kostete, uns am Leben zu lassen, da kitzelte es in meinen Wangen. Das Kitzeln wurde stärker, brachte mich zu einem belustigten Blick bis hin zu einem albernen Gekicher.
Verzweifelter Teufel sucht Hilfe bei siebzehn jährigem Teenager

, lautete die Schlagzeile in meinem Kopf.
Ich kniff Owen in die Wange und lachte noch mehr, als er zornig zurück schreckte. Ich blickte zum blutgetränkten Bett, klatschte in die Hände und lachte. Das Lachen trieb mir Tränen in die Augen. Ja, es tat gut Owen die Meinung zu sagen, aber ihn auszulachen, das war ein unbeschreibliches Gefühl.
Und jedes Mal, wenn ich glaubte, mich endlich beruhigen zu können, sah ich wieder in Owen wütendes Gesicht und ich prustete wieder los. Ja, man, es tat verdammt

gut darüber zu lachen. Die ganze Sache mit dem Märchen ins Lächerliche zu ziehen.
Aber Owen war trotzdem fähig dazu, mich mit einem Satz zu einem geschockten Schweigen zu bringen.
»Wenn du dich ausgelacht hast, hoffe ich, dass dir endlich klar wird, dass du nicht ewig für etwas kämpfen kannst, was nicht dein Schicksal ist.« Er grinste und ich hasste mich dafür, dass schon wieder er derjenige war, der der mächtigere von uns beiden war. »Was Dave angeht, du bist immer noch nicht über ihn hinweg und das weiß ich zu nützen.«



Kapitel 13 - Rileys Party





Ich war enttäuscht von mir selber. Ich dachte, ich wäre stärker, ich dachte ich wäre besser im Zusammenreißen. Besser im bluffen. Besser in allem, mit dem ich Owen demütigen könnte. Aber nein, ich war auch nur ein Mädchen von gerade mal siebzehn Jahren. Ein Mädchen, das dem Ganzen noch nicht gewachsen war. Ein Mädchen, das sich naiv in die Sache hereinstürzte, ohne zuerst drüber nachgedacht zu haben. Ein Mädchen, das krank davon wurde. Ein Mädchen, das zum ersten Mal so richtig verliebt war.
Ich kauerte unter der dicken Bettdecke und zwang mich dazu ja nicht die frische Luft darunter zu lassen. Atmete meinen eigenen Atem, krallte die Finger in die Matratze, hechelte, aufgrund des Sauerstoffmangels, weinte mir die Seele aus dem Leib und dachte nach.
Wieso hatte ich nicht einfach irgendetwas Schlagfertiges antworten können? Wieso hatte ich mich weggedreht und geweint? Wieso war ich nicht ausgerastet, als Owen anfing zu lachen? Wieso habe ich ihn nicht geschlagen, wie ich es in Gedanken am liebsten getan hätte? Warum habe ich das nicht getan?
Ich war schwach. Owen und ich waren wie ein Fuchs und ein Kaninchen. Ich hoppelte wie blind durch das Märchen und tappte immer wieder in die Falle von Owen. Dem Teufel. Dem größten Unheil, das man sich erdenken konnte. Ich konnte

nicht gewinnen. Ich würde es nicht schaffen. Nicht, weil ich bei dem Gedanken an Dave in Tränen ausbrach, sondern weil ich nicht die Macht, die Ausdauer, die Stärke dazu hatte.
Das munterte mich nicht unbedingt auf. Statt die Decke wegzuschlagen, aufzustehen und mein Leben mit dieser Erkenntnis weiterzuleben, heulte ich nur noch lauter und biss in den Stoff meiner Bettdecke. Schlug die Zähne so fest aufeinander, dass es weh tat und fühlte den Schmerz in meinem Kopf. Spürte die Gefahr, in der ich mich befand. Sah die Aufgabe, die ich hatte und die ich nicht bewerkstelligen konnte. Sah Riley tot auf dem Boden liegen, blickte auf Daves leeren Körper.
Ich drehte mich auf die andere Seite, drehte den Bildern den Rücken zu. Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich durfte nicht zulassen, dass Owen Riley und Dave umbrachte.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und merkte, dass sie schweißnass waren. Verdammt, ich

war die Drehbuchautorin hier. Ich

war der Regisseur.
Ich riss die Decke von meinem Kopf und ließ meinem Körper gar keine Zeit den Sauerstoff einzusaugen. Ich sprang aus meinem Bett und sah in den Spiegel, der daneben stand. Für einen kleinen Moment fühlte ich mich zurückgesetzt in die vielen Male, in denen ich in diesen Spiegel geblickt hatte.
Mir fiel das erste Date ein, wie ich in dem hellgrünen Glitzerkleid vor dem Spiegel gestanden hatte und so unglücklich gewesen war. Ich lächelte gequält. Meine Spiegelaugen sahen zurück in meine, drückten die Trauer, den Kummer und die Angst aus, die ich in mir fühlte. Ich wünschte mir den Tag zurück, an dem die einzige Sorge für mich das Kleid gewesen war. Wünschte, ich hätte einfach glücklich sein können, jemanden wie Riley heiraten zu können. Wünschte, und wusste im Inneren, dass es nie passieren würde. Zwar war ich die Hauptrolle in einer grotesken Märchengeschichte, aber in der Zeit reisen gehörte nicht zu meinen Aufgaben.
Das zweite Mal hatte ich nicht allein in den Spiegel gesehen. Da hatte ein wundervoller Junge mit schwarzen Haaren und so dunkelblauen Augen, wie am tiefsten Punkt des Meeres, gestanden. Ein Junge, der gesagt hatte, ich sei hübsch. Ein Junge, dessen Überleben von mir abhing. Ein Junge, der irgendwo in Mexiko weilte, während ich hier wie ein Kleinkind rumheulte. Ein Junge, der sein ganzes Leben dafür aufgegeben hatte, dass das Märchen gebrochen wurde.
Und da wurde mir klar, wie egoistisch ich war. Dave hatte das nicht nur für sich gemacht, er würde damit auch all die Menschenleben in den Generationen nach uns retten. Und das war mehr wert, als irgendeine Liebe.
Ich trat ganz nah an den Spiegel heran, starrte mich an, verzog den Mund zu einem harten Strich. Meine Augen sahen aus, als hätte ich Tomatenscheiben auf sie gelegt. Ich musste einfach was tun. Und zwar jetzt.

»Ally?«
Riley musterte mich mit weit aufgerissenem Mund und Augen von oben bis unten. Früher hätte mich das nackt fühlen lassen, aber jetzt, in meinem neuen Ich, da fühlte ich mich einfach nur gut. Riley lachte und pfiff dann durch die Zähne.
»Bei so einem Auftritt kann ich dir verzeihen, dass du die vorletzte bist.«
Dass ich die vorletzte war, würde ich nicht sagen, denn Rileys Haus war gerammelt voll. Mit dem kurzen Blick, den ich über die Menge schweifen ließ, ließ mich erkennen, dass ich wahrscheinlich kaum einen davon kannte. Und deshalb glaubte ich auch, dass diese vielen unbekannten Leute nicht alleine zur Party kamen und gleich noch eine weitere Horde Partyleute vor Rileys Tür standen.
Riley bat mich herein und schloss hinter uns die Tür. Das Klacken von meinen hohen Schuhen hörte ich durch das Brummen der Musik nicht. Jetzt war Riley nur noch ein paar Zentimeter größer als ich. Wieder betrachtete er mich in vollem Genuss.
»Wow«, schrie er gegen die Musik an. »Wie kommst du zum dem

Style? Wie nennst du das? Heiße Rockerbraut?«
Mein Name dafür war eigentlich eher Teufeleliminierung

, aber da das etwas fragwürdig klingen würde, nickte ich bloß und knurrte wie ein Tiger.
Riley legte eine Hand an meinen Unterrücken und führte mich hoch in sein Zimmer. Auf der Treppe achtete ich darauf, dass mein kurzes, schwarzes, enges Kleid ja nicht über meinen Hintern rutschte. Denn auch, wenn ich klasse aussah, ich war solche Outfits überhaupt nicht gewöhnt. Ich hatte mich recht schnell für diesen Auftritt entschieden und konnte deshalb in den vielen Tagen vor der Party, die ich noch hatte, üben in den hohen Pumps zu laufen. Treppen hatte ich allerdings vergessen.
»Soll ich dir vielleicht helfen?«
Ich drehte mich um und blickte in ein geschocktes Gesicht. Logan stand in einem coolen roten Hemd und einer schwarzen Jeans vor mir. Seine Haare waren weich und schienen goldig in dem orangenen Licht. Am Hals trug er eine lederne Kreuzkette, die gut zu ihm passte. Um sein Handgelenk war ein Lederband gebunden, was seinen Halsschmuck vervollständigte. Ich hätte nicht gedacht, dass Logan auf Partys so gut aussehen konnte.
»Ally? Sehe ich richtig? Bist du das?«
Riley hatte bemerkt, dass ich nicht mehr hinter ihm war und tauchte jetzt an meiner Seite auf. Er grinste Logan an und meinte: »Unsere Ally hat wohl Lust gehabt von süß auf sexy zu wechseln.«
»Gefällt mir«, sagte er und musterte mich eindringlich von unten nach oben und diesmal ging es mir unter die Haut. Würde ich jetzt von allen so betrachtet werden? Was würde Dave sagen, wenn er mich so sehen könnte? Würde er mich auch, wie Riley sagte, sexy finden? Am liebsten hätte ich geseufzt, aber das war in unserer Unterhaltung nicht gerade passend. »Bist du schon vergeben heute Abend, oder stehst du noch frei?«
Nein, heute Abend war ich nicht frei, denn heute Abend war ich reserviert. Reserviert für eine ganz besondere Person. Ich lächelte. Mein Outfit war erst der Anfang. Meine Begleitung heute Abend war niemand anderes, als der anmutige Sohn des Teufels.
Würde ich das jemals laut sagen, würden mich alle normalen Menschen auslachen.
»Nein, ich hab da ein gewisses Ziel«, sagte ich, legte aber auch ein wenig Unsicherheit, Traurigkeit mit in meine Stimme, damit Riley direkt wusste, von dem ich redete.
»Und wer ist dieser Glückliche?«
Ich schielte über meine Schulter zu Riley und er spannte sich an. Gut, er hatte verstanden. »Ethan.«
Logans grinsendes Gesicht wurde mit einem Augenschlag schlaff. Sein Mund war leicht geöffnet und er starrte mich an. Dann blickte er kurz zu Riley, wahrscheinlich um sich Bestäti-gung dafür zu suchen, was er gerade gehört hatte. War es denn so abwegig, dass ich mich in Ethan verlieben könnte? Vielleicht war das aber gar nicht mal so schlecht, dann würde hoffentlich keiner auf meinen Plan kommen, außer Owen. Aber was könnte Owen schon tun? Seinen Sohn warnen? Vielleicht verliebte sich der Teufelssohn ja wirklich in mich. Ich schmunzelte. Die unwiderrufliche Liebe zwischen dem bösen Teufelssohn und dem schutzlosen Menschenmädchen.


»Ethan? Der Ethan?«
»Kommt mit nach oben, hier unten ist es so laut und voll. Mein Zimmer habe ich für die Ehrengäste reserviert.«
Logan tappte hinter uns her und sah nachdenklich auf den Boden. Der Schock über mein Vorhaben schien ihm ins Gesicht geschrieben, ich wusste nur nicht, wieso. Ich dachte daran, welche Rolle er hatte. Er war mein Beschützer.
Ich riss die Augen auf und musste mich am Geländer festhalten, um nicht aus den hohen Schuhen zu kippen.
Er war mein Beschützer. Er sollte mich vor dem Teufelssohn und Owen beschützen. Vielleicht hatte er ja so eine Art siebten Sinn? Vielleicht erkannte er die Gefahr auch und er wusste, dass Ethan der Teufelssohn war. Er machte sich Sorgen. Oder? Theoretisch könnte das sein.
Der Teufelssohn sollte die Prinzessin entführen. Hatte Logan Angst, dass ich nicht mehr bei Sinnen war und Ethan mich schon eingenommen hatte? Ich dachte an den ersten Abend mit den Jungs zurück, als Logan Ethan klar machen wollte, dass ich ihm gehörte. Hatte Logan da schon die Gefahr in Ethan gespürt? Hatte er mich nur schon von ihm fernhalten wollen? Wieso aber hatten sie dann Ethan geschickt, als wir uns an dem Tag nach der Nacht mit Dave treffen wollten? Hatte Logan da vielleicht Angst gehabt, aber nichts unternehmen können? Dave hatte gelogen, als ich Angst bekam. Hatte er bemerkt, wie ich Ethan immer angesehen hatte?
Am liebsten wäre ich heim gerannt, hätte mich zusammengerollt und geweint, aber das konnte ich nicht tun, ich konnte nicht schon wieder den Plan scheitern lassen. Sie wollten mich immer nur beschützen. Machte ich mit dem heutigen Abend ihre Versuche kaputt? Nein, ich versuchte Riley und Dave zu retten.
Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich machte mir einfach immer zu viele Gedanken. Die Idee war gut, aber ich wünschte, ich könnte mich jemandem anvertrauen, zum Beispiel Josh. Ich hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Beinahe hätte ich Riley gefragt, ob er auch kam, doch Logan hatte mich im letzten Moment abgelenkt und ich war ihm sehr dankbar dafür.
»Sag mal, hast du schon was von Dave gehört?«, flüsterte er so leise, dass Riley es vor uns nicht hören konnte. Und schon wieder. Bitte, lass mich jetzt weinen können.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und schloss zu Riley auf. Riley kannte Dave nur als den Unbekannten auf dem Schulhof und Logan war ein guter Freund von Dave. Wenn ich in der Nähe von Riley war, musste ich nicht so oft an ihn denken, und das war besser so.
Rileys Zimmer war tatsächlich fast leer. Nur zwei Jungen und ein Mädchen saßen schon auf dem kleinen Sofa gegenüber des Fernsehers, der neben dem Bett stand.
»Also ich wollte mich lieber nur hier oben aufhalten. Die ganzen Leute da unten gehen mir ein wenig auf die Nerven.«
Ich drehte Riley an der Schulter herum. »Was?! Und wer sind die dann alle?«
Riley zuckte grinsend die Schultern. »Keine Ahnung.«
Toll. Na, der war mir ja einer. Mein Geburtstag lag im Winter und war noch ein wenig entfernt, aber die letzten Jahre waren meine Geburtstagspartys, aufgrund des Mangels meines Freundeskreises, eher klein ausgefallen. Riley ging zu dem Trio auf der Couch und stellte seine Freunde vor. Erst als ich näher hinblickte, erkannte ich, dass das Mädchen Jenny war.
»Jenny!«, sagte ich, erleichtert, dass sich Riley und sie doch noch verstanden. »Schön dich wieder zu sehen!«
Sie lächelte. »Hi, Ally. Du siehst gut aus.«
Ihre Stimme klang fremd, kein englischer Accent mehr. Ich lächelte dennoch, um meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen.
»Wie du wahrscheinlich weißt, das ist Jenny und das sind Blue und Hayden.«
»Blue?«, sprach Logan die Frage in meinem Kopf aus.
»Eigentlich heiße ich Michael, aber mit Nachnamen Blue.«
Logan nickte lachend und all die Sorgen waren aus seinem Gesicht gestrichen, zum Glück. So mochte ich ihn viel lieber, als den idiotischen Liebesamateur.
Blue und Hayden waren wahrscheinlich gute Freunde von Riley, denn andauernd alberten die drei rum und erzählten von Dingen, die sie zu dritt erlebt hatten. Es dauerte nicht lange, da hatte ich die beiden schon in mein Herz geschlossen, vor allem, weil sie nicht diese unglaubliche Attraktivität hatten, wie die anderen Jungs, die ich kannte. Bei ihnen fiel mir direkt die Sympathie ein. Blue war ein etwas kräftiger Junge und sah aus wie ein kleiner Teddybär. Seine kurzen, stacheligen hellbraunen Haare ließen aber auch an einen Igel denken. Hayden dagegen war das genaue Gegenteil. Er war groß, dünn und schlaksig. Er hatte orange-rote Haare, die ihm immer wieder in sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht fielen. Er hatte ein breites Grinsen und erinnerte mich ein wenig an Logan an unserem ersten Treffen, aber Hayden war nicht so auf Liebe eingestellt, nein, ich glaubte eher, dass er ein Mensch war, der einfach nur Spaß haben wollte und ein wirklich guter Freund war.
Ich war froh, dass die beiden mich sofort in alles einweihten, mir Geheimnisse über Riley hinter seinem Rücken erzählten und mit mir lachten. Ich fühlte mich für einen Moment wieder normal, als wären all diese freundlichen Menschen in meiner Klasse und all das Dunkle im Hintergrund würde es gar nicht geben. Aber dann sah ich wieder auf mein schwarzes Kleid, dachte an seinen Namen und hätte am liebsten wieder geweint. Denn das hier war kein gemütlicher Abend mit Freunden. Das hier war der Anfang meiner bisher größten Idee. Meines Beitrags für den Bruch des Märchens.
Und ich war gerade mal eine Stunde da, da fing mein kleiner Alptraum schon an.
»Ally, reich‘ mir mal bitte die Trauben«, rief Hayden über die laute Musik in Rileys Zimmer hinweg und ich griff hinter mich, um ihm die Schüssel zu geben. »Danke.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck von der Bowle, die Jenny mitgebracht hatte. Jenny und ich verstanden uns jetzt schon richtig gut und erst als er reinkam, dachte ich an Owen. Erst als er den Raum betrat, kam mir das Märchen wieder in den Sinn. Ich blickte zu der blauen Tagesdecke, dachte an das Blut und sah dann wieder zu Jenny. Sie war eine Furie. Sie war hinter Riley her. Aber bis jetzt war noch nichts passiert und jetzt musste ich mich erst mal um ihn kümmern.
Riley stand auf, sobald die Tür aufging und klopfte Ethan zur Begrüßung auf die Schulter. Er stellte Hayden und Blue vor und Ethan nickte, sah aber die ganze Zeit über mich an. Ich saß auf Rileys Sofa, die Beine übereinander geschlagen, das Cocktailglas in der Hand, die Haare offen auf dem Rücken. Auf beiden Seiten von mir war besetzt, links Blue, rechts Logan.
Ethan musterte mein Outfit und sein Mund verzog sich zu einem leichten Grinsen. Ganz ruhig, Ally, das war doch schließlich das, was du gewollt hast. Jetzt musstest du dich nur noch betrunken machen und ihn rumkriegen.
»Hi«, sagten Blue und Hayden zusammen.
»Hi«, antwortete Ethan und wendete endlich den Blick von mir zu den beiden Jungs. Hayden saß auf dem Sitzsack neben Blue.
»Willst du Bowle, Ethan?«, fragte Jenny, hüpfte um den kleinen Couchtisch und zu dem Tisch mit den Süßigkeiten, den Chips und den Getränken.
»Ist da was drin?«
»Ja? Erdbeeren, Himbeeren-«
»Ich glaube, Ethan meint was anderes«, sagte Blue lachend und lehnte sich im Sofa zurück. Ich merkte erst jetzt, dass ich, seit Ethan da war, total versteinert auf dem Sofa saß. Ich löste meine Zähne, die ich die ganze Zeit aufeinander gepresst hatte, stellte das nun warmgewordene Glas auf den Tisch und lockerte meine Haltung.
»Nein, meine Mum hat darauf geachtet, dass ich ja nichts Böses rein mache.«
Ethan zuckte mit den Schultern, holte aus seiner Jackentasche eine kleine Flasche Wodka und schüttete sie, ohne jemanden nach Erlaubnis zu fragen, in die große Schüssel der Bowle. Jenny kicherte aufgeregt und rührte den Wodka in dem roten Getränk unter.
»So macht man eine Party«, meinte Ethan und trank die letzten Tropfen aus der Flasche. Gierig sah ich ihn an. Ich wollte auch Alkohol trinken. Ich hatte noch nie so wirklich viel getrunken. Wenn ich mich recht erinnerte war der Schnaps letztens in der Pizzeria das erste Mal gewesen, dass ich etwas Härteres getrunken hatte.
Ethan stellte die Flasche auf den Tisch, drückte sich an Jen-ny vorbei auf mich zu. »Mach mal Platz.«
»Such dir doch einen andren Platz, Kumpel.«
Ethans Gesicht wurde hart und als er sagte: »Muss ich handlich werden, um dir klar zu machen, dass das hier meine Freundin ist?« verging Blue schnell das Lachen und er erhob sich.
Ethan ließ sich neben mir plumpsen und grinste Blue an, der nun etwas verängstigt zu uns blickte. »Alles nicht so ernst nehmen, was er sagt«, meinte Riley, klopfte Blue auf die Schultern und sah Ethan ernst an.
Ethan lachte bloß und legte den Arm über die Lehne hinter meinem Kopf. Ich war zu perplex, um überhaupt irgendwie ein Urteil über diese Situation zu haben. Einerseits fand ich es gemein von Ethan, wie er mit Blue umging, andererseits fand ich es süß und irgendwie schmeichelnd und wiederum andererseits fand ich es bedrängend. Aber es war ein guter Anfangsschritt für mein Vorhaben und dafür war ich Ethan dankbar. Allerdings gab es da noch die Frage, ob er jetzt glaubte, dass der Kuss letztens der Anfang einer Beziehung gewesen war? Aber eigentlich konnte das nicht sein, denn er hatte sich in den Tagen kein einziges Mal gemeldet und das machte man doch als Freund, oder?
»Hi«, sagte ich leise und blickte ihn von der Seite her an. Ethan lächelte, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese Geste war so intim, dass man echt meinen könnte, wie wären schon ein paar Monate zusammen. Und trotzdem, ich war extrem glücklich. Ich muss auch dazu sagen, dass man, egal wer oder was Ethan war, bei so einem Jungen einfach nicht anders konnte, als sich gut bei sowas zu fühlen. Ich war eben auch nur ein Teenager.
»Wir haben lange nichts voneinander gehört«, meinte er und ließ seine Finger an meiner Schläfe liegen. »Das hat mich ein wenig nachdenklich gemacht … immerhin hatten wir ja einen … naja wie soll ich sagen, sehr nahen

Abschied.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jenny uns beobachtete, wie sie überlegte, was zwischen mir und Riley war. Also hatte ich einen vielleicht nicht unbedingt guten Einfall.
Ich küsste Ethan auf den Mund.
Während des Kusses hätte ich am liebsten darüber gelacht. Wäre das hier ein Kinofilm, hätte ich das sicherlich. Das war ja mal total beschissen!
Was noch dazu kam: Obwohl die Musik noch lief, und das nicht gerade leise, schien es, als wäre der ganze Raum verstummt. Als ich mich von Ethan löste, lächelte er mich schief an. Ich sah zu den anderen und wäre gerne im Erdboden verschwunden. Hayden und Blue starrten Ethan an, musterten ihn und kniffen beide die Augen zusammen. Sähen sie nicht so verschieden aus, könnte man meinen, die beiden wären Zwillinge. Jenny lächelte leicht und schielte zu Riley. Dieser sah mich besorgt und Ethan wütend an. Und von Logan will ich gar nicht anfangen. Seine Augen schienen auf die doppelte Größe angewachsen zu sein und seine Fingerknöchel waren weiß, so sehr hatte er sie um die Tischplatte geklammert.
Ich schluckte. Bitte, Logan, denke nichts Falsches. Natürlich wollte ich, dass er und Josh glaubten, dass ich wirklich in Ethan war und Dave vergessen hatte, aber ich wollte nicht, dass sie glaubten, dass Ethan jetzt eine Bedrohung war und mich verführte. Und insgeheim hoffte ich auch, dass es letzte-res nicht war.
»Hey, Dickerchen, noch nie zwei Menschen küssen sehen?«
»Ethan«, flüsterte ich scharf, stand vom Sofa auf und merkte im letzten Moment noch, wie Riley mich mit zusammen gekniffenen Augen musterte. Ich jedoch versuchte es zu ignorieren. Ich weiß, ich müsste eigentlich fröhlich sein, denn eigentlich hatte ich ja die leidende Verliebte gespielt und jetzt hatte ich ja sozusagen, was ich wollte, aber ich konnte einfach nicht fröhlich sein und es nicht mal nur vorspielen.
Ich stellte mich neben Jenny an den Tisch und schüttete mir ein großes Glas voll mit Bowle, kippte es fast in Ex runter, spürte schon den Alkohol in meinem Blut, schüttete aber nochmal nach und verschluckte mich fast daran, so viel hatte ich im Mund. Als ich wieder zu dem Schöpfer greifen wollte, packte jemand meine Hand und ich sah Riley neben mir.
»Ally, das reicht.«
Ich war schon leicht angetrunken durch die beiden Gläser und da ich das Betrunken sein nicht gewöhnt war, antwortete ich gereizt: »Lass mich, das ist eine Party

und auf Partys trinkt man, klar?«
Ich schüttelte seine Hand ab und hörte ein heiseres Kichern im Hintergrund, während ich mein Glas ein drittes Mal füllte.
»Ich hoffe, du hast sie wenigstens im Blick«, sagte Riley zu Ethan, woraufhin Ethan nur noch mehr lachte. Ich kippte die Flüssigkeit in meinen Mund und fing an zu kichern. Dieses warme Gefühl war unglaublich. Ich stellte zittrig das Glas weg und stolperte zur Couch. Ethan sprang auf und packte mich fest an den Schultern. Er führte mich zur Tür und flüsterte mir irgendwelche süßen Worte ins Ohr, die ich aber kaum wahr nahm.
»Wir sind unten tanzen, wenn niemand was dagegen hat.«
Riley öffnete den Mund zum Widerspruch, ließ es dann aber bleiben und Ethan verschwand mit mir über die Treppe runter in das plötzlich rappelvolle Wohnzimmer. Die Musik dröhnte in meinen Ohren und ich blickte mich nach Alkohol um, mit dem ich die laute Musik ausblenden könnte. Ein Junge ganz in der Nähe hatte ein Glas in der Hand, in dem eine durchsichtige Flüssigkeit schimmerte, eindeutig Wodka. Ich wankte auf ihn zu, nahm ihm das Glas aus der Hand, trank es aus und drückte es ihm kichernd wieder in die Hand.
Ethan legte seine warmen Arme um meine Taille und führte mich weiter ins Wohnzimmer, wo die Musik noch lauter hämmerte. Kein Wunder, dass Riley lieber oben in seinem Zimmer blieb, aber da stellte man sich natürlich die Frage, warum er die ganzen Leute überhaupt rein gelassen hatte.
Aber ich versuchte mir einfach mal keine Sorgen zu machen und das schaffte ich auch ziemlich schnell, sobald Ethan mich zu ihm umgedreht hatte, seine Stirn an meine drückte und mich angrinste. Ich war gefangen von seinem Körper, gefangen von seinen dunklen Augen, umgeben von seinem scharfen Geruch, seine Arme lagen an meinen Hüften und ich spürte, wie er mich langsam dazu brachte auf die Musik zu tanzen. Ich fühlte mich wie ein Roboter, der Ethans Befehlen folgte. Ich starrte die ganze Zeit über nur in seine fast schwar-zen Augen und genoss seine leicht drückenden Hände auf meinem Körper. Als ein langsames Lied anfing – keine Ahnung, wo die Musik überhaupt her kam –, löste Ethan unsere Gesichter und wir stellten uns enger. Ich legte meine Wange an sein graues T-Shirt und schloss die Augen. Eine seiner Hände zeichnete ein undefinierbares Muster auf meinem Rücken, die andere lag in meinem Nacken und knautschte meine Haare. Ich hörte seinen Herzschlag, spürte seine Hitze. Es war einer dieser Momente, die man am liebsten einfach stoppen würde. Ich würde sofort einwilligen, wenn mir jemand die Chance geben würde, für immer in diesem Moment zu leben, diesen Moment nie enden lassen zu können.
Aber er endete und zwar so abrupt, dass ich zusammenzuckte, als würde ich aus einem Traum aufwachen. Die Musik wurde einfach umgeschaltet und ein typischer Diskosong wurde gespielt. Ich blickte zu Ethan empor und er nickte in Richtung Esstisch. Er hob mich auf die Tischkante und stellte sich vor mich. Hinter mir auf dem Tisch standen zwei Gläser mit irgendeinem alkoholischen Getränk. Ethan packte die beiden Gläser und trank das eine mit einem Schluck leer. Dann beugte er sich ganz nah an mein Gesicht heran und schrie gegen die Musik an. »Warst du eigentlich schon mal so richtig blau?«
»Blau?«, kicherte ich und hielt mir die Hand vor den Mund. »Nein, aber ich werde schnell rot, wenn ich nervös bin … weißt du so rot«, – Kicher –, »wie meine Haare.«
Ethan verdrehte die Augen und stellte mein Glas weg, wahrscheinlich merkte er, dass ich schon genug hatte. Mit einem Schmollmund sah ich dem braunen Getränk nach. Ethan packte mein Kinn mit seinen zwei Fingern und hinterließ dort zwei brennende Punkte. »Nein, ich meine, ob du schon mal so richtig betrunken warst«, wiederholte er.
Ich schüttelte, noch immer die Unterlippe zum Schmollmund verzogen, den Kopf. »Du?«
»So richtig betrunken, dass du vielleicht Dinge tust, die du später vielleicht bereust? Dinge, an die du dich nicht mehr erinnern kannst?«
Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, dass etwas erklärt bekam, aber ich verstand ihn gar nicht mehr. Er hob die Augenbrauen und ich kicherte. Schwach fiel mir ein, warum ich so sexy angezogen war. Ganz weit hinten in meinem Kopf schwirrte mein Vorhaben umher und ich realisierte seine Worte. Dinge, die ich bereuen würde. Ich schielte zu dem Glas, beugte mich unter Ethans Arm hinweg und trank auch das Glas leer. Wieder gab es mir in den ersten Sekunden einen wunderschönen Kick und ich hätte beinahe mein Vorhaben wieder vergessen, aber ich hielt den Gedanken fest, schlang die Arme um Ethans Hals und versuchte so verführerisch zu klingen, wie ich konnte.
»Nein, aber für alles gibt es ein erstes Mal, stimmt’s?« Ethan nickte schmunzelnd. »Und heute Abend will ich nicht die süße Ally sein. Heute Abend will ich ein böses Mädchen sein.«
Ethan lachte und sah mir tief in die Augen. »Sicher, dass du dich mit mir einlassen willst? Ich kann für nichts mehr garantieren, wenn ich voll bin.«
»Hundertprozentig«, lallte ich und er ließ mich für ein paar Sekunden alleine sitzen. Ich beobachte, wie er zu einer Glasvitrine ging, sich eine Flasche rausnahm, zwei kräftige Schlu-cke nahm, sie wieder wegstellte und zu mir zurückkehrte. Er legte seine Hände an meine Taille und stellte sich zwischen meine Beine.
»Wirklich sicher?«, hauchte er und ich roch den Alkohol aus seinem Mund, den er sich gerade erst zu geführt hatte.
Ich nickte, packte sein Gesicht, zog es noch näher an meines heran und war im nächsten Moment wie ausgeknockt als seine Lippen meine berührten.
Eine Zeit lang verweilte sein Mund auf meinem, bis er schließlich meinen Hals runter wanderte, mein Schüsselbein streifte und seine Hände sachte an meinen Oberarmen runterrutschten. Er kam wieder hoch und sah mich an. In seinen dunklen Augen waren Flammen zu erkennen.
»Wollen wir uns nicht einen ruhigeren Ort suchen?«
Ich war so benommen von seinen Küssen, dass ich mich gerade so dazu zwingen konnte, zu nicken. Er führte mich schnell raus und stolperte in ein Schlafzimmer im unteren Geschoss. Ich dachte an Owen, verwarf aber schnell den Gedanken, als Ethan die Tür schloss, mich dagegen drückte und wieder anfing mich zu küssen. Sein Männerparfüm drang mir unentwegt in die Nase, raubte mir den Atem. Mein Herz pochte so schnell, dass ich Angst hatte, es könnte mir aus der Brust springen.
Langsam wanderten Ethans Hände an meiner Taille runter, auf meine Hüfte, an den Saum meines Kleides. Zwei seiner Finger klemmten sich unter den Gummi des Kleides und versuchten es hochzuziehen. Im letzten Moment, bevor der Rand des Kleides meine Hüftknochen erreichen konnte, drückte ich Ethans Hand nach unten. Mein Verstand war noch nicht ganz klar, aber ich wusste, dass ich nicht mit Ethan in Owens Schlafzimmer schlafen wollte.
Ethan löste sich von mir und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Alles klar?«
Ich sah zu Boden. Dass das so schnell gehen konnte, hätte ich nicht geahnt. Ich dachte, ich müsste erst mal mit ihm flirten, dass er überhaupt mit mir vertraut redet, aber nicht, dass ich gleich mit ihm im Bett landen würde.
Bevor jemand noch etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgestoßen und ich flog in Ethans Arme. Ein Junge und ein Mädchen, beide betrunken und das Mädchen schon halb nackt, stürmten herein und schmissen sich aufs Bett. Sie bemerkten uns gar nicht und wir wurden Zeuge, wie die beiden sich die Kleider vom Leib rissen. Ethan stellte mich wieder gerade hin und grinste. Ich musste ebenfalls lachen.
»So hätten wir auch enden können«, flüsterte Ethan in mein Ohr und ich wurde rot. Nein, das wollte ich nicht. Noch nicht. Ich hatte ja gerade mal akzeptiert, dass ich Ethan lieben musste.
Ich packte seine Hand und zog ihn schnell aus Owens Schlafzimmer, hoffentlich würde Owen das nie wissen, aber durch meine Gedanken wusste er das wahrscheinlich schon lange. Ich riss die Augen auf. Wenn ich mit Ethan heute weiter gehen würde, würde Owen das wissen. Er würde die Erinnerung genauso haben, wie ich.
Ethan drehte mich um und küsste mich so intensiv, dass meine Beine nachkippten, da mein Kopf bei so einem Angriff nicht mithalten konnte. Ethan fing mich mit den Händen um meine Hüfte auf und lachte.
»Mach ich dich so nervös?«
Sein Gesicht war direkt über meinem und seine Augen wa-ren fast geschlossen, als er zu mir hinab blickte. Ich schüttelte schnell den Kopf, merkte aber schon das Blut, dass mir sofort in den Kopf schoss.
»Ally? Ethan?«
Wir drehten uns zur Treppe und sahen, wie Logan zu uns kam. »Ward ihr tanzen?«
Sein Blick blieb an meinem Kleid hängen, dass noch immer ein wenig zu weit hoch geschoben war. Hastig zupfte ich es richtig und merkte, wie Ethan einen Arm um meine Schultern legte und mich an sich zog. »Ja, Froy. Wieso?«
»Nur so …«, murmelte Logan und blickte noch immer mich an. Ethan beachtete er fast gar nicht. Ahnte er, dass Ethan mich beinahe dazu gebracht hatte, dass ich mit ihm schlief? Machte er sich Sorgen? »Riley hat mich geschickt, er würde gerne mit dir reden.«
»Mit mir?«, fragte ich lallend und an meiner Stimme merkte ich erst, wie betrunken ich schon war, vor allem, weil die Frage vollkommen sinnlos war. Natürlich wollte er mit mir reden, wieso auch mit Ethan?
Logan nickte und verschwand im Wohnzimmer. Ich löste mich von Ethan, kickte meine Schuhe weg und sprang die Treppe hoch, wie erwartet folgte er mir.
Riley saß mit Blue, Hayden und Jenny in seinem Zimmer und war sich am unterhalten. Als wir reinkamen, war es sofort still und Riley musterte mich schnell. Dann stand er auf, pack-te mich am Arm und zerrte mich aus dem Raum in das Badezimmer neben uns. Er schloss hinter sich die Tür ab und legte seine Hände auf meine nackten Schultern.
»Geht es dir gut? Was haben Ethan und du unten gemacht? Was hat er gemacht?«
Ich machte mich kichernd los. »Was ist denn mit dir los?«
»Ally, du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mir Sorgen gemacht habe. Kannst du dich noch daran erinnern? Bedroht, erpresst gezwungen? Du hattest Angst, dass Ethan dich zu etwas zwingt, wozu du noch nicht bereit bist«, sagte Riley geschockt. »Ally, was wollte er mit dir unten?«
Ich weiß, dass das total süß von Riley war und ich eigent-lich dankbar sein sollte, dass er sich so Sorgen um mich macht, aber in dem Moment wollte ich Ethan verteidigen, ich wusste selbst nicht warum. »Okay, ja, er wollte mit mir in Owens Zimmer schlafen und ja, ich hatte nicht die Idee und ja ich hätte beinahe mitgemacht. Aber ich kann immer noch selbst auf mich aufpassen, Riley.«
Riley schüttelte verständnislos den Kopf. »Ally, du bist total zu!«
»Schön, dann bin ich eben total betrunken, na und? Man, Riley ich bin siebzehn! Ich bin jung!«
»Aber das heißt noch lange nicht, dass du mit dem nächst besten Typen in die Kiste steigen musst. Verdammt, Ally, wach doch mal auf! Du könntest eine tolle Beziehung haben. So wie du bist, könntest du jeden haben.«
Das gab mir einen Stich ins Herz, denn er log, auch wenn er das nicht wusste. Er log. Ich konnte keine tolle Beziehung ha-ben, da ich mit Dave, meiner wahren Liebe, nie zusammen sein werden kann. Also biss ich mir auf die Zähne und knurrte: »Und was ist, wenn ich Ethan haben will?«
»Er hat dich aber nicht verdient!«
»Du hast doch gar keine Ahnung von ihm! Du kennst ihn doch gar nicht, Riley!« Ich tapste über die Fliesen zur Tür und drehte den Schlüssel schon im Schloss. »Wenn du nicht willst, dass ich so betrunken wie ich bin, einen Fehler mit Ethan begehe, dann hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen, ob du so eine Party machst und uns beide einlädst, denn du wusstest genau, dass ich Ethan liebe.«
Damit verließ ich das Bad und stieß draußen auf dem Flur mit Ethan zusammen. »Was wollte er?«
»Ach, hat einen auf Seelenklempner gemacht«, murmelte ich eingebildet und verdrehte die Augen, genau in dem Moment, in dem Riley das Badezimmer ebenfalls verließ. Traurig sah er mich an, schüttelte wieder den Kopf, als er mich schon wieder in den Armen von Ethan sah, und warf Ethan einen harten Blick zu.
»Pass auf, was du tust«, sagte er und Ethan zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Ich warne dich, wehe du tust ihr weh.«
Riley knallte wütend die Tür hinter sich zu und wir standen allein in dem kalten Flur. Unter uns dröhnte die Musik und ich hörte aus Rileys Zimmer Stimmen. Ich glaube, dass sie ihn fragten, was los sei, aber er es nicht sagen wollte.
Was war ich nur für eine Freundin? Aber wofür tat ich das hier denn? Für sein Überleben. Und irgendwann wird er das erfahren und mir verzeihen.
»Und jetzt?«, flüsterte ich und erkundete mit meinen Lippen seinen heißen Hals. Ich fühlte sein Blut, das durch seine Hauptschlagader floss. Diese Bewegungen fühlten sich nicht mehr so eingeübt an. Plötzlich dachte ich nur noch an Dave. Würde er es gut finden, was ich hier tat? Wäre er vielleicht sogar stolz auf mich? Oder würde er sich ebenfalls Sorgen machen? Denn eigentlich warf ich mich in die offenen Arme der Gefahr und des Todes. Ich blickte Ethan in die dunklen, fast schwarzen Augen. Ja, er wollte meinen Tod, damit sein Vater wieder unsterblich wurde, damit er wieder zurück in die Hölle konnte. Und auf einmal fühlte ich mich wie eine Heldin. Ich wusste, dass ich das Richtige tat. Ich merkte, wie mir mein Leben immer unwichtiger wurde. Seit ich mein Schicksal kannte, lebte ich nur noch dafür, Riley und Dave zu retten. Und das war meine Aufgabe. Meine Pflicht. Und mein Schicksal war es, dass ich sterben würde. Okay, dann würde ich das tun, aber davor würde ich dafür sorgen, dass Riley und Dave überlebten.
Ich schluckte. Aber nein, da war keine Angst in mir. Entweder dämpfte der Alkohol dieses Gefühl, oder aber ich war so entschlossen, dass es nicht existierte. Sterben war bestimmt nicht schlimm, wenn man, wie ich, jetzt wusste, dass es einen Gott gab. Dann musste es auch ein Paradies geben. Aber wenn sterben nicht schlimm war, wieso wollte ich Riley und Dave dann davor bewahren?
Vielleicht weil sie eventuell in die Hölle kommen, wenn der Teufelssohn und der Teufel höchst selbst das Messer schwingen. Also lieber kein Risiko eingehen. Aber was war mit mir? Würde ich überhaupt zu Gott gehen? Oder würde ich auch in der Hölle landen, schließlich würde Owen mein Mörder sein. Würde er mich mitnehmen?
Jetzt hatte ich wirklich Angst. Angst, davor zu scheitern. Angst, davor mein ewiges Leben mit Owen verbringen zu müssen.
Ich sah auf die Holzdielen unter uns. Ja, ich hatte Angst. Ich hatte sogar sehr viel Angst, wenn ich mir mal genau über-legte, in welcher Situation ich eigentlich lebte, dass ich eigentlich ständig in Todesgefahr schwebte. Aber mein Entschluss Daves und Rileys Leben zu bewahren, war größer. Auch wenn dies mein eigenes kosten würde.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ethan und hob mein Gesicht mit seinen Fingern an. »Was hat Riley damit gemeint, ich würde dir weh tun?«
Ethan konnte sentimental sein? Mein Blick huschte überall hin, nur nicht in sein Gesicht. Was nun? Am besten sollte ich ihm meine Gefühle

offenbaren.
»Naja …«, flüsterte ich und versuchte mein Gesicht aus seinem Griff zu befreien. Spielte das nervöse Mädchen. »Ich habe mit ihm … über uns geredet.«
»Uns? Und was hast du so geredet?«
Ich bis mir auf die Lippe. »Naja … ich weiß nicht … das ist gerade nicht so leicht, sowas zu sagen.« Ich lachte leise. Ethan lächelte mich von oben herab an und schenkte mir einen ermutigenden Blick. War er überhaupt der Teufelssohn? Konnte jemand, der vom Teufel abstammte, überhaupt Gefühle haben? Liebe verspüren? »Ich hatte Angst, dass du nur mit mir spielst.«
»Aber die besteht nicht mehr, weil …?«
»Weil … du heute so anders zu mir warst …«
Jetzt lagen seine Handflächen zart auf meinen roten Wangen. »Wie anders?«
Man, wieso musste er denn die ganze Zeit so blöde Fragen stellen? »Ähm …«
»…so, dass ich dir das Gefühl gegeben habe, dass ich mich wirklich in dich verliebte habe?«
Öhm, ja, so könnte man es ausdrücken.

