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An solchen Tagen …

 

wenn das Chaos mal wieder zu gewinnen scheint, beruhige ich mich damit, dass es sich lediglich von Ordnung unterscheidet, weil ihm ein subtileres Muster innewohnt.

 

(So ähnlich habe ich das mal in einem Buch von Matthew Fox und Rupert Sheldrake gelesen.)

Prolog

 

„Wie findet ihr mich?“, fragte ich meine Arbeitskollegen und sie starrten mich zunächst nur sprachlos an, bis die Stille Stromstöße durch die Ohren jagte.

 

„Nun sagt schon, wie findet ihr mich?“, drängte ich.

 

Elvira Kornblum, meine junge Kollegin runzelte nachdenklich die Stirn: „Morgens hinter der Tageszeitung, Mittags hinter einem mächtigen Wurstbrot und zwischendurch, wenn irgendeiner Stress macht, immer dem Gebrüll nach.“

 

Hans Winkelhaus, der mir gegenüber saß, bekam einen Hustenanfall, der grün klang.

 

Ich seufzte: „So meine ich das nicht. Meine Frau und ihre Schwester wollen unbedingt Erlebnisse und Anekdoten von mir niederschreiben, weil sie der Meinung sind, dass ich manchmal an bestimmten Tagen Chaos und Pech magisch anziehe. Die meinen, das ist lustig.“ Ich lächelte, als hätte ich Zahnweh.

 

„Na schön, dann wollen wir mal anfangen“, sagte Hans und begann aufzuzählen, „liebenswert, geduldig, gütig, genügsam, sanftmütig, nachgiebig, stets für deine Familie da und leidensfähig.“

 

„So siehst du mich?“ Ich staunte und fühlte mich – zugegeben – ein wenig geschmeichelt.

 

„Unbedingt! Übrigens, ich möchte morgen früher gehen, kannst du die Schicht für mich übernehmen?“

 

 

Eine Idee und ihre Steißgeburt

 

 

Sie lag vor mir, noch ganz jungfräulich und faltenfrei. Fast zärtlich strich ich über ihre Seiten und fühlte die seidige Glätte. Ich atmete ihren Duft ein. Herrlich, diese druckfrischen Presseexemplare. Mein Sonntagsritual konnte beginnen.

 

Genussvoll wollte ich gerade anfangen, meine Lieblingszeitung zu lesen, als Mona Marie heranrauschte. Sie machte von ihrem Recht als Ehefrau Gebrauch und setzte sich mir gegenüber an unseren großen runden Eichentisch in der Küche. Zunächst sah sie mich nur nachdenklich und erwartungsvoll an. Als ich nicht reagierte, wurde der Ausdruck in ihren dunklen Augen mit der Zeit immer eindringlicher und schließlich bohrend. Da ich wusste, das Wasser niemals bergauf rinnt, und somit die Blicke Mona Maries nicht milder würden, riss ich mich schließlich zusammen und von der Zeitung los. Betont freundlich fragte ich: „Ist irgendetwas? Was hast du?“

 

Darauf hatte sie offensichtlich gewartet und setzte zu einer Erklärung an: „In der Zeitung berichten alle möglichen Leute über sich! Und im Fernsehen erst recht! Neuerdings auch in eBooks. Und meine Schwester Mary Lee hat für ein amerikanisches Magazin eine Serie über Ehemänner geschrieben.“

 

„Na und?“, fragte ich alarmiert. „Mary Lee ist schließlich Journalistin.“

 

Ohne auf meine greifbare Skepsis einzugehen fuhr sie fort: „In einer Zeitung schreibt jemand täglich über seinen Hund. Viele schreiben Bücher über sich, obwohl außer einem dümmlichen Grinsen auf dem Cover nicht viel dabei herauskommt, was sonderlich interessant wäre. Pöbelnde Fernsehmoderatoren schlagen Räder wie Pfaue und berichten von einem Leben, das uns eher fremd ist. Millionäre geben hochgeistige Sätze von sich, und alle möglichen Leute lassen sich öffentlich mit mehr oder weniger anspruchsvollen Partnern verkuppeln. In Fernsehsendungen quatschen die Frauen darüber, was sie gestern Abend gegessen haben und dass der Mann gern rote Socken trägt. Die Dame des Hauses wiederum gar keine. Was den Mann fürchterlich stört und er seine Nachbarn zu einer Kampagne: 'Zieht meiner Frau wenigstens grüne Socken an!', aufruft. Das alles wird von einer Quotenqueen mit schriller Stimme und heftigen Bewegungen in einer – wenn wir Glück haben – Nachmittagssendung verkündet. Und das können wir auch!“

 

„Was, das Verkünden?“

 

„Nein, das Berichten!“

 

Ich starrte sie in tiefer Fassungslosigkeit an: „Wie bitte, wir sollen im Fernsehen auftreten, ungewaschene Socken schwenken und dazu auch noch unsere Nachbarn einladen??“

 

Mona Marie verdrehte bei soviel Begriffsstutzigkeit die Augen: „Nicht im Fernsehen. Wir sollten über uns schreiben! Jeder schreibt heute über sich! Ob Altkanzler Kohl, Fernsehmoderatoren, ehemalige Minister, Betrüger oder Kinderschänder. Die Palette ist bunt.“

 

