Seit einiger Zeit wandelte ich schon unter ihnen und verbarg mich vor ihren Augen. Je länger man auf der Erde weilte, desto leichter fiel es einem die Macht vor den Menschen zu verbergen. Den Engel in dir.
Dieses Mal hatten mich meine Aufträge länger aufgehalten als bisher. Ich spürte die menschlichen Bedürfnisse immer deutlicher. Hunger, Kälte und Müdigkeit. Engel empfanden keine Gefühle. Emotionslos verrichteten sie ihre Aufgaben.
Stiegen wir auf die Erde herab, versteckten wir unsere Lichtgestalt in einer menschlichen Form. Weder Flügeln, noch unser strahlender Glanz verrieten uns. Das einzig verräterische blieben unsere Augen, denn diese bekamen bei Ausübung unserer Macht einen hell leuchtenden Kranz um die Pupillen. Meine Iris begann hellblau zu schimmern. Menschen verloren sich komplett in diesem Licht, fühlten Frieden in ihrer Seele und konnten nicht genug davon bekommen. Für jene die dieses Schimmern zu Gesicht bekamen, für diese war es das Letzte was sie sahen.
Mein abschließender Auftrag führte mich in ein nettes kleines Häuschen, umgeben von einem wilden Garten. Ich brauchte nicht zu klopfen, mein Eintreten war selbstverständlich. Ungehindert ging ich in das Schlafzimmer und dort lag sie.
Angewurzelt blieb ich aufgrund meiner Gefühle, welche auf mich einstürmten, stehen. Gefühle? Das menschlichste aller Empfindungen, bis jetzt eine unbekannte Regung, trat am deutlichsten hervor … Liebe.
Wie sollte ein Engel mit diesen unfassbaren Eindrücken umgehen können, wenn es ihm nie beigebracht worden war? Wunder wurden von einem erwartet. Große Dinge sollten wir ermöglichen. Aber Empfindungen durften wir keine haben. Dennoch passierte das Unmögliche.
Vorsichtig trat ich näher, sie schlief. Mein menschliches Herz raste in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Der Atem beschleunigte sich um ein Vielfaches, ich konnte es nicht verhindern. Völlig verwirrt stand ich da und musterte sie. Ein erstickter Laut der Überraschung entfuhr mir, als sie ihre Augen aufschlug. Ihr Blick traf mich mitten ins Herz.
Geschaffen durch Gott, bestand mein Dasein aus gehorchen. Im Gegensatz zu den Kindern des Schöpfers, fehlte mir der freie Wille. Die Freiheit sich zu entscheiden. Diese Möglichkeit wurde einem Engel komplett genommen, er musste sich der höheren Macht unterordnen. Die stärkste Waffe war das Vergessen. Kehrst du in das himmlische Gefüge zurück, verlierst du deine Erinnerungen. Das Gedächtnis wurde gesäubert. Deine Seele sollte unbefleckt bleiben, keine Schatten durften sie trüben. Die Reinheit eines Engels gewährleistete die Vorurteilslosigkeit gegenüber den Menschen.
Ob gut oder böse, Gott liebte sie alle gleich. Engel waren nur sein Werkzeug und eventuelle Gefühle standen diesem System nur im Weg.
Wenn Racheengel plötzlich jede Kleinigkeit vergalten, oder Schutzengel übertrieben und die Selbstständigkeit der Menschen dadurch verhinderten, dann verlagerte sich die natürliche Balance.
Was in meinem Fall bedeutete, dass Todesengeln alle oder niemanden mehr sterben ließen.
Entweder würde die Erde ihren größten Feind verlieren und dadurch überleben, oder den endgültigen Untergang konnte nicht einmal mehr der Erschaffer verhindern. Das Gleichgewicht geriete aus den Fugen.
So gesehen würde ich Gott sogar Recht geben.
Doch zum ersten Mal verstand ich die Gefallenen. Sie hatten sich einfach das Recht für eine Entscheidung genommen und ihre Wahl fiel auf Freiheit. Die gefallenen Engel lebten auf der Erde und agierten nach ihren eigenen Gesetzen, bis ein Erzengel sie vernichtete. Brüder und Schwestern wurden zerstört, weil ihr Weg nicht mehr dem des Herren glich.
Schwermut erfasste mein Gemüt bei einem Gedanken.
Was passierte, wenn ich bei ihr bleiben wollte? Mit sehr langsamen Bewegungen nahm ich sie in meine Arme. Das Glücksgefühl, welches mich überkam, übertraf alles. Die Freude ließ den Trübsinn verblassen, ihr Antlitz war vollkommen. Ich war komplett der Macht meiner Gefühle ausgesetzt. Die Berührung ließ meine Haut kribbeln, ihre Wärme durchflutete mein Sein.
All das würde ich vergessen, wenn ich zurückkehrte. Nichts bliebe zurück. Was sollte ich tun? Das Los eines Gefallenen ertragen? Immer auf der Flucht, abseits des Lichtes und entbunden jeglicher Aufgaben. War ich dafür fähig? Wollte ich sie wirklich vergessen und so tun, als ob nichts passiert wäre?
Sie lag in meinen Armen, ihre klaren grauen Augen sahen mich vertrauensvoll an, die Finger versuchten zärtlich mein Gesicht zu berühren und ihr Lachen strahlte heller als die Sonne. Die Makellosigkeit ihrer Seele machte mich, aufgrund meines Zwiespaltes, verlegen.
Sie sprach mit ihrem Herzen und zeigte mir den Weg zurück. Mit einem erstaunten Lächeln wurde mir bewusst, dass tatsächlich ein Mensch einem Engel half. Ich hatte sehr wohl die Macht mich zu entscheiden.
Jeder trug sein Los und ich beschloss, das Gleichgewicht des Ganzen zu wahren. Diese Entscheidung riss mich fast entzwei, eigentlich wollte ich bei ihr bleiben, aber um das zu können, musste ich gehen. Als Gefallener würde ich in der Dunkelheit leben und hätte jedes Recht verloren, ihr nah zu sein.
Mein Blick ging über sie, ich versuchte mir alles genau einzuprägen und etwas keimte dabei in mir auf. Zum ersten Mal in meinem Dasein fühlte ich Hoffnung. Vielleicht vergaß ich diesmal nicht, da sie mich innerlich berührt hatte.
Eventuell konnte niemand diese Erinnerungen löschen und falls es so wäre, dann … eine Träne löste sich aus meinem menschlichen Auge. Erstaunt fuhr ich über meine Wange und kostete den salzigen Tropfen. Dieses Mal war alles anders, ich würde sie nicht vergessen und ihr noch bevorstehendes Leben begleiten.
Sanft legte ich den Säugling wieder zurück. Bedauernd drehte ich mich zu ihrer Mutter um, schloss für immer deren Augen und strich ihren Namen von der Liste. Langsam löste sich meine menschliche Form auf, mein Licht erhellte das gesamte Schlafzimmer und die Flügel streckten sich empor. Das vertrauensselige Lachen begleitete mich auf meinen Weg und ich hoffte auf ein Wiedersehen.
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2010
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