Wie konnte er sowas einfach so locker ausdrücken? Ich mein selbst jetzt, wo ich nur so tat konnte ich das nicht!
»Und was wäre, nur rein theoretisch …, wenn ich den selben Gedanken hätte?«
Mir brach sofort der Schweiß aus und ich fühlte mich, als hätte ein Lehrer mich beim Spicken erwischt. Meine Handflächen wurden nass und fingen an zu zittern. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Eine scharfe Stimme in meinem Kopf zischte: Wenn ich jetzt zu lange zögere, dann weiß er, dass ich nur spiele.
»Nein«, sagte ich brüchig und zwang mich ihn anzusehen, auch wenn es mir schwer fiel. Ich hatte noch nie jemanden direkt ins Gesicht gelogen. Bei Riley hatte ich auch entweder auf den Boden oder aufs Taschentuch geschaut. »Nein, wieso denkst du so etwas?«
»Ally, meinst du ich merke nicht, wie die anderen Jungen dich anblicken? Beziehungsweise, wie du reagierst, wenn Daves Name fällt?«
Und ich wusste, dass er jetzt darauf achtete, wie ich reagierte und ich wusste, dass ich jetzt keinen Fehler begehen durfte, aber ich konnte nicht anders. Ich musste schlucken und mich wegdrehen. Wie konnte ein Junge, den ich erst ein paar Wochen kannte, mich so zerbrechen? Ally, professionell bleiben!
»Naja … wie soll ich das sagen, ohne dass du es falsch verstehst«, fing ich an, obwohl ich noch gar keine Ahnung hatte, was ich sagen wollte. Ich war plötzlich viel zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, wieso ich den Alkohol kaum noch spürte. War ich eben nicht noch sturzbetrunken gewesen? »Ich liebe Dave nicht, ich meine ich habe ihn auch nicht geliebt … aber ich … es macht mich trotzdem fertig, dass er weg ist.« Ethan zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, ich verkrafte das Ganze mit dem Märchen einfach noch nicht.«
Ethan lachte. »Das Märchen. Siehst du, da haben wir doch schon den einfachsten, simpelsten Grund.« Ich verzog die Lip-pen zu einem unsicheren Strich. »Du bist die Prinzessin und er der Bauerssohn. Ally, du kannst gar nicht anders, als ihn lieben.«
Jetzt musste ich richtig handeln. »Aber ich will diesen Typ nicht lieben! Ich will nicht den lieben, der mein Schicksal vorschreibt! Ich will mit dir zusammen sein, ich will dich lieben! Ich liebe dich auch, aber im Hintergrund ist da immer dieses eigenartige, mechanische Gefühl für Dave. Ich will das mit dem Märchen nicht! Ich will dich!«, jammere ich und greife nach seinem Kragen. In Ethans Augen leuchteten wieder diese Flammen. Und obwohl es hart war, das einzugestehen, ein wenig Wahrheit steckte in meinen Worten schon. Ich wollte nicht den lieben, den ich musste, auch wenn ich Dave liebte und ich nicht gegen ihn sein konnte, weil ich ihn nun mal liebte, wollte ich es nicht. Ich hätte mich gerne ohne das Märchen in ihn verliebt.
»Wie kann ich sicher sein, dass du mich nicht anlügst?«, meinte Ethan und seine Nasenflügel blähten sich gefährlich auf.
Statt zu antworten, zog ich sein Gesicht zu mir heran und küsste ihn so leidenschaftlich, so innig ich konnte. Für einen Moment zögerte er, dann griff er in meinen Nacken und festig-te den Kuss mit seinen Lippen. Kurz löste er seine Lippen von meinen. »Ich wusste, dass du dich für mich entscheidest.«
»Wieso?«, meinte ich lächelnd und liebkoste sein Kinn.
»Ich hab nicht umsonst mit dir geredet nach der Pizzeria.«
Ach, ja. Ich erinnerte mich. Es gibt immer eine zweite Mög-lichkeit.

»Das hast du ganz schön geschickt eingefädelt.«
»Ich weiß«, hauchte Ethan und näherte seine Lippen wieder den meinen. Doch ich legte zwei Finger auf seine heißen Lippen. War seine Haut eigentlich überall heiß?
»Lass uns was trinken gehen. Irgendwie schwindet mein Alkohol.«
Ethan nickte und wir erschienen in Rileys Zimmer, die Hände hatte ich kurz davor gelöst. Wieder wurde alles still, aber dieses Mal wurde ich nicht gewaltsam heraus gezerrt. Nein, Riley beachtete mich nicht mal. Es tat mir weh, aber ich machte das für sein Überleben und dafür würde ich nicht nur mein Leben aufgeben. Ich ahnte, dass das Ganze mehr kosten würde.
»Keine Sorge, wir holen uns nur kurz was zu trinken«, meinte Ethan gereizt, schnappte sich seine Wodkaflasche, füllte sie umständlich mit Bowle und zog mich an der Hand wieder heraus. »Ich glaube nicht, dass das für einen ultimativen Kick reicht, aber wir könnten unten noch ein bisschen rumstöbern.«
Ich lachte und hüpfte vor ihm die Treppe runter ins Wohnzimmer. Sobald ich einen Schluck von unserem Proviant kostete, der Alkohol in mein Blut floss, vergaß ich Rileys Gesicht. Vergaß ich mein Schicksal, mein Vorhaben. Ja, sobald die Musik in meinen Ohren hämmerte, Ethan sich an der Vitrine bediente und mir was mitbrachte und ich wieder – wenn nicht sogar noch mehr – betrunken war, fühlte ich mich frei. Ich tanzte mit Ethan zwischen den ganzen unbekannten Leuten und hatte mal ausnahmsweise richtig Spaß.
Immer wieder fanden Ethans Lippen meine Haut oder Lippen und mein Kopf war komplett leer. Das Einzige, woran ich noch dachte, war an Ethans Gesicht und seine Küsse. Und das für den Rest von Rileys Geburtstag.
»Mir fällt grade ein Liedtext ein«, meinte Ethan, beugte sich so nah an mein Ohr wie es ging und schrie gegen die Musik an: »You don’t know how you met me, you don’t know why. You can’t turn around and say goodbye.

«
Ich erkannte das Lied sofort. Es war schon ein wenig älter, aber der Text fiel mir direkt ein. »All you know is when I’m with you, I make you free. And swim trough your veins like a fish in the sea

«, sang ich in sein Ohr.
Ethan lachte und began den Refrain: »I’m singing, follow me and everything is alright. I’ll be the one to tuck you in at night. And if you want to leave I can guarantee, you won’t find nobody else like me.

«
Und in dem Moment, in dem Ethan den letzten Satz sang, wurde mir klar, dass er Recht hatte. Ich würde nie so jemanden finden, wie ihn. Denn so unrealistisch es wirkte, er war ein Einzelstück. Es gab nur einen Teufelssohn auf der Welt und ich tanzte gerade mit ihm in dem Wohnzimmer seines Opfers.



Kapitel 14 - Ethan





So hart wurde ich noch nie aus dem Schlaf gerissen.
»Was ist denn hier

los?!«, brüllte eine bekannte Stimme weit entfernt und ich riss erschrocken die Augen auf. Mein Nacken und mein Rücken schmerzten schrecklich und solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie gehabt. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf gleich platzen oder als wäre er schon geplatzt und das war der Schmerz, den man verspürte, wenn man ein riesiges Loch im Kopf hatte. So oder so, es tat verdammt weh. Die Stimme brüllte noch weitere Sachen und ich hörte Riley irgendetwas stammeln.
»Dad, du wusstest doch, dass ich meine Party feiern wollte!«
»Ja, Riley, das hast du mir gesagt. Aber so etwas will ich nicht in meinem Haus haben, klar?«, brüllte Owen und ich setzte mich auf, versuchte zur Tür zu robben. Erst jetzt merkte ich, wo ich war. Ich lag zusammen mit Ethan unter dem Esstisch im Wohnzimmer. Meine Haare waren total zerzaust und es roch nach starkem Alkohol und irgendwie auch Erbrochenem. Irgendwo spielte leise Musik und überall lagen schlafende Jugendliche. Ich hörte, wie Owen zusammen mit einem verkaterten Riley die Treppe runter gestürmt kam.
Owen trat ins Wohnzimmer und entdeckte mich und die anderen Gäste, deren Namen und Herkunft niemand wusste. Er funkelte mich wütend an und wollte mir gerade ebenfalls eine Standpauke halte, als das Telefon klingelte. Kurz war Owen irritiert, dann drehte er sich um und nahm ab.
Riley lehnte sich gegen den Türrahmen und lachte mich an. Ich stöhnte wegen meinem Kopf und Riley nickte zur Bestätigung, dass es ihm nicht besser ging. Ich besah mir sein Outfit. Er steckte in einer grauen, großen Jogginghose und hatte ein blaues T-Shirt an auf dem nasse Flecken waren, sicherlich Alkohol. Seine blonden Haare waren zerstreut und ungekämmt. Ich schielte zu Ethan, der noch immer neben mir schnarchte. Im Flur versuchte Owen den Anrufer zu beschwichtigen.
»Ja. Ja, sie ist hier«, sagte er. Er hörte sich kurz an, was der Anrufer zu sagen hatte und meinte dann gereizt: »Ja, Magda, ich fahr sie sofort nach Hause.«
Dann legte er auf und stolzierte ins Wohnzimmer, auf mich zu. Gewalttätig griff er meinen Oberarm und zerrte mich vom Boden hoch. Ich jammerte vor Schmerz auf, aber er ließ mir keine Zeit, mich zu richten. Er schubste mich durch die Tür in den Flur, schnappte sich seine Autoschlüssel von der Kommode und öffnete die Tür.
»Wenn ich wieder da bin, Riley, sind diese ganzen Leute verschwunden, damit das klar ist!«, sagte Owen zu Riley und drohte ihm mit dem Finger, an dem sein Schlüssel hing. Riley nickte bedrückt und schenkte mir zum Abschied noch ein entschuldigendes Lächeln.
Auf der Fahrt sagte zunächst keiner was und ich war auch, um ehrlich zu sein, nicht in der Stimmung für Smalltalk und Owen glaube ich auch nicht. Ich stützte meinen Arm auf der Tür auf und legte meine Stirn in meine Hand. Mein Kopf brummte noch immer und Owen war nicht so nett das Radio auszustellen, das leise vor sich hin summte.
Ich hatte noch gar nicht darauf geachtet, was überhaupt im Radio lief, als Owen plötzlich die Lautstärke voll aufdrehte und im Takt des Refrains auf das Lenkrad trommelte. Ich verdrehte genervt die Augen, als ACDC anfing Highway to hell

zu schreien. Highway zur Hölle. Wie lustig.
»Muss ich jetzt lachen?«, krächzte ich und ärgerte mich sofort, dass ich auf die Andeutung eingegangen war.
»Ich find das Lied doch nur gut, was gibt es da zu lachen?«, meinte Owen grinsend. Und bog in meine Straße ein.
»Ach, dann hat der Text also keine Bedeutung, ja?«, motzte ich und stieg aus, als er anhielt.
»Wie man’s nimmt, Ally.«
Ich schlug die Tür zu und er fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon.

Tante Magda hatte mir Hausarrest verliehen, obwohl meine Mutter dagegen gewesen war – sie war bloß erleichtert, dass mir nichts passiert war. Der Hausarrest wurde von mir allerdings nicht sehr lange eingehalten. Oft traf ich mich mit Logan in der Stadt nach der Schule und meinte zu meiner Tante, dass ich wegen irgendeinem schulischen Projekt länger bleiben müsste. Und da dieses Projekt ja irgendwann enden musste, hatte ich mir jetzt die Ausrede überlegt, dass wir mehr Ballettstunden hatten. Meiner Mutter erzählte ich das nie, weil sie sowieso fast den ganzen Tag arbeiten war und nicht mitbekam, wenn ich nicht Zuhause war. Riley und Owen hatte ich seit der Party nicht mehr gesehen. Ich glaube, Riley hatte ein paar Mal bei mir angerufen, aber Magda hatte ihm jedes Mal gesagt, er solle mich in Ruhe lassen und aufgelegt. Ich hoffte bloß, dass Riley das nicht ernst nahm, jetzt, wo wir uns wieder vertragen hatten.
»Ally, willst du mir nicht endlich mal sagen, wer diese ganzen Jungen sind, die dauernd vor unserer Haustür auftauchen?«
Magda und ich saßen gerade am Essenstisch und aßen zu Mittag. Es war Dienstag und heute Mittag hatte ich Ballett – und zwar die wirkliche Stunde.
»Welche Jungen denn?«, meinte ich und ich wusste wirklich nicht, wen sie genau meinte, denn seit Wochen war ja keiner hier aufgetaucht. Logan und ich hatten uns immer in der Stadt getroffen. Für einen Moment hatte ich schon Angst, sie würde merken, dass ich den Hausarrest nicht einhielt, aber sie meinte etwas Anderes.
»Na, die Burschen, die ständig hier klingeln und fragen, ob du da bist.«
»Magda, ich hab doch Hausarrest und das wissen meine Freunde, also wer sollte bitte hier klingeln?«
Ich grinste in mich hinein. Denn ich wusste wirklich nichts von Jungen, die nach mir fragten, und das hieß, dass Magda meinen Besuch immer abfing und mir nichts davon erzählte und jetzt hatte sie sich selbst in die Nesseln gesetzt. Und ich weiß, dass sie mir eigentlich nichts schuldig ist, aber trotzdem habe ich vor, sie jetzt dazu zu bringen, mir dies zu gestehen.
»Ach, ja. Naja, da waren trotzdem ab und an so junge Männer.«
»Du hast mir davon aber nie erzählt, oder wie?«, meinte ich ein wenig beleidigt und eigentlich war es ja auch berechtigt beleidigt zu sein, auch wenn ich diejenige war, die Hausarrest hatte.
»Nein«, sagte meine Tante schnippisch. »Du hast ja, wie du eben schon sagtest, Hausarrest. Und trotzdem will ich wissen, wer das ist.«
Es klingelte, ein Geräusch dass ich schon ewig nicht mehr gehört hatte, da bei uns nie jemand klingelte, wenn niemand was von mir wollte. Und genauso musste es jetzt sein, jemand war wegen mir da.
Meine Tante kam mir schnell hinterher und öffnete noch vor mir die Tür. Draußen, mit dem Rücken zu uns stand tatsächlich ein Junge. Ein Junge, den ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Ein Junge, bei dem ich lächeln musste.
»Wer sind Sie denn?«, fragte mein Tante und versperrte mir den Weg, um nach draußen laufen zu können. Manchmal könnte ich meine Tante schlagen, so sehr hatte ich einen Hass auf sie. Josh drehte sich erschrocken um und lachte.
»Guten Tag, Miss Male. Ich bin wegen Ally hier.«
Meine Tante stöhnte. »Und darf ich auch den Namen wissen?«
»Ach, ja, wie undhöflich von mir«, meinte Josh und zwinkerte meiner Tante zu. Okay? »Ich bin Martin Stewart. Ally und ich kennen uns aus dem … Ballettunterricht.«
»Sie tanzen Ballett

?!«
Ich drängte meine Tante hinter mich und verdrehte die Augen. Zum Glück hatte mein Gehirn Josh‘ Lüge schnell kapiert. »Ja, Magda, es gibt auch Männer, die Ballett tanzen. Bei mir in der Gruppe gibt es mindestens 10 Stück.«
Dann zog ich einfach die Haustür hinter mir zu und ging langsam die Treppenstufen runter. Ich hätte mich gerne in seine Arme geworfen, weil ich ihn so lange nicht gesehen hatte und er für mich wie ein großer Bruder war, aber ich wusste genau, dass meine Tante uns beobachtete. Weggehen durfte ich nämlich nicht.
»Hi.«
»Ist Ethan hier?«
Meine Stimmung fiel schlagartig. Was sollte das denn heißen? »Nein, wieso sollte er?«
»Naja, ich hab da so gehört, ihr zwei wärt jetzt ein Paar«, sagte Josh in demselben, gereizten Tonfall, wie ich.
Ha! Das hatte er bestimmt von Logan. Wow, super, Logan. Ich presste die Zähne aufeinander. Ja, eigentlich waren wir das, oder? Aber ich hatte von ihm seit der Party nichts mehr gehört. Hatte er mich nur für die Party rumkriegen wollen, damit er was zu spielen hatte? Nein, er war der Teufelssohn, er konnte jede haben. Aber er wollte dich, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Er wollte dich. Er will dich immer noch. Und ich weiß nicht, wieso ich mich plötzlich gegen all meine Freunde stellte. Aber vielleicht war das besser so, dann konnte ich meinen Plan, mich in Ethan zu verlieben und so das Märchen brechen, leichter ausführen.
»Ein Problem damit? Ich hab von Dave gehört du sollst ja ganz scharf auf diese Jolina sein. Schon schade, dass sie nicht hier ist, was?«, sagte ich schnippisch und kreuzte die Arme vor der Brust. Ich sah, wie ein wenig Schmerz auf Josh‘ Gesicht entstand, aber schnell hatte er sich gefasst.
»Tja, ich hoffe bloß, dass nicht alles wahr ist, was Logan mir so erzählt hat.« Ich konnte nicht anders, ich musste sofort nachfragen, was er damit meinte. »Dass du mit ihm schon mehrfach geschlafen hast.«
Ich hatte gemerkt, dass er zuerst ein anderes Wort benutzen wollte, sich aber dann doch gedacht hatte, dass das etwas unhöflich wäre. Aber in diesem Moment war ich weniger sauer auf Logan, weil er so eine Scheiße über mich erzählte, als auf Josh.
»Ach, und wieso, wenn ich mal fragen darf, macht ihr euch dauernd Sorgen um mich? Wieso notiert ihr alles was ich tue? Kann ich mein Leben nicht auch einfach ohne euch leben?« Ich kniff die Augen zusammen und registrierte zunächst gar nicht, dass ein schwarzes, glänzendes Auto in unsere Einfahrt fuhr. »Und wenn es wahr sein sollte, wieso habt ihr alle ein Problem damit? Du weißt doch jetzt, dass Ethan und ich zusammen sind!«
Irgendwie steigerte ich mich ziemlich darein, aber im Moment fühlte es sich gut und richtig an. Denn in einer Hinsicht hatte ich ja auch Recht. Wieso war alles so wichtig, was ich tat? Ich meine, ich stand ja auch nicht direkt bei ihm auf der Fußmatte, wenn ich hören sollte, dass er eine Freundin hatte.
»Nicht so zickig, Ally. Eine Frau muss immer ihren Stolz behalten. Zeig dem Mann, dass du das Sagen hast.«
Josh und ich drehten uns verwundert zu dem Mann um, der nun über den Rasen – übrigens auch über die fleißig gepflanzten Rosen meiner Tante – stolzierte. Als Josh und Owen sich in die Augen sahen, sahen beide aus, als wären sie vom Blitz berührt.
»Äh«, machte ich schnell, packte Josh am Oberarm und drängte ihn schnell zum Eingangstor. Er weigerte sich nicht, starrte aber über meine Schulter hinweg weiterhin Owen an und als ich ihm das nächste Mal ins Gesicht blickte, sah ich Hass. Puren Hass.
»Josh, nur nicht so unhöflich«, sagte Owen freundlich. »Mich würde ja mal interessieren, was du Ally getan hast, dass sie dich so runter buttert.«
Ich drückte Josh hinters Tor und knallte es ihm vor der Nase zu, dann stampfte ich an Owen vorbei in die Tür und schmiss diese ebenfalls ins Schloss. Ich war schon auf der Treppe, als es klingelte und meine Tante verwirrt öffnete. Ich musste einfach stehen bleiben und lauschen, denn plötzlich kam mir der Gedanke, was Owen eigentlich hier wollte?
»Hallo«, kicherte meine Tante und ich riss meine Augen auf. Wie redete die denn bitte mit Owen? »Schön, dass du doch noch kommen konntest.«
»Für dich doch immer, Magda.«
Stopp mal, bitte was? Ich hörte Owens Lachen. Aber es war schmeichelnd, flirtend, nicht dieses Lachen, was mich immer demütigen sollte. Hatte ich mich auch nicht verguckt? War das wirklich Owen gewesen? Aber doch, er war es gewesen. So einen blöden Satz mit dem Stolz konnte nur er erfinden.
»Hallo Ally«, sagte seine schmalzige Stimme hinter mir und ich merkte, dass ich total behindert auf dem Treppengeländer hing. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und ärgerte mich prompt, dass ich mich, obwohl ich Owen so hasste, trotzdem nicht vor ihm blamieren wollte.
»Tag«, sagte ich hochnäsig, rekte mein Kinn in die Höhe und stellte mich wieder richtig hin. Owen grinste kurz.
»Schön dich wieder zu sehen. Seit Rileys Party haben wir uns sehr selten gesehen, schade eigentlich.«
»Ja, sehr schade

«, keifte ich und meine Tante schüttelte empört den Kopf. »Was machen Sie hier?«
»Ich führe deine Tante zum Essen aus.«
Mein Weltuntergang. Das erste was ich dachte war: Nein, Owen wird mein Onkel! Magda bekommt ein Kind von ihm. Aber das war alles natürlich total absurd. Owen zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
Je nach dem, was sich heute ergibt.


»Was

? Sie ficken meine Tante?«, brüllte ich laut und schlug mir die Hand vor den Mund. Owen grinste breit, aber da er vor meiner Tante stand, konnte sie das nicht sehen. Außerdem wusste sie ja gar nicht, was Owen mir in Gedanken gesagt hatte.
»Ally, jetzt reicht es aber. Owen und ich gehen doch nur essen!«
Aber ich sah wie sie errötete. Oh, nein, das wäre wirklich das Schlimmste, was mir in meinem blöden Leben noch passieren könnte. Einen Cousin von Owen!
Ich hatte da eher an eine Cousine gedacht. Ich hab schon einen Namen für sie. Ich hab mir schon immer eine Tochter gewünscht. Mit langen, braunen Locken, so wie meine. Dann könntest du immer bei ihr babysitten.


Hören Sie auf, das ist abartig, dachte ich und drehte mich leicht von ihm weg. Ich hatte natürlich sofort das Bild im Kopf, wie ich genervt mit einem Baby bei Owen daheim sitze.
»Also, Ally. Wir sind jetzt weg und du benimmst dich. Außerdem: Du hast Hausarrest.«
»Ich weiß«, keifte ich und ließ Owen nicht aus den Augen.
Wehe Sie gehen meiner Tante an die Wäsche, dachte ich für ihn und sah wie er leicht lachte, bedacht darauf, dass Magda es nicht mitbekam.
Du hast jetzt sturmfrei. Ich hab da sowas mitbekommen von dem Gespräch mit dir und Josh.


Sein Grinsen war noch nicht verschwunden. Schnell ging ich das Gespräch von mir und Josh durch. Er meinte das mit Ethan und mir. Ich hatte sturmfrei. Ich könnte ihn einladen und meinen Plan verbessern.
Moment, wieso half Owen mir dabei?
Weil ich sowieso weiß, dass du dich irgendwann für Dave entscheidest.


Haha, das würden wir ja noch sehen, dachte ich und sprang die Treppe hoch. Als ich in meinem Zimmer stand und Ethans Nummer in meiner Schreibtischschublade suchte und sie in unser Haustelefon eintippte, – zum Glück hatte ich Ethan an Rileys Party endlich danach fragen können – schwor ich mir, dass, sollte Dave irgendwann zurück kommen, ich mich niemals für ihn entscheiden würde. Schon allein aus dem Prinzip, dass Owen meinte, er hätte Recht.

Es dauerte nicht lange, bis es unten klingelte. Schnell huschte ich vor meinen Spiegel, checkte mein Aussehen und ertappte mich dabei, wie ich meinen Ausschnitt ein wenig weiter öffnete. Okay, gut, das klappt schon.
Ich sprang die Treppe runter und richtete danach nochmals meine Haare und Outfit, bevor ich schließlich die Tür öffnete.
»Hallo, hübsches Mädchen. Danke für die Einladung.«
Ich lachte. Als ich in Ethans markantes, perfektes Gesicht blickte dachte ich: I know you want me, you know I want ya.


Ich lehnte mich gegen die Haustür und biss mir verführerisch auf die Unterlippe. Ich hoffte bloß, dass das auch verführerisch aussah! Aber Ethan grinste, kam auf mich zu und küsse mich direkt auf den Mund. Entweder war ich so gut im verführen, oder Ethan notgeil. Jedenfalls war ich froh, dass es so gut klappte mit uns, auch wenn wir eines dieser Knutsch-Paare waren und bei uns das Reden etwas zurück gesetzt wurde. Aber ich musste mich eben Ethan anpassen und ja nicht dafür sorgen, dass es ihm langweilig mit mir wurde.
In den ersten zwei Stunden konnte ich Owen vergessen, aber als Ethan gerade Popcorn in der Mikrowelle zubereitete, fiel mir Magdas Date mit ihm wieder ein. Sie hatten doch nicht wirklich etwas miteinander, oder? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie Owen, der Teufel, der nun wirklich jede haben konnte, meine Tante anziehend fand. Ich hatte natürlich sofort ein Bild im Kopf, wie Owen meiner Tante die Kleider entnahm, und bekam dieses auch nicht mehr aus den Gedanken.
»Lieber salzig oder lieber süß?«, fragte Ethan mich und ich schämte mich für meine Überlegungen. Wieder einmal wurde mir schmerzlich bewusst, dass Owen Gedanken lesen konnte.
So in etwa läuft es gerade.


NEIN!
»Süß«, sagte ich zu Ethan und Owen antwortete: Danke.


Nicht Sie, sie Dreckskerl, dachte ich bissig. Er sollte sich gefälligst aus meinen Gedanken raushalten!
Sehr nettes Kopfkino, das du da hast. Aber mir macht es auch Spaß deine Gedanken zu hören, wenn du mit Ethan alleine bist. Du weißt schon, was ich meine.


Er wollte mich demütigen. Und das hatte er geschafft. Wie peinlich war das denn bitte? Ich wusste zwar nicht mehr genau, was ich bei den vielen Küssen von mir und Ethan gedacht hatte, aber sicherlich nicht Rosen sind rot und Veilchen blau.
Ich stöhnte und legte meinen Kopf auf die Tischplatte. Es war so schrecklich, dass ich mich dauernd vor Owen schämen musste. Er war der Teufel. Stellt euch mal vor, der Teufel wüsste über eure Gedanken während eines Kusses Bescheid. Konnte man denken nicht einfach abschalten?
»Bist du schon müde?«, sagte Ethan enttäuscht und ließ die Popkörner in eine große Schüssel kullern. Ich hob meinen schweren Kopf an und hatte das Gefühl, dass mir jemand einen Bleiwürfel hinein gesetzt hatte. Ja, ich war müde. Ich hatte keine Lust mehr. Auf all das hier nicht mehr. Ich wünschte, Ethan wäre ein normaler Junge und ich hätte mit dem Märchen nichts zu tun. Vielleicht könnte ich meinen Kopf gegen irgendetwas Hartes rammen und somit einen Gedächtnisverlust herauf beschwören? Das wäre eine Erleichterung. Oder? Wäre es nicht eher negativ? Erstens hätte ich schreckliche Kopfschmerzen – nicht gerade erstrebenswert – dann hätte ich meine Pläne vergessen, vergessen, dass Ethan der Sohn war und überhaupt … die Idee war scheiße.
»Dabei war ich doch noch gar nicht fertig mit dir«, flüsterte Ethan und legte seine Arme um meine Taille.
Schnapp ihn dir, Ally.


Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Spanner!
»Ach, ja?«, sagte ich grinsend und versuchte wieder die süße Freundin zu spielen. »Kannst wohl nicht genug von mir kriegen.«
Ethan lachte und sog den Duft meiner Haare auf. »Nie, Prinzessin.«
Ich biss die Zähne aufeinander. Mein ganzer Körper spannte sich an. Hatte er gerade Prinzessin gesagt? Ganz ruhig, das könnte auch bloß ein Kosename sein. Aber wieso nicht Maus, Schatz oder Babe? Sollte ich jetzt antworten mit: »Ich auch nicht, Teufelssohn«?
»Alles klar?« Ethan merkte, dass etwas nicht stimmte. »Du denkst bestimmt über Prinzessin

nach, stimmt’s?« Ich war erstaunt, dass er mich so gut kannte. Oder tat er das gar nicht und konnte einfach nur meine Gedanken lesen? Wenn Ethan das auch noch konnte, das würde ich nicht aushalten. »Tut mir leid. Ich habe nicht an den Zusammenhang mit dem Märchen gedacht.«
Ach, ja. Ethan wusste ja, dass ich die Prinzessin war, wie alle anderen auch. Irgendwie fühlte es sich so an, als wenn nur ich das wüsste, da die anderen ihre Rolle auch geheim hielten.
»Willst du mir nicht endlich sagen, wer du bist?«, flüsterte ich und legte eine Hand an seine Wange. »Bitte.«
Ethan grinste und seine Berührung an meinem Rücken ging mir unter die Haut. Es kribbelte am ganzen Körper. Und das wäre überhaupt kein Problem, wenn ich nicht Angst hätte, dass er gleich irgendwie Feuer speien würde. Was ich nur immer für Vorstellungen hatte!
»Du willst es wirklich wissen?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Ganz sicher?«
»Ja, man. Ganz super, extrem sicher.«
Ethan lachte. Er machte eine Pause, in der wir uns nur in die Augen sahen. Dann öffnete er den Mund und ich wunderte mich schon, dass er nicht mit einem T anfing, als er sagte: »Ich weiß, dass du eine Vermutung von mir hast.« Meine Neugier war nun geweckt, obwohl ich ja wusste, wer er war. Mein Körper schüttete plötzlich tonnenweise Adrenalin aus, und ich hatte keine Ahnung wieso. Meine Hände wurden schweißnass, als sich Ethan zu meinem Ohr hinunter beugte und flüsterte:
»Ich bin keine Rolle aus dem Märchen, sondern nur eine tote Seele aus der Hölle, die Owen mitgenommen hat, um dich zu verwirren.«



Kapitel 15 - Aufgeben?





Ich war froh, dass sobald Ethan das gesagt hatte, es geklingelt hatte und meine Tante und Owen nach Hause gekommen sind. Meine Tante ist total ausgerastet und hat Ethan seine Jacke und Schuhe in die Arme gedrückt und aus der Tür geschoben. Mir hat sie dann die volle Schüssel Popcorn gegeben und mich mit wütendem Blick die Treppe rauf geschickt. Als ich durch den Flur getapst bin, hatte Owen mich wissend angegrinst. Aber ich wusste nicht, ob das Grinsen wegen der Knutscherei, wegen Ethans Worten oder wegen dem, was zwischen ihnen – oder besser gesagt hoffentlich nicht – passiert war, gewesen war.
Jedenfalls saß ich jetzt hier in meinem Zimmer und stopfte mir das Popcorn rein. Es war schon Nacht. Der Mond schien hell durch meine Balkontür und ich öffnete sie und trat in die warme Nacht hinaus. Ich lehnte mich ans Geländer und hatte ein Bild von Dave vor meinen Augen, wie er einst hier stand, während ich noch schlief. Ach, Dave. Wieso kannst du nicht einfach aus meinem Leben verschwinden?
Ich blickte in den Sternenhimmel, betrachtete den hellsten aller Sterne. Ich war eine Tochter eines Sterns, fiel mir wieder ein. Was sollte das bedeuten? War meine erste Vorfahrin ein Stern? Leuchtete er irgendwo da oben? Aber wie sollte ein Stern Kinder bekommen? Meinte Owen vielleicht eher damit, dass ich ein Engel war? Vielleicht war ich ja die Tochter von Gott. Ich lachte leise und war wieder ein bisschen besser gelaunt. Das würde noch ein wenig Sinn machen, wieso der Teufel mein Herz in der Hand halten musste. Er musste Gott wieder besiegen. Ich sog die Luft ein. Gott besiegen. War das nicht noch ein wichtiger Grund, den ich verhindern sollte? Jetzt standen alle unter Gottes Macht, hatte Owen gesagt. Also alle verstorbenen Seelen. Alle, die starben, kehrten zu Gott. Das war doch gut, oder? Also sollte ich das Märchen nicht nur für die Generationen nach mir verhindern, sondern auch für all die Seelen, für die die Hölle das Gleiche war, wie der Himmel, weil Gott auch über die Hölle herrschte.
Ich sah traurig zu Boden, weil ich genau wusste, dass ich das nie schaffen konnte. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, dann hörte es sich immer so leicht an. Aber im Grunde war es genau das nicht. Es war eben nicht einfach. Ich konnte die Welt nicht retten. Der Teufel würde siegen. Aber er hatte noch nie gesiegt. Würde es bei mir dann anders sein? Denn eigentlich lief so ja das Märchen ab. Für einen Moment hatte ich einen erleichternden Gedanken: Wenn das Märchen immer so ablief, dann würde der Teufel nie gewinnen. Nie. Im letzten Moment würde die Fee mich immer retten. In allen Generationen. Wieso also die ganze Mühe?
Weil Dave und Riley dabei sterben würden.
Ein Windzug umspielte meine Haare und wehte sie mir über die Schultern in mein Gesicht. Wenn ich doch eine Tochter eines Sterns war, konnte ich mir dann nicht irgendwo Hilfe holen? Jemanden fragen? Konnte ich nicht vielleicht zu Gott? Lief Gott auch irgendwo auf der Welt herum, wie der Teufel? Nein, wahrscheinlich nicht, schließlich hatte er ein Zuhause. Für eine Sekunde hatte ich Mitleid mit Owen, aber das hielt nicht lange an.
Meine Hände zitterten. Ich könnte jetzt von diesem Balkon springen und mir das Leben nehmen. Ich könnte mich umbringen. Was hätte das für Folgen? Ich würde zu Gott kommen. Leider fiel mir wieder ein, dass ich mich gar nicht umbringen konnte. Aber nur mal theoretisch. Vielleicht würde ich ja zu Gott kommen, könnte mit ihm reden und dann würde er mich wieder auf die Erde schicken. Was könnte mir Gott aber sa-gen? Ja, ich habe den Teufel verbannt und jetzt wieder ab mit dir auf die Erde?

Welche Sprache sprach er überhaupt? Latein? Dann würde ich im Gespräch nicht sehr weit kommen. Aber ein Versuch war es wert, oder?
Ich hatte mich gerade auf das Geländer gesetzt, mit den Beinen über dem Abgrund. Sofort setzte die Höhenangst ein. Das kalte Kribbeln kroch in meine Füße und krabbelte meine Beine hoch bis in meinen Bauch. Ich durfte nicht die Augen schließen, dann würde ich womöglich noch das Gleichgewicht verlieren. Aber das war ja eigentlich der Sinn meiner Tat. Ich zuckte heftig zusammen, als die Zimmertür aufging und Owen auf den Balkon trat.
»Du kannst dich doch nicht umbringen.«
»Ich weiß«, sagte ich gereizt von seiner Anwesenheit. Was machte er denn schon wieder hier oben? Jetzt wäre es mir nur recht, wenn er mit meiner Tante rummachen würde.
»Gut, dann gehe ich wieder mit deiner Tante rummachen

«, sagte Owen und betonte mein Wort. Ich verdrehte die Augen und drehte ihm den Rücken zu. Aber ich spürte, dass er nicht ging. Er beobachtete mich immer noch. Meine Gereiztheit verschwand plötzlich.
»Ich kann wirklich nicht sterben? Niemals?«
»Doch, du kannst nur keinen Selbstmord begehen.«
Plötzlich hatte ich Angst. »Wenn ich springen würde, würden die Schäden bleiben, aber ich würde nicht sterben?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich nickte enttäuscht, dass er darauf keine Antwort wüsste. Das wäre ja schrecklich. Ich sah den Fast-Kopflosen-Nick von Harry Potter vor mir. Wenn ich mir das Genick beim Aufprall brechen würde, würde ich dann für immer mit einem gebrochenen Genick rumlaufen? Müsste ich meinen Kopf dann immer mit der Hand halten? Wie schrecklich.
»Probiere es doch einfach aus«, meinte Owen hinter mir und ich lachte auf.
»Ha, klar. Und danach bin ich der totale Krüppel. Nee, danke.«
»Naja, ich geh jetzt wieder runter zu deiner Tante. Sie wollte nur, dass ich mal nach dir sehe, wo du doch so durch den Wind warst, nachdem sie dich so angemotzt hatte.«
»Wie einfühlsam von Ihnen, danke.«
Jetzt hatte ich schon wieder einen Hass auf Owen. Ich wollte nicht, dass er sich um mich kümmerte. Ich wollte nicht, dass er dafür sorgte, dass es mir gut ging. Das passte einfach nicht zu seinem Bösewicht-Image. Er sollte gemein sein und mich foltern.
Als ich ihm dabei zu sah, wie er mein Zimmer wieder verließ, dachte ich, dass er das ja eigentlich trotzdem tat. Er war gemein und foltern tat er mich auch, wenn auch nicht mit einer Peitsche oder etwas in der Art. Nein, seine Folter ging genau ins Herz. Dort, wo Dave war.
In meinem Zimmer klingelte mein Handy und ich schwang meine Beine erstaunlich leichtfertig über das Geländer, krachte erst mal gut auf den Boden und krabbelte dann zu meinem Bett, wo mein Handy lag. Es vibrierte in meiner Hand und ich drückte auf Annehmen. Die Nummer kannte ich nicht.
»Ally? Ally?«
»Ja?«
»Bist du das?«
»Ja«, sagte ich jetzt genervt, weil ich die Jungenstimme nicht erkannte. »Wer ist denn da?«
»Hier ist Sam. Ally, es ist etwas Schlimmes passiert-« Im Hintergrund sagte irgendjemand etwas in der Art wie »Bring es auf den Punkt, Sam!« Dann sagte Sam wieder ins Handy: »Jolina hat uns angerufen, Ally. Dave hatte einen schweren Unfall.«
Meine Hand mit dem Handy rutschte an meinem Hals hinunter. Immer wieder hallten die Worte durch meinen Kopf. Immer wieder realisierte ich, was ich angestellt hatte. Owens Wort schwirrten zu Sams hinzu.
Was Dave angeht, du bist immer noch nicht über ihn hinweg und das weiß ich zu nützen.


Die Tränen kamen sofort. Heiß liefen sie über mein Gesicht, in das noch immer der Schock gezeichnet war. Sam redete weiter und erzählte, was genau passiert war, aber ich wollte gar nicht so genau wissen, was los war. Ich hatte Dave fast umgebracht.
»Sie mussten ihm den linken Arm amputieren.« Stille. Ich schluchzte heftig und rollte mich mit dem Handy am Ohr auf dem Boden zusammen. Wollte mich vor der Wahrheit schützen. Wegen mir, nur wegen mir, fehlte Dave jetzt der linke Arm. Nur weil ich so naiv

gewesen war, zu glauben, dass ich es brechen könnte, dass ich den Teufel aufhalten konnte.
»Ally? Ally! Bist du noch dran?« Zu jemand anderem sagte Sam: »Keine Ahnung was los ist. Sie antwortet nicht mehr.«
Ich schluchzte. »Ja, ich bin hier.«
»Soll ich dir Jolinas Nummer sagen, dann kannst du mit ihm reden?«
Ich schüttelte den Kopf, als mir einfiel, dass Sam das nicht sehen konnte. »Nein.«
Dann legte ich auf. Ich schmiss mein Handy durch mein Zimmer und hörte es krachen, als der Akku rausfiel. Ich starrte durch die offene Balkontür raus in die dunkle Nacht. Der helle Stern strahlte noch immer in seiner vollen Pracht. Meine Tränen versiegten. Ausgelaugt lag ich vor meinem Bett und stierte auf den Stern. Danke, Gott, vielen Dank

. Und wieder kamen meine Tränen. Wieso hatte ich keine Hilfe? Wieso stand niemand neben mir und stützte mich? Wieso musste ich alles alleine durchkauen?
Und dann versiegten meine Tränen nach kurzer Zeit wieder. Wer war denn wirklich dafür verantwortlich? Wer hatte Dave einen Unfall bauen lassen? Die Wut stieg in mir hoch. Lang-sam setzte ich mich auf und stellte mich vor meinen Spiegel. Mein Gesicht war mit roten Flecken übersät. Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Ja, wer trug die Schuld dafür, dass Dave jetzt ein Arm fehlte?
In weniger als zwei Sekunden – so schien es mir – stand ich unten im Wohnzimmer, wo meine Tante und Owen auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Kochend stand ich in der Tür und starrte in die schwarzen Augen von Owen. Meine Tante war verwirrt.
»Was ist denn los, Ally?«
Ich atmete schneller, krallte meine Fingernägel noch mehr in mein Fleisch, ließ Owen nicht aus den Augen. Er löste seine gemütliche Haltung und sah mir ebenfalls direkt in die Augen. Um seine Mundwinkel spielte sich ein kleines Lächeln. Ein Lächeln, das hieß: »Na, los, komm. Komm und greif mich an.«
Sein angriffslustiger Blick machte mich rasend und ich musste kurz den Kopf schütteln, um ja nicht meinen Verstand zu verlieren.
»Alles in Ordnung? Ist was passiert?«
Diese zwei Fragen, brachten das Fass zum Überlaufen. Nein, es war nicht alles in Ordnung. Und ja. Ja, es war etwas passiert.
Ich raste auf Owen zu, sprang über den niedrigen Couchtisch, hörte meine Tante schreien. Ich warf mich mit ausgestreckten Händen auf Owen. Versuchte ihm schreiend das Gesicht zu zerkratzen. Versuchte meinen eigenen Schmerz, der bei unserem Sturz von der Couch entstanden war, auszublenden, versuchte mich ganz auf Owen zu konzentrieren, der sich wehrte. Er schlug mir gegen die Arme und wollte mich von ihm runter drücken. Meine Tante packte mich um die Taille und versuchte mich von ihm weg zu zerren. Aber ich schrie einfach weiter, schlug weiter, kratzte weiter. Ich wollte, dass er endlich den gleichen Schmerz spürte, wie ich. Dass er merkte, dass er nicht machen konnte, was er wollte. Dass ich die Hauptrolle war!
»Sie haben ihm den Arm genommen! Sie Arschloch! Ich hasse Sie! Ich hasse Sie!«
Und ich wusste, dass Owen sich nur wehrte, weil meine Tante hinter uns stand, denn sonst könnte ich ihm überhaupt nichts anhaben, aber das machte das Ganze nur besser für mich. Es tat gut. Es tat gut seine Haut unter meinen Fäusten zu spüren. Es tat gut ihn anzuschreien. Es tat gut ihn am Boden zu sehen. Ich wollte ihn tot sehen. Ich wollte, dass Gott ihn weiter demütigte. Ich wollte, dass er für immer auf der Erde wandelte. Für immer und ewig.
»Ally, hör auf! Hör auf!«, kreischte Magda und ich war für einen Moment abgelenkt. Diesen Zeitpunkt nutzte Owen, um mich von ihm weg zu schubsen und sich aufzurappeln. Er blutete aus der Nase und hatte viele tiefe Kratzer im Gesicht. Ich war nicht sehr zufrieden mit meinem Werk, also sprang ich auch auf die Beine und rannte auf ihn zu. Meine Tante aber packte mich wieder um die Taille und hielt mich fest, bis sie mich gewaltsam aus dem Raum zerrte. Owen richtete sein Jackett und sein Hemd und grinste mich an, da meine Tante ihm den Rücken zugedreht hatte.
»Ich hasse Sie! Sie sind so lächerlich! Sie können nicht der Teufel sein! Irgendwann, das schwöre ich, vergeht Ihnen Ihr Scheißlachen!«, brüllte ich über die Schulter meiner Tante hinweg. In meinen Gedanken echote sein Lachen. Es hallte von meinen Kopfwänden immer wieder, verdoppelte sich. Ich schrie noch einmal meinen ganzen Frust aus, bevor meine Tante mich wutschnaubend zur Haustür rauswarf und sie zuknallte.
Gerade als ich aufstand, um wegzurennen, fuhr meine Mutter mit ihrem Auto in unsere Einfahrt. Verwirrt sah sie mich an und fragte was los sei, aber ich sprang einfach über das Gartentörchen und lief die Straße entlang bis ich in die Atlantic Avenue einbog und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Auf Socken lief ich über den Seapointe Boulevard, über mir noch immer der helle Stern. Der Wind ließ mich ein wenig frösteln. Die Blätter in den Bäumen um mich herum raschelten und ließen ein beruhigendes Geräusch entstehen. Hier draußen war mein Kopf wieder klar. Ich spürte noch die Träge in meinen Augen, dass sie geschwollen waren, merkte ich auch, aber mein Kopf war frei.
Als erstes musste ich mir ein neues Zuhause suchen. Plötzlich fiel mir das Gespräch mit Ethan ein. Ich hatte seitdem noch gar nicht darüber nachgedacht. Er war eine verstorbene Seele aus der Hölle, das hieß, er war nicht der Teufelssohn.
Und unter uns wandert immer noch der Teufelssohn, das weißt du ja

, sagte Dave in meinem Kopf. Ich hatte mich die ganze Zeit geirrt. Hieß das, ich hatte alle Rollen falsch zugeteilt? Panisch sah ich mich auf dem beleuchteten Platz um, aber niemand war zu sehen. Ich setzte mich auf eine Bank und legte das Gesicht in meine Hände. Aber wer sollte denn noch der Teufelssohn sein? Keiner von den Jungen, die ich kannte, konnte so gut passen, wie Ethan. Er passte einfach perfekt zu Owen, allein schon vom Aussehen. Beide hatten diese braunen, langen Locken und dieses dreckige Lachen.
Ich seufzte. Konnte ich Ethan jetzt mehr vertrauen? Irgendwie hatte ich mich sicherer gefühlt, als ich noch angenommen hatte, er sei der Teufelssohn. Etwas zu ahnen und es zu wissen, war wohl wirklich ein tiefer Unterschied. Aber das Problem: Er war ja gar nicht der Teufelssohn. Also konnte ich ihm doch vertrauen, oder?
Ich beschloss, dass ich das konnte. Aber das löste immer noch nicht mein momentanes Problem. Ich hatte Owen zusammengeschlagen – nun, ja mehr oder weniger – und nun konnte ich schlecht zu Hause angekrochen kommen und um ein Bett bitten. Ich sah mich auf dem Boulevard um. Er war menschenleer und auch die Straßen waren frei. Könnte ich womöglich hier schlafen? Warm genug war es auf jeden Fall.
Ich hörte plötzlich Schritte hinter mir. Woher kamen sie? Ich hatte mich doch eben genauestens umgesehen, es war niemand weit und breit gewesen. Sofort packte mich die Angst, ein stinkender Penner könnte mich verfolgen. Ich drehte mich um und erblickte einen jungen Mann auf der Straße. Ich kniff die Augen zusammen, er kam mir irgendwie bekannt vor. Als er mich anblickte, weiteten sich seine Augen.
»Ethan!«, rief ich erleichtert und sprang von der Bank auf. Vielleicht könnte er mich mit nach Hause nehmen. Die Frage, was er hier tat, stellte ich erst einmal beiseite. »Ethan!«
Ethan sah mich wieder an und rannte dann um die Ecke davon. Verdattert blickte ich die Straße an, in die er verschwunden war. Was war denn mit dem los? Hatte er mich gar nicht erkannt? Machte er hier irgendetwas Geheimes, was ich nicht wissen durfte?
Dann erfasste mich der Ärger. Andauernd wurde ich im Dunkeln gelassen. Nie durfte ich alles genau wissen. Sauer ließ ich mich wieder auf die Bank plumpsen und überlegte, was Ethan hier wohl machte.
Owen! Er war bei mir zu Hause!
Sofort rannte ich los. Wehe er hatte meiner Tante oder meiner Mutter etwas angetan. Außerdem, fiel mir jetzt auf, war es mir unangenehm, dass er in meinem Revier war, ohne, dass ich auf ihn aufpassen konnte. Er könnte ja in meinem Zimmer rumstöbern!
Mehrfach stolperte ich über den Saum meiner Jogginghose, bis ich bei unserem Gartentor ankam und mich darüber schwang. Ich hämmerte an die Tür und klingelte währenddessen mit der anderen Hand. Meine Mutter öffnete mir.
»Schatz, wie war es bei Riley?« Sie trat zur Seite, um mich einzulassen, aber ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. »Warum trägst du denn keine Schuhe?«
»Vergessen«, murmelte ich abgelenkt.
Meine Mutter lachte herzlich und wuschelte mir über die Haare. »Wenn das mit dem Vergessen bei dir schon so früh anfängt, dann ist das aber kein gutes Zeichen, meine Süße.«
Sie ging lachend in die Küche und nahm Teller aus der Spülmaschine. Mir fiel Owen wieder ein und ich lief ins Wohnzimmer, wo ich nur meine Tante auf dem Sofa vorfand.
»Hallo, Ally, Liebes.«
»Hi.«
Mein Atem beschleunigte sich. Was ging hier vor? Immer wieder tauchte ein nervöser Ethan vor mir auf, der im Dunkeln um eine Ecke verschwand. Was hatten sie hier nur angerichtet? Wieso war meine Tante nicht mehr sauer auf mich? Wieso meinte meine Mum ich wäre bei Riley gewesen, wenn sie doch genau wusste, dass ich Hausarrest hatte? Oder wusste sie das nicht mehr? Hatte Owen sie es vergessen lassen? Ging so etwas überhaupt? War das nicht etwas viel Fantasie? Aber wenn man wohl mit dem Teufel zusammen lebte, gab es keine Grenzen mehr in der Fantasie.
»Mum?«, rief ich brüchig und ich merkte den Kloß in meinem Hals. Das Ganze gefiel mir ganz und gar nicht. Ich fühlte mich, als wäre ich allein auf der Welt. Als wären meine Tante und meine Mutter bloß noch Roboter, die Owen nun folgten. Als würde sie sich gleich in Furien verwandeln und mir sagen, dass meine wahre Mutter und meine Tante gefangen wären. Ich merkte die heißen Tränen in meinen Augen, blinzelte sie aber auf dem weg vom Wohnzimmer in die Küche weg.
»Ja, Schatz?«
Der Tonfall, das Lachen – das war doch nicht meine Mum, oder? Steigerte ich mich gerade in etwas rein?
»Habe ich keinen Hausarrest mehr?«
»Hausarrest?«, wiederholte sie und ließ das Besteck in die Schublade fallen. Sie drehte sich nicht zu mir um, sondern arbeitete einfach weiter. »Warum solltest du denn Hausarrest haben, du liebes Kind?«
»Mum! Hör auf mich ständig mit Kosenamen zu benennen!«, schrie ich plötzlich und biss mir auf die Zunge, um den Tränen keine Chance zu geben, auszubrechen.
»Okay, in Ordnung, Ally«, versprach sie und sah mich zum ersten Mal an. »Alles okay bei dir?«
»Ich war heute nicht bei Riley«, sagte ich tapfer und merkte, wie die Tränen versiegten, als ich daran dachte, was Owen mit meiner Mutter angestellt hatte.
»Wo warst du denn dann?«,fragte meine Mutter und kniff die Augen zusammen.
»Bei … Logan«, log ich. Ich wusste nicht, wieso ich ihr nicht einfach die Wahrheit sagte. Ich hatte plötzlich das Ge-fühl, dass ich ihr nicht mehr vertrauen konnte. Und das machte mich so verletzlich und traurig, dass ich danach einfach aus der Küche ging und in mein Zimmer eilte. Ich wollte nicht alleine sein. Ich wollte eine ganze Armee haben, die mich unterstützte.
In meinem Zimmer fand ich alles so vor wie immer. Mein Handy lag vor meinem Kleiderschrank, der Akku einen Meter weiter. Ich kniete mich vor den Schrankspiegel und flickte mein Handy wieder zusammen. Außer, dass der Akku rausgeflogen war, hatte es von außen keine Schäden. Ich schaltete es ein und wählte Rileys Nummer. Aber kurz bevor er rangehen konnte, legte ich wieder auf. Was wolle ich denn von ihm? Mit ihm konnte ich nicht über Ethan reden. Ich könnte mit Dave reden. Sam hatte mir ja angeboten, mir seine Nummer zu geben.
Ich suchte die unbekannte Nummer, die mich eben angerufen hatte und drückte auf anrufen. Meine Finger fingen an zu zittern, als ich daran dachte, Daves Stimme am Telefon zu hören. Aber ich wollte jetzt mit keinem anderen darüber reden, weil ich genau wusste, dass er der Bauerssohn war. Bei ihm war ich mir hundertprozentig sicher, dass er nicht der Teufels-sohn war.
»Hallo?«
»Hi, Sam. Hier ist Ally.«
»Hallo, Ally. Was kann ich für dich tun?«
»Ich würde gerne Daves Nummer haben.«
Eine kleine Pause. Dann räusperte Sam sich und kramte et-was herum. »Natürlich, ich schick sie dir per SMS, ja?«
»Danke«, murmelte ich, aber er hatte schon aufgelegt. Kurz danach piepte mein Handy und kündigte die besagte Mittei-lung an.
Bis Dave dran ging dauerte es etwas länger. Ich wollte schon aufgeben, als sich eine Mädchenstimme meldete.
»Hallo? Ally?« Im Hintergrund sagte jemand: »Ist das Ally? Gib sie mir, Jolina!« Dann wieder Jolina: »Okay, warte, Ally, ich geb dir Dave, den willst du doch, oder? Ally?«
»Ähm.« Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher. War das gut? »Ja.«
Kurz raschelte es, dann war Dave dran. »Ally? Alles in Ordnung?«
Allein diese paar Wörter brachten meine Welt zum Stillstand. Mein Gehör war ausgeschaltet, nur noch auf seine Stimme ausgerichtet. Mein Gesicht verkrampfte sich zu einem gequälten Ausdruck. Ich spürte seine Anwesenheit, als säße er neben mir. Ich konnte seinen süßlichen Duft riechen. Für einen Moment schien mir Dave perfekt zu sein, aber dann kam mir der Unfall in den Sinn. Dave fehlte ein Arm. Ich schluckte den aufkommenden Kloß hinunter.
»Hi«, murmelte ich dann kläglich.
»Hi«, entgegnete Dave ebenfalls weicher. »Wie geht es dir? Ja, danke, Jolina.«
»Super«, flüsterte ich und ich spürte die Tränen, die meinen Hals hinunter rannen. »Dir?«
»Ally, was ist los?«
Ich nahm das Telefon von meinem Ohr. Ich konnte nicht mehr sprechen. Ich unterdrückte einen Schluchzer. Wollte ich nicht stark sein? Ich presste meine zwei Finger auf meine Augen und wollte den Tränenfluss aufhalten. Ich räusperte mich, biss die Zähne zusammen, ballte meine Hand zu einer Faust und stellte mir Owen tot vor. Stellte mir Gott vor, wie er den Teufel so richtig demütigte. Sofort hellte sich meine Laune auf.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich fest. Ich wollte es ihm plötzlich nicht mehr sagen. Ich war schon immer ein Einzelkämpfer gewesen. Ich würde es alleine schaffen. »Wie geht es dir mit deinem Arm?«
»Das interessiert dich doch nicht wirklich. Ich merke doch, dass was ist.«
Plötzlich wurde ich patzig und ich bereute es sofort, nachdem ich geantwortet hatte. »Wenn es mich nicht interessieren würde, würdest du nicht mit mir telefonieren, Dave. Also, sag.«
»Ganz okay. Ich bin sehr froh, dass es nicht der rechte ist«, konterte Dave dann kühl. All das, was mal zwischen uns gewesen war oder hätte werden können oder was wir gerne gehabt hätte, war verschwunden, in just dem Moment, als wir sachlich miteinander redeten. »Wie kommst du so zurecht?«
»Alles bestens, danke.«
»Okay, ich muss jetzt auflegen. Mach’s gut, Ally.«
»Nein, Dave, warte!«
»Was?« Ich spürte wieder den Kloß. Natürlich, ich hatte gesagt, dass es so besser war, aber es tat verdammt weh, ihn so mit mir reden zu hören. »Ally, denk daran, worum du mich gebeten hast. Ich erfülle nur deinen Wunsch.«
Dann wurde die Verbindung abgebrochen.



Kapitel 16 - Kämpfer







Ich war allein. Ja, ich fühlte mich so allein wie noch nie. Zwar verstand ich mich mit Ethan so gut wie mit keinem anderen – wir waren jetzt ein Paar – aber mir fehlte das liebevolle Lachen von Riley, Logans Witze in meiner Gegenwart. Es war, als wäre ich eine Aussätzige. Keiner von den Jungen beachtete mich noch wirklich. Ethan meinte immer, dass »die doch alle total bescheuert seien«, aber das brachte mir keine gute Laune. Einmal, als Riley mich angegiftet hatte, hatte Ethan ihn angegriffen und fast geschlagen. Letzteres hatte ich zum Glück noch verhindern können. Eigentlich fand ich das Ganze von Ethan auch wieder süß, dass er mich so verteidigte, aber Rileys helfende Hand wünschte ich mir trotzdem zurück.
Aber bleiben wir mal bei Ethan. Dafür, dass ich mich eigentlich nicht verlieben konnte, schwebte ich manchmal doch auf Wolke 7. Denn Märchen hin, Gefahr her: Ethan war ein Traummann. Er sah umwerfend aus und war ein Gentleman.
Mein Hausarrest war aufgehoben, da meine Tante und meine Mutter sich daran nicht mehr erinnern konnten. Von Ethan wussten sie Bescheid und sie waren entzückt von meinem festen Freund. Ständig lud meine Mutter ihn zum Essen ein und fragte ihn über seine Zukunft aus, schließlich hatte Ethan die Schule schon fertig. Er sagte dann immer, dass er mal Innenarchitekt werden wolle.
Owen war ich schon eine ganze Weile nicht mehr begegnet. Nur einmal, als ich zu Ethan gegangen war, stand er in der Tür. Ethan hatte gemeint, dass er ihm nur etwas gebracht hatte, was er auf der Party vergessen hatte, aber ich glaubte ihm nicht so recht.
Ich schlug mein Schließfach in der Schule zu und drehte mich zum Ausgang. Ich prallte mit dem Kopf gegen eine Jungenbrust. Erschrocken sah ich nach oben und stöhnte innerlich, als ich Kevin aus meinem Mathematikkurs erkannte.
»Kevin, was willst du?«
»Mein Angebot für den Abschlussball steht noch.«
Ich rollte mit den Augen. Aber ein kleiner Angstball machte sich in meinem Magen breit. Der Abschlussball. Alle gingen dort mit einer Person hin, die sie mochten, vielleicht sogar liebten. Ich würde ja mit Ethan gehen, wenn da nicht der Gedanke wäre, dass es mit Dave vielleicht viel schöner wäre.
»Kevin, ich sagte doch schon, nein.«
Er packte mich an den Schultern. »Kapierst du das nicht? Ich kann mit jeder gehen. Ich bin schließlich Mr High School.«
Ach, ja. Diese dämlichen Abstimmungen. Jedes Jahr wurden ein Junge und ein Mädchen gewählt, die am beliebtesten, am hübschesten, am coolsten sein sollten. Ich habe bis jetzt nie den Gewinner gewählt, also auch nicht Kevin.
Kevin war Mr High School. Und er wollte mit mir auf den Ball gehen. Eigentlich sollte ich also fröhlich sein, aber mit diesem Rugbyspieler wollte ich dort nicht auftauchen, denn aus Beliebtheit machte ich mir nichts. Freunde hatte ich auf meiner Schule ja sowieso nicht.
»Ich könnte dich beliebter als Miss High School machen, Ally.«
»Kevin, nein!«, sagte ich hart und drückte mich an ihm vorbei. Ich drehte mich kurz vor dem Ausgang nochmal um und sagte laut zu ihm: »Wann wird dein kleines Gehirn endlich kapieren, dass Beliebtheit nicht alles ist?«
In dem Moment, in dem ich das sagte, hätte ich gerne die Zeit zurückgespult. Noch nie hat sich ein Mädchen getraut so etwas zu Kevin zu sagen, außer vielleicht der Freak.
Der Freak war ein Mädchen mit kurzen, stacheligen, schwarzen Haaren. Sie trug immer alles in schwarz und war auch schwarz geschminkt. Ich hatte nichts gegen sie, ich machte sie auch nicht runter, wie Kevin und seine Gang, aber sie war mir unheimlich. Ich lachte leise. Ich lebte mit dem Teufelssohn manchmal unter einem Dach und fürchtete mich vor einem Emo-Mädchen.
Jedenfalls als ich durch die große Tür ging, kam mir der Freak nachgerannt, hakte sich bei mir ein und konnte sich vor Lachen nicht mehr halten.
»Du bist genial. Ich hätte nicht gedacht, dass so eine hübsche Pussi wie du, dem einen Korb gibt.« Sie sah mich an. »Ich bin übrigens Layca..«
Ich zog eine Augenbraue hoch, ihre Bedrängung machte mir Angst. »Ah, ich bin Ally.«
»Ich weiß, ich hör immer, wie Kevin mit seiner Mannschaft über dich redet.«
Was? Die Rugbymannschaft redete über mich? Meine Angst steigerte sich noch mehr. Nur weil ich mir aus Kevins Fragen nichts machte, war es mir nicht egal, dass die beliebten Jungen der High School über mich redeten.
»Negatives oder Positives?«
Layca lachte. »Nur Positives. Also in ihrer Sicht. Sie wollen dich alle mal flachlegen.«
Ich verschluckte mich an meiner Spucke und hustete. Um Gotteswillen, nein! Ich musste mit Ethan darüber reden, dass er mich ja vor diesen Erbsenhirnen bewahrte!
Ich entzog Layca meinen Arm und hatte das dringende Bedürfnis ihn irgendwo abzuwischen, aber da das unhöflich rüber kommen würde, ließ ich es bleiben.
»Also, wieso hast du ihm abgesagt?«
»Ich habe einen Freund«, sagte ich so selbstverständlich, dass ich für einen Moment Angst hatte, ich hätte mein Vorhaben vergessen. Denn das war ja eigentlich nicht der Grund gewesen, warum ich Kevin einen Korb gegeben hatte, wie Layca es ausdrückte. Nein, ich mochte Kevin nicht. Und ich wollte auch nicht Miss High School werden. Ich rollte mit den Augen über meine Gedanken.
Allerdings schlich sich ein kleiner Satz in meinen Kopf: Und, weil du mit Ethan dahin gehen willst.
Ich schürzte die Lippen und musste an Rileys Party denken. Der Abschlussball würde nichts anderes sein, sobald die Lehrer gefahren sein würden. Und Ethan war einfach der perfekte Partypartner.
»Uh, die süße Ally hat sich einen geangelt, was?«
»Ähm, ja. Ist das so überraschend? Und wieso süße Ally

? Das hört sich ja an, als hätte ich einen Spitznamen.«
»Überraschend schon, wie Kevins Gang meint, denn sie denken immer, du wärst noch unerfahren … und ja müsstest mal gut rangenommen werden.« Layca sah für eine kleine Zeit vor sich hin und ich wollte sie schon anstoßen und sie zurück ins Leben holen, als sie weiter plapperte. »Und süße Ally

hab ich auch von denen. Findest du das schlimm? Immer noch besser als Der Freak

. Zumal ich ja nicht männlich bin. Ich meine, hallo, der

Freak?!« Layca lachte auf. »Pff, aber ich mach mir aus sowas ja nichts. Ich ziehe mich eigentlich eher so an, um sie zu unterhalten, weißt du? Das ist echt amüsant, wie gut man Leute verarschen kann«, sagte sie lachend und packte mich am Arm. Wir standen jetzt auf dem Parkplatz und waren bei ihrem Motorrad angekommen. »Ich bin nämlich eigentlich die süße Clay. Aber pscht, Kevin soll doch seinen Spaß haben.«
Gackernd schwang sie sich auf ihre Maschine, stülpte sich den Helm über und meinte: »Mach’s gut, Ally.«
Dann fuhr sie vom Parkplatz. Ich war verwirrt. Irgendwie fand ich es interessant und witzig, dass Layca die Jungen so verarschte, aber ich verstand nicht den Sinn dahinter? Ein Bild von Layca schaltete sich in meine Gedanken. Ein Mädchen mit braunen, glänzenden Haaren, einem entzückendem Lachen, Sommersprossen und Mädchenklamotten, das einen ganzen anderen Namen trug. War das die wahre Layca oder besser gesagt Clay? Aber warum machte sie sich zum Gespött der Schule, nur um Kevin zu unterhalten?!
Als ich auf mein Handgelenkt blickte, sah ich das Armband, dass Ethan mir geschenkt hatte. Und ich entschied, dass ich Wichtigeres zu tun hatte, als mir Gedanken über Laycas schräges Leben zu machen.
Ich rannte zu der Bushaltestelle und hüpfte in den Bus, der schon wartete. Ich ließ mich in eine Zweierbank plumpsen, stöpselte mir meine iPod-Hörer in die Ohren und drehte laut auf. Ich wollte, wie immer, die Gespräche und den Lärm der anderen Fahrgäste übertönen.
Heute hatte ich Ballett. Ich ging nicht gerne dahin, aber ich wollte auch nicht damit aufhören, denn das war etwas, was noch einigermaßen normal war. Es war jeden Dienstag. Jeden Dienstagnachmittag rannte ich in das alte Internat und nahm Ballettunterricht. Und jeden Dienstag mit den gleichen, blöden Zicken.
Ich lächelte. Ich freute mich darauf, wieder ihren Gesprächen zuhören zu können. Was für Probleme die immer hatten! Ich sollte ihnen mal meine erzählen, dann würden die mal den Ernst des Lebens verstehen und kapieren, dass das rechte, abstehende Ohr des Jungens von nebenan nicht der Weltuntergang war!

Ich war immer spät dran, keine Ahnung wieso. Ich meine, ich habe mich eine Stunde vorher fertig gemacht und ich muss nur zehn Minuten zu Fuß gehen. Ist es da dann zu viel verlangt, dass ich um zehn vor fünf auch los gehe und nicht erst um 5 vor?
Während ich rannte, motzte ich mit mir selber. Das machte ich jedes Mal, aber es wurde einfach nicht besser. Durchgeschwitzt kam ich bei dem Internat an, schob die große Eichentür auf und stolperte in die Umkleide. Die Zicken waren schon da und unterhielten sich über den Ex von Chelsea.
»Was? Echt? Der hat sie ja wohl nicht mehr alle! Der kann dich doch nicht einfach nicht zu seinem Fußballabend mit seinen Kumpels einladen!«, sagte Cloe verständnislos.
»Doch, ey, der ist so behindert im Kopf, das geht schon nicht mehr schlimmer. Aber das war nicht das Auschlaggebende.«
»Was war es denn?«, fragten Heaven und Jacky gleichzeitig.
»Er hat mir nichts zum Monatstag geschenkt«, jammerte Chelsea und fing an zu weinen. Ihre perfekte Mascara verlief natürlich nicht, also fragte ich mich direkt: Wie viel die wohl gekostet hatte und ob Chelsea nicht nur so tat, als würde sie weinen. So oder so, ihre Busenfreundinnen schirmten sie von den Blicken der anderen Mädchen ab und trösteten sie unentwegt. Mich interessierte brennend, wie lang diese Beziehung gehalten hatte. Normalerweise sprachen wir nie miteinander, außer wenn sie mal Bemerkungen über mein Aussehen oder Outfit machten, aber heute konnte ich mich einfach nicht zurückhalten: »Das ist ja traurig, Chelsea, wie lang ward ihr denn schon zusammen?«
»Einen Monat!«
»So lang?!«
»Ja!«, heulte Chelsea und hatte meine Frage wohl falsch verstanden. Mein »so lang« war eher gemeint wie »so kurz«.
»Wie … ähm … gemein«, murmelte ich und drehte ihnen den Rücken zu, um mein Kichern besser verbergen zu können. Wie gesagt, die hatten vielleicht Probleme.
Während des Unterrichts saß Chelsea fast die ganze Zeit nur auf der Bank und unterdrückte die Tränen für die ewige Beziehung. Ihre Freundinnen warfen ihr ständig mitleidige Blicke zu, ich aber versuchte dem Unterricht zu folgen. Mich plagte aber unentwegt dieselbe Frage: Wie ging mein Leben jetzt weiter?
Ich hatte Angst, dass ich einfach so in den Tag lebte. Ich musste wieder einen Plan haben. Natürlich mein Plan war immer noch mit Ethan zusammen zu sein und zwar für den Rest meines unerträglichen Lebens. Aber das konnte doch nicht alles sein, oder? Mich von Dave für immer fernhalten, war auch noch ein Punkt. Ich wusste einfach nicht, was ich noch tun sollte. Ich hatte so wenig Ahnung von dem Ganzen. Ich fühlte mich, als wäre ich auf einer Kletterwand, aber der Weg hatte ein Loch, an dem ich nicht vorbei kam.
»Ally!«, motzte Heaven hinter mir und schubste mich nach vorne. Ich sollte den Tanz von letzter Woche vortanzen, aber ich hatte keine Ahnung mehr wie er ging. »Du bist dran.«
»Fang an«, schnatterte meine Tanzlehrerin.
Ich wurde rot, schloss dann aber die Augen und griff innerlich nach der Entschlossenheit, die ich mir antrainieren wollte.
»Ich kann den Tanz nicht mehr.«
Die Zicken hinter mir stöhnten und Cloe meldete sich, um es vorzutanzen. »Ja, Cloe, dann mach du. Ally, pass genau auf und merke ihn dir diesmal.«
Ich nickte abwesend. Jetzt war wieder so ein Moment, in dem ich mich am liebsten auf dem Boden zusammen gerollt und geweint hätte. Und als ich die sanfte Klaviermusik in den Ohren hatte, als ich Cloe beim Tanzen zusah, fiel mir alles wieder ein. Das ganze Märchen. Meine Aufgaben. Meine Pflichten. Mein Schicksal.
Dave.
Ja, ganz besonders dieser Junge.
Ich drückte meine beiden Finger auf die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Ich wusste nicht, wieso ich so an diesem Jungen hing. Ich kannte ihn doch gar nicht wirklich. Und doch, da war etwas in mir, dass mir sagte, dass ich Dave schon ewig kannte. Dass unsere Seelen uns kannten. Ich habe ihn schon immer geliebt. Mein Herz, das Herz des Sterns, hat Dave schon immer geliebt. Jede Generation wieder und wieder. Birgit
Ich presste meine Finger fester auf meine Augenlider. Ich durfte jetzt nicht weinen. Weinen war etwas für Schwächlinge und ich war stark. Ich würde nicht aufgeben. Sollte der Teufel doch machen was er wolle. Ich war getauft. Ich war ein Kind Gottes. Und es war schon von alleine meine Pflicht gegen den Teufel zu kämpfen.
»Ally, dann tanz du jetzt«, meinte meine Lehrerin und Cloe stellte sich außer Atem neben mich. Was? Nein! Ich hatte wieder nicht aufgepasst. »Los.«
Zum Glück sagte Chelsea, dass die Stunde rum war und ich konnte aus dem Raum flüchten. Ich zog mich schnell in der Umkleide um und flocht meine Haare zu einem Fischgrätenzopf. Sobald ich mich in dem alten Spiegel in der Umkleide ansah, war meine Schwäche verschwunden. Ich erkannte die Entschlossenheit, die Stärke in meinen Augen. Ich erblickte sie in den eingefallenen Wangen, in dem zu einem harten Strich verzogenen Mund, in dem Blitzen in meinen Augen.
Jacky drängte sich neben mich und schubste mich aus dem Spiegel. Ich versuchte mich nicht über sie aufzuregen. Ich ging gemächlich zurück zu meiner Tasche, als Heaven plötzlich kreischend in den Raum gestürmt kam. Mein Herz hatte für einen Moment lang ausgesetzt.
»Heaven, Süße, was ist los?«
»Leute, da draußen steht ein extrem heißer Typ auf halb acht!« Alle vier fingen an zu kreischen und fassten sich an den Händen und Schultern. »Ihr werdet es nicht glauben. Er ist so unglaublich attraktiv, das gibt es nicht! Chelsea, geh raus und schnapp ihn dir!«
»Hey, nein, wenn der mir gefällt bekomme ich den«, giftete Jacky.
»Sei doch mal ein wenig sentimental, Jacky«, keifte Cloe und schüttelte den Kopf. »Du bist doch glücklicher Single! Chelsea braucht jemanden an ihrer Seite.«
»Das heißt doch nicht, dass ich nicht auch einen Beschützer will«, motzte Jacky und zog eine Schnute.
Ich schob mich an den vier Streithähnen vorbei und ging den kalten Gang zum Ausgang.
»Mädels, jetzt haltet mal eure Klappen. Guckt ihn euch erst mal an!«
Kreischend und kichernd stürmten sie an mir vorbei und zerzausten meinen Zopf. Ich blieb stehen, atmete einmal tief ein und richtete ihn wieder. Auf diese Barbiepuppen nicht wütend zu sein, war echt verdammt schwer und ich bewunderte jeden, der es mit ihnen aushielt. Wahrscheinlich hatte Chelseas Ex es auch nicht bei ihr ausgehalten und hatte sie deshalb verlassen.
Als ich am Ausgang auf der großen Treppe ankam, standen die vier am Geländer und schielten zum Typen. Ständig kicherten sie und flüsterten irgendetwas.
»Was meinst du, was der hier macht?«
»Er ist mit seinem Auto hier.«
»Mit einem extrem geilen Auto!«
»Meint ihr, er wartet auf einen von uns?«
»Bestimmt. Ist das nicht dieser Heiße aus der Disko von letztens, Cloe?«
»Meinst du, der ist wegen mir hier? Wie süß wäre das, bitte?«
»Seht nur, er hat uns gewunken!«
Genervt drückte ich mich zur Treppe und realisierte, dass dieser Typ nicht einen von ihnen, sondern mir gewunken hatte. Ich blieb wie angewurzelt auf der Treppe stehen. Ich starrte den »Heißen« bloß an. Die Zicken kicherten immer noch und fragten sich, wieso er hier war. Für mich war die fragwürdige Identität des Typen geklärt. Denn der »extrem heiße Typ auf halb acht« war niemand anderes, als mein Freund, Ethan Strong.
Unter den bohrenden Blicken trottete ich auf Ethan zu, der mich mit einem intensiven Kuss auf den Mund begrüßte. Er flüsterte, mit den Lippen an meinen, ein leises »Hi«. Ich spürte die tötenden Blicke in meinem Rücken.
»Was? Der geht mit dieser hässlichen, fetten Kuh?«
Ethan zog die Augenbrauen zusammen, grinste aber auch ein wenig. Die zusammengezogenen Brauen galten wohl dafür, dass er es nicht gut fand, wie sie mich nannte, was ja irgendwie süß wäre, aber lieber wäre es mir, er würde mich vor den dummen Wasserstoffblondinen rechtfertigen. Und zwar ohne dieses Grinsen.
»Wieso grinst du?«, sagte ich und hörte im Hintergrund wie Jacky sagte: »Sieh mal, wie der uns angrinst, diese Ally nervt ihn bestimmt total. Er würde ja allein schon vom Aussehen viel besser zu einem von uns passen.«
»Nur weil ich jetzt vergeben bin, heißt das nicht, dass ich nicht gerne mit anderen Mädchen aus Spaß flirte.«
Ich löste mich von ihm. »Tja, wenn du aber vergeben bleiben willst, dann solltest du das lieber lassen.«
Ethan blickte endlich wieder mich an und schmunzelte. Er zog die Brauen nach oben und steckte die Hände in seine Hosentaschen. »Du bist eifersüchtig.«
»So ein Quatsch«, motzte ich und stampfte an ihm vorbei. Es wurmte mich, dass er irgendwie recht hatte. Wieso reagierte ich sonst so? Konnte es sein, dass ich mich tatsächlich in Ethan verliebt hatte? Ich musste kurz erleichtert lächeln. Das waren doch tolle Aussichten. Dann dachte ich an sein Grinsen und diese blöde Eifersucht kehrte zurück. Oder war es ganz einfach wie bei Jenny gewesen? Dass ich dieses Problem nur nicht auch noch gebrauchen konnte?
»Hey, du kannst mich nicht im Ernst erzählen, dass du diese Einladung ablehnen kannst«, rief Ethan mir nach. »Dein Freund steht mit seinem tollen Auto hier und will dich abholen. Dann will er dich mit zu sich nach Hause nehmen und dort die Nacht mit dir verbringen. Und nur mit dir. Du glaubst doch selber nicht, dass du das nicht annehmen kannst.«
Er war manchmal einfach zu sehr von sich selbst überzeugt. Aber ich musste grinsen. Was er wohl in der Nacht vor hatte? Schmollend drehte ich mich um. Ethan lachte und stieg ins Auto, nicht ohne den vier noch zu winken. Ich unterdrückte die Eifersucht und stieg in sein silbernes Carpio.
»Wie war das mit dem vergeben bleiben?«
»Das war nur um dich nochmal ein bisschen zu provozieren, Baby.«
Ich dachte, ich hätte mich daran gewöhnt, dass er mich Babe, Baby, Schatz, Süße nannte, während ich bei Ethan blieb, aber jedes Mal wenn einer dieser Kosenamen fiel, zuckte ich zusammen. Dadurch fühlte ich mich zu sehr an ihn gebunden, das wollte ich nicht.
»Na, vielen Dank«, murmelte ich und sah aus dem Fenster. Seine heiße Hand fand mein Knie und ein Stromschlag durchfuhr meinen ganzen Körper, als seine Finger es kurz drückten. Wieso fand ich es immer so überwältigend, wenn er mich berührte? Vielleicht, weil ich es auch ein wenig bedrängend fand, als wäre er ein Pädophiler. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so von ihm dachte. Aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass er verdammt nochmal der Teufelssohn war, ich sollte vielleicht wirklich besser auf der Hut sein, wenn ich mit ihm zusammen war. Beziehungsweise, wenn ich mit ihm alleine war.
»Also, was sollen wir heute machen?«
»Oh, ich dachte, uns würde schon was einfallen«, sagte Ethan und bog in seine Straße ein. Er musste ziemlich gerast sein, dass wir jetzt schon bei ihm waren. »Etwas, bei dem man nicht viel nachdenken muss. Bei deinem Anblick bin ich nämlich immer ganz durcheinander im Kopf.«
Und schon wieder. Wie konnte er solche Sachen einfach so leicht ausdrücken? Ich könnte niemals offen sagen, dass mich sein Aussehen nervös machte, vor allem weil es stimmte, auch wenn ich noch so viel nur vorspielen wollte, vieles davon war Wirklichkeit geworden.
Er parkte vor dem großen Mehrfamilienhaus und zog die Handbremse. Dann saßen wir einfach so im Auto. Manchmal am Tag bekam ich so einen Tiefpunkt. Einen Tiefpunkt, in dem mir einfach nichts mehr Spaß machte. Da würde ich mich am liebsten einfach nur zusammenrollen und starren, nachdenken. Und seit ich das Märchen kannte und mein Schicksal, gab es mehrere dieser Tiefpunkte. Eigentlich hatte ich dieses Gefühl ständig. Gerade jetzt auch.
»Alles klar, Schatz?«
Ethan sah mich besorgt an und legte eine Hand an meine Schulter. Eigentlich dachte ich nicht an Kevin, sondern an Dave, aber mir fielen die Worte von Layca wieder ein. Ich schluckte schwer, für Ethan gut vernehmlich. Dann blickte ich ihm direkt in die Augen und flüsterte: »Da ist so ein Junge auf meiner Schule … und ein Mädchen hat mir erzählt, dass er und seine Kumpels … nun ja.« Ich wurde rot im Gesicht. Ich konnte es nicht so einfach ausdrücken, wie Layca es getan hatte.
»Was wollen sie?«
Er erinnerte mich an Riley. Und das wollte ich nicht. Ethan war

nicht Riley. Er würde Riley oder Dave nie ersetzen können. Und er sollte auch nicht mein Gesprächspartner bei Problemen sein, aber wie sollte ich jetzt schon einen Rückzieher schaffen? »Mich … flachlegen«, flüsterte ich und sah auf meine Füße, die ich schüchtern gekreuzt hatte. Ich hörte Ethan neben mir lachen.
»Was für Kohlköpfe sind das denn?«
»Kevin ist … Mr High School.«
Ethan lachte. »Ach, und das heißt, dass er etwas wert ist?«
Nein, das hieß das nicht. Plötzlich fand ich es blöd, dass ich mit Ethan darüber gesprochen hatte. Ich hätte so viel lieber als erstes mit Riley geredet. Er hätte mich beschützt. Ethan tat das in gewisse Weise zwar auch, aber irgendwie … anders.
»Am besten zeigst du mir diesen Kerl morgen mal.«
Ich nickte stumm und wir stiegen aus seinem Wagen. Mein Tiefpunkt war mit einem Mal verschwunden, als ich Ethans Wohnung betrat. Sie schien mir gar nicht mehr so unwohnlich. Ich hatte mich wahrscheinlich schon an Ethans Stil gewöhnt. Ethan schmiss sich auf sein breites Doppelbett, das fast ganz alleine in seinem Schlafzimmer stand. Gegenüber war ein kleiner Schrank, mehr nicht.
Er legte seinen Kopf auf seine Arme und überkreuzte die Knöchel. Ich stand unschlüssig im Türrahmen. Ich musterte Ethan. Er war fantastisch. Ja, das war er wirklich. Aber irgendetwas störte mich an ihm. Vielleicht war er zu perfekt? Nein, er war ganz einfach der Teufelssohn.
Ich riss die Augen auf. Mir war plötzlich total schlecht. Ich stürzte ins Badezimmer und schloss ab. Ethan hatte mir doch gesagt, dass er gar nicht der Sohn war. Das hatte ich total vergessen. Er war nur eine Seele aus der Hölle. Aber wie viel konnte, beziehungsweise durfte ich ihm glauben? Er steckte trotz allem mit Owen unter einer Decke. Er konnte das mit der Seele auch nur gesagt haben, um mich zu verwirren. Dass ich ihm noch mehr vertraute. Aber tat ich das denn überhaupt? Vertraute ich ihm? Miesgelaunt stellte ich fest, dass es so war. Ich vertraute ihm. Meiner Gefahr. Ja, ich stürzte mich mit offenen Armen in den Abgrund.
Beging ich schon wieder einen Fehler? War es schlecht sich mit Ethan einzulassen? War es vielleicht sogar besser, einfach das Märchen anzufangen? Wenn Riley und Dave der Überzeugung waren, dass sie sterben wollten, dann konnte sie doch keiner umbringen, oder?
Bei Rileys Namen zog sich mein Magen zusammen. Ich setzte mich erschöpft auf die Toilette. War Riley wirklich der Prinz? Hatte mir das eigentlich je schon mal jemand gesagt? Konnte ich mir in Rileys Rolle sicher sein? Ich nickte. Ich konnte nicht anfangen, alles neu anzuordnen. Das würde zu kompliziert werden. Aber wenn Ethan nicht der Teufelssohn war, brachte es dann überhaupt etwas mich mit ihm zu beschäftigen? Wieder nickte ich, um Klarheit in meinen Kopf zu bringen, die schwarzen Wolken zu vertreiben. Ja, es war gut, denn ich wollte mich ja neu verlieben. Und irgendwie hatte ich ein wenig das Gefühl, dass ich auf dem Weg war, es zu schaffen.
»Ally? Alles klar bei dir? Geht es dir gut?«
Ich atmete einmal tief ein, besah mich im Spiegel, kämmte meine Haare kurz mit meinen Fingern, wusch mir die Hände und schloss die Tür auf. Ich lächelte Ethan an. »Ja. Ich musste nur mal kurz ins Bad.«
Ethan legte seine Hände um meine Taille. »Und ich hatte schon Angst, ich hätte dich vergrault.«
So wie er mich ansah, mich anlächelte, mich anfasste, vergaß ich, dass er die Gefahr war. Wenn ich in seine dunklen Augen sah, dann vergaß ich einfach alles. Da wollte ich plötzlich nur noch bei ihm sein. Konnte ich mich wirklich in ihn verlieben? Seine Berührungen taten mir gut. Ich wollte mehr davon. Mehr von ihm. Ich weinte innerlich vor Freude, weil ich glaubte, ich hätte mich wirklich in ihn verliebt.
»Ethan? Redest du wirklich mit Kevin?«
»Wenn der meint, er könnte dir an die Wäsche gehen, dann hat er sich aber gewaltig geirrt«, sagte Ethan laut. »Du gehörst nur mir. Dann werde ich mich morgen mal als dein Freund und Bodyguard vorstellen.«
Ich kicherte und umarmte ihn ganz fest. Diese sentimentale, gentlemanlike Seite von Ethan war so ungewohnt, dass ich sie jedes Mal genießen wollte. Das war nämlich meiner Meinung nach sein Schokoladenkern. »Danke.«
Ethan küsste mein Haar und zog mich in sein Schlafzimmer. Dort ließen wir uns auf sein Bett fallen und begannen eine kindische Kissenschlacht – Ethan hatte tausende Kissen auf seinem Bett! Hätte mir jemand gesagt, ich würde mal mit Ethan Strong, dem geheimnisvollen, selbstüberzeugtem Ethan Strong, eine Kissenschlacht machen, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber so konnte man sich in Menschen täuschen. Ich hatte mich ja auch in seiner Rolle getäuscht. Bestand also eine Möglichkeit, dass ich und Ethan zusammen bleiben könnten? Diese Höllenseele kam im Märchen ja schließlich nicht vor. Die Furien aber auch nicht, dachte ich dann.
Als Ethan jedoch mir mein Kissen aus der Hand nahm und mich küsste, vergaß ich das Märchen. Er drückte meine Schultern auf die Matratze und legte sich über mich. Seine Arme hatte er rechts und links von mir aufgestellt. Oh, man, ich war wirklich im rosaroten Himmel. Ich spürte den sachten Wind, der auf meiner Wolke 7 wehte. Ich lachte während des Kusses über meine Gedanken. Aber Ethan ließ sich nicht daran stören und machte weiter. Ich schloss die Augen und genoss seine Hitze, die ich nun am ganzen Körper verspürte. Und als seine Finger mein Schlüsselbein umkreisten, da wusste ich, dass ich über Dave hinweg kommen würde. Ich würde ihn vergessen.
Irgendwann legte Ethan sich neben mich. »Also ich bin ja nicht untrainiert, aber stundenlang in Liegestützposition zu sein, kann ich auch nicht.«
Ich merkte, dass er außer Atem war und fragte mich prompt, ob ich der Grund dazu war. Ich jedoch war auch nicht ohne Hecheln davon gekommen. Ethan schielte mich belustigt an.
»Willst du jetzt, dass wir tauschen, oder wie?«, fragte ich lachend. »Wenn ich mich aufstütze krache ich nach zehn Sekunden aber ein. Meine Oberarme sind Pudding.«
Ethan legte sich auf die Seite und musterte mich. »Wäre doch gar nicht so schlecht. Du fällst ja weich.«
Er strich mir ein paar Haarsträhnen hinters Ohr. Plötzlich war ich total erschöpft. Dort, wo seine Fingerspitzen entlang gestrichen waren, hinterließen sie heiße Spuren. An seine ungewöhnliche Körpertemperatur werde ich mich wohl nie gewöhnen. Ich musste direkt an Twilight denken. Ich verdrehte innerlich die Augen. Diese Bella hatte aber auch echt Probleme. Wenn sie sich nicht dauernd in Gefahr begeben würde, hätte sie doch ein tolles Leben.
Ich schürzte die Lippen und sah Ethan an. Sein markantes Gesicht erinnerte mich irgendwie an Edward. Ich schüttelte schnell den Kopf, ich hatte jetzt keine Lust mein Leben mit dem von Bella zu vergleichen. Zudem, dass Bella ihren Edward ja nicht gezwungen lieben musste, so wie ich.
Schluss jetzt.
»Du siehst müde aus.«
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich und setzte mich auf, sodass Ethans Hand, die noch auf meiner Wange geruht hatte, auf die Matratze fiel. Auf Ethans Glasnachttischchen stand ein schwarzer Wecker. 20:43 Uhr. Man könnte schlafen gehen, wenn man wollte. Es war nicht zu früh. »Bist du denn nicht müde?«
»Ich hab ja eben nicht noch eine Stunde in einem Ballettsaal rumgehüpft«, entgegnete er und richtete sich ebenfalls auf. »Willst du denn noch etwas Essen, bevor wir schlafen gehen?«
Er lächelte. Ich merkte zwar, dass er sich eigentlich dagegen sträubte schon so früh ins Bett zu gehen, aber er wollte mir einen Gefallen tun und sagte deshalb wir. Grübelnd sah ich auf meine nackten Füße. Ich sollte dringend mal den abgeblätterten, roten Nagellack entfernen. »Hast du Nagellack-Entferner?«, fragte ich und vergaß das Essen völlig.
»Sicher, ich lackier mir jeden Abend die Nägel.« Lachend stand er auf und zog mich am Arm ebenfalls auf die Beine. »Auf Nagellackentferner musst du wohl noch, bis du wieder zu Hause bist, verzichten.«
»Was für ein Verlust«, meinte ich und lachte.
»Stimmt. Aber nicht, wenn du stattdessen mich haben kannst.«



Kapitel 17 - Glitzerstaub





Es waren schon wieder einige Wochen vergangen. Die Zeit raste in letzter Zeit, hatte ich das Gefühl. Aber vielleicht lag das auch einfach daran, dass Ethan mir jede freie Minute raubte. Ständig holte er mich vom Ballett oder von der Schule ab, machte meine Hausaufgaben – er konnte das schneller – und behielt mich dann in seinem Bett. Obwohl ich das alles nur tat, damit Riley und Dave nicht sterben mussten, dachte ich mit jedem Tag mehr, dass ich es gar nicht so schlecht fand. Ich mochte Ethan mehr und mehr. Er war einfach der Boyfriend.
Von den anderen hatte ich schon ewig nichts mehr gehört. Riley meldete sich nicht mehr und wenn ich ihn mal zufällig sah, wenn Owen meine Tante abends oder morgens – ich wollte gar nicht wissen, wo sie die Nacht gewesen war – ablieferte, dann blickte er mich kurz aus dem Autofenster an und verschanzte sich dann hinter der Sonnenblende. Na, gut, wenn er meint, dachte ich dann immer trotzig.
Josh hatte ich seit unserem Streit nicht mehr gesehen, aber ich vermutete schwer, dass er sich seine Zeit mit Logan und Sam vertrieb. Und ja, Logan hatte ich einmal in der Stadt getroffen. Blöderweise war ich dort mit Ethan unterwegs gewesen. Logan hatte mich leicht angelächelt, aber als Ethan sich mit unseren Kaffees zu mir setzte, versteinerte sich Logans Gesicht und er verschwand in einem Geschäft.
Sie fehlten mir. Jeden Tag wünschte ich mir, ich könnte jetzt mit ihnen schwimmen gehen. Vielleicht würde ich mich sogar – nur um diesen Ausflug zu bekommen – trauen von der Klippe zu springen.
Aber der Ausflug würde wohl niemals stattfinden. Damit musste ich mich abfinden. Ich würde für mein restliches, beschissenes Leben mit diesem Super-duper-Mann zusammen sein. Ich lachte gehässig auf. Was, wenn Ethan das gar nicht wollte?
»Pech gehabt!«, kreischte ich hysterisch, sprang aus meinem Bett, schaltete mein Radio auf volle Lautstärke und tanzte wie ein Freak durch mein Zimmer. Man, das tat gut. Einfach mal ich selbst sein. Einfach mal durchdrehen, und nicht ständig Beherrschung behalten. Nicht dauernd alles überlegt und strategisch angehen. Heute war ein Samstag. Heute hatte ich nichts vor und wenn Ethan mich wieder zu einem Bettag rumkriegen wollen würden, ich würde ihn einfach abservieren. Ich meine in einer Beziehung – auch in einer mit einer Seele aus der Hölle – durfte man auch Freiraum haben. Ich hatte zwar noch keine Ahnung, was ich tun würde, ich hatte ja keinen einzigen Freund, aber irgendetwas Lustiges würde mir sicher einfallen.
Als ich über einen Schuh von mir stolperte, krachte ich auf den Boden und war geschockt von mir selber. Was war heute denn los? Ich war total happy. Als hätte ich irgendetwas eingeworfen, oder getrunken. Ich lachte. Das Gefühl war komisch, aber es gefiel mir. Denn zum ersten Mal war mir das Märchen vollkommen egal. Ich hatte doch alles richtig gemacht. Wieso also nicht mal freuen? Dave hatte ich abgeschoben, der trollte jetzt irgendwo mit meiner blöden Retterin in Mexico City rum und Riley wollte nichts mehr mit mir zu tun haben, heißt also, er wollte mich auch nicht mehr heiraten, was der Prinz ja eigentlich nun mal wollte. Und ich hatte mir Ethan gekrallt. Jetzt musste ich nur noch darauf achten, dass mich irgendein anderer Junge außer Ethan nicht verführte.
Also alles easy.
Ich krabbelte zu meinem Schreibtisch, fingerte die Haarbürste von der Tischplatte, legte mich auf den weichen Teppich und sang mit Bruno Mars, der gerade im Radio lief: »Today I don't feel like doin' anything, I just wanna lay in my bed.«
Ich schmiss die Bürste, nachdem das Lied geendet hatte, auf mein Bett, rannte runter in die Küche und setzte mich auf die Theke. Meine Tante bereitete sich gerade Müsli vor.
»Geh da runter, Ally, die Platte hält dein Gewicht nicht aus.«
Ihre schlechte Laune konnte meine nicht verderben. Ich pfiff einfach eine unzusammenhängende Melodie und strampelte mit den Beinen in der Luft. Genervt löffelte meine Tante ihr Müsli und blätterte jedes Mal extra geräuschvoll um, damit ich verschwinden sollte. Aber ich blieb da, weil ich es amüsant fand, meine Tante zu ärgern. Kurz darauf kam auch meine Mutter rein und trank ihre morgendliche Buttermilch.
»Du siehst heute aber besonders gut gelaunt aus«, stellte sie fest und lächelte. Irgendetwas an dem Lächeln war falsch, dachte ich. Ich konnte meiner Tante und ihr nicht mehr trauen, seit Owen ihnen irgend so einen Fluch aufgehetzt hatte. »Habe ich etwas verpasst?«
»Nö«, trällerte ich und hüpfte von der Theke. »Man darf doch auch mal gut gelaunt sein, oder?«
Verwirrt antwortete meine Mutter, als ich aus der Küche ging: »Ja, natürlich, habe ich ja auch gar nicht gesagt …«
Meine Tante faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und sagte laut, damit ich es auf der Treppe auch noch hören konnte: »Das sind die Hormone, Zara.«

Ich tanzte und hüpfte laut singend über den Seapointe Boulevard. Es machte mir überhaupt nichts aus, dass die anderen Leute mich angafften. Kleinere Kinder lachten, ältere Jungen lachten auch, aber ich hatte er das Gefühl, dass sie sich lustig über mich machten, und manche alten Damen schüttelten missbilligend den Kopf. Mir doch egal, ich war gut drauf. Ich hatte zwar keine Ahnung wieso, aber es war ein schönes Gefühl.
Ich hüpfte zu einen der Jungen, die sich über mich lustig machten, packte ihn an der Hand und machte ihn mit mir zum Affen.
»Everybody was Kung Fu fighting«, sang ich und bewegte den Obercoolen zum Tanzen. »Sei mal ein bisschen locker, Kumpel.«
Seine Freunde im Hintergrund lachten sich kaputt. Mein Tanzpartner fand das gar nicht lustig und schubste mich von sich. Ich kicherte, als er wieder zu seinen Freunden stampfte und einem gegen die Brust boxte. So ein Spielverderber.
»Hey, Kleines«, rief ein blonder von ihnen. »Darf man deinen Namen wissen?«
»Nayla. Prinzessin von Wildwood«, schrie ich zurück und grinste. Ich hörte, wie einer von den Jungen meinte, ich wäre total high oder betrunken. »Ich bin nicht high. Und auch nicht blau«, ich musste prompt an Ethan denken, »gute Laune kann man auch ohne Chemie haben.«
Die Freunde des Blonden drehten sich zum Gehen, aber der Blonde wollte nicht gehen. Er betrachtete mich eingehend.
»Komm, Ethan!«
Ethan winkte mir und zischte dann mit seinen Kumpels ab. Ethan. Was für ein Zufall. Konnte der Junge nicht anders heißen? Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Ethan Strong gehabt. Ethan war groß, stark, hatte ein rundes Gesicht, das von braunen Locken umgeben war. Seine Augen waren ein ganz tiefes, dunkles Braun, das fast schon ins Schwarz traf. Er hatte volle Lippen und ein paar Sommersprossen um seine Nase. Seine Hände waren groß und er hatte lange, knochige Finger, seine Körpertemperatur war immer heiß, als hätte er Fieber und sein Körper war perfekt durchtrainiert.
Ich ertappte mich dabei, wie ich von Ethan träumte. Ich sah ihn vor mir, wie er sachte seine zwei glühenden Finger an mein Kinn legte und es zu sich heran zog. Spürte seine andere Hand an meinem Rücken. Fast, ja fast, hatte ich seine Lippen erreicht, als ein Fahrradfahrer mich aus dem Traum zog. Er klingelte laut und rief, nachdem ich zur Seite gesprungen war: »Mach mal die Augen auf, Mädel!«
Dann raste er davon. Ich versuchte mich nicht über die Unhöflichkeit des Mannes zu ärgern und schlenderte einfach zum Strand. Ich ging, dafür, dass ich so ziemlich direkt am Meer wohnte, ziemlich selten an den Strand. Normalerweise könnte man ja meinen, ich würde jeden Tag dort sein, meine Hausaufgaben da machen, ständig schwimmen, wie man das eben in Filmen sieht. Man könnte vielleicht sogar meinen, ich könnte surfen. Aber das traf alles nicht zu. Wie gesagt, ich war selten hier. Ich liebte das Meer und sein Rauschen, keine Frage, aber es war wohl einfach etwas Gewöhnliches für mich. Das Meer war halt eben da. Und ich konnte immer dort hin. Ich musste es also nicht, wie manche Touristen, die hier hin kamen, jeden Tag auskosten. Dann würde es doch irgendwann langweilig werden, oder? Ich mochte lieber die Ausflüge, die ich manchmal spontan hier hin unternahm. Dann sah das Meer plötzlich ganz anders aus. Je weniger ich diesen Ort besuchte, desto mehr behielt das Gewässer seine Bewunderung.
Ich zog meine Sandalen aus und stampfte durch den warmen Sand. Das Ufer war schon wieder voller Touristen, Familien mit kleinen Kindern, die Sandburgen bauten oder Birnentörtchen mit den passenden Formen bildeten.
Ich hockte mich ebenfalls ans Ufer und es war mir egal, dass das salzige, geschäumte Wasser meine Shorts nass machte. Heute war mir irgendwie alles egal. Ich starrte auf den Horizont. Kilometerweit schimmerte das Meer in der Mittagssonne. Ich seufzte. Ich konnte wohl nichts mehr genießen. Nicht, ohne ständig den Gedanken an den Tod im Hintergrund zu haben. Ich legte meinen Kopf auf meine Knie und schloss die Augen. Das Rauschen dämpfte meine Sinne, das Kindergeschrei drang nur noch dumpf zu meinen Gedanken. Ich sah vor meinem inneren Auge einen wunderschönen, pinken, glitzernden Schmetterling. Er bahnte sich seinen Weg durch den unendlichen, hellblauen Himmel. Nirgends war eine Blume, eine Wolke, die Sonne oder ein Grashalm zu sehen. Der Schmetterling schien von dem Blau fast verschluckt zu werden. Doch seine strahlende Schönheit hob ihn von dem einheitlichen Blau ab. Flink flatterten seine Flügel auf und ab. Er flog in den Sturzflug, raste nach oben, drehte Achten und um sich selbst.
Ich öffnete die Augen. Lächelnd, mit den Gedanken noch immer bei dem Schmetterling. Vor meinen Augen glitzerte die Luft. Zunächst glaubte ich, dass es bloß ein paar Staubkörner waren, aber als ich meine Hand dorthin hielt, legten sich Glitzer auf meine Haut. Rosig schimmerte er im Sonnenlicht. Stirnrunzelnd stand ich auf. Bald war mein ganzer Unterarm mit dem Staub besetzt. Ich überlegte, woher der Glitzer kam.
Als der Wind ein wenig stärker wurde, trug er den pinken Glitzer hinfort, nur die Körnchen auf meinem Arm blieben zurück. Glitzernd entfernte sich der merkwürdige Staub.
Ich drehte mich gegen den Wind. Der Glitzerstaub musste aus dieser Richtung kommen. Ohne nachzudenken lief ich los. Plötzlich schwirrten meine Gedanken nur noch um die Herkunft des Glitzer. Je näher ich dem Wald entgegen kam, desto mehr glitzerten meine Arme. Ich war ganz nah dran.
Ich sah mich um. Ich stand an der Stelle, an der ich die Jungs zum ersten Mal getroffen hatte. Also ging ich den kleinen Pfad durch das Dickicht, durch dass sie damals ebenfalls gekommen waren. Nachdem ich mich einigermaßen durch das Geäst geschlagen hatte, stand ich auf einem plattgetretenen, provisorischen Weg. Brenneseln wuchsen links und rechts und ich achtete darauf, dass meine nackten Beine ja nicht die Blätter berührten.
Ich hob einen Stock auf und schlug die vielen Blätter zur Seite. Hinter dem Blättervorhang verbarg sich eine Bucht. Eine Bucht, so wunderschön, wie ich sie nur einmal gesehen hatte. Ich trat aus dem dunklen Dickicht und spürte den Sand unter meinen Sandalen. Den weißen Sand.
Ich war genau auf der anderen Seite des Schlosses. Nicht lange, dann stand ich auf dem Pflaster eines Innenhofes. Zwischen den Steinen wucherte Unkraut, das wohl nie jemand wegmachen wollte. Ich strich mit den Fingern über die Mauern des inaktiven Springbrunnens in der Mitte des Hofes. Von hier sah das Schloss noch gewaltiger aus, als von vorne. Die Doppeltür zum Innenhof stand weit auf und quietschte leise im Wind. Ich blickte in alle Richtungen, dass ich auch ja alleine war und betrat dann das Schloss von dieser Seite. Erst als ich in der Eingangshalle stand, der Innenhof hinter mir, fiel mir wieder ein, dass ich letztes Mal durch diese Tür gerannt war. Ich musste über die Mauer geklettert sein, die rings um den Hof stand, ohne es wahr genommen zu haben. Es war dazu ja auch noch dunkel gewesen.
Ich schüttelte den Kopf und wollte nicht mehr an den Tag denken. Mein Absatz hallte in dem großen Gemäuer wider. Ich steuerte direkt auf die riesige Treppe in der Eingangshalle zu. Der rote Teppich war mit Löchern übersät und er sah aus, als hätte er schon ein paar Hausbrände hinter sich. Eine Menge Staub wirbelte um mich herum auf, als ich die erste Stufe betrat. Außerdem knarzte die Treppe verdächtig. Ich blickte noch einmal um mich, nicht, dass jemand im Schatten hockte und auf mich wartete.
Plötzlich hatte mich die Angst gepackt und ich sprang die Treppe hoch, statt langsam zu gehen. Im ersten Stock war es schon etwas heller, weil dort riesige Fenster thronten, durch die das Tageslicht strahlte. Manche hatte gar keine Scheiben mehr, und falls doch, waren sie so staubig, dass man fast meinte, jemand hätte sie angemalt. Ich fuhr mit dem Finger über eine solche Scheibe und hinterließ einen blanken Streifen. An meiner Fingerkuppe hing nun ein dicker Film Staub. Ich zerrieb ihn mit zwei Fingern und ließ ihn auf die Fußdielen rieseln. Der hinunterfallende Staub erinnerte mich an den eigentlichen Grund meines Kommens. Und sobald ich die Augen aufrichtete, sah ich auch schon den Übeltäter.
Owen stand breit grinsend in der Tür zur einer der Schlafräume und ließ Glitzerstaub zu Boden rieseln, wie ich eben mit dem Staub.
Mein Herz machte einen Satz und ich hielt mich an der dreckigen Scheibe fest, um nicht umzufallen. Mit Owen hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mein Herz raste und ich merkte, wie meine Finger anfingen zu zittern. Was wollte er? Hatte er mich hier hin gelockt?
Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, sah ich ihn mir genauer an. Er sah anders aus, fast als wäre er jemand ganz anderes und für einen Moment glaubte ich fast, er wäre gar nicht Owen und die Panik steigerte sich. Denn Owen wäre mir lieber als jeder andere Mann gerade. Doch es war Owen. Er trug allerdings keinen Anzug, wie üblich, sondern steckte in normaler, schwarzer Jeans, einem weißen Hemd, dessen Ärmel er zusammen mit dem dunklen Pulli, den er darüber trug, bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte.
»Ally, schön dich zu sehen. Du hast es also auch schon gefunden. Ich nehme an, einer der Jungen hat es dir gezeigt und seine Bedeutung erklärt?« Und zu sich selbst murmelte er: »Erstaunlich, was diese Burschen alles rausgefunden haben, ohne dass sie mich gefragt haben.«
Ich antwortete nicht. Stattdessen blickte ich auf seine Arme. Sie waren ebenfalls am glitzern. Also hatte ich Recht gehabt. Er hatte mich hier hin locken wollen, oder?
»Der Glitzer. Woher ist der?«, sagte ich und nickte zu seinen Armen. Owen sah an sich hinunter, hob seine Arme und lachte. Irgendwie war er heute nicht er selbst. Er drehte seine Hände und ließ die winzigen Körnchen schimmern. Sein Grinsen verschwand nicht. Auf dem Boden glitzerte es ebenfalls.
»Keine Ahnung«, meinte Owen. Ich kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war hier faul. Ich schielte an Owen vorbei in das Schlafgemach. Hinter ihm stand ein riesiges Bett, dessen Bettbezug Motten angefallen hatten. Die Kommode daneben war stark beschädigt. Sie war in der Mitte fast einmal ganz durchgebrochen. Auf dem Bett lag ein Flachmann. Ich schnupperte.
»Sagen Sie, sind Sie besoffen?«
»Kann sein …«, murmelte Owen und sah wieder mich an. »Weißt du, ich hab mir gedacht, ich nehm mir was zu trinken und was zu essen mit und«, er kam zu mir, legte mir den Arm um die Schultern und führte mich in das Schlafgemach, »mach es mir hier so richtig gemütlich. Einfach ein bisschen feiern, weißt du?«
Ich nickte abwesend und rümpfte die Nase, als sich der modrige Geruch des Schlosses mit dem von Alkohol mischte. Owen schloss hinter uns die Tür und lachte. Ich ging weiter in den Raum rein. Ich hatte gedacht er wäre größer. Außer dem Bett und der kaputten Kommode stand noch ein kleines Tischchen mit passendem Stühlchen und einer verdreckten Teekanne in dem Raum. Außerdem war neben dem Tisch ein großer Kamin, der nicht brannte. Kalt lag die schwarze Asche dort und ein paar Ascheflöckchen flogen bei dem Wind, der durch das zerborstene Fenster hineinwehte, durch den Raum.
Ich drehte mich zu Owen herum. Er saß auf dem Bett und steckte seinen Flachmann gerade in seine Hosentasche.
»Welchen Grund zum Feiern gibt es denn?«
Owen lächelte leicht. »Kennst du das Gefühl, wenn du einen Menschen, einen Ort oder gar nur einen Gegenstand so sehr vermisst, dass du Dinge tust, die du vielleicht nicht tun würdest, wenn du diesen Menschen, diesen Ort oder diesen Gegenstand einfach aufgeben würdest?« Ich kniff die Augen zusammen und war hin und her gerissen von dem Gedanken, dass Owen mich veräppelte. Für einen kleinen Moment sah Owen traurig zu Boden. »Für dieses … Etwas … kämpfst du ständig. Immer und immer wieder. Und du gibst nie auf, weil du dieses Etwas nicht aufgibst.« Dann endlich sah er mich an. Ein Funkeln lag in seinen Augen. »Ich habe auch jemanden, den ich liebe, Ally. Den ich vermisse. Für den ich kämpfe.«
Ich schürzte die Lippen. Ich merkte, wie das Mitleid, dass ich mit dem Teufel teilte, in mir hoch kroch. »Ehrlich?«
Owen lachte. »Nein.«
Ich stöhnte genervt. Ich war mal wieder drauf reingefallen. Aber eigentlich musste er doch recht haben. Ich meine, wie sollte sonst der Teufelssohn entstanden sein? Ein One-Night-Stand? Worüber ich mir schon wieder Gedanken machte!
»Aber … es muss doch jemanden geben«, murmelte ich. »Nur weil Sie der Teufel sind, heißt das ja nicht, dass Sie nicht auch Gefühle haben können.«
Owen hob eine Augenbraue und ich schämte mich für meine Worte. Ich hörte mich an wie ein Psychiater. Als ob der Teufel so etwas brauchte. Und vor allem, ich brauchte mir ja wohl keine Sorgen um ihn zu machen. Soweit kam es noch!
»Natürlich gibt es jemanden. Sonst wäre-« Fast hätte er sich versprochen. Fast hätte er mir den Namen genannt. Und ich wäre fast einen Schritt weiter gewesen, aber nein. Nein, er musste es natürlich merken, mich angrinsen und geheimnisvoll weiterfaseln: »Sonst wäre mein Sohn ja nicht entstanden, wie du es ausgedrückt hast.« Sein Grinsen verebbte und er wirkte ganz ernst, professionell. Hatte ich nicht eben noch geglaubt, dass er betrunken war? »Aber ich bin der Teufel, schon vergessen?«
»Nein«, murmelte ich nachdenklich. Und ich bekam dieses blöde Mitleid einfach nicht los. Wieso? Ich brauchte mir keine Sorgen um Owen zu machen. Ha, der sollte sich mal schön selber um seine Probleme kümmern. »Und wer ist seine Mutter?«
Unwillkürlich musste ich mir bei dieser Frage vorstellen, wie Owen mit irgendeiner Frau – naja, zusammen war. Owen schüttelte lachend den Kopf. Er las meine Gedanken.
»Sie heißt Rebell. Sie ist ein Engel.«
Ich grinste. »Und weiter?«
Wahrscheinlich wurde ich schon selber verrückt. Es war mir grade so ziemlich egal, dass ich mit meinem Mörder, mit dem Teufel sprach. Das Einzige was gerade für mich zählte, war, dass diese Geschichte spannend war und ich erfahren wollte, was der Teufel, über den man nur Mythen kannte, für ein Leben führte. Ich meine, wenn ich schon die Chance hatte, eine von den Einzigen zu sein, die den Teufel kannten, dann darf ich das auch auskosten, oder? Ha, die ganzen satanischen Sekten und die Kirchen. Wenn die wüssten!
»Ich erzähle dir jetzt bestimmt nicht mein ganzes Leben, Fräulein.«
Ich kniete mich auf das Bett, direkt hinter Owen. Er wich sofort weg und musterte mich abschätzig. »Berührungsängste oder was?«, sagte ich spöttisch.
»Nur damit wir das mal klar stellen. Du bist ein Mädchen von siebzehn Jahren und ich- Ich werde nicht mit dir in einem Bett sitzen.«
Als mir klar wurde, was er meinte entfuhr mir ein unhöflicher Laut. »Eh, nein, was denken Sie? Ich will nur ein bisschen die Chance ausnutzen, dass-«
»… du mich kennst, ich weiß, ich weiß. Ich kann deine Gedanken lesen, Ally.« Owen verdrehte die Augen. »Aber ich sagte schon, dass dich das nichts angeht.«
»Gut, mich geht aber bestimmt an, was Sie hier in meinem Schloss machen.«
»Dein Schloss?« Owen riss die Augen auf, legte die rechte Hand auf den Rücken und verbeugte sich. »Ich vergaß, Miss Charington.«
»Charington?«
Owen hob leicht den Kopf an und blickte mir in die Augen. »Dein Nachname. Nayla Charington.« Als ich immer noch einen verständnislosen Blick hatte, ergänzte Owen: »Die Prinzessin heiratet den Bauerssohn. Heimlich. Wenn ich mich recht entsinne … dann war es beim ersten Mal auf einer Alm. Ja, auf einer idyllischen Alm in einem kleinen Dorf, wo der Bauer eben wohnte.« Owen musterte mich. »Du sahst gar nicht mal so schlecht aus. Weißes Kleid von der Schwiegermutter, - mit einem Kaffeefleck, nicht zu vergessen –, gelbe Blume in den roten Locken, Blumenstrauß aus Kleeblättern und Gänseblümchen …« Ich sah verträumt an ihm vorbei. Ich stellte mir vor wie die Prinzessin und der Bauerssohn, unendlich ineinander verliebt, keine Rücksicht darauf nahmen, wie die Hochzeit ausfiel, wie teuer ihr Kleid war, oder wie professionell der Ort war. Ich seufzte. Würde ich also auch schon mit siebzehn heiraten? »Nein. Dieses Detail ist nicht ausschlaggebend.«
»Ach, und woher wissen Sie das? Was wichtig ist und was nicht?«
»Ich habe dieses Märchen schon hunderte Male durchgespielt, ich glaube allmählich sollte ich wissen, welche Aspekte drankommen müssen und welche nicht.«
Ich nickte. Ich würde Dave ja sowieso nicht heiraten. Ob es wichtig war oder nicht. Ich würde mich ja nicht mal in ihn verlieben. Eigentlich tat ich das ja schon – Nein, Stopp! Du liebst Dave nicht. Du kannst ihn nicht mal leiden. Er hat dich nicht mal in alles genau eingeweiht, dieser egoistische, blöde, arrogante, liebenswürdige, gut aussehende, charmante Typ. Ich ließ mein Gesicht in meine Hände sinken. Und seufzte einmal laut, aber als mir wieder einfiel, dass Owen ja vor mir stand, richtete ich meinen Kopf schnell wieder auf. Und zwar keine Sekunde zu spät.
Vor dem Karmin materialisierte sich eine komische Gestalt und Owen sprang unmittelbar vor mich. Er hatte die Arme breit ausgestreckt und wollte mich so schützen. Sobald die Gestalt vollständig erschienen war, sprang ich auf und packte Owen an der Schulter, die er sofort wegzog. Was sich vor meinen Augen ereignete, wagte ich zuerst nicht zu glauben. War diese gekrümmte, hässliche Gestalt gerade wirklich einfach so hier aufgetaucht? Das wurde ja immer verrückter.
Das merkwürdige Ding drehte sich langsam zu uns um und richtet sich auf. Es war ein paar Zentimeter größer als Owen und der Mann war nicht gerade klein. Als ich genauer hin sah, erkannte ich die Gestalt. Es war eine Furie. Ihr magerer Körper hatte immer noch eine leicht gekrümmte Stellung und ihre Flügel hatte sie gefährlich weit ausgebreitet. Sie hob den Kopf und starrte Owen an. Dann zischte sie: »Da bist du ja. Ich soll dir ausrichten, dass wir die Nase voll haben. Wir werden nicht länger warten. Wenn du sie uns nicht freiwillig überlieferst, dann werden wir sie uns eben holen.« Sie knackte mit ihrem Genick und sah erst Owen dann mich an. Ihre Augenhöhlen waren auf meine Brust gerichtet. Ihre schlangenartige Zunge fuhr zuckend über ihre Lippen. Ihre scharfen Zähne blitzen hervor und ich bezweifelte nicht, dass sie ihre Drohung nicht wahr machten. »Ich wusste gar nicht, dass sie hier ist. Ich spüre sie. Sie steht neben dir, nicht wahr?«
»Du verwechselst sie«, sagte Owen ruhig. Die Furie zuckte mit den Armen und packte Owens Hals mit ihren schwarzen, langen Fingern, ihre spitzen Krallen drückten sich in Owens Fleisch. Ich sprang erschrocken zur Seite und stolperte in den Flur. Ich fiel über meine eigenen Beine und krachte zu Boden.
»Wir verwechseln sie nie. Wir erkennen sie, wenn wir sie spüren«, kreischte die Furie und meine Ohren fingen an weh zu tun. Man, hatte dieses Wesen ein Stimmorgan. »Unternimm was, oder wir nehmen es selbst in die Hand«, schrie sie weiter.
Owen hatte anscheinend überhaupt kein Problem damit, dass die Furie ihn zu würgen versuchte. Er hatte auch überhaupt keine Angst. Natürlich nicht, er war ja auch der Teufel. Ich verdrehte innerlich die Augen. Hoffentlich tat er jetzt nicht auf cool. Mir war es lieber, er würde jetzt etwas dagegen unternehmen, dass dieses Vieh mir ihre Reißzähne in die Brust rammte.
»Nimm deine dreckigen Klauen von meinem Hals.« Die Furie tat nicht wie ihr geheißen. Sie drückte nur noch fester zu.
»Ich habe dir gesagt, wie wir das sehen. Also tu etwas.«
»Ihr habt mir nichts zu sagen, ihr mickrigen Furien. Ihr seid in der Nahrungsketten unter den toten Kakerlakenseelen. Also«, sagte Owen, versuchte ruhig zu bleiben, »nimm deine Finger von meinem Hals.« Als die Gestalt noch immer nicht reagierte, brüllte Owen: »Sofort!«
Die Furie schreckte zurück und krümmte sich in sich zusammen. Ihre Flügel klappten sich ineinander und die Bedrohlichkeit wich von ihr. Jetzt sah sie nur noch aus, wie ein bemitleidendes, hässliches … Etwas. Owen richtete den Kragen von seinem weißen Hemd. An seinem Hals waren deutliche Spuren der scharfen Krallen zu sehen. Ein paar Kratzer waren zu erkennen, so wie Druckstellen.
»Ally, geh weg.«
»Was?«, kreischte ich und versuchte umständlich mich aufzurichten.
»Verschwinde von hier. Geh nach Hause.«
»Sie haben mir gar nichts zu sagen«, zickte ich und trat neben ihn in das Schlafgemach. Die Furie zuckte ekelhaft und richtete ihre leeren Augenhöhlen wieder auf mich. »Sie spürt meine Anwesenheit, oder?«, flüsterte ich. »Wie kann das sein? Sie hat weder Augen noch Ohren.«
»Aber magische Kräfte«, knurrte Owen und schubste mich wieder in den Flur. »Verschwinde verdammt nochmal, wenn du noch ein bisschen weiter leben willst«, schrie er mich dann an und seine Augen funkelten bedrohlich. Ich wollte schon wieder protestieren, als ich an den Tag dachte, an dem Owen mir erklärt hatte, woher das Blut auf Rileys Bett gekommen war, und ich entschied mich dafür, dass ich mich mit dem Teufel lieber nicht anlegen sollte. »Na, los!«
Ich stolperte umständlich den Flur zur Treppe zurück. Hinter mir hörte ich ekelhaftes Knacken und in meinen Ohren hallte der grelle, laute Schrei der Furie wider. Ich presste meine Arme auf meine Ohren, aber es brachte nichts. Es war, als wäre die Furie in meinem Ohr drin. Halb fiel ich die Treppe runter. Über mir hörte ich Owen knurren, aber er sprach eine andere Sprache. Eine Sprache, die ich nicht einordnen konnte. Seine Stimme hörte sich ebenfalls zischend an, wenn ich nicht wüsste, dass die männliche Stimme ihm gehören musste, dann würde ich denken, eine männliche Furie wäre erschienen.
Völlig durch den Wind rutschte ich auf den Fliesen in der Eingangshalle, die voller Staub und Spinnenweben waren, aus. Ich knallte mit meinen Knien auf die Scherben des Fensters über mir. Meine Hände fingen an zu bluten, als ich mich versuchte mit ihnen abzustützen und aufzustehen. Der Lärm und das Schreien der Furie schienen näher zu kommen. Panisch blickte ich zur dunklen Treppe. Wie ein halbtoter Käfer krabbelte die Furie die Treppe runter. Ihr Schrei war durchgehend der gleiche Ton. Sie zuckte merkwürdig und ihre Flügel waren ausgestreckt. Owen rannte ihr nach. Auf der Hälfte der Treppe setzte die Furie ihre Flügel ein und flog direkt auf mich zu. Ihre mageren Beine klemmten sich rechts und links um meine Hüfte. Ich fing an zu schreien und versuchte mich aus ihrem Griff zu winden. Doch ich hatte keine Chance. Sie packte meine Handgelenke und presste sie auf den Boden, direkt in die Scherben. Ich drehte meinen Kopf hin und her und rief Owens Namen. Währenddessen dachte ich mir auch die fiesesten Schimpfwörter aus und warf sie dem Teufel an den Kopf.
Die Furie fletschte ihre Zähne und ich fragte mich, ob der Schrei überhaupt noch von ihr kommen konnte. Sie legte ihre scharfen Reißzähne an meinen Hals und riss mein T-Shirt auf. Kurz bevor sie den Stoff aus ihrem Maul hatte, kam Owen und schubste das Skelett von mir. Es flog an die gegenüberliegende Wand, die übrigens über zehn Meter weit entfernt war, und krachte mit voller Wucht auf den Boden. Der Schrei hielt an.
Ich hörte Owen zuerst gar nicht, ich war zu gebannt von dem Schrei, bis er mich schließlich an den Schultern packte und fragte, ob ich okay sei. Ich nickte verwirrt. Dann richtete Owen sich auf lockerte seine Hände und wartete darauf, dass die Furie ihn angriff.
Ich hatte genug von dem Kampf und kroch so schnell ich konnte in den Innenhof. Hinter mir schlug die große Tür zu und ich war plötzlich von dem Schrei befreit. Meine Ohren waren halb taub. Der Wind wirbelte die Blätter um mich herum auf, aber ich hörte das Rascheln nicht. War das irgend so eine Gabe der Furien? Wollten sie den Gegner somit außer Gefecht setzen? Aus der Eingangshalle hörte ich noch immer das Knacken und Krachen, aber der Schrei war verebbt. neugierig öffnete ich die Tür einen Spalt und war sofort wieder gebannt von dem Gekreische. Ich konnte die Tür nicht mehr schließen. Die Befehle, meine Hand zu heben, wurden nicht durchgeführt. Angsterfüllt starrte ich Owen an, der mit dem Rücken zu mir stand. Kraftlos murmelte ich seinen Namen, aber er hörte mich nicht. Der Schrei ging durch meinen ganzen Körper, als würde mein Blut ihn in alle Ecken meines Körpers tragen. Die hohlen Augen der Furie fanden wieder mein Gesicht und ich verlor das Bewusstsein.



Kapitel 18 - Die Zeit läuft ab




Ich öffnete die Augen und starrte auf einen merkwürdigen Gegenstand. Als ich mit meiner Hand den Gegenstand ertastete, stellte ich fest, dass es Holz war. Die hellbraune Farbe blätterte ab und meine Hand war voller farbigen Holzsplittern. Ich stöhnte, als ich versuchte mich aufzurappeln. Mein Kopf brummte. Über mir strahlte die unerbittliche Nachmittagssonne. Ich fuhr mir mit den Fingerspitzen an die rechte Wange und zuckte zusammen. Ich hatte doch jetzt hoffentlich keinen Sonnenbrand!
Erst jetzt sah ich mich um. Ich lag auf dem Kopfsteinpflaster in dem Innenhof des Schlosses. Vor mir war die große Eichentür. Ich zog mich an dem Holzbalken hoch und trat in die kühle Eingangshalle. Ich hielt mich an dem Türflügel fest und atmete tief ein und wieder aus. Jetzt nur nicht umkippen. Mir wurde schlecht.
»Ally? Ich dachte du wärst schon lange fort?«, sagte Owen aufgebracht und stürmte auf mich zu. Er löste meine Finger, die um die Tür gekrallt waren, und drückte mich nach draußen. »Was machst du denn noch hier?«
»Was- Was macht Riley hier?«, fragte ich schwach und spürte plötzlich einen heftigen Schmerz in meinem Kopf. Mit einem Schlag kamen die Erinnerungen zurück. Die Furie. »Wo ist die Furie? Ist sie noch darin? Sie müssen Riley beschützen!«, schrie ich Owen an, aber er reagierte gar nicht auf meine Worte. Er schob mich ohne Mühe über den Innenhof zu dem Dickicht, durch das ich heute Morgen hier her gekommen war. Er drückte die Pflanzen zur Seite und wollte mich gerade auf den Pfad schieben, als ich merkte, wie die Schwärze mich wieder zerdrückte. Das letzte, was ich sah, war Owens Hals.

»Lass sie noch schlafen. Das war ein wenig zu viel für sie.«
»In Ordnung. Wo gehst du jetzt hin?«
Stille.
»Doch, bitte, sage es mir!«
»Nein, sie ist wach.«
Dann hörte ich eine Tür, die zugeschlagen wurde und Schritte, die auf mich zu kamen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich überhaupt war. Aber die weiche Matratze unter mir war bequem und ich wollte noch nicht aufstehen. Ich zog die Decke über meinen Kopf und drückte die Augen fest zu.
»Alles in Ordnung, Ally?«
Die Stimme erkannte ich und mit einem Ruck saß ich kerzengerade in Ethans Bett. »Wie bin ich hier her gekommen? Ich- Ich war doch eben noch-«
»Sch«, machte Ethan und nahm mich in den Arm. »Alles okay. Du warst bei dem Schloss und bist auf der Treppe gestolpert.«
»Nein«, sagte ich gereizt und löste mich von Ethan. Mich konnten die beiden nicht manipulieren. »Nein, ich bin nicht von der Treppe gestürzt. Da war diese Furie«, sagte ich laut und drohte Ethan mit dem Finger. Aber dieser schüttelte nur langsam den Kopf.
»Nein, Ally. Ich meine, ja, da war eine Furie. Aber du bist trotzdem von der Treppe gefallen.«
Ich hielt die Gedanken in meinem Kopf fest. Ich wusste, was wirklich passiert war. In meinem Kopf wurde plötzlich alles silbrig und nebelig. »Hör auf«, schrie ich. »Hör auf!«
Ich schlug mir meine Hände an den Kopf und rannte aus dem Raum. Ich wusste nicht wohin. Die Panik steigerte sich, als Ethan mir locker hinterher kam. Wimmernd stolperte ich zur Wohnungstür. Meine zitternden Finger versuchten erfolglos das Schloss zu öffnen. Im Hinterkopf schwirrte die Frage, seit wann Ethan ein Extraverriegelungsschloss hatte, aber ich wollte nicht länger darüber nachdenken.
Ethan war direkt hinter mir. Er lachte nicht. Er packte mich einfach an der Taille und zerrte mich von der Eingangstür fort. Ich schrie und wollte mich freimachen, aber Ethan drehte sich mit voller Wucht um und ich knallte mit dem Kopf gegen irgendeine Wand. Schwarz.

Das nächste Mal, als ich wieder wach wurde, spürte ich zwar etwas Weiches unter mir, aber es war nicht die gemütliche Matratze von vorhin. Mein Kopf schmerzte unerbittlich und ich stöhnte vor mich hin. Ich wagte es nicht das Tageslicht in meine Augen zu lassen und drückte sie deswegen gewaltsam zu. Ich hatte Angst vor dem, was mich erwarten würde.
»Bist du denn völlig bescheuert?«
»Es tut mir leid, ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte! Was hättest du denn getan?«
»Na, anders. Aber doch nicht bewusstlos schlagen!«
»Das habe ich gar nicht getan. Es war ein Versehen. Ich wollte sie bloß von der Tür wegzerren und dann ist sie mit dem Kopf gegen die Wand geknallt.«
»Ist ja jetzt auch egal. Sie lebt ja noch. Und jetzt ruf mich nicht ständig, ich habe Wichtigeres zu tun.«
Ich spürte einen warmen Luftzug und hörte, wie eine Tür zugeknallt wurde. Der Lärm schlug dumpf in meinem Kopf wider und steigerte die Schmerzen nur noch mehr. Ich hob meine Arme zu meinen Schläfen und versuchte sie zu massieren. Ich hasste Kopfschmerzen, habe ich das schon mal erwähnt?
»Komm, lass mich das machen. Entspann dich einfach, Süße.«
Ein kaltes Gefühl machte sich in meinem Körper breit, als Ethans heiße Finger sich an meinen Schläfen zu schaffen machten. Sachte ließ er sie auf meiner Haut kreisen. Es tat gut, aber ich fühlte mich irgendwie unwohl. Letzten Endes traute ich mich doch, die Augen zu öffnen und blickte direkt zu Ethan empor. Sein Gesicht war nicht weit von meinem entfernt. Sein süßer Atem reichte zwar nicht bis auf meine Haut, aber ich hätte ihn ohne Umstände küssen können. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er merkte, dass ich die Augen geöffnet hatte.
»Alles in Ordnung? Tut mir wirklich leid mit deinem Kopf«, sagte er zuckersüß und sein Lächeln blieb beim Reden auf seinen Lippen. Ich war ihm sofort wieder verfallen, dabei hatte ich vor meinem Knock-Out noch Angst vor ihm gehabt. Langsam zeigten sich auch seine Zähne. »Verstehst du mich?«
Ich nickte und stöhnte, als mein Kopf protestierte. Ethan hob meinen Kopf sachte an und packte mich dann auf seine Arme. Er trug mich von dem blauen Teppich, wie ich feststellte, fern in sein Zimmer. Sofort spürte ich wieder die gemütliche Matratze und ich lächelte zufrieden. Hier ließ es sich bleiben.
»Besser?«
»Viel besser«, murmelte ich mit geschlossenen Augen und bettete mein Kopf auf dem Kissen. Ethan zog seine dünne Bettdecke ein wenig über meine Beine, gab mir einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus der Tür.

Es war Abend, als ich dieses Mal aufwachte. Vor das Fenster, was hinter Ethans Bett war, waren Vorhänge gezogen und neben mir stand eine Flasche Wasser. Gierig nach der Flüssigkeit trank ich die Hälfte aus und stellte sie wieder sorgfältig auf das tiefe Nachttischchen. Ethans Bett war wie Rileys fast auf dem Boden.
Ich schlug die Decke zur Seite und bemerkte, dass ich nur in Unterwäsche war. Irgendwer musste mich ausgezogen haben. Ich hoffte bloß, dass es Ethan und niemand sonst gewesen war. Zum Beispiel Owen.
Die kalte Luft, die durch das offene Fenster hereinwehte, zauberte mir eine Gänsehaut. Ich packte die dünne Bettdecke, wickelte sie um meinen Körper und trat aus dem Schlafzimmer. Die ganze Wohnung war dunkel und eisig. Überall spürte man den Wind von draußen und ich fragte mich, warum Ethan alle Fenster geöffnet hatte. Plötzlich hörte ich den tiefen Bass von Musik. Leise brummte sie irgendwo. Ich schlich mich durch die Küche ins Wohnzimmer, wo die Glastür zum Balkon geöffnet war. Ich war mir sicher, dass die Musik von hier kam.
Ich lehnte mich gegen die Fenstertür und erkannte eine schwarze Person am Geländer. Zigarettenrauch wehte zur mir rüber und ich musste anfangen zu husten. Die Person drehte sich, erschreckt von meinem Husten, um und grinste.
»Du rauchst?«
»Nein, ich tue nur so«, sagte Ethan und winkte mich zu sich nach draußen. Ich tapste vorsichtig über die kalten Fliesen zu ihm und kuschelte mich in seine starken Arme. Ich hatte ein tolles Leben, wenn ich mal das Märchen wegließ und nur an meine Beziehung mit Ethan dachte. Ich meine, wer wollte schon nicht mit so jemandem zusammen sein?
Neben meinem Ohr zog er tief an seiner Zigarette und stieß den Rauch direkt in mein Gesicht. Ich schubste ihn von mir weg und blickte nach unten auf die Straße. Betrunkene Jugendliche hatten Diskomusik aufgelegt und grölten laut. Ethan tauchte wieder hinter mir auf und stützte seine Arme rechts und links neben mir auf dem Geländer ab. Seine warmen Lippen kamen ganz nah an mein Ohr und er flüsterte: »Wenn du nichts dagegen hast, hätte ich jetzt Lust mit dir rein ins Warme zu gehen und diese lästige Bettdecke von dir zu entfernen.«
Und mal wieder war ich verblüfft wie einfach er sowas ausdrücken konnte. Er wusste wahrscheinlich, dass seine Opfer nie Nein sagen würden. Ich lachte und drehte mich in seinen Armen, sodass ich schielen musste, um ihm in seine dunklen Augen zu sehen. »Du hast es echt nötig, kann das sein?«
Ethan lachte ebenfalls und legte seine Arme um mich. Seine glühende Zigarette stopfte er sich in seinen Mundwinkel.
»Bei dir immer.«
»Das ist ekelhaft, Ethan.«
Ethan hob die Arme und schaute unschuldig drein. Seine Stimme hörte sich an, als würde er nuscheln. »Was? Kann ich doch nichts für, wenn du so geil aussiehst.«
»Ethan, es reicht. Deine Nachbarin guckt schon«, zischte ich sauer und verschwand wieder im Wohnzimmer, weil mir langsam ganz schön kalt geworden war. Ich hörte, wie Ethan mir nachkam und die Glastür schloss. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und drückte sie dann in seinem roten Aschenbecher aus. Ich beobachtete ihn dabei. Besah mir seinen Körper, als er sein Achselshirt auszog – mit nur einer Hand –, lunzte durch meine Finger, als er den Gürtel von seiner Jeans öffnete. Ich musste über mich selber grinsen. Wäre es denn so falsch, es nicht zu tun? Ich war siebzehn und in ein paar Monaten wurde ich achtzehn. Als ich wieder zu Ethan schielte, merkte ich, dass er mich belustigt musterte. Er stand dort in Boxershorts und grinste mich an und ich versteckte mich vor seinen Blicken, umhüllt von einer Bettdecke. Mich würde mal interessieren, wieso wir Mädchen es immer total schlimm fanden, wenn Jungen uns in Unterwäsche sahen, es aber gar nicht bedrängend fanden, wenn wir mit ihnen am Strand lagen.
»Alles klar?«
Ich kicherte und ich hätte meinen Kopf gerne auf den Esstisch gehauen. Das war so kindisch. Ich hatte Angst davor mich meinem Freund, mit dem ich schon so viel rumgemacht hatte, in Unterwäsche zu zeigen. Ich biss mir auf die Lippe und ließ die Bettdecke fallen. Ethan schmunzelte, unterzog meinem Körper eine Musterung und befeuchtete dann seine Lippen.
»Wenn du mich so ansiehst, hab ich Angst, du wärst ein Pädophiler«, sagte ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ethan lachte faltete seine Jeans und legte sie sorgfältig auf den Esstisch. Dann kam er langsam auf mich zu und bückte sich, um die Bettdecke aufzuheben. Er schmiss sie auf das schwarze Ledersofa und sah mich währenddessen unentwegt an.
»Du bist wunderschön, Ally«, flüsterte Ethan und legte seine Hand an meine Wange. »Du brauchst nicht schüchtern zu sein.«
Ich wurde sofort rot und blickte zu Boden, ich konnte ihm bei sowas nicht in die Augen schauen. Doch Ethan ließ das nicht zu. Er hob mein Gesicht mit seinen heißen Fingern. Seine andere Hand fand meinen Unterrücken und wanderte langsam zu meinen Oberschenkeln. Mit einem Ruck hatte er mich hochgehoben. Ich kreuzte meine Füße hinter seinem Rücken, um mir so Halt auf seinen Hüften zu verschaffen. Mein erster Gedanke in seinen Armen, die unter meinem Hintern verschränkt waren, um mich zu halten, war: Hoffentlich war ich ihm nicht zu schwer.
»Bin ich dir nicht zu schwer?«, sagte ich nervös und kaute an meiner Unterlippe. Ethan verdrehte die Augen.
»Du zerstörst die Leidenschaft.«
»Aber, wenn ich dir zu schwer bin, lass mich ruhig wieder runter-«
Ethan stoppte meine Worte, indem er sie mit einem Kuss erwürgte. Sogar ohne Hände konnte er küssen, ich war beeindruckt. Er stieß – während er mich küsste und immer noch auf seinen Armen trug – die Tür zu seinem eiskalten Schlafzimmer auf und schmiss mich auf sein Bett. Er drückte die Tür mit seinem Fuß zu und kletterte zu mir aufs Bett. Mein Atem beschleunigte sich, als ich seine heiße Brust auf mir spürte. Es war so, als würde ich eine Wärmflasche knuddeln. Um meinen Kopf wehten die kalten Windzüge und mein restlicher Körper war umhüllt von Ethans Hitze. Ich muss wirklich sagen, ich hatte alles vergessen. Einfach alles. Das Märchen, Owen, den Tod, Dave, Owen, Riley, Owen, Owen, Owen.
Als hätte ich in eine Steckdose gefasst, schubste ich Ethan von mir und saß gerade in seinem Bett. Ich spürte, dass die Spannung meines BHs gelöst war und hielt schnell die Hand vor die Brust, damit er nicht runterfiel.
»Darf ich wissen, was passiert ist, dass du mir erst die beste Nacht meines Lebens versprichst und mich dann so rabiat von dir wegdrückst?« Ich hörte, dass Ethan ehrlich verärgert war. Ich drehte den Kopf zu ihm herum und merkte, dass sein Gesicht etwas wütend aussah. »Hm?«
Ich versuchte mir das Lachen zu verkneifen, aber ich konnte nicht. Ich schmiss mich zurück auf die Matratze – nicht, ohne darauf zu achten, dass mein BH schön dort blieb, wo er hin gehörte – und bekam einen Lachanfall. Ethan, sichtlich gereizt von meiner Aktion, stand auf und wollte grade das Zimmer verlassen, als ich aufhörte und ihn zurück bat.
»Ethan, es tut mir leid. Aber ich musste … an Owen denken. Und ich weiß nicht, ob du es weißt, aber er liest ständig meine Gedanken … und … da kann ich einfach nicht mit dir … rummachen, wenn ich weiß, dass Owen das alles miterlebt.« Ich musste wieder anfangen zu lachen. »Als würde er neben mir liegen.« Ethan setzte sich zu mir aufs Bett und hörte sich gespannt an, was ich sagte. »Ich kann mich nicht vor dir ausziehen, ohne, dass ich weiß, dass Owen es auch sieht.«
Ethan schmunzelte. »Okay, das ist echt scheiße, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, murmelte er. »Ich bekomme jetzt das Bild, wie wir zu dritt hier liegen, nicht mehr aus dem Kopf.« Er stand auf und hielt sich die Augen zu. »Gott, Ally, das ist schrecklich.«
Ich fing wieder an zu lachen. Das war wirklich ekelhaft. Ich dachte wieder an heute Morgen, als ich mich zu ihm aufs Bett gehockt hatte und er elektrisiert aufgesprungen war. Dass er mit mir halbnackt, was Ethan und ich jetzt waren, in einem Bett liegen wollte, bezweifelte ich sehr.
Und da liegst du auch vollkommen richtig, Mädchen.


»Ouh«, stöhnte ich und schloss die Augen. Nein, nein, so würde das nichts mehr werden. Jetzt war ich mir hundertprozentig sicher, dass er meinen Gedanken lauschte.
»Was ist?«
»Er hört zu.«
Ethan lachte und hämmerte seinen Kopf gespielt gegen die Wand. »Hey, für mich ist das genauso peinlich, wie für dich, okay?«, meinte er, als ich die Augenbrauen hochzog. »Nur weil ich ihn länger kenne, als du, heißt das noch lange nicht, dass es nicht erbärmlich ist, wenn der Teufel mitbekommt, wie ich … naja-«
Ich wusste, was er meinte, wollte ihn aber nicht noch weiter demütigen und grinste einfach. Ich schloss umständlich wieder meinen BH und richtete mich auf. »Und? Ich meine, ist es denn soweit gekommen?«, fragte ich amüsiert und konnte nicht aufhören zu kichern. Das Lachen tat uns beiden gut, es ließ uns unsere Nervosität überspielen. Ethan löste den Kopf von der Wand und sah mich lange an. Mit der Zeit musste ich wieder anfangen zu lachen. »Komm schon.«
»Nein. Das werde ich dir nicht sagen, wenn du es weißt, weiß er es auch.«
»Als ob er deine Gedanken nicht lesen könnte«, höhnte ich und verdrehte die Augen. »Was meinst du, warum ich es peinlich finde? Wenn du mich … naja … ohne Kleidung siehst, sieht er mich auch so! Das ist total schlimm. Da bekomme ich die Vorstellung Owen wäre ein Pädophiler!«
»Für ihn … ist das wahrscheinlich alles, wie ein … Porno.«
Für einen Moment war ich geschockt und ein Bild von Owen in einem Ohrensessel mit Popcorn auf dem Schoß schlich sich in meine Gedanken. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber Ethan hatte Recht. Ich zog die Beine ran und umschlang sie mit meinen Armen.
Ich bin schockiert, was ihr von mir denkt.


»Ja? Das sind Sie? Und wenn Sie uns nicht zuschauen, warum wissen Sie dann, was wir jetzt denken?«, schrie ich und starrte wütend vor mich hin. »Wenn Sie das nicht interessiert, wieso achten Sie dann immer auf meine Gedanken?«
Es ist nicht so einfach meine alltägliche Arbeit zu absolvieren, wenn ständig von dir Wörter wie Mh, Ethan und Ja in meine Gedanken einfließen.


Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Das dachte ich, wenn Ethan mich küsste? Naja, das war ja noch nicht so schlimm. Ich wollte gar nicht wissen, was in meinem Kopf abging, wenn wir weiter als Knutschen gingen.
Ich will es auch nicht wissen, danke.


»Was sagt er denn? Redet er mit dir in Gedanken?«, meinte Ethan ehrfürchtig und setzte sich zu mir auf sein Bett. »Erzähl, was sagt er?«
Ich schuf ein wenig Abstand zwischen uns und musterte ihn. Er war eine verstorbene Seele aus der Hölle. Owen war sein Meister. »Nichts … Wichtiges«, sagte ich und mir fiel auf, dass meine Stimme sich merkwürdig rau anhörte. Plötzlich machte Ethan mir Angst. Wie alt war er eigentlich? Wie lang war er schon tot? Konnte ich mich wagen ihn das zu fragen? Kam das nicht unhöflich rüber?
»Wie siehst du eigentlich richtig aus?«
Ethans Ehrfurcht war verschwunden. Seine Miene versteinerte sich und sein Körper spannte sich an. »Das- Das kann ich dir nicht zeigen, Ally.«
»Dann beschreibe es. Wie alt bist du? Wie lange bist du schon tot? Sage es mir!«, sagte ich und merkte, dass meine Augen sich gespannt weiteten. »Komm schon. Wir sind zusammen, wir müssen uns in und auswendig kennen.«
Ethan kletterte von der Matratze und presste sich gegen die Wand. Er biss mit seinen perfekt weißen Zähnen auf seine Lippe. Ein gehässiges Lachen entfuhr mir. Ich wusste gar nicht, dass ich ihn somit in die Enge treiben konnte. Jetzt hatte ich etwas gegen ihn in der Hand. Aber brauchte ich das überhaupt? Er war nicht wichtig. Er war nicht mal eine Rolle in dem Märchen. Von ihm strahlte keine Gefahr mehr aus.
Ein spitzbübischer Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Ich könnte ihn aber erpressen.
»Ethan … oder wie heißt du eigentlich richtig?« Gefährlich blitzten meine Augen und ich setzte ein finsteres Grinsen auf. Sofort gefiel mir die Rolle der Bösen. Vielleicht sollte ich auf Owens Seite wechseln, diese Bösewicht-Sache machte richtig Spaß. Aber ich verwarf den Gedanken schnell. Ich wünschte, ich würde das schwarze Minikleid von Rileys Party tragen und nicht meine Unterwäsche. »Wie lange stehst du schon unter dem Befehl von dem Teufel? Ich wette, du hast ihn in der Hölle nie kennengelernt. Du kennst ihn nur als miesen Versager«, flüsterte ich und stellte mich direkt vor ihn. Sein Atem ging schneller, aber er versuchte sich zu fassen. »Na? Wo bleibt dein Mut?«
»Bist du eine Furie?«, schrie Ethan und schubste mich von ihm. »Wenn du mich einer Lektion unterziehen willst, dann komm und sag‘ es mir«, brüllte er und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er damit Owen meinte.
»Ich bin keine Furie«, lachte ich und freute mich darüber, dass ich so angsteinflößend gewesen war. »Ich bin bloß die Prinzessin.«
Mit langsamen, großen Schritten folgte ich Ethan in den Flur. Für ein paar Sekunden sah er aus wie ein kleines, panisches Häschen. Aber, als ich schon anfing daran zu zweifeln, ob das Ganze echt war, ließ er plötzlich seine Knöchel knacken. Er richtete seinen Kopf und blickte mir entgegen. Mein Selbstbewusstsein schrumpfte augenblicklich in sich zusammen. »Prinzessin, Lust auf Spielchen?«
Ich schluckte und hielt mich an dem Türrahmen fest. Seine Statur machte mir Angst. Er baute sich immer weiter auf. Sein Schatten stellte mich in Dunkelheit. Das Licht in seinem Schlafzimmer zuckte, ging aus und wieder an. Ich spürte zunächst einen eisigen Wind, dann brannte mir die Sonne auf den Rücken. Verwirrt drehte ich Ethan den Rücken zu und erblickte eine Gestalt im Zimmer. Das Licht erlosch vollends und ich klammerte mich von nackter Panik ergriffen an die Wand.
»Cornald, hör auf mit dem Schwachsinn.«
»Soll das eine Prüfung sein?«, rief Ethan und ich merkte die Wut in ihm, die sich schon so lange angestaut hatte. Er holte tief Luft und wollte seine Wut gegen seinen Herrn, den Teufel raus lassen. Doch Owen ließ es nicht zu. Er quetschte sich vor mir durch die Tür und zischte Ethan etwas ins Ohr. »Aber wieso wollte sie dann das alles über mich wissen?«
»Das«, sagte Owen und verdrehte die Augen, »hast du dir selbst eingebrockt. Schließlich warst du ja der Meinung, du müsstest ihr meinen Plan erzählen.« Zum Ende des Satzes hin, war seine Stimme lauter und ärgerlich geworden. »Und du, Ally, wirst ihn nicht mehr angreifen. Ich dachte, ich könnte mir einen gemütlichen Abend machen und euren Gedanken lauschen. Ihr hattet, jedenfalls dachte ich das, doch auch einen sehr netten Abend.«
»Ha, wer sind Sie? Mein Vater?«, zickte ich und schaltete hinter mir wieder das Licht an. Endlich konnte ich in die Gesichter der beiden Männer blicken. »Sie haben mir gar nichts vorzuschreiben.«
»Nein, dein Vater bin ich nicht«, hauchte Owen und kam zu mir. Von außen sah es fast so aus, als würde er mich gleich küssen, aber ich wusste natürlich, dass es dazu nicht kommen würde. Seine engen, schwarzen Augen, die mir schon bei unserem ersten Treffen unheimlich waren, feixten und sein Atem kitzelte an meiner Nasenspitze. Seine schlangenartige Zunge glitt über seine schmalen Lippen, bevor er weiter sprach: »Dein Vater ist nämlich tot, Süße. Ich weiß noch genau, wie er, schwach wie er war, nach meiner Hand griff und meine Hände somit mit seinem Blut beschmierte.« Ich hatte das Gefühl die Wärme schnürte mir meine Kehle zu. Es wurde immer schwerer zu atmen, besonders, weil mir Owens Bedrängung Panik machte. »Ich kann noch immer seine Worte auswendig, wie er bettelte, wie er flehte. Ich solle deine Mutter doch verschonen. Ich solle«, er suchte kurz nach dem richtigen Wort, zog scharf die Luft ein, »barmherzig sein.«
Ethan lachte laut und Owen grinste über mir. Seine heiße Hand fand meinen Hals. Glitt hinab über mein Schlüsselbein und tastete nach der Stelle, an der mein Herz wie wild pumpte. Ich wollte seine Hand wegschlagen, ihn anschreien, mich wehren. Aber ich konnte nicht. Alles in mir schrie und kämpfte, aber äußerlich stand ich stocksteif an dem Türrahmen.
»Deine Eltern waren tapfer. Genau wie du. Besonders dein Vater. Er war schon halbtot, da wollte er Zara noch immer retten.« Sein Gesicht kam noch näher und dieses Mal spürte ich auch seine Stirn an meiner. Seine glühende Hand lang noch immer auf der Stelle meines Herzens. Es fühlte sich an, als würde er ein Hufeisen auf meine Haut drücken. »Ally. Du merkst es doch auch. Du kannst Corn- oder wie du ihn nennst, Ethan, nicht lieben. Du kannst nicht«, zischte er. Ich spürte, wie sein Mund sich öffnete und wieder schloss. Seine Lippen strichen meine Nase. Ich biss meine Zähne noch fester aufeinander. »Tief in dir«, er drückte mit seiner Hand gegen meine Brust, »genau hier, weißt du doch auch, dass es nur einen gibt, den du liebst und je lieben werden kannst.«
Dann, endlich, ließ er von mir ab, richtete seinen Hemdkragen und knöpfte seinen Mantel zu. Nach und nach strömte die kühle Luft von draußen wieder in meine Lunge und ich musste husten. Ohne es zu wollen, ging ich vor Owen auf die Knie und hasste mich zugleich dafür. Aber ich konnte nicht anders. Ich hatte solange die Luft angehalten, dass ich überwältigt von dem Sauerstoff in meinem Körper war. Owen lachte. Es sah aus, als würde ich mich vor ihm verbeugen, als würde ich einsehen, dass er gewonnen hatte.
Ich wollte aufstehen, wollte ihm ins Gesicht spucken, wollte ihn anschreien. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Nicht nachdem er mir das Bild von meinem Vater geschickt hatte. Neunzehn Jahre jung, zerzaustes, schwarzes Haar, ein unwiderstehliches Grinsen, diesen Schwung, mit dem er seine lästigen Haare nach hinten fallen ließ.
»Ja, das war dein Vater. Umwerfend, aber arrogant.«
»Mein Vater war bestimmt nicht arrogant«, würgte ich hervor und schielte erzürnt zu ihm hoch. »Er wusste bloß seine Schönheit zu nutzen. Aber davon haben Sie keine Ahnung. Von Schönheit kann man bei Ihnen ja nicht reden.«
Natürlich hatte ich keinen wunden Punkt getroffen, Owen war ja nicht eifersüchtig auf meinen Vater, aber es tat wie immer gut, ihm die Stirn zu bieten. Als Strafe, schickte der Teufel mir mit einem Grinsen ein weiteres Bild von früher. Meine Mutter, wie sie sich gegen meinen Vater entschied und stattdessen lachend in den Armen eines anderen Mannes lag. Die schwarzen Augen des Mannes waren unübersehbar. Funkelnd blickten sie meine Mutter an, seine Krallen umschlangen ihren Körper, ließen sie nicht mehr gehen.
»Das waren Sie?«
»Oh, nein. Das war mein reizender Sohn. Schon vergessen? Er schickt seinen Sohn, die Prinzessin zu verführen

.« Er zuckte mit den Schultern. »Ihr seid immer alle gleich dumm. Und glaub ja nicht, du könntest anders sein. Denn das bist du nicht. Du wirst auch nicht deine kleinen Finger von Dave lassen. Du wirst dich mit ihm zusammen tun und am Ende doch in den Armen meines Sohnes landen«, sagte Owen und seine Worte hatten ungefähr denselben Effekt, als würde er mich mit seinen tollen, italienischen, schwarzen Schuhen wie eine Zigarette austreten. Er hockte sich neben mich und sah mich bedauernd an. »Du wirst sehen, nicht mehr lange und das Märchen nimmt endlich seinen Lauf.«

 

Kapitel 19 - Der Abschlussball

Mit der ach so tollen Erkenntnis von letztens war ich sehr zuversichtlich, dass ich das Märchen brechen würde. Wieso sollte ich auch scheitern? Den Teufel zu besiegen, ha, das schaffte ich doch mit links.

Dieser Gedanke ging mir den ganzen Vormittag nicht aus dem Kopf. Bekräftigt wurde er noch dadurch, dass ich mich fertig für den Abschlussball machte. Der Abschlussball. Heute Abend würde ich auf der Bühne stehen und die Glückwünsche meiner Lehrer entgegen nehmen. Und dann waren es nur noch ein paar Monate. Dann endlich hatte ich es geschafft. Die Schule würde vorbei sein. Ich würde erwachsen sein.

Ich seufzte und starrte auf das grüne, glitzernde Kleid, das an meiner leicht geöffneten Zimmertür hing. Der Tüll raschelte im zarten Wind, der durch meine Balkontür hereinwehte. Ich konnte es nicht anziehen. Meine Mutter wünschte sich so sehr, dass ich es trug, als Zeichen, dass ich Teil der Tradition war. Seit Owen ihr diesen merkwürdigen Fluch aufgehalst hatte, war sie fremd für mich. Ich bezweifelte sehr, dass sie sich an das Märchen erinnern konnte. Und das war so bedrückend, dass ich manchmal innerlich daran zerbrach. Die eigene Mutter und dazu die einzige Freundin zu verlieren, war nicht einfach. Meine Mum war die einzige, die mir das Märchen hätte wirklich erzählen können. Mir alles hätte erklären können, mir hätte helfen können. Und jetzt war sie auch noch fort. Wen hatte ich jetzt schon noch? Niemanden.

Riley war noch immer sauer auf mich, Josh wahrscheinlich auch. Logan ebenfalls. Super Aussicht! Dave will ich lieber gar nicht erst erwähnen.

Ich drückte meine Finger auf meine Lider. Heute war mein großer Tag. Ich fühlte mich zurück versetzt in mein vergangenes Ich, das unwissend vor dem Spiegel stand und von seiner Tante und seiner Mutter eingekleidet wurde. Heute war keine Mutter da. Keine Mutter, die im Hinterkopf den Gedanken hatte, dass dieses Treffen der Anfang eines kranken Chaos war. Und wieder einmal fühlte ich mich so allein. Ich wünschte Dave würde jetzt plötzlich neben mir auftauchen. So wie damals. An dem Tag, als er mich einweihte. An dem Tag, als alles begann.

Ich ließ mich auf den Boden sinken. Presste meine Knie in meine Augenhöhlen. Meine Finger fanden meine Haare und packten zu. Verkrampften sich, zogen an den wenigen Haarsträhnen. Wenn ich mich so sehen würde, würde ich vielleicht denken, ich übertreibe. Aber mein Gefühl sagte mir, dass es berechtigt war. Ich wollte jetzt schwach sein. Konnte nicht mehr kämpfen.

»Verdammt …«, murmelte ich. »Ich habe keine Lust mehr!«

Für einen klitzekleinen Augenblick hatte ich den Gedanken das Märchen einfach durchzuziehen, dann hätte ich es hinter mir. Diese Qualen, ständig diese Anstrengung, alles richtig zu machen. Ich seufzte noch einmal. Das alles hier brachte nichts. Ich wusste, dass ich es mir jedes Mal sagte, aber ich musste jetzt stark sein. Kämpfen. Um mich zu motivieren, stellte ich mir Owen vor, wie ich ihn besiegte, wie er nie wieder in die Hölle zurück kam. Unwillkürlich zogen sich meine Mundwinkel nach oben und meine Zähne blitzen hinter den Lippen hervor. Solche Vorstellungen sollte ich mir öfter ins Gedächtnis rufen.

»Schatz, was machst du denn dort unten auf dem kalten Boden? Zieh dich an! Ethan ist doch bald da!«

»Mum! Ich sagte doch, du sollst mein Zimmer nicht mehr betreten!«, sagte ich scharf. Das war eine Regel, die ich sobald ich von Ethan wieder zu Hause war, eingeführt hatte. Ich wollte nicht, dass sie mir auch nur zu nahe kamen. Es war nicht nur traurig und verletzend meiner Mutter, mit der ich mich erst so kurz gut verstanden hatte, in die Augen zu blicken, die mir plötzlich glasig und fremd vorkamen, sondern auch gefährlich. Ich wollte nicht, dass ich mich in Gefahr stürzte, nur weil ich auf diesen dämlichen Fluch keine Acht gab.

Meine Mutter sah bedrückt zu Boden. »Ich verstehe zwar nicht wieso, aber wenn du es so wünschst, Liebes.«

Meine Sicht verschwamm unter den aufkommenden Tränen. »Mum …«, flüsterte ich brüchig. Der Kloß in meinem Hals drückte gegen die Innenwände meiner Luftröhre. Es schmerzte, aber der Schmerz in meinem Herz war schlimmer. »Bitte, sei wieder du selbst«, hauchte ich noch leiser.

»Wie bitte?«

Ich probierte nun etwas, dass ich mich vorher nicht getraut hatte. »Ich habe Angst.«

»Aber wovor denn? Vor dem Abschlussfest? Macht Ethan irgendwas?«

Der Kloß verschwand nicht, er wurde mit jedem ihrer Worte schlimmer. Größer, schmerzender. Und der Stich in meinem Herzen, das Loch, weitete sich bis auf die höchste Stufe. Unbewusst fasste ich mit meiner Hand an die unsichtbare Wunde und drückte sie dagegen. Ich dachte an Owen. Wie er seine langen, hitzigen Finger auf die Stelle gelegt hatte. Wie er mir den Atem aus der Lunge zog. Wie er mich demütigte, wie er mir das letzte Bisschen Hoffnung nahm, dass je existiert hatte.

»Nein«, antwortete ich bedrückt und rappelte mich auf. Der Text war gescheitert und ich war noch trauriger als vorher. Wahrscheinlich würde ich nie wieder meine wahre Mutter haben. Schlagartig riss ich die Augen auf. Mir war eine Idee gekommen, die mit dem Märchen im Zusammenhang stand. Was, wenn das Märchen noch gar nicht nach Daves Tod und meiner Rettung zu Ende war? Was, wenn der letzte Akt war, dass er die Prinzessin alles vergessen ließ? Oder sie am Ende doch noch umbrachte? Nur ohne die Magie des Herzens zu erlangen? Ich fasste den Rand meines Spiegels. Vor mir die Augen meiner Mutter, die verständnislos in das Glas starrten. Ihre Zehen berührten nicht einmal die Linie, auf der die Tür schloss. Es war, als wäre eine unsichtbare Wand zwischen uns. Eine Mauer, die Owen gebaut hatte.

Würde ich auch alles vergessen? War es immer so gewesen? Damit die junge Prinzessin keine Hilfe von der Mutter hatte? Meine Finger krallten sich enger um das kalte Glas. Leicht beschlug das Glas unter meinem Atem, der keinen weiten Weg hatte. Meine Nasenspitze war nur wenige Zentimeter vom Spiegelglas entfernt. Der Kloß drückte und stach. Die Luft drang nur stoßweise in meine Lunge. »Geh«, zischte ich. »Verschwinde«, sagte ich lauter, schärfer.

Für einen Moment blitzte in den neuen glasigen Augen ein Glitzern auf, das ich kannte, wenn meine Mutter bedrückt von dem Gedanken an meinen Vater war. Mein Kopf schnellte herum. Aber das Glitzern war verschwunden. So, wie meine liebe Mum. So, wie die einzige Freundin und die einzige Hilfe, die ich je hatte.

Mein Outfit hatte ich etwas umfunktioniert. Ich konnte nicht als unschuldiges Mädchen gehen. Denn das war ich seit Sommer nicht mehr. Jetzt kam die kalte Jahreszeit immer näher. Die Jahreszeit, in der es hieß, man solle sich warm anziehen. Und Owen konnte sich sehr wohl warm anziehen. Begutachtend stand ich letztlich vor dem Spiegel im Flur unten. Glücklicherweise hatte ich früh genug angefangen, sodass ich mein Kleid noch hatte umnähen können. Ich hatte mein enges, schwarzes Kleid in zwei geschnitten, ebenso die Glitzermasse alias Traditionskleid. Dann hatte ich mir die Nähmaschine meiner Tante geklaut und das korsettartige obere Teil des Partykleides an den Tüllrock des anderen geheftet. Meine roten Haare stachen in einem buschigen Pferdeschwanz hinter meinem Kopf hervor. Lippen und Augen stark hervorgehoben, stellte ich die schlichten, schwarzen Ohrstecker in den Hintergrund. Zufrieden nickte ich mir zu. Es war nicht die »Teufeleliminierung«, es war viel mehr die Widerspiegelung meiner Selbst. Die Härte, das Starke, und das Weiche, das Märchenhafte. Plötzlich befasste mich die Frage, wie das Ende wohl ablaufen würde. Würde ich per Zufall im Schloss sein? Würde Owen mich dorthin entführen?

Stopp, soweit würde es gar nicht erst kommen!

»Liebes? Bist du fertig? Komm her und zeig‘- Ach, du lieber Himmel!« Meine Tante stand mit den beringten Händen vor dem weitaufgerissenen Mund in der Tür zum Wohnzimmer. Nicht lange darauf erschien auch meine Mutter im Flur.

»Aber … das schöne Kleid! Ally! Was hast du getan?«

»Fass mich nicht an«, sagte ich hart, lächelte dann und zog meine hohen Pumps von Rileys Geburtstag an. Rileys Name gab mir einen Stich, aber ich versuchte ihn zu unterdrücken.

»Also, bitte. Was soll das denn? Was ist denn mit dir los? Du behandelst mich als wäre ich eine Bestie.«

Bei dem Vergleich musste ich auflachen. Ja, wild, böse, krank, erzogen, mir das Leben schwer zu machen. Unser Gespräch wurde gestört, als die Hausklingel schrill in unseren Ohren lag. Ich hetzte zur Kommode, schnappte meine kleine Tasche, in der sorgfältig ein kleines Klappmesser und das Handy meiner Tante ruhten, mein eigenes hatte ja wahrscheinlich immer noch Dave.

»Ciao«, rief ich über die Schulter hinweg und schlug hinter mir die Türe extra laut zu. Ich fühlte mich wie an dem Abend, als ich zu Rileys Party gelaufen war. Hitzig, elektrisiert. Bereit, etwas Größeres anzugehen. Ich hoffte bloß, ich war dieser Größe gewachsen.

Ethan pfiff durch seine Zähne – ich hatte noch nie verstanden wie das ging – und hielt mir die Tür auf. »Wo darf es denn hin gehen, schöne Dame?«

»Auf meinen Abschlussball, Sir.«

»Ganz, wie die Lady es wünscht.«

Geschmeidig rutschte er auf den anderen Autositz und fuhr elegant aus unserer Einfahrt. Sein Wagen war genial. Schwarzes Leder, mit roten Lackstreifen durchzogenes Armaturenbrett. Fast wie Owens Maschine.

»Bereit für den wohl wichtigsten Abend deines Daseins?«

Wieder musste ich auflachen. Es würde wohl noch einen wichtigeren Termin geben. Das Ende eines unfassbar realen Märchens, in dem ich die Hauptrolle war.

 

Schon von weitem hörte man die dröhnende Musik aus der Turnhalle. Die Oberlichter waren allesamt geöffnet und bunte Lichter erhellten den Parkplatz. Der Rest des massigen Gebäudes lag in dunkler Stille. Ich meinte unseren Hausmeister zu erkennen, wie er die letzten Türen schloss. Gut, es waren also auch noch Lehrer da. Also, nein, nicht gut. Ethan zog die Handbremse und schnallte sich ab. Dann ruhte sein eindringlicher, wissender Blick auf mir. Ich traute mich nicht ihn anzusehen. Ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl im Magen. Ich wusste nicht woher es kam. Als hätte ich Angst. Ein unreines Gewissen bei meiner Tat.

»Alles in Ordnung?«

Und in dem Moment erkannte ich, wieso ich mich nicht wohl fühlte. Der letzte Abend, als ich mit Ethan zusammen gewesen war. Und sein Ende. All das machte mir drückende Panik. Denn was war Ethan? Eine tote Seele. Er wollte zusammen mit Owen meinen Tod. Wie konnte ich also mit so jemandem auf einen Abschlussball gehen, wo letzten Endes keine vernünftige Person mehr anwesend war? Ethan hatte heute Nacht freie Bahn, um mich zu kidnappen. Ich schluckte. Der Gedanke besänftigte meine drehenden Eingeweide kein bisschen. Aber ich hatte es so gewollt. Ich hatte auch schon vorher gewusst, dass er eine tote Seele war. Ich hatte schon von Anfang an gewusst, dass er das Böse war. Und trotzdem habe ich den Entschluss gefasst, nicht mehr von seiner Seite zu weichen. Er war mein Plan. Meine Aufgabe. Sterben würde ich ja so oder so. Oder?

»Ally?«

Mein Mund war zugenäht. Ich konnte ihn nicht öffnen. Und ich wollte es auch gar nicht. Ich mochte jetzt nicht sprechen. Denken war angenehmer. Denken. Gedanken. Owen.

Nett, dass du am Ende doch immer wieder an mich denkst.

Ich bin sicher, dass ich der Mittelpunkt bin, um den sich Ihre Gedanken drehen, dachte ich zurück. Ethans Hand fand meine verkrampften und umschloss sie. Seine durchgehend enorme Hitze durchschoss meine Arme und brachte meinen Mund dazu sich zu öffnen.

»Alles klar, Ethan. Mir geht’s gut. Lass‘ uns gehen.« Ich wartete gar nicht erst auf seine Antwort, sondern öffnete die Beifahrertür mit der rot glänzenden Türklinke. Ich hätte noch so viel Geschwindigkeit in meine Bewegungen legen können, Ethan wäre schneller. Schon fühlte ich mich wieder, als wäre ich mit Edward Cullen unterwegs. Genervt verdrehte ich die Augen. Hoffentlich machte er das nicht auch vor Publikum. Das würde zu viele Fragen aufwerfen.

»Also gut, bereit?«

Erst als er mir die schwere Flügeltür aufhielt und mich die Lautstärke fast wie ein Hammer umwarf, dachte ich an Layca und Kevin. Sie würden ebenfalls hier sein. Würde Kevin zu mir kommen? Würde Ethan sich dann mit ihm anlegen, wenn ich sie vorstellen würde? Einerseits wäre das ja wirklich total niedlich. Aber wenn ich daran dachte, wer Ethan war, verflog dieses Hochgefühl schnell. Layca. Ich wurde noch immer nicht schlau aus ihrer merkwürdigen Theorie, zum Gespött der Schule zu werden, nur um Kevin zu unterhalten.

Mein Mathematiklehrer stürmte auf mich zu. Er sah schon ziemlich mitgenommen aus. Und ich wollte mir gar nicht vorstellen, was die jetzt schon betrunkenen Abschlusschlüler mit ihm angestellt hatten. Seine blonden Haare standen wirr von seinem Kopf, durch das viele Gel in ihnen, hatte er Schwierigkeiten, sie wieder zu glätten. Der Kragen seines Hemdes war aufgestellt und die Hälfte der Knöpfe aufgeknöpft. Seine dunkelblaue Krawatte fiel über seine rechte Schulter auf den Rücken.

»Mr Godwin? Was ist mit Ihnen passiert?«, sagte ich geschockt und packte ihn an der Schulter. Ich wunderte mich, wieso meine Klasse auch auf ihn losgegangen war. Schließlich war er recht beliebt bei uns. Gut aussehend und jung noch dazu. »Geht es Ihnen gut?«

Hilflos kicherte er und zog an Ethans Jackett. Dieser fand dies überhaupt nicht zum Lachen und schlug seine Hand weg. Beleidigt holte Mr Godwin zum Schlag aus, traf aber daneben.

»Ich glaube der ist auch total betrunken«, stellte meine Begleitung fest und half mir meinen Lehrer zu stützen. »Lass ihn einfach hier sitzen. Der kommt schon zurecht.«

Unter anderen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich um ihn gekümmert, aber jetzt hatte ich Anderes zu tun. Nachdem Ethan ihn an eine Wand gelehnt hatte – an der er runterrutschte – machten auch wir es uns an der Bar gemütlich.

Sobald wir saßen fing ein neues Lied an. Whistle. Ich hoffte innerlich, dass Ethan keinen Kommentar dazu machen würde. Ein weiteres Mal kam mir der letzte Abend in den Sinn. Wie wir miteinander rumgemacht hatten. Hatte ich ihn wirklich so weit gehabt? Hätte er mit mir geschlafen? Hätte ich mitgemacht? Die Vorstellung ließ mich würgen. Klar, Ethan hatte die perfekte Figur, und trotzdem wurde mir schlecht, wenn ich daran dachte, dass wir beide – Nein. Weg mit dem Gedanken!

»Woran denkst du, Süße?«, rief Ethan, nachdem er zwei Wodka Tonic bestellt hatte. Frag doch Owen, wäre fast meine Antwort gewesen. Nein! Nein! Nein! Wieso Owen? Jeder andere wäre mir lieber gewesen.

»Ich hoffe bloß, dass heute eine geiler Abend wird.« Meine Stimme hörte sich verstellt an. Ich hatte es geschafft. Ich war wieder das Mädchen mit dem schwarzen Kleid. Das Mädchen mit dem Willen. Ethans Partygirl. Mein Lächeln war falsch. Meine Stimme war falsch, mein Blick gierig und mein Outfit verfehlt. Wenn ich Ich sein wollte. Aber ich war nicht ich.

Sein Grinsen zog sich fast von einem zum anderen Ohr.

»Dann werde ich alles versuchen, dass dein Wunsch erfüllt wird, Babe.«

Der Barkeeper, den wohl irgendjemand organisiert haben musste, stellte unsere breiten Gläser so hart auf die Theke, dass die weißliche Flüssigkeit über die Ränder schwappte. Ethan und ich kreuzten unsere Arme und schütteten uns die Flüssigkeit fast komplett auf Ex in den Rachen. Meine Stimmung hellte sich augenblicklich von leicht genervt auf hitzig. Mit einem Mal strahlte sein Äußeres. Sein Lachen, seine Haare, seine Augen, alles an ihm wirkte auf mich wie eine Droge. Wie eine Droge, von der ich nicht genug kriegen konnte. Knutschend und saufend hangen wir eine Zeit lang an der hölzernen Theke. Glücklicherweise waren die anderen Gäste schon lange vor uns voll gewesen, weswegen uns keiner empörende Blicke zuwarf, außer vielleicht der Barkeeper, der wohl als einziger noch nüchtern war. Doch bald merkte ich, dass Ethan nur so tat, als wäre er betrunken. Manchmal, wenn er mit mir sprach, den Bösen raus ließ, dann erkannte ich seine Schauspielerei. Und nach dem fünften Glas wurde mir schnell bewusst, was er vorhatte. Er wollte mich zu dröhnen. Also entschied ich mich dazu sein Spiel mitzuspielen. Doch bevor ich meinen Plan durchführen konnte, wurde ich von hinten angetippt. Kevin.

»Na, mei‘ Hübsche?« Mein Kopf schnellte herum. Er war nicht allein. Seine gesamte Rugbygang baute sich hinter ihm auf. Kevin hatte Ethan noch nicht als meine Begleitung erkannt. Und das war gut so. Glücklicherweise sah Ethan das erst mal auch so. »Willst de tanze‘?«

»Und um mich das zu fragen hast du jetzt eine ganze Armee gebraucht?«, fragte ich zurück und nickte über seinen Kopf hinweg zu seinen Kumpels. Obwohl ich einigermaßen klare Gedanken fassen konnte, hörte sich meine Stimme fast genauso bescheuert an, wie Kevins. Schnell gab Kevin seinen Kumpels ein Zeichen, dass sie abhauen konnten. Dann pflanzte er sich etwas umständlich auf den Hocker neben mich. Unauffällig fand Ethans Hand meinen Oberschenkel. Zart drückte er seine Finger in den Tüll. Es sollte mir Halt geben. Er hatte die Situation sofort verstanden. Irgendwie war das seltsam. Einerseits wollte er meinen Tod, damit sein Meister wieder in die Hölle konnte und über die Sünder herrschen konnte, andererseits wollte er mir helfen? Owen anscheinend ja auch. Sie hielten mich am Leben, damit ich im richtigen Moment sterben konnte. Ich dachte an Harry Potter.

Okay, falsches Thema.

»Also, was is‘ jetz‘?« Kevins Hand schnellte vor, fasste meine Locken, die ich versucht hatte zu glätten, und drehte sie um seinen Finger. Ethans Hand an meinem Oberschenkel, die übrigens sehr weit oben lag, verkrampfte sich leicht. Ruhig, dachte ich. »Tanzt de mit mir?«

»Kevin, ich sagte doch, dass ich nicht möchte. Ich bin mit jemand anderem hier.«

»Ahja? Bestimm‘ is‘ dieser andre nich‘ so attark-« Er verhaspelte sich und startete erneut: »arakt- attrik-«

»Attraktiv.« Ethans Stimme klang freundlich. Als wolle er sich mit ihm verbrüdern, aber ich hatte eher das Gegenteil im Gefühl. Er rutschte mit seinem Mettalhocker näher an meinen und seine Hand fing an meinen Oberschenkel zu streicheln. Ich musste mich beherrschen, sie nicht wegzuschlagen.

»Wer is’n das?« Verstört schielte Kevin zu Ethan. Glücklicherweise nahm dieser seine Hand von meinem Bein und reichte sie Kevin.

»Ethan. Ethan Strong.« Sein Lachen war ebenfalls friedlich, aber in seinen Augen lag eine Kälte, die sagte: »Finger weg von meiner Freundin«. »Kevin, richtig?«

Hatte Ethan nicht genauso viel getrunken, wie ich? Warum lallte er dann nicht? Filterte er den Alkohol raus? Langsam merkte ich immer mehr, wie sich die vier Gläser bei mir meldeten. Meine Gedanken wurden immer verrückter. Kevin starrte Ethan hochnäsig an. Dann packte er kräftig zu, und ich glaubte fast, er versuchte sie zu zerdrücken. Aber Ethans große, knochige Hand reagierte schneller und Kevin quiekte leise auf. Doch vor mir wollte er sich das nicht anmerken lassen und ließ seine Hand einfach rasch unter der Theke verschwinden.

»Ja, anscheinend ha‘ Ally schon wiel won mia erzählt.«

Eher weniger.

Plötzlich hatte ich Angst, Ethan könnte Kevin auf die Sache mit dem Flachlegen ansprechen.

»Un‘ wer bischt du jetz‘? ‘n Cousin?«

»Wir sind befreun-«

»Zusammen.« Ethan warf mir einen merkwürdigen Blick zu, den ich mir selber wohl auch zugeworfen hätte. Befreundet? Was zum Geier labberte ich da? Das war doch mein Plan! Ich durfte das nicht vergessen. Mein Kleid sah aus wie ein Geschenk. Irgendwie kam mir dieser Gedanke bekannt vor. Ich merkte, wie sich der Nebel in meinem Kopf breit machte. Ethans Hand fand wieder den oberen Teil meines Oberschenkels. Doch diesmal schlug ich sie weg. Ich wusste nicht, was mit mir los war. »Noch drei Pina Colada.«

Kevins Miene hellte sich auf. »Danke, Ernie, ich hab nämlich kein Geld mehr!«

»Ethan«, verbesserte mein Freund. Als der Barkeeper uns die Gläser vor die Nase knallte, drückte Ethan mir mein Glas schon fast drängend an den Mund. Ich musste was dagegen tun. Ich konnte mich nicht abfüllen lassen. Der Tüll erinnerte an ein Geschenk. Irgendwie redete Kevin voll lustig. Ich verdrehte die Augen und stellte das Glas auf die Kante. Kurz bevor es abstürzen konnte, fing Ethan es auf. Ich blickte in seine Augen. Triumph und etwas Unergründliches flammte in ihnen auf.

»Gehs‘ du jetz‘ mimir tanze‘?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte das Gefühl die Turnhalle würde sich drehen, obwohl die Wand vor mir sich nicht bewegte. Ich krallte nach Ethans Schulter. Grinsend stützte er mich. Ich wollte, dass dieses Gefühl aufhörte. Ich drückte meine Finger gegen meine Stirn. »Hier«, meinte Ethan, »das hilft.«

Ich packte den Hals der Flasche, die er mir hinhielt und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit, die nur halb meinen Rachen runter lief, den Rest spuckte ich aus, schmeckte nicht anders. Nur viel härter. Ich öffnete meine Augen einen Schlitz und erkannte ein blau-weiß, silbriges Schildchen. Wodka?

»Ich glaube, mir is‘ schlecht«, brachte ich hervor und stürmte durch die tanzende Menge zur Damentoilette. Meine Füße verhaspelten sich in einander und ich stolperte einige Male. Manche drehten sich um und warfen mir unschöne Beleidigungen an den Kopf. Völlig durcheinander stieß ich die Schwingtür der Toiletten auf und krachte gegen die Plastikwaschbecken. Meine Hände umfassten den Rand, weiß traten die Fingerknochen hervor. Mein Zopf hing nur noch locker in meinem Nacken und meine Haarspitzen kitzelten meine Armbeugen. Die dröhnende Musik drang nur dumpf durch die Schwingtür und meine Ohren mussten sich erst an die gedämpfte Stille gewöhnen. Ich drehte den Wasserhahn auf und ich glaubte das Quietschen nicht zu hören, hoffentlich wurde ich nicht taub. Das eiskalte Wasser ließ ich über meine Handgelenke fließen und kühlte somit meinen gesamten Kreislauf. Klare Gedanken kehrten zurück. Der Tüll stach mir nicht mehr ständig ins Auge und mein Plan machte sich drückend wieder bemerkbar. Wieso war Ethan denn schließlich hier? Weil ich ihn dazu bringen will, immer noch, dass wir zusammen sind. Dass ich ihn liebe. Die Wodkaflasche stand, nur noch halb voll, anscheinend hatte ich auf dem Weg einiges verloren, knapp vor dem Rand des Waschbeckens. Aber plötzlich kam mir eine Idee und ich war heilfroh, dass ich die Flasche mitgerissen hatte. Meine nun nur noch leicht zitternde Hand griff nach dem Hals der Alkoholflasche und kippte sie vollends in den Abfluss. Ich konnte gerade noch bis zur Hälfte füllen, als die Schwingtür aufgestoßen wurde. Schnell schlug ich auf den Wasserhahn und hielt mir die Wodkaflasche an den Mund. Auch, wenn es dumm war, ich muss zugeben, ich hatte befürchtet, Ethan würde rein kommen und mein Plan ihn mit dem Wasser auszutricksen wäre vielleicht gescheitert. Aber es war bloß ein Mädchen mit langen, hellbraunen Haaren. Ihre blonden Strähnen passten gut zu ihren grellen Katzenaugen. Ihre Augenfarbe grenzte schon fast an gelb, kleine braune Sprenkel zeigten jedoch, dass es sich um ein schrilles hellbraun handelte. Ihre spitze Nase kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht woher. Sie hatte eine gute Figur, etwas zu dünn vielleicht, aber in dem roten, engen Kleid sah sie einfach umwerfend aus. Sie war ungefähr so groß wie ich, wenn nicht sogar noch ein bisschen größer. Irgendwie waren alle größer als ich.

Sie stellte sich neben mich an das Waschbecken und wusch sich die Hände. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel und ihre schmalen Lippen formten sich zu einem Grinsen. In der Art, wie sie ihre Mundwinkel nach oben zog, erkannte ich noch etwas. Dieses Lachen kam mir bekannt vor. Sogar sehr gut. Aber woher? Ich hatte nicht wirklich viel Kontakt mit anderen Mädchen und Jolina kannte ich nur flüchtig. Ähnelte sie vielleicht einem Star?

»Ally. Schön dich zu sehen. Hab mich schon gefragt, ob du vielleicht nicht kommen würdest. Wäre allerdings schade gewesen«, plapperte das Mädchen los und drückte den Wasserhahn mit ihrem Unterarm zu. »Wirklich schade. Du hast leider meinen Auftritt verpasst. Es war genial. Genauso, wie wir es immer geplant hatten. Tja, das hat er jetzt davon. Er hätte mich ja nicht betrügen müssen. Ein Mädchen vergisst eben nie denjenigen, der ihr gezeigt hat, dass Liebe weh tut, stimmt’s? Wie ist es da bei dir? Wie läuft deine Beziehung? Noch glücklich? Wer hat dir gezeigt, dass Liebe auch negative Seiten hat? Oh, ich labbere schon wieder so viel, oder? Tut mir leid. Er hat immer gesagt, es sei süß, aber ich weiß nicht. Wenn ich Dave vollgelabbert habe, dann hat er immer leicht genervt gewirkt, habe ich das Gefühl.« Für einen Moment sah sie traurig aus. Ich hatte eigentlich mal wieder atmen wollen, aber als sie den Namen Dave nannte, hatte mein Gehirn wieder ausgesetzt. Wer zum Teufel war dieses Mädchen?

Was ist mit mir?

Für Owen hatte ich nun wirklich keinen Nerv.

»Und jetzt ist er weg. Aber er hat sich wenigstens verabschiedet, weißt du? Also er ist es nicht. Kevin hat einfach diesen Ruf. Es war damals im Urlaub«, sie schlug sich vor die Hand. Tränen schossen ihr in die Augen. Ich war sprachlos. Dieses Mädchen schüttete grade ihr Herz bei mir aus, oder? Anscheinend war sie total betrunken. »Nein, die Ärzte haben gesagt, ich muss lernen, darüber zu reden.« Vielleicht sollte ich einfach gehen? Wenn sie wirklich so voll war, wie sie schien, dann würde sie das bestimmt nicht einmal merken. »Ally, ‘tschuldige. Jetzt sag erst mal, mit wem bist du hier?«

Ich schluckte. Der Fluchtplan war gescheitert. »Kennen wir uns?«

Ihr grelles Lachen machte mir Angst, kam mir allerdings aber auch unglaublich bekannt vor. Ich zog die Augenbrauen zusammen und musterte das Mädchen noch einmal genauer. Kannten wir uns womöglich doch? Aber woher?

»Du erkennst mich nicht? Dachte ich mir schon. Sonst hättest du direkt was gesagt.« Sie riss ihre schwarzumrandeten Augen weit auf. »Ich bin’s, Cl- Layca.«

Ich kniff die Augen zusammen. Natürlich, daher kannte ich sie. Aber was war mit ihr passiert? Wo war das schwarz geblieben? Die weiten Emo-Kleider? »Layca?«

»Ja! Also, du hast jetzt bestimmt ganz viele Fragen, oder? Kann ich mir vorstellen. Also erst mal, dass hier«, sie zeigte an sich herunter, »ist mein wahres Gesicht. Die Emo-Layca ist, wie gesagt, nur für Kevins Unterhaltung gewesen.« Sie unterbrach sich, da die Tür aufging und ein anderes Mädchen reinkam. Sie hielt sich schützend die Hand vor den Mund und erbrach kurz danach in einer der Kabinen. Layca zeigte mit ihrem Kopf zur Tür und ich nickte dankbar. Wir suchten uns einen Weg zur Eingangstür, während Layca mehr darauf achtete, keine Leute anzurempeln. Ich jedoch versuchte Ethan ausfindig zu machen. Ich wollte auf keinen Fall, dass er mich sah. Schon gar nicht so nüchtern, wie ich plötzlich war.

Ich folgte Layca aus der Turnhalle. Draußen war es erstaunlich kalt. Bald war Herbst und ich konnte schon ein paar bunte Blätter an den Bäumen erkennen. Nicht mehr lange und ich würde endlich volljährig sein. Layca stolzierte auf ihren hohen Pumps zum Schulhof und ließ sich dort elegant auf einer Bank nieder. Ich konnte nichts sagen. Die Fragen überhäuften sich in meinem Kopf. Also hoffte ich auf eine schnelle und schlüssige Erklärung. Mit einem Grinsen drehte sich Layca zu mir.

»Also. Dass ich Kevin nur unterhalten wollte, klingt in deinen Ohren wahrscheinlich merkwürdig. Aber in meinen ist der Anfang eines großen Plans. Den Plan haben mein Zwillingsbruder und ich uns ausgedacht.« Ihre Augen glitzerten, soweit ich das in dem schwachen Licht der Laterne erkennen konnte. Begeisterung, aber auch Sehnsucht spiegelten sich in den Katzenaugen. »Ich wünschte, er könnte mir helfen.« Sie blickte mich an. »Er ist verschwunden. Einfach weg.« Sie starrte in die Ferne. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Noch immer nicht. Und der Keim, der sich in mir breit machte, störte mich. Ich dachte die ganze Zeit über an Ethan. Nicht aus Angst, er könnte mich finden, sondern weil mich Laycas Lachen an ihn erinnerte. »Ich komme eigentlich aus Barcelona. Aber meine Eltern wollten nach Amerika ziehen. Das Land des Erfolgs.« Ihre Augen fanden wieder meine. Ihr Glühen jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Mein Bruder und ich haben immer alles füreinander getan, musst du wissen. Und so unterstützen wir uns natürlich auch, als wir hier in Wildwood neu anfangen mussten. Aber bald darauf folgte das nächste Schicksal. Kevin. Kevin hatte einmal Urlaub in meiner Heimatstadt gemacht. Mit einer Jugendgruppe. Und wir lernten uns kennen. Für mich war er die große Liebe, doch für ihn war ich nichts weiter als eine Urlaubsbekanntschaft.« Sie schluckte. »Und als Ethan und ich ihn erkannten, schmiedeten wir einen Plan. Ganz so leicht würde er mir nicht davon kommen. Also schufen wir Layca, das Emogirl.«

»Du heißt nicht Layca?«

Schnell huschten ihre Augen zwischen mir und der Laterne hin und her. Ein Verhalten, das mir signalisierte, dass ich recht hatte. Aber wieso?

»Nun, also … nein. Aber … egal, hör erst mal zu. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wieso ich mich dir anvertraue. Denn das war eigentlich mein größtes Geheimnis, aber ich glaube, wäre Kevin nie hier auf der Schule gewesen, wärst du die perfekte Freundin für mich gewesen. Ich war auch noch nie so auf Gemeinschaft aus gewesen. Für mich gab es nur meinen Bruder, das war das Einzige, was zählte. Und jetzt ist er fort.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß, dass er tot ist und trotzdem wünsche ich mir einfach jeden Tag, er wäre noch bei mir. Ohne ihn fehlt ein Stück. Kannst du das nachvollziehen? Wahrscheinlich nicht. Du hast keine Geschwister, oder?« Ich schüttelte den Kopf. Es war anstrengend ihr zu folgen. Mal erzählte sie von ihrem Plan, dann von der Beziehung mit Kevin und dann wieder von dem Tod ihres Bruders. Natürlich tat es mir leid, was passiert war, aber meine Neugierde war einfach zu groß, als dass ich sie hätte trösten können. »Weiter mit dem Plan. Wir schufen also den Emo. Wir brauchten jemanden, der die wahre Layca vollkommen vertuschte. Und erst im letzten Augenblick – der Abschlussball erschien uns beiden ganz gut – sollte sie gelüftet werden. Dass Ethan das nicht mehr miterleben konnte, ist natürlich traurig. Aber ich weiß genau, was er gesagt hätte.« Kleine Tränen rannen über ihre Wangen und hinterließen schwarze Linien. »Gut gemacht, Streifenhörnchen.«

Ich kollabierte. Es passte immer mehr zusammen. Aber das war einfach unmöglich! Ethan konnte nicht der verstorbene Zwillingsbruder von Claya sein, die Layca spielte und mit meinem Dave zusammen war. Ich musste aufstehen und mich ein paar Schritte von Layca oder Claya entfernen. Konnte es so einen starken Zufall geben?

»Ally, alles in Ordnung? Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dich nicht damit belasten. Ethan ist ein sehr schweres Kapitel in meinem Leben. Meine Ärzte aus der Klinik haben immer gesagt, ich solle mit jemandem darüber reden. Aber meine Eltern sind abgehauen, nachdem sie erfahren haben, dass Ethan wahrscheinlich tot ist. Und ich habe keine Freunde. Dave wollte immer, dass ich ihn begleite und seine Freunde kennenlerne, aber wie schon erwähnt, hasse ich die Gemeinschaft. Ally?«

»Alles okay«, brachte ich hervor. Der Kloß in meinem Hals ließ kaum noch Luft in meine Lunge. Das konnte nicht sein! Layca konnte nicht die psychisch kranke Claya sein! »Du heißt eigentlich Claya, stimmt’s?« Erst als ich sie fragte, sah ich das Wortspiel. Wie leicht. Layca verkrampfte ihre Hände in ihrem Schoß. Die lästigen Strähnen hatte sie zu beiden Seiten hinters Ohr gesteckt. Ihr Schweigen war eine Antwort. Aber warum um Gottes Willen, war Dave mit Ethans Zwillingsschwester zusammen? War er doch der Teufelssohn? Nein, Ally. Jetzt werde nicht auch noch verrückt. Dave ist der Bauerssohn! Und das weißt du! Aber vielleicht war Claya ja doch vorbestimmt für das Märchen? Nur ahnte Dave nichts davon? Vielleicht war Claya ja auch eine Seele aus der Hölle?

Wenn man vom Teufel sprach – also ich meine, vom Assistenten des Teufels.

»Ally?«

Mein Herz setzte aus. Weg hier!

Aber meine Füße waren wie festgefroren. Sollte ich Layca mitnehmen? Sie durften sich auf keinen Fall kennenlernen! Wenn Claya ihren Zwillingsbruder erkannte, war dies ihr aus.

»Komm!«, wisperte ich und winkte Claya eindringlich zu mir. »Na, los!«

Aber sie hatte den Köder schon gefasst. Mit sehnsüchtigem Blick hob sie den Kopf an und suchte nach der Stimme. Natürlich erkannte sie die Stimme. Und wenn ich mich nicht ganz irrte, dann hatte Owen meine Gedanken Ethan geschickt. Und auf Befehl kam auch schon der Serienkiller angelaufen. Ich dachte an Dave. Wusste er, dass Claya Ethans Schwester war? Wollte er sie beschützen? Wenn ja, dann musste ich es zu Ende bringen. Ich löste meine Füße vom Boden, stolperte auf Claya zu und zog sie von der Bank. Dann hetzten wir gemeinsam die Treppe zum Parkplatz runter.

»Wo willst du denn hin?«

»Nur weg hier. Er darf dich nicht sehen!«

Er wird dich sowieso kriegen.

Ich musste mich beherrschen nicht laut zu schreien. Wie Owen mich mit seinen Kommentaren nervte! Er sollte sich gefälligst um seine eigenen Dinge kümmern.

Falls du es schon vergessen hast, ich bin in all das genauso verstrickt wie du.

»Ich weiß!«, zischte ich wütend und Claya blickte mich irritiert an. Ein Kopfschütteln sollte vorerst genügen. Ich schaffte es zusammen mit Claya auf den Highway. Wir hatten Glück, dass nur wenige Autos unterwegs waren. In der Mitte, wagte ich einen Blick nach hinten. Mit schnellen Schritten folgte Ethan uns. Ich glaubte ein fieses Grinsen zu erkennen.

»Was ist denn los? Wo willst du hin?«

Wäre ich in einer weniger dramatischen Situation gewesen, hätte ich wohl laut gestöhnt. Ständig diese zwei Fragen. Bald hatten wohl alle Leute, die mich kannten, sie durch. Ich achtete darauf, dass Claya ja nicht nach hinten blickte. Wenn sie wirklich so eng mit ihrem Bruder gewesen war, dann wäre es für sie ein leichtes ihn aus hundert Metern Entfernung zu erkennen. Genauso wie es für mich leicht war, zu erkennen, dass Ethan gerade wie ein Roboter auf Owens Befehle reagierte. Es war, als hätte ich den Aufruf von Owen selbst gehört. Owens Stimme zischte in meinen Vorstellungen: Vernichte sie.

Na, gut. Wie er wollte, aber kampflos würde ich nicht aufgeben. Sollte der Wettlauf der Zeit beginnen. Ich war bereit.

»Ally, es hat keinen Zweck wegzulaufen. Ich kriege dich sowieso«, brüllte Ethan und seine Stimme klang anders. Fremd. Sicher war das die Stimme der Seele. Auf der einen Seite machte mir die neue Stimme Angst, andererseits aber war ich froh, da Claya ihn so nicht zuordnen konnte. Ethans Schritte wurden größer, strenger, schneller. Sein Blick bohrte sich in meinen Rücken. Ich spürte wie ich anfing zu wimmern. Der Druck legte sich auf mein Herz, das wie wild raste. Meine Hände, die noch immer Clayas Oberarm umklammerten, zittern und ich wagte es nicht, sie von dem Körperteil zu nehmen. Ich hasste mich in dem Moment dafür, dass ich meine hohen Pumps angezogen hatte. Aber ich hatte keine Zeit sie weg zu kicken. Wenn sie hängen bleiben würden, dann hätte ich ein gewaltiges Problem und Claya auch. Ethan beziehungsweise Owen wartete nur auf einen geeigneten Augenblick, um auf uns los zu gehen. Sie warteten auf einen Fehler von mir. Krampfhaft dachte ich darüber nach, was richtig war, was nicht. Sollte ich in den Wald rennen? Mich mit Claya irgendwo verstecken? Nein, blöde Idee. Owen würde immer wissen wo ich war, und es Ethan sagen. Also lieber in eine Menge stürmen? Zurück zum Ball? Nein, die besoffenen Schüler wären keine große Hilfe. Also, was tun?!

Meine größte Angst war allerdings immer noch, dass Claya irgendwann eine Erklärung  verlangen würde. »Er ist es, oder? Du kennst ihn. Du kennst Dave.«

Clayas leise Worte waren unheimlich. Und fast hätten sie mich aus der Realität gezogen. Fast hätte ich vergessen, dass wir dem Tode geweiht waren, dass unserer Mörder hinter uns her war. Ich wurde langsamer. »Ja«, sagte ich knapp.

»Ich habe euch zusammen gesehen. Am Haupteingang, wie ihr euch umarmt habt. Er ist es, oder? Der, der euch etwas Böses will.«

Genaugenommen, wollte er gerade etwas Böses von ihr, dachte ich, sprach ich aber nicht laut aus. Sie hatte uns gesehen. Sie hat gesehen, wie ihr fester Freund mit einem anderen Mädchen hinter der Schule sich umarmte und geheime Dinge besprach. Ich wunderte mich plötzlich, wieso sie sich trotzdem mit mir angefreundet hatte. Daves Worte krochen in meine Gedanken. Aber Claya nicht. Sie gehört nicht in diese Geschichte! Sie wurde damit reingezogen, wegen mir.

Was wusste sie alles? War sie vielleicht doch wichtig? Eine Rolle, die im Märchen vorkam, aber nie festgehalten wurde? Ich traute mich zu ihr rüber zu sehen. Ihre hellbraunen Haare, die zerzaust hin und her flogen. Ihr rotes, enges Kleid hatte sie hochgezogen, um besser laufen zu können. Ja, sie war mitten drin. Wir hatten sie mit reingezogen. Und sie würde die Last tragen. Heute Nacht.

Lass los, Ally. Du kannst es nicht ändern.

»Nein«, wimmerte ich. Mein Griff um Clayas Arm wurde fester. Ich konnte sie nicht loslassen. Ich wusste, ich war gar nicht in Gefahr. Niemand konnte mir heute etwas zu Leide tun. Ich musste bis zum Ende warten. Sollte das hier ein Vorgeschmack auf Daves Tod werden? Heiße Tränen rannen über meine Wangen. Der Druck schien mich zu zerreißen. Ich wollte stehen bleiben. Wollte mich dem Schicksal stellen. Messer zerschnitten meine Lunge. Das gleichmäßige Atmen war einem panischen Hecheln gewichen. Meine Beine waren Pudding und ich wusste, lange würde ich das nicht mehr mitmachen. Aber durfte ich aufhören? Durfte ich Claya den Tieren als Fraß vorwerfen?

Hör auf, Ally. Bleib stehen.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, kreischte ich so laut ich konnte. Ich hatte die Nase voll von seinem Gedankenlesen.

»Ally, ich würde mich ein bisschen beeilen«, sagte Ethan hinter uns und ich erschrak darüber, wie nah er war. Ich hatte nachgegeben. Meine Beine waren taub. Ich konnte nicht mehr. Jeder Atemzug war eine Qual. Ich riss meinen Kopf nach hinten und rechnete die Entfernung aus. Zehn Meter.

Neun.

Acht.

Mein Kopf schnellte nach vorne, wieder zurück. Claya krallte ihre Fingernägel in meine Schulter.

Sieben.

Sechs.

Fünf.

Ich knickte um, der Schmerz wand sich wie eine Schlange an meinem Bein nach oben. Aber ich rannte weiter.

Vier.

Drei.

Ethans Arm hob sich, senkrecht zu seinem Oberkörper. Die Finger weit gespreizt.

Zwei.

Gib auf!

Eins. Dunkel.

Kapitel 20 - Des Teufels Urteil

Für einen kleinen Moment zog sich meine Lunge zusammen und so ließ mich die nachfolgende Luft husten. In meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wo war ich? Was war passiert? Etwas kochend Heißes packte meinen Oberarm und bewahrte mich vor dem harten Boden. Es war dunkel. Es war heiß. Es war drückend. Es war unheimlich. Ich musste nicht den Kopf heben, musste nicht meine schmerzenden Augen öffnen, um zu wissen, in wessen Armen ich gelandet war. Jemand rannte in meinen Rücken und drückte mich noch enger an den Teufel.

»Cornald, pass doch auf!«, sagte der Höllenmeister leise, aber drohend und die zwei warmen Hände verließen meinen Rücken. Ich versuchte mich selbst hinzustellen, aber meine Beine zitterten wie wild und ich fühlte mich wie ein Wackelpudding. Obwohl ich am liebsten einen Satz gemacht hätte, um endlich Owens Armen zu entweichen, stützte ich mich stattdessen an seiner Hand ab. Zögernd öffnete ich die Augen. Die Hitze drückte und ich spürte, wie ich fast direkt anfing zu schwitzen. »Alles in Ordnung?«

Mit diesen drei Wörtern war ich wieder wach. Mein Verstand schaltete sich wieder ein und meine Augen fixierten Owen. Natürlich, mir ging es bestens. Wie sollte es auch anders sein? Ein schmallippiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er meine Gedanken las. Ich hatte aufgegeben immer wieder zu sagen, dass er damit aufhören sollte. Er würde es sowieso nicht tun. Ich stellte mich gerade hin, strich den türkisen Tüll glatt und zog meinen Zopf fest. Ich registrierte, wie Ethans Blick gierig an mir herunter glitt. Owen bestrafte ihn deshalb mit einem bösen. Mir blieb ein weiteres Mal die Luft im Hals stecken, als ich an Owens Schulter vorbei auf die Straße starrte. Dort lag Claya.

Ethan hielt mich auf. Ich wollte zu ihr, nachsehen, ob es ihr gut ging. Der Schutzinstinkt kribbelte in meinen Gliedmaßen und brachte mich dazu Ethan zu treten und zu beißen. »Ihr geht es noch gut.«

»Noch?«, sagte ich hell und glotzte den Teufel an. Noch?! »Was soll das bedeuten?«

Owen nickte zum Wald, der die verlassene Straße links und rechts einzäunte. Ethan drückte mich nach vorne durch das Gestrüpp und sorgte dafür, dass ich den Kopf nicht zu Owen und Claya wenden konnte. Es kam mir vor, als würden wir eine kleine Wanderung unternehmen. Ethan drückte mich immer weiter in den dunklen Wald hinein. Der Geruch von Nadeln drang mir in die Nase, unsere Schritte wurden gedämpft. Schlussfolgerung: Niemand würde uns finden. Niemand würde Clayas Schicksal ändern.

»Wie lang wollt ihr eigentlich noch gehen?«, zickte ich und versuchte abermals mich aus Ethans Armen zu befreien. »Nicht mehr lange und wir kommen auf der anderen Seite wieder raus. Super.«

»Sind wohl am quengeln. Soll ich dich vielleicht lieber tragen? Hast du Hunger? Durst? Toilettenbedarf?«

Das einzige, was ich darauf dachte, war: Wie hatte ich mich nur so in ihm täuschen können? Beziehungsweise, eigentlich hatte ich mich ja nicht getäuscht. Ich hatte auf meiner Wolke 7 nur einfach vollkommen vergessen, wer er eigentlich war. Der Agent der meist gefürchteten Legende.

»Der Witz kam leider nicht an«, traute ich mich allerdings trotzdem zu sagen. Die Ironie war das perfekte Dämpfmittel für meine Angst um Claya. Um mein Leben musste ich wohl nicht bangen, wenn der Teufel schon fragte, ob alles in Ordnung sei. Um meinen Verstand allerdings schon. Und das war Owens Waffe. Die Zerstörung meiner Psyche. Vielleicht wollte er mich sogar soweit bringen, dass ich nur noch ein innerlicher Frack war. Gefangen in der eigenen Depression. Letzten Endes landete ich sicherlich noch in der Klapse. Nicht nur, dass ich einen Berg voller Schuldgefühle hatte, mir würde auch keiner glauben. »Ich bin die Hauptrolle in einem Märchen, Sie müssen mir glauben!« Ganz klar, ich gehörte in die Psychiatrie. Wie dem auch sei, wenn er mich soweit hatte, konnte er das Ende des Märchens mit links erledigen. Wobei ich mich fragte, ob es nicht einfacher wäre, wenn er einfach meine Retter erledigte?

»Ich weiß, dass Sie meine Gedanken lesen!«, sagte ich so laut, dass Owen es hinter uns hörte. Aber es kam keine Reaktion. Nicht mal ein leises Lachen.

»Mit wem sprichst du?«, lachte Ethan hinter mir und verfestigte seinen Griff, sodass das Blut in meinen Handgelenken Schwierigkeiten hatte durch die Adern zurück zum Herz zu gelangen. Naja, sollte ich in Ohnmacht fallen, wäre das wohl eher erleichternd.

Ich drehte meinen Kopf ruckartig zurück und erkannte, dass der Teufel mit seiner Beute gar nicht hinter uns herging. Vor uns aber war er auch nicht, wie ich mit einem Blick feststellte. Er war weg. Mit Claya.

Ich wusste sofort, wieso Ethan seinen Griff befestigt hatte. Mein Schutzinstinkt kehrte zurück und verwandelte mich in ein Biest. Ich kreischte wild herum und probierte mich wieder zu befreien. Ich musste Claya retten!

Doch Ethan lachte bloß. »Wann kapierst du endlich, dass du gegen uns nicht ankommst? Ally, er ist der Teufel.« Seine Stimme änderte sich. »Er ist der Meister. Nicht mal Gott«, er legte so viel Verächtlichkeit wie es ging in das Wort, »konnte sich so viel Respekt erschaffen.«

Ich lachte und hörte kurz auf, mich zu wehren. »Respekt? Ich glaube kaum, dass jemand vor ihm Respekt hat. Er kann ja nicht mal mehr zurück in die Hölle. Tollen Meister, den du da hast.«

Flammen legten sich um meine Oberarme. Die Gänsehaut, die die ganze Zeit meine Haut überzogen hatte, verschwand. In Ethans Augen glomm die Ehrfurcht gegenüber Owen. Er drehte mich mit einem Ruck zu seinem Gesicht. »Rede nie wieder so über ihn. Die Menschheit weiß gar nicht, was er ihnen bieten könnte. Ein gutes Leben mit all dem, was sie wollen. Er würde all das Leid, für das sich euer ach so toller Gott nicht interessiert, einfach entfernen. All die Bettler, den Abschaum würde er mit links beseitigen. Ihr würdet so leben, wie ihr es schon immer wolltet. Er würde all eure Wünsche erfüllen. Der kalte Winter würde verschwinden. Ihr müsstet kein Geld mehr für unnötige Wintergarnitur ausgeben. Alles wäre perfekt. Er ist perfekt.«

»Pff«, machte ich bloß und verdrehte die Augen. War der schwul oder was? Man konnte seinen Chef ja anbeten, aber man konnte es auch übertreiben. »Hast wohl nicht zum Abschaum gehört. Wie war denn so dein Leben? Ich meine, vor deinem Tod.«

»Ich war reich. Ich hatte alles. Schon früh hatte ich mit dem Teufel einen Pakt geschlossen. Er schenkte mir so viel Reichtum, Schönheit und Vergnügung, wie er konnte.« Er machte eine kurze Pause. Meine Augen wanderten auf den weichen Waldboden. Aber alles hatte seinen Preis, dachte ich. »Im Gegenzug musste ich ihm einen Dienst leisten.«

»Das Märchen«, flüsterte ich und nickte langsam. Aber er hatte es ja nicht anders gewollt. Schließlich ist er ja den Pakt eingegangen. Er war egoistisch gewesen. Ich verdrehte die Augen. Was machte ich hier eigentlich? Dauernd lenkte Ethan mich wieder ab. Plötzlich wurde der zarte Windhauch schrecklich heiß. Ein dunkler Nebel senkte sich auf meine Lider. Eine dicke Mauer erbaute sich in meinem Kopf. Erinnerungen hingen in unzerstörbaren Blasen. Was war los? Wo war ich?

»Ally, schlaf ein.« Meine Seele in mir fing an zu rebellieren. Hier stimmte etwas nicht. Irgendwas war definitiv verkehrt. Wieso waren wir nochmal hier? Bilder von einer Erinnerung drangen mir vor das innere Auge. Gefühle, die sich ähnelten. Der Nebel. Owen und Ethan verfluchten mich. Ich sollte mich an Claya nicht mehr erinnern. Nein! Mein Mund fühlte sich an, als würde er schmelzen. Ich war eine Wachsfigur. Meine Augäpfel kullerten aus ihren Höhlen. Hilfe! Ich wollte raus aus dieser schmelzenden, immer heißer werdenden Hülle. Doch ich fand keinen Ausgang. Langsam begannen auch meine Arme zu schmelzen. Schwer hing die Haut auf meinem Handgelenk. Ich konnte den Waldboden mit der Zunge erkunden. Sie sollten aufhören. Ich wollte nicht sterben! Halt!

Schlagartig änderte sich die Situation. Die schwere Wachshülle war verschwunden. Ich stand in einem endlosen, weißen Nichts. Ich hatte nichts an. Panisch drehte ich mich um die eigene Achse. Ein unwohles Gefühl machte sich in meinem Herzen breit. Ich wusste, jemand lauerte in dem Nichts und wartete auf mich. Nur, wer?

»Keine Angst, Liebes.«

Die vertraute Stimme kam von nirgendwo und legte sich warm auf meine Haut. Mom. Meine Mom. Ich fing an zu lächeln. Sie musste hier irgendwo sein. War ich jetzt genauso wie sie? Hatten Ethan und Owen das Selbe mit mir gemacht, wie mit ihr und meiner Tante? War sie hier gefangen? Konnte ich jetzt wieder mit ihr zusammen sein? Heiße Tränen rannen über meine Wangen.

»Mom! Ich bin hier! Mom! Mom!« Ich erhielt keine Antwort. Wild hetzte ich durch das weiße Nichts und fand kein Ende, keinen Anfang, keine Mitte. Wo hatte ich angefangen? »Mom!«, wimmerte ich.

Eine Gestalt materialisierte sich vor meinen Augen. Immer mehr Silhouetten entstanden. Sie bildeten einen Kreis um mich. Was passierte hier? Was wollten sie von mir? Direkt vor mir erkannte ich meine Oma. Was machte sie hier? »Granny?« Ich blickte mich in dem Kreis um. Alle hatten rötliche Locken. Alle sahen sich ähnlich. Drückend machte sich die Wahrheit in mir breit. Ich wusste, wer die ganzen Frauen, die um mich herum versammelt standen, waren. Jede einzelne trug ein Kleid, eines schöner als das andere. Von Barock bis hin zur Neuzeit bis zum Mittelalter. »Nayla?«

Die Frau mit dem ältesten Kleid lächelte zart, aber ihre Augen blickten mich träge an. Fast, als würde sie sich um mich sorgen. »Ally? Schatz?« Meine Mutter trat aus dem Kreis heraus und legte mir schützend eine Hand auf den Kopf, mit der anderen umfasste sie mein Kinn. »Es ist bald soweit. Hab keine Angst. Wir alle sind bei dir. Ehe du dich versiehst, ist es schon vorbei.« Ihr Lächeln machte mir keinen Mut, eher Panik. Was meinte sie mit, es war bald soweit? Was war bald soweit? Das Märchen? Owens Worte klangen in meinen Ohren wider. Du wirst sehen, nicht mehr lange und das Märchen nimmt endlich seinen Lauf. Aber es sollte nicht so schnell kommen! Ich dachte, »nicht mehr lange« hieß, dass ich noch ein paar Wochen Zeit hatte! Meine Hände fingen an zu zittern. »Hab keine Angst, Ally. Du schaffst das.«

»Und was, wenn nicht?«, sagte ich hysterisch. »Mom! Wir wollten es doch brechen! Dave wird sterben! Ich kann es nicht durchziehen!«

»Du kannst! Irgendwann wird es so oder so geschehen. Schieb es nicht vor dir her, je schneller du es hinter dir hast, desto schneller bist du erleichtert.«

Ich schlug ihre Hand weg. Ich wollte nicht zu diesem Kreis gehören. Verächtlich fixierte ich jede einzelne. Ich würde es nicht anfangen. »Nur über meine Leiche.«

Meine Mutter schüttelte sanft den Kopf. Ihre Hand lag noch immer auf meinen Haaren und drückte den Scheitel platt. Ihre Rehaugen, die ich von ihr geerbt hatte, sahen mich flehentlich an. Sie hatte Angst um mich. Sie wollte nur, dass es für mich auch endlich vorbei war. Aber das konnte mir egal sein. Sie war nicht wirklich. Meine Mom existierte nicht mehr. Ich war jetzt auf mich allein gestellt und ich konnte das sehr wohl schaffen.

»Ally, du kannst es nicht überlisten. Es ist ein Fluch.«

Ich ging auf Abstand. Mein Herz raste. Das Adrenalin schoss durch jede noch so kleine Ader, füllte mich mit Mut, Hoffnung. Auch wenn ich es nicht vollkommen beenden kann, vielleicht kann ich Risse ins Glas bringen. Und irgendwann wird eine Generation die Mauer zur Realität stürzen. So clever das auch war, es hieß, dass Dave sterben würde. Aber vielleicht musste man auch mal Opfer bringen.

»Hör auf«, bat mich meine Mom. »Gib endlich auf!«

Ich schüttelte hart den Kopf und schubste die beiden Frauen hinter mir zur Seite, um aus dem Kreis weichen zu können. Die Menge geriet in Aufregung und die Älteste unter ihnen versuchte die anderen zu beruhigen. Mir war alles egal. Ich rannte einfach. Rannte und rannte. Das hier war mein Märchen. Und es lief nach meinen Regeln.

 

Mein Kopf schmerzte. Meine Muskeln zitterten. Ich konnte die eigene Hand vor Augen nicht erkennen, spürte nur den nachgiebigen Waldboden unter meinen Knien. Ich wusste, ich war allein. Ethan war weg. Die Begegnung der anderen Prinzessinnen, die quasi bloß in meiner Fantasie stattgefunden hatte, kam mir weit weg vor. Als wäre es eine Erinnerung, die schon Jahre zurücklag. Aber eins wusste ich noch genau, dass ich mich wieder dazu entschlossen hatte, nicht aufzugeben. Ich war die Hauptrolle.

Ich konnte mich kaum aufrappeln, meine Beinmuskeln waren überstrapaziert. Erst dann fiel mir wieder ein, wieso ich hier war. Weshalb ich so viel gelaufen war. Claya.

Beinahe hätte ich laut ihren Namen gerufen. Im letzten Moment besann ich mich anders. Sie musste hier irgendwo sein. Bitte, bitte, lass sie noch leben, sagte ich mir immer wieder innerlich. Meine Lunge schmerzte. Die kalte Spätoktoberluft ließ mich frösteln. Das Laub raschelte unter meinen Füßen. Ich trug noch immer die High Heels, also machte ich kurz Pause und nahm die Schuhe in die Hand. Wo würde der Teufel seine Opfer wohl unterbringen? Sollte er Claya etwas angetan haben, würde Owen sie hier einfach liegen lassen? Hatte er überhaupt etwas mit ihr angestellt?

Nach mehreren Minuten des Suchens lehnte ich mich an einen Baum. Sie könnte überall sein. Vielleicht sollte ich lieber umkehren. Nachher fand ich nicht mehr hieraus. Wobei ich glaubte, dass die Orientierungslosigkeit schon eingesetzt hatte. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo die Straße zur High School war. Und Sorgen würde sich wohl auch keiner um mich machen. Ich schluchzte auf. Ich musste Claya finden!

Ich krabbelte durch das heruntergefallene Laub und mir rannen die Tränen über die Wangen. Die Dunkelheit drückte mir in den Rücken. Ich hatte Wahnvorstellungen von Kreaturen, die hinter den Bäumen lauerten, aber ich musste zugeben, dass ich schon leicht abgehärtet war.

»Claya…«, wimmerte ich.

Plötzlich hörte ich ein Weinen. Es war nur ganz leise, aber zuvor war nur das Rascheln des Laubs zu hören gewesen, also musste jemand oder etwas in der Nähe sein. Aber wer?

»Hilfe … bitte …?«

Es war ein Hecheln. Ein Würgen. Claya.

Ich sprang auf meine Beine, die so stark zitterten, dass ich nur mäßig vorwärts kam. Die Hoffnung keimte in mir auf. Die letzte Chance. Wild stolperte ich im Kreis, schrie aus vollem Leibe ihren Namen. Aber ich bekam keine Antwort. Keine Reaktion. Nur dieses Würgen. Dieses Keuchen.

»Du kannst ihr nicht mehr helfen.«

Alles in mir fror ein. Seine Stimme. So nah. So echt. So hier. Ich konnte mich nicht bewegen. Die Tränen verloren sich in einem Fluss. Meine Sicht, die sowieso schon eingeschränkt war, verschwamm. Seine Stimme setzte die Welt in Schweigen. Hielt sie an. Ich vergaß Claya. Verlor mich in dem Klang seiner Worte.

»Ally? Alles in Ordnung?«

Ich hörte, dass sein Kiefer angespannt war. Er war wütend, sehr wütend. Und ich wusste auch auf wen. Genau wie ich. »Wo ist sie?«

Eine Taschenlampe erstrahlte plötzlich die Umgebung und ich konnte mit einem kurzen Blick um mich herum klarstellen, wo ich war. Es war weit und breit nur Wald zu sehen. Kein Ausweg. Keinen Anfang, kein Ende.

Das Licht der Lampe fiel auf einen Körper, bedeckt von Laub. Das rote Kleid schimmerte unter den gelben Blättern hervor. Moos lag auf ihren Haaren. Ich wollte hinrennen und sie aufwecken, aber ich wusste, es war sinnlos. Ihre Augen weit aufgerissen, ihr Mund formte ein kleines O. Ihre Haare umkränzten ihren kleinen Kopf, wie das Gefieder eines Pfaus.

Und nicht lange danach folgte schon die Reaktion. Der Schock. Die Enttäuschung ihr nicht geholfen haben zu können. Die Trauer. Die Wut. Der Hass. Die Sehnsucht.

Ich fiel auf meine Knie, schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schreien. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, der mich würgen ließ, aber ich kreischte einfach weiter. Ich wollte nicht glauben, was ich sah. Claya war tot. Tot für immer. Sie musste die Schuld tragen. Meine Schuld. Mein Schicksal. Ich sollte da liegen. Ich sollte die Brandwunden besitzen. Ich sollte die leeren Augen haben. Ich wollte den toten Blick haben. Wollte aufgeben.

Ich nahm kaum wahr, wie er sich neben mich hockte und einen Arm um mich schlang. Während er versuchte mich zu bändigen, spürte ich seine Tränen an meiner Schulter.

»Nein!«

Seine große Hand krallte sich in meinen Oberarm, ich versuchte mich loszumachen. Ich wollte in meinem Elend versinken. Ertrinken. Sterben.

»Ally!«, brüllte er, ich hörte sein Schluchzen.

Mein Schrei verebbte. Schwach sank ich in seine Umarmung. Die Taschenlampe war auf den Boden gefallen und ihr Licht erstrahlte nun das dichte Laub am Boden. Claya konnte ich nur noch schemenhaft erkennen.

»Sie darf nicht … sie darf nicht-«

Meine Tränen hörten nicht mehr auf, meine Augen fühlten sich träge und ausgelaugt an. Aber jedes Mal wenn ich wieder an ihren Blick dachte, kamen mehr und mehr. Er wiegte mich. Er schützte mich, wie er es schon immer getan hatte. Tröstete mich, obwohl er genauso litt.

Ich wagte noch einen Blick auf Claya. Und erst jetzt realisierte ich, dass das Märchen real war. Es tötete Menschen. Und ich wünschte, ich müsste es nicht ertragen.

 

Kapitel 21 - Verhaftet

Fast augenblicklich fing es an zu regnen. Pralle Tropfen rutschten von den Blättern runter auf unsere Köpfe, die noch immer zusammen gesteckt waren. Immerhin sah man nun nicht mehr meine Tränen, dachte ich bei mir. Dave regte sich nicht. Es war, als sei er versteinert und einerseits tat mir seine Anwesenheit gut, andererseits wollte ich seine Wärme nicht spüren. Er war Teil des Märchens, das wir nicht hatten stoppen können. Fast machte sich Hass und Ekel in mir breit. Aber ich blieb, wo ich war. Jetzt gehörten unsere Gedanken erst Claya, die noch immer leblos ins nun nasse Laub starrte.

Der Regen lief mir über das Gesicht und ich sammelte die vielen Tropfen auf meinen Lippen mit meiner Zunge auf. Sie schmeckten nach nichts. Nach Stille und Trauer. Dem nie endenden schwarzen Nichts aus Verzweiflung und Verwirrung.

»Wir –«, fing ich an, stoppte jedoch. Das letzte Mal als wir geredet haben – mal abgesehen von dem kurzen Wortwechsel von eben –, hatte ich ihn im Krankenhaus angerufen. Sein Arm um meine Schulter. Sein linker und einziger Arm hielt mich fest. Ich konnte nicht anders, ich blickte durch die Dunkelheit zu seiner anderen Schulter, die sich nicht gegen meine presste. Sie endete armlos im kurzärmeligen T-Shirt.

Dave musste bemerkt haben, dass ich auf seine Schulter fixiert war, denn er löste die Umarmung auf und stellte sich hin. Ich blieb zerknirscht im Laub sitzen und starrte auf meine bleichen Hände. Es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld. Die Nacht wurde mit jeder Minute kälter und der eisige Wind war kaum noch auszuhalten. Aber in mir brannte ein Feuer, eine riesige Flamme der Wut, des Selbsthasses.

»Das ist also der Anfang.« Seine tiefe Stimme in der schweren Stille ließ mich zusammenzucken. »Das erste Opfer. Es war so klar, dass wir so enden würden. Ich wusste, wenn ich jetzt in den Flieger steigen würde, ich würde dich finden. Aber ich bin ein zu sentimentaler Mensch. Genau wie du. Ich konnte Claya nicht alleine lassen, auch wenn ich schon zu spät war.«

Ich schluckte. Seine Worte waren keine Aufmunterung. In jeder einzelnen Silbe lag ein Vorwurf, als hätte ich Claya umgebracht – was im übertragenden Sinne wahrscheinlich auch so war.

»Ally. Wir wollten es doch stoppen! Was hast du gemacht, dass es angefangen hat? Habe ich denn nicht genug auf mich genommen?«

Mein Mitleid war mit einem Mal verschwunden. Ja, ich hatte richtig gelegen, er machte mir Vorwürfe. Ich sprang auf die Beine, so gut es ging, und kniff die Augen zusammen. Es war furchtbar, dass wir vor Clayas Leiche einen dämlichen Streit anfingen, aber ich hatte keine Lust von ihm auch noch runtergemacht zu werden. »Jetzt hör mir mal gut zu, während du abgehauen bist, mussten wir hier mit dem Teufel klar kommen. Während du ruhig am Strand gelegen hast und gedacht hast, dass dein Abzischen das Beste überhaupt war, hab ich einiges durchgemacht.« Dave packte an den Kragen seines T-Shirts und krallte seine Finger um den dünnen Stoff. Der kurze Ärmel rutschte über die Schulter und gab mir freien Blick auf seine gigantische Narbe. Ich hielt die Tränen zurück und antwortete so tapfer wie möglich: »Lieber einen Arm weniger, als tot.« Es war mehr giftig als mutig gewesen, aber es war mir egal. Er hatte letztendlich keine Ahnung, was hier abgegangen war. Die Kälte setzte meinen Gliedmaßen schwer zu. Meine beiden nackten Füße spürte ich schon fast nicht mehr, als wären sie eingeschlafen, meine Hände zitterten wie wild und es war schwer zu sprechen, da auch meine Lippen immer tauber wurden.

»Ruf die Polizei. Und sag, dass bis sie hier sind, sie wahrscheinlich auch gleich drei Leichen mitnehmen können, wenn wir nicht gleich in ein warmes Haus verschwinden.«

Dave schüttelte bloß den Kopf. Obwohl es die ganze Zeit still gewesen war, spürte ich das folgende Schweigen noch mehr. Es schmerzte und ich hatte das Gefühl langsam ohnmächtig zu werden. Das alles war zu viel. Hörte es denn gar nicht auf schlimmer zu werden? Tränen der Verzweiflung rannen über mein Gesicht. Ich wollte nicht mehr. Bitte.

Ich ließ mich auf meine Knie fallen, den Aufprall spürte ich nicht, anscheinend war alles komplett abgefroren und total taub. Meine dünnen, dreckigen Finger fanden meine Lippen, die Berührung spürte ich ebenfalls nicht. Mir wurde schmerzlich bewusst, wie gefroren ich schon war. Ein menschlicher Instinkt des Überlebens durchzuckte mich. Ich musste wirklich hier weg. Wir würden hier draußen erfrieren. Es war doch erst Herbst, was war heute Nacht mit dem Wetter los?

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, jammerte ich und krabbelte durch das Laub zu Clayas Leiche. Meine kalte Hand umfasste ihre blutige und drückte sie an meine Wange. Wir hatten in den Fingern dieselbe niedrige Körpertemperatur.

Die Tränen strömten wie Flüsse über meine Wangen. Schluchzer schienen mich zu ersticken. Die Gänsehaut auf meinen Armen stellte meine Haare auf und kalte Schauer liefen über meinen Rücken. Bitte, lass mich einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. In einem schönen Traum für immer verweilen.

Ich schloss die Augen, Clayas Hand noch immer an meiner Wange. Ich hörte ein Rascheln, Dave setzte sich neben mich und legte seine Hand auf meine. Ich hatte ihn vermisst. Ob das daran lag, dass ich ihn lieben musste, oder ob er mir einfach ein beruhigendes Gefühl gab. Ein Gefühl der Hoffnung. Vor meinem inneren Auge erschienen die wenigen Momente, die wir zusammen erlebt hatten. Ich dachte an den Tag vor dem Schloss, wie wir uns die seltsame Liebe gestanden. Ja, ich liebte ihn, tief in meinem Herzen. Mein Herz schlug nur für seins. Und das für immer und ewig. Aber mein Verstand dachte an Ethan, wie er mich auf dem Balkon in den Arm genommen hat. Ich musste an den Traditionstag denken, als ich alle kennengelernt hatte. Wie er aus dem Wasser kam. Wie er mir die nasse Hand reichte. Wie er mich auffing, als ich umzukippen drohte. All das verzerrte ein mordlustiges Gesicht, das die langen Finger nach mir ausstreckte. Er war schuld an Clayas Tod, er hatte ihr ihren Bruder genommen, und nun ihr Leben.

Ein erschreckender Laut drang aus meinem Mund und Dave drückte meinen Kopf auf seine Schulter. Mein Zopf fiel von meiner Schulter auf meinen Rücken und ließ meine Gänsehaut aufflammen.

»Wir müssen jemanden rufen, Ally.«

»Es ist doch zu spät.«

Er drückte meine Hand, die immer noch zwischen seiner und Clayas auf meiner Wange lag. »Wir sollten ihr einen würdiges Grab geben, findest du nicht?«

Ich schluckte schwer und nickte dann an seiner Schulter. Ja, das war das Mindeste, was ich noch tun konnte. Plötzlich war ich verdammt froh, dass Dave bei mir war. Wäre ich alleine gewesen, wäre ich wahrscheinlich nicht von Clayas Seite gewichen.

Dave beugte sich nach vorne, ließ meine Hand los und ich nahm den Kopf von seiner Schulter. Er schaufelte Clayas Körper frei von dem Moos und dem Laub, das sie bedeckte. Nach kurzem Zögern half ich ihm und sah zu, wie er sie danach unter den Schultern packte und versuchte sie aufzustellen. Ich ging ihm zur Hand, bis sie endlich schlaff in Daves linkem Arm hing. Der Kopf mit den dreckigen Haaren an seine Schulter gelehnt. Ihr starrer Blick – nun in den Himmel gerichtet – machte mir Angst. Es wirkte, als wäre Owens Schreckensgesicht noch immer auf ihre Netzhaut gebrannt. Ich streckte die Hand aus und schloss sanft ihre Lider, in der Hoffnung, sie von dem Schock zu befreien, der ihr im Gesicht stand.

Dann beugte ich mich, nahm die Taschenlampe vom Boden und säuberte sie mit meinen Händen.

»Wohin?«

Dave hatte den Mund zu einer schmalen Linie verzogen und zuckte mit den Schultern. Unschlüssig standen wir uns gegenüber, als urplötzlich ein Schnüffeln immer näher kam. Das Geräusch ließ mein Herz schneller schlagen. Gab es hier Wölfe? Wildschweine? Meine eiskalte Hand fand Daves Schulter und krallte sich in seine angespannten Muskeln. Auch er hatte das Schnüffeln vernommen und sah misstrauisch hin und her.

»Taschenlampe.«

Hastig knipste ich die kleine, silberne Lampe mit dem grellweißen Schein aus und presste das kalte Röhrchen an mich. Was war das? Das Schnüffeln stoppte, aber ich konnte jetzt eindeutig einen schweren Atem in der Nähe hören. Außerdem spürte ich die Nähe dieses Etwas. Konnte es eine Furie sein? Nein, sie hätte uns schon lange mit ihren Schreien gelähmt. Ethan? Owen? Ein anderes Wesen aus der Hölle? Meine Angst verdreifachte sich und ich fühlte mich im Rücken unbeschützt. Ich fühlte mich, als stände ich in einem Kreis, in der Mitte der Zielscheibe.

Das Hundebellen ließ mein Herz aussetzen. Es kam so unerwartet und zerriss die drückende Stille. Ohne mich mit Dave abzusprechen schaltete ich die Taschenlampe wieder ein und suchte im kurzen Schein nach dem bellenden Hund. Er stand ein paar Meter hinter uns und fixierte Dave mit seinen runden, gelbbraunen Augen. Sie erinnerten mich an die von Claya.

Ich zog scharf den Atem ein, als mir klar wurde, was für ein Hund das war. Ein Polizeihund. Sie suchten nach Claya.

»Wir müssen hier weg, Dave. Die Polizei sucht nach uns!«

Dave riss die Augen auf und wand den Blick endlich von dem bellenden Hund zu mir. Er schluckte und seine Miene verfinsterte sich. Er wusste, was ich dachte. Nur zwei Leute konnten wissen, dass jemand hier Hilfe brauchte. Aber irgendwie schien mir die Polizei nicht als Hilfe gedacht. Ich wollte nicht, dass sie uns halfen. Was könnten sie auch tun? Den Mörder kannte ich und das Motiv auch. Sie würden uns vermutlich höchstens für verrückt und schlimmstenfalls noch als verdächtig ansehen. »Los.«

Dave wirbelte mit einem Tritt Laub auf, dass dem Hund die Sicht versperrte und ich rannte los, den Schein der Taschenlampe erstickte ich an meinem Bauch, da ich mit meinen kalten, zitternden Finger den Riegel nicht verschoben bekam. Dicht hinter mir hörte ich Dave keuchen. Wir waren nicht sehr schnell – ich mit meinen tauben Beinen und abgefrorenen Füßen und Dave mit der Last von Layca, die er quasi hinter sich herzog. Es tat mir weh zu sehen, wie ihre Füße hilflos durch das Laub raschelten, aber ich konnte sie unmöglich tragen.

Vielleicht wäre es besser er würde sie hier liegen lassen, dann würden sie die Leiche finden und sie bergen. Aber das kam mir egoistisch vor. Das Mindeste, was ich tun konnte, war ihren Körper zu retten, wenn schon nicht ihre Seele.

»Hey! Stehen bleiben! Hier ist die Polizei!«

Die dunkle Stimme dröhnte in meinem Kopf, aber ich stolperte weiter. Ich wusste nicht wieso, aber die Polizisten bedeuteten für mich auf einmal höchste Gefahr. Ich wollte nicht, dass sie mich gefangen nahmen. Ich wollte nie wieder raus aus diesem dunklen Wald, aus diesem Elend, aus meiner kleinen Welt voller Schuld, Vorwürfe und Trauer. Der Geruch des feuchten Mooses, das Geräusch des Raschelns der Blätter. Meine kleine, unheilbare, unglaubwürdige Welt.

 

Grelles Licht schien in mein rechtes Auge, dann wieder Dunkelheit. Kurz darauf wurde auch mein linkes Auge erhellt. Es tat weh. Irgendetwas Weiches, Warmes zog mein Augenlid hoch, um mich mit dem Licht zu blenden.

Um mich herum war es kalt und feucht. Langsam konnte ich bis in meine Zehen fühlen. Meine eisigen Finger umschlossen zart etwas Dünnes, Kaltes und Dreckiges – ich hatte die Augen geschlossen, jedoch vermutete ich, dass es dreckig war. Meine Nase war ebenfalls durchgefroren und kaum zu spüren, meine Lippen fühlten sich dreimal dicker an, als sonst. Die warmen Finger, die eben meine Augen erkundet hatten, strichen mir meine Haare vom Hals und die kalte Luft hinterließ in der zuvor noch geschützten Höhle eine Gänsehaut. Die warmen Fingerkuppen ertasteten meine Hauptschlagader und drückten drauf.

»Sie lebt.«

Ich erkannte die Stimme zunächst nicht, hatte aber das Gefühl, dass sie mir helfen wollte. Der Mensch, dem die Stimme gehörte, packte unter meinen Rücken und in meine Kniekehlen, um mich vom Boden zu heben. Ich wusste nicht genau wo ich war, aber ich vermutete wegen dem starken Kiefernadelgeruch und den Blättern und dem feuchten Dreck in meiner Hand, dass ich im Wald war. Wie ich allerdings hierhergekommen war, war mir im ersten Moment noch nicht klar.

Die Brust der Person war angenehm warm. Allmählich wurde mein Verstand klarer. Ich wusste nicht, wer mein Retter war – ich hatte ja nicht mal eine Ahnung, wieso ich überhaupt der Meinung war, dass ich eben noch in Not gewesen war – aber ich war ihm schon allein für die Wärme dankbar.

Mein Retter brachte mich zu einem Geräusch, das immer lauter wurde. Es war entsetzlich und erweckte Panik in mir. Es erinnerte mich an Gefahr und Not. Grelles Licht blinkte immer wieder auf, auch durch die geschlossenen Augen, konnte ich das Aufblitzen erkennen.

Eine kühle, glatte Oberfläche, die sich meiner Körperform anpasste, tauchte unter meinem Rücken auf. Und etwas Schweres, Flauschiges bedeckte mich. Es war wahnsinnig heiß und tat gut.

Überall Stimmengewirr, Rufe, hektische Selbstgespräche, Spekulationen, Schimpfwörter. Alles vermischte sich zu einem dröhnenden Rauschen in meinen Ohren. Irgendetwas schlug gegen meine Schläfen und allmählich fingen meine Hände und Füße an zu brennen. Ein scharfes Kribbeln durchfuhr meine Gliedmaßen, das meine Haut prickeln ließ. Einerseits war es, als hätte ich genau das sehnsüchtig erwartet, und andererseits war es unerträglich. Meine schlaffe Zunge fuhr über die rauen Lippen.

»Ich glaube sie ist teils bei Bewusstsein«, sagte eine junge Männerstimme.

Kleine, kühle Hände umfassten mein Handgelenk und fühlten ebenfalls meinen Puls. Dann riss sie meine Augen auf und schloss sie wieder. »Messen sie ihren Blutdruck, Sauerstoff – Sie wissen schon. Ich hole Dr. Jackson.«

Es war eine Frau gewesen, ihre Stimme war kühl und gestresst. Ich hörte ein Klappern etwas weiter weg. Dann eine Bandage mit glatter Oberfläche an meinem Oberarm, außerdem eine Klammer an meinem Finger.

»Doktor, sie ist hier. Der Junge versucht sich loszumachen, also habe ich ihn mit den Gurten, die mir die Schwester für den Notfall gab festgebunden. Sie, hier, scheint ein wenig neben der Spur zu sein.« Ich konnte den Arzt nicht sehen, oder hören. Aber jemand zog das Flauschige von mir und ich hörte mich selber hecheln. Die frische Luft an meinem Hals tat gut, sie half mir immer mehr zu mir zu kommen.

»Sie ist doch noch so jung … und die Polizei geht tatsächlich davon aus, dass sie das Mädchen umgebracht haben soll?«, meinte eine neue, raue Stimme. Ich hatte das Gefühl eine Ahnung zu haben, wovon er sprach, aber dieses Wissen verbarg sich hinter einer sichtbar undurchdringbaren Mauer in meinem Kopf. Was für ein Mädchen? Wo war ich? Was war passiert?

Meine Augenlider bekamen wieder ein Gefühl und ich öffnete sie flatternd. Ich lag. Über mir konnte ich eine weiße Decke erkennen. Ich war nicht in einem normalen Haus, oder Zimmer.

Als ich meinen Kopf drehte, pochte es noch stärker in meinen Schläfen. Es war sehr eng in dem Räumchen. An den Plastikwänden waren kleine Schränke angebracht, die fast alle offen standen – hunderte von Plastiktütchen quollen daraus hervor.

Jetzt endlich kam der Doktor in meine Sicht. Er war klein und rundlich. Er schien sehr gedrungen, sein dicker Oberlippenschnäuzer ließ mich an Super Mario denken, fehlte bloß die rote Kappe. Seine kurzen Arme, mit den knubbeligen Händen und den Wurstfingern pressten mehrere Akten an seinen hervorstehenden Bierbauch. Sein weißer, bis zum letzten Knopf zugeknöpfter Kittel spannte sich unter seinem Umfang.

Ich schloss meine schweren Lider und verfiel in die beruhigende Stille, die mich umgab, als ich wieder in den Schlummerzustand verfiel. Der Lärm um mich herum verebbte. Bilder flackerten vor meinem Inneren Auge auf. Ein Wald, wo fast kahle Bäume stehen, der Boden unter einer bunten Decke aus Blättern. Der eisige Wind, der mir durch das Haar weht, der mich in dem kurzen Kleid frösteln lässt. Was mache ich hier? Ich bin auf der Flucht. Nein, auf der Suche. Allein.

Claya.

Ich suche sie und finde sie. Tot. Owen hat sie verbrennen lassen. Oder sie davor schon getötet, obwohl ich glaube, dass ein so schmerzvoller Tod schon eher seinem Geschmack entspricht.

Und dann ein junger Mann mit schwarzem Haar und nur einem Arm. Unser seltsames Gespräch, das sich ganz anders entwickelt hatte, als erwartet. Dave war wieder da. Hier, in Wildwood. Das bedeutete das Ende war nicht mehr weit.

Die Erinnerungen kamen zurück, wenn auch noch schemenhaft und unreal, aber ich glaubte meinen Verstand langsam zurückzuerlangen. Das Märchen, Owen, Ethan, Claya, Dave. Er war fast da, der Beginn dieser abgefuckten Geschichte.

Für einen Moment konnte ich mich damit abfinden, zu sterben. Ich war so erschöpft, dass mir der ewige Schlaf nur recht war. Ich musste nicht mehr das grelle Licht ertragen, welches mir schon wieder in die Augen gestrahlt wurde, Ethan nicht mehr sehen, meine Schulden mit Riley nicht mehr bereinigen. Ich glaubte, loslassen zu können. Meine Mutter war nicht mehr meine Mutter, genau wie meine Tante, und der Rest wollte sowieso nur meinen Tod. Wieso nicht aufgeben? Wozu der Kampf?

Für deine Nachfahren, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf. Aber wenn Owen mir mein Herz hier und jetzt rausreißen würde und es essen oder was auch immer würde … dann hätte ich keine Nachkommen und das Märchen wäre auch gebrochen, oder? Keine Prinzessin, kein Herz, kein Märchen.

Die Stimme des Doktors riss mich aus meinen Selbstmordeingeständnissen. »Sie ist stark unterkühlt, sie sollte sofort angeschlossen werden. Miss -« Er zögerte.

»Detective Harley, Sir.«

»Ach, ja, das sagte die Polizei ja bereits. Entschuldigen Sie.« Er lockerte die Bandage um meinen Oberarm ein wenig. Ich öffnete die Augen wieder einen Spalt breit. Nun konnte ich auch Detective Harley erkennen. Sie stand unmittelbar hinter dem Doktor und observierte ihn bis ins Detail. Ihr Adlerblick passte zu ihrer dunklen, arroganten Ausstrahlung. Ihr schwarzer Bob glänzte in dem Neonlicht des Plastikräumchens – ich vermutete langsam, dass es sich um einen Krankenwagen handelte – und es legte sich perfekt und glatt um ihr eingefallenes Gesicht. Sie war geschätzt Mitte 40 und die stark geschminkten Augen schienen ihrem Alter nicht ganz gerecht. »Ich würde das Mädchen bitte jetzt ins Krankenhaus fahren. Wir müssen ihren Körper durchchecken, ob alles in Ordnung ist, oder ob sie auch Schäden davon getragen hat.« Er machte eine Pause und blickte die Kommissarin über die Schulter hinweg an, während er die dicke Decke wieder bis zu meinem Kinn hochzog. »Ich bin ja mal gespannt auf die Motive, die sich ihre Leute wieder ausdenken.«

Missbilligend schüttelte er den Kopf und beugte sich mit seiner großen Nase und den Schweinchenaugen über mich. »Hast du Schmerzen?«, fragte er, jedes Wort langsam und betont.

»Sir, Sie sind der Arzt, die Mordermittlung lassen Sie mal unsere Arbeit sein.« Ihre Stimme triefte vor Spott. »Es ist ja noch gar nix entschieden. Ich glaube nur, ich muss Ihnen nicht erklären, wie die Tatsache, dass wir einen Zeugen haben, der meint, er hätte die beiden Mädchen streitend in den Wald laufen gesehen, die Saufparty und die Leiche miteinander harmonieren.« Ihre gemalte, schwarze Augenbraue zog sich in die Höhe. »Ich werde mit Detective Smith reden.«

Sie drehte sich um und verschwand aus meinem Sichtfeld. Der Arzt verdrehte die Augen und lächelte mir dann entschuldigend zu. Dann griff er mit der rechten Hand in die Tasche seines weißen Kittels und nahm eine winzige Spritze hervor.

»Beruhig dich. Wenn du wieder aufwachst, bist du schon wieder fit.«

Dann spürte ich, wie er die Nadel brutal in meinen Hals stieß und mir schwarz vor Augen wurde.

 

Es war der hellblonde Schopf, der mir sofort ins Auge fiel, als ich wieder zu mir kam. An meinem Hals juckte ein Pflaster und als ich mit meiner linken Hand kratzen wollte, spürte ich, wie sich die kleine Nadel, mit der ich über einen Schlauch an einem Tropf angeschlossen war, in meiner Haut schmerzvoll bewegte. Ich merkte, dass mir heiß war und wollte das weiße Laken des Krankenhauses von mir schieben. Ich mochte dieses sterile Weiß nicht, es bedeutete Undschuld. Aber ich war schuldig. Jedenfalls sagte das die Polizei.

Ich trug eins der hellblauen Nachthemden und fühlte mich darunter schrecklich nackt. Irgendjemand musste mich ausgezogen haben. Ich wollte gar nicht wissen wer.

»Logan?«

Der blonde Schopf drehte sich vom Fenster zu mir und starrte mich ausdruckslos an. Seine Arme waren vor seiner Brust verschränkt, eine abweisende Gestik und ich hatte keine Ahnung, wieso. Ich wusste, wir waren nicht sehr gut aufeinander zu sprechen, aufgrund meines Plans mit Ethan – auch wenn ihm das eigentlich egal sein konnte. Hier handelte doch sowieso jeder nur nach seinem eigenen Interesse. Letztlich war das Leben der anderen doch gleichgültig. Schließlich kannte ich doch niemanden? Wieso nur hatte ich dieses Scheißbedürfnis Dave zu retten? Wer war dieser Mensch überhaupt? Und warum bedeutete er mir so viel?

Nein, nicht mir. Meinem Herzen.

»Wach?« Er kam zum Bett und setzte sich auf den Besucherstuhl daneben. Seine Kiefer mahlten schwer aufeinander und seine Augen waren eng zusammengekniffen. Ich hoffte, er würde mir etwas Informatives sagen. »Bin ich richtig aufgeklärt worden, dass Dave wieder da ist und ihr beide hier seid, weil ihr in der eisigen Nacht gestern einen Mord begangen habt?«

Ich stöhnte genervt. Was sollte das denn? Das konnte ich jetzt echt nicht gebrauchen. Am besten sollte er einfach wieder gehen. Ich musste jetzt überlegen, wie ich weiter machte. Ob ich überhaupt weitermachte. Oder ob ich nicht einfach in Daves Arme fallen sollte und Owen damit ein Geschenk machen.

»Verdammt nochmal, was ist denn mit dir los? Sind plötzlich alle total durch den Wind oder was?«

»Könnte sein. Seit ich weiß, dass ich das Herz einer jahrhundertealten Prinzessin mit mir rumtragen, fühle ich mich ein wenig verrückt.«

Diesmal war es Logan, der stöhnte und sich zurücklehnte. Er fuhr sich mit den Fingern über die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, bevor er antwortete. In der Zeit betrachtete ich mein Zimmer. Ich war allein – den Grund dafür wusste ich noch nicht. Es war sehr kahl und nirgends hingen Bilder oder standen Pflanzen. Mein blauer Kittel und Logans Kleidung waren wohl das einzig Bunte im gesamten Raum. Hinter Logan war ein kleines Fenster, das man nicht öffnen konnte. Darunter gab es keinen Fenstersims.

Ich bekam wieder einen Hitzeschub und wollte das lästige Laken ganz von mir schieben, doch es hing fest. Es ließ sich nicht entfernen. Ich klappte es auf und suchte nach dem Grund. Ein schwarzer Ledergurt war über meine Hüfte gespannt. Jetzt erst merkte ich den Druck. Sie hatten mich gefesselt!

Überrascht blickte ich zu Logan, der ebenfalls die Augen aufriss und meine Hände von dem Gurt lösten.

Wieso tat er das? Wollte er ebenfalls nicht, dass ich weglaufen konnte? War er auf der Seite der Polizei?

»Was soll das?«

»Ally«, raunte er und rückte mit seinem Gesicht nah an meins. »Sie halten dich und Dave hier gefangen bis zum Gerichtsbeschluss. Ihr seid wegen Mord verhaftet.«

 

»Ally Male, treten Sie bitte in den Zeugenstand.«

Ich saß angekettet in einem Rollstuhl. Meine Hände lagen gefesselt auf den Lehnen und um meine Hüfte war wie im Bett ein Gurt gebunden. Fehlte nur noch der Mundschutz, für meine überdimensionalen Reißzähne, dachte ich verbittert. Die blöde, arrogante Detective Harley schob mich zu dem Podest und man löste mich vom Stuhl. Ein bulliger Mann hob mich auf die Holzbank und versperrte mir jeglichen Weg zum Entkommen.

Ich trug immer noch das blaue Nachthemd, obwohl es langsam eher wie eine Uniform für die Psychiatrie wirkte. Um meine Handgelenke waren Verbände gewickelt, um die Nadeln, die noch immer in meiner Haut steckten zu schützen. Meine Haare waren fettig und wieder gelockt. Ich war abgemagert, da sich keine Schwester in meine Nähe traute und nur ein einziger Pfleger auf meiner Station arbeitete. Total dämlich. Als wäre ich der skrupelloseste Massenmörder Allerzeiten.

Ich blickte die Menschen an, die zu der Anhörung gekommen waren. In der ersten Reihe links saßen meine Mutter und meine Tante. Beide warfen mir entrüstete und verhasste Blicke zu. Ich tat es ihnen gleich. Mom war mir eine Scheißhilfe.

In der letzten Reihe links hatte sich Logan gesetzt. Sein Gesicht verkrampft. Er musterte mich misstrauisch. Er glaubte doch nicht im Ernst, dass Dave und ich wirklich diesen Mord begangen hatten! Aber es schien, als hätten sich in jener Nacht plötzlich alle verändert. Nicht nur Ethan. Besagter lehnte an der breiten Holztür ganz hinten – mit Sonnenbrille und Lederjacke. Seine Lippen waren zu einem perversen Grinsen verzogen und ich wusste, dass er sich amüsierte mich so zu sehen. Unsere Beziehung war von beiden Seiten nur gespielt gewesen. Und ich hasste das Gefühl, das ich seitdem er den Raum betreten hatte fühlte. Ich war verletzt, dass er dieses grausame Spiel die ganze Zeit gespielt hatte und dieser kleine Funke, der außerhalb des Märchens geherrscht hatte, auch nur ein dämlicher Plan gewesen war. Ich wusste nicht, wieso es mir so viel ausmachte, wo ich doch selbst bloß das gleiche getan hatte. Gespielt.

In der Reihe vor Logan saß Jolina, die unverwandt panisch zu Dave blickte, der an dem Tisch rechts saß. Seltsam, die Beziehung zwischen den beiden. Wer weiß, was da alles passiert war in Mexico. Der verächtliche Gedanke gab meinem Herz einen gewaltigen Stich.

Mach dir keine Sorgen, dein Liebster wird dich schon nicht betrogen haben, dachte ich genervt und suchte in den Bänken auf der rechten Seite nach bekannten Gesichtern. Dass Josh nicht hier war, war klar gewesen. Nicht nur wegen Riley und Owen, die direkt hinter Dave saßen, sondern bestimmt auch wegen mir. Er konnte mich jetzt ganz sicher nicht mehr leiden. Meine enge Beziehung zu Ethan hat ihn ja damals schon total aus dem Häuschen gebracht. Mistkerl.

Aber rechts sah ich niemanden außer Leute aus dem Fernsehen, die nicht abgewimmelt werden konnten. Waren sich die Richter sicher, dass das Polizisten draußen vor der Tür waren? Wenn sie nicht mal Journalisten abwehren konnten …

Naja gehen wir also zur ersten Reihe rechts, auf die ich den Blick streng mied. Ich wollte nicht in die triumphierenden Mörderaugen gucken. Diese Schlitzaugen, die mich noch immer quälten beim reinsten Gedanken an sie. Owen Silver, der Teufel.

Neben ihm sein Sohn, Riley. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, so schien es mir. Das lag wohl daran, dass in letzter Zeit plötzlich jeder Tag wie eine Woche war.

»Miss Male? Würden Sie bitte auf die Frage vom Staatsanwalt antworten?«

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es schon anfing. Diese Fragerei. Ich musste das schon alles mit den Ärzten und der Polizei durchmachen. Ich war es langsam leid die Wahrheit zu erzählen und danach diesem geschürzte-Lippen-Seufzer-Blick unterzogen zu werden und die Worte »Nun, gut« zu hören.

»Waren Sie auf dem Abschlussball Ihrer Schule, Miss?«

Als ob er die Antwort nicht wusste. »Ja.« Meine Stimme klang scheiße. Ich krächzte.

Natürlich brannte die Wut auf Owen in mir, aber ich hatte keine Ahnung, ob ich Nein sagen konnte, wenn dieser Staatsanwalt mich am Ende fragen würde, ob ich schuldig sei. Denn ja, das war ich. Ich hatte es zugelassen, dass dieses Märchen überhaupt anfing. Ich hätte einfach auswandern sollen. Alleine irgendwohin, am besten in die Wüste.

Ich hoffte einfach, dass er fragen würde: Sind sie schuldig am Mord von Claya Sophie Smith? Dann könnte ich womöglich mit Nein antworten.

»Und waren Sie mit Claya Sophie Smith zusammen dort?« Ich nickte. »Antworten Sie bitte mit Worten, Ally.«

»Ja«, sagte ich tonlos. Ich spürte plötzlich wieder den Kloß im Hals. Claya war tot. Tot. Das Wort hallte wie in den letzten Tagen in meinem Kopf immer wider. Es machte mich krank.

»Wie sind Sie zum Abschlussball gelangt? Wusste jemand, dass Sie dort waren?«

»Ja, es können fünf Leute bezeugen.«

»Wer?«, keifte der rothaarige Mann in schwarzem Anzug. Er war sehr jung, ehrgeizig und hemmungslos. Ich wusste, er würde nicht einfach aufgeben. Wobei ich überlegte, wie er auf den vernarrten Gedanken kam, ich könnte ein gleichaltriges Mädchen im Wald verbrennen und danach ihr Herz von den Adern abreißen. Denn genau das hatte Owen getan. Es war unglaublich, dass sie alle dachten, ich und Dave hätten das verrichten können. Vor allem ohne die Haut aufzuschneiden.

»Meine – Zara und Magda Male, Kevin Oswald, mein Mathematiklehrer Mr Godwin und Ethan Strong.«

»Mr Strong, haben Sie Ally Male an jenem Abend dort gesehen?«

»Ja, Herr Staatsanwalt«, ertönte Ethans Stimme. Der Klang gab mir einen Schlag in den Magen. Ich fühlte mich vollkommen allein. Völlig verlassen und verraten von allen, die mir helfen konnten. »Ich habe sie in meinem Wagen hergefahren. Wir standen an der Bar, als sie mit dem ermordeten Mädchen unergründlich Streit anfing-«

»Ja, ja, das wissen wir ja schon«, würgte der Rotschopf Ethans Worte ab. Er studierte kurz seinen Notizzettel, bevor er sich wieder mir zu wand. Ich aber starrte zu Ethan. Wie konnte er so etwas behaupten? Das stimmte ja vorne und hinten nicht! Wieso tat er das? War denn gar nichts Außergewöhnliches zwischen uns gewesen? Nichts, dass ihn gegen den Teufel handeln ließ?

Nein, sagte mir dieser blöde Realist in meinem Kopf. Nein. Wie schon gesagt, es war bloß Taktik gewesen. Genau das sah ich auch jetzt in seinen Augen. Hochmütig lächelte er mich an. Sein Blick sagte mir: Jetzt ist die kleine Ally wohl ganz schön in die Enge getrieben.

Und ja, das war ich. Ich war ein Häschen, das von tausenden von giftigen, bösen Schlangen umgeben war. Es gab keinen Ausweg.

»Miss Male, bitte bleiben Sie bei der Sache«, tadelte mich wieder der Richter und ich schüttelte schnell den Kopf.

»Kam es an der Bar zum besagten Streit?«

Ich atmete tief ein. Alles war still. Jetzt konnte ich nicht anders. Ich blickte zu Owen und Riley. Rileys Blick konnte ich nicht deuten. Eine Mischung aus Neugier, Missachtung und Belustigung. Seltsam. Owens Blick ähnelte dem von Ethan. Wobei er sich erlaubte breit zu Grinsen. Mir seine Zähne zu demonstrieren. Ja, das hier gehörte zu seinem Vernichtungsplan. Er wollte mich weich klopfen, bis ich völlig ausgehungert nach Erlösung bettelte. Aber soweit würde er mich nicht kriegen. Alleine allerdings würde ich das nicht schaffen. Ich brauchte jemanden an meiner Seite, dem ich voll und ganz vertrauen konnte. Dave durfte dieser jemand nicht sein, weil sonst noch die Gefahr bestand, dass wir uns näher kamen. Vielleicht Logan? Oder sollte ich wieder zu Riley? Mich entschuldigen? Auch wenn ich nicht mal wusste wofür.

Ich schluckte wieder. Was sollte ich jetzt sagen? Von Anfang an die unglaubwürdige Wahrheit? Ich redete mir ein, dass es fast nicht mehr schlimmer kommen konnte, also tat ich es. Ich widersetzte mich.

»Nein.«

»Nein? Und was geschah stattdessen?« Rotschopf warf einen misstrauischen Blick zu Ethan. »Was konnte passieren, dass Sie sich dafür entschlossen haben dem jungen Leben ein Ende zu bereiten?«

Seine Stimme war zum Ende hin lauter geworden. Sie und seine Worte erzielten den gewünschten Effekt. Sie schüchterten mich ein. Fast war ich den Tränen nah und hörte in Gedanken das ekelhafte Lachen von Owen. Verdammt, ich war nicht schuldig. Oder? Ich hatte nicht das Beil geschwungen. Und wieso sollte ich schuldig sein? Ich konnte nichts dafür, dass ich Hauptrolle dieser Geschichte war. Oder hatte Dave Recht? Hatte ich wirklich einen Fehler begangen, etwas nicht beabsichtigt? Etwas übersehen, dass dazu geführt hatte, dass es anfing? Nein, nein, nein. Das konnte nicht sein. Woher sollte ich wissen, dass Claya etwas damit zu tun hatte? Außerdem war es Dave Schuld, dass sie dazu gehörte. Er hatte sie in sein Leben gelassen. Er war derjenige, der für ihren unnötigen Tod büßen sollte. Er sollte ins Gefängnis gehen. Am besten 25 Jahre, wo er lange genug weg war, um mich in Ruhe zu lassen.

Ich stöhnte leise auf, als mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

»He? Was hat dich dazu gebracht, Mädchen? Rede!«

Der Staatsanwalt stützte seine Arme nun auf meinem Tischchen ab und stierte mich an. Er roch stark nach Aftershave. Seine babyweichen Wangen, seine Stupsnase, seine grünen Augen – direkt vor mir. Ein Schauer überkam mich. Ich wollte nur raus hier. Ich wollte mich irgendwo zusammenrollen.

»Es gab«, meine Stimme war sehr brüchig, deshalb fing ich nochmal von vorne an. »Es gab weder einen Streit noch irgendeinen anderen Konflikt zwischen mir und Claya. Ich kannte das Mädchen erst diesen Abend lang.« Okay, das war gelogen, aber diesen Teil von ihr kannte ich nun mal erst seit dem Zeitpunkt.

»Claya war aber in deinem Jahrgang, Ally. Claya besuchte mit dir zusammen die High School hier. Ihr seid euch also sicher schon über den Weg gelaufen!«, donnerte Rotschopf und ich senkte den Kopf. Seine Wut machte mir Angst. Noch konnte ich mich nicht wehren.

»Da muss ich allerdings etwas zu sagen«, meldete sich plötzlich eine männliche Stimme, die sich anhörte, als wäre sie im Stimmbruch. Unfehlbar Kevin. »Claya besuchte die Schule unter einem Decknamen und einem anderen Aussehen. Schon möglich, dass Ally sie nicht erkannt hat, euer Ehren.« Kevin setzte sich wieder und sah mich gleichgültig an. Ich war ihm sehr dankbar für diesen Einwand, glaubte aber nicht, dass er unbedingt auf meiner Seite war. Wie konnten sie nur alle glauben, ich hätte jemanden umgebracht? Kannten sie mich denn nicht? Wie konnte man einfach überhaupt so etwas annehmen? Ich war nicht mal volljährig!

»Nun, gehen wir davon aus, du kanntest sie nicht. Aber etwas muss passiert sein, dass du an jenem Abend wütend auf sie warst.« Er blickte mich an wie ein zorniger Ochse. Fehlte nur noch, dass er mit den Füßen scharrte. Als ich nichts darauf sagte, meinte er plötzlich an den Richter gewandt: »Wo ist unser Zeuge?«

»Das bin ich«, sagte eine schleimige Stimme und jemand erhob sich von den Holzbänken. »Ich habe den Vorfall gemeldet, Sir.«

Der Zeuge des nicht von mir begangenen Mordes war niemand anderes, als der Mörder selbst.

Impressum

Texte: (c) - Text: Lara Grohmann, (c) - Titel: Lara Grohmann
Bildmaterialien: Lara Grohmann
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Grillen.

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