„Ja, so wie ein dickes Hämatom! Ich bin kein Bundeskanzler. Weder hatte ich je einen Blackout, noch bin ich dreimal geschieden oder habe als erwachsener Mann einen ganzen Berufszweig, wie zum Beispiel den der Lehrer angepöbelt. Ich habe auch nie Gesetze beschlossen, um sie nach meiner Abwahl als Insiderwissen zu vermarkten. Der niedersächsische Umweltminister erwähnte, dass Schacht Konrad, der als offizielles Atomklo geplant ist, wie sein Fachwerkhaus sei. Aber einziehen wollte er dann doch nicht. Darüber könnte man etwas schreiben! Vor allen Dingen, weil eine große Anzahl der Bergleute, die damals dort gearbeitet haben, den Schacht nicht für sicher halten, weil sie immer wieder mit Wassereinbrüchen zu kämpfen hatten. Aber lassen wir das, gegen diese Mafia kommt man sowieso nicht an.“

 

„Aber du hast doch auch schon interessante Dinge erlebt! Außerdem wären die Episoden aus dem Leben eines gestressten Ehemannes, für den du dich ja hältst, mal was anderes.“

 

„Auf keinen Fall habe ich etwas erlebt, worüber es sich zu berichten lohnte. Vom Bundeskanzler einmal abgesehen bin ich auch kein Minister oder Bundestagsabgeordneter. Ich habe noch nie einen Polizisten mit Pflastersteinen beworfen, geschweige denn verprügelt. Ich versuche nicht, potenzielle Verräter, wie den Snowdon, ins Land zu holen oder befürworte gar Kinderpornografie. Wenn ich der Präsident der Vereinigten Staaten wäre, könnte ich wenigstens über die Arbeitsmethoden von Praktikantinnen berichten, vielleicht sogar, wie man dem Volk suggeriert, man könne übers Wasser wandern, während klammheimlich soziale Leistungen abschafft werden. Aus dem Leben eines Taugenichts hat bereits Eichendorff verfasst und ich habe auch nichts Effektvolles zu liefern wie den Faust von Goethe. Mit eindrucksvollem Donnerschlag erscheint dort wenigstens Mephisto. Und wer erscheint bei uns?“

 

„Rambo!“

 

„Rambo ist weder Rin Tin Tin noch Lassie. Er hat noch nie jemandem das Leben gerettet oder einen Einbrecher verjagt. Er geht nicht mit einem Körbchen allein einkaufen oder hilft alten Damen über die Straße. Er ist auch nicht wie Kommissar Rex, der Mörder stellt, sie dann anspringt und umwirft, so dass sie ihm dekorativ ihre Kehle darbieten können.“

 

„Umwerfen kann er die Leute auch. Ich weiß noch, als er damals den Staubsaugervertreter angesprungen hat...“

 

„Ach hör’ doch auf. Rambo ist dreimal so schwer wie Lassie und größer als ein kleines Kalb. Heutzutage hat die Masse der Bevölkerung Angst vor so großen Hunden. Jedenfalls wird ihr das von der Regierung und den Medien so eingeredet. Die Politiker bilden sich ein, durch die Registrierung von Hunden würden Beißattacken verhindert. Das kostet dem normalen Hundebesitzer eine Stange Geld und die Verbrecher, die wirklich mit gefährlichen Hunden umgehen, melden ihre Tiere sowieso nicht.“

 

„Bei näherer Überlegung fallen mir eine Menge Geschichten mit Rambo ein. Aber unser Sohn Tim und ich sind auch noch da!“

 

„Und was bitte soll über dich geschrieben werden? Schau’ dir die großen Damen der Weltliteratur an. Die hatten was zu bieten! Von Lotte von Weimar oder Lady Chatterly will ich gar nicht reden und zu Lady Hamilton fehlt dir der passende General. Die Kameliendame tat ihrem Verfasser wenigstens den eindrucksvollen Gefallen, an Schwindsucht zu sterben und zwar ziemlich geduldig, weil die Sache sich ja etwas hinzog. Und du willst doch wohl nicht als Maria Stuart noch einen Kopf kürzer als einsachtundfünfzig herumlaufen?“ Ich ließ ein provokantes Lachen hören.

 

Zwischen uns entstand ein spürbar distanziertes Schweigen. Dann kam Mona Maries Antwort, so trocken wie der Sand in der Sahara. „Und Tim?“

 

„Was soll das? Er ist kein Rapper, der zwischen Schluckauf und Husten Texte, die vom Bodensatz der Kultur stammen, ins Mikrofon stammelt und dabei über die Bühne torkelt, als wäre seine bis in die Kniekehlen hängende Wochenklohose bereits voll, er aber den drängenden Rest unbedingt zurückhalten muss. Ja, das ist die Art von Jugendlichen, über die berichtet wird. Zudem, wenn sie auch noch in ihren Vorführungen bekennen, dass sie unbedingt allen, die ihnen über den Weg laufen, sexuell belästigen und die Köpfe abschneiden wollen. Er ist auch kein untalentierter Sänger, der sich dauernd tänzelnd in den Schritt fasst. Er ist kein junger Werther, der leidet und gottbewahre kein Soldat James Ryan. Auch kein anerkannter Maler, denn dazu müsste er sich wahrscheinlich erst ein Ohr abschneiden und irgendwo verlottern. Wäre er mit Jenny Elvers, ich weiß nicht genau wie sie heißt, befreundet, könnte man auch über ihn schreiben. Außerdem hat er noch nie in einem Container gesessen, wobei Millionen Menschen ihn beobachteten, ihm beim Staubwischen, Nägelkauen und schlimmeren zusahen und zuhörten, wie er mit geistvollen Kommentaren eine hemmungslose Massenbegeisterung auslöste.“

 

„Über deinen VW Bus könnte man auch schreiben!“

 

„Mein Fridolin ist kein toller Käfer Herbie und wurde auch noch nie von einem Schumacher oder Finnen gefahren... Oder doch, von einem Finnen schon, aber nicht von Mika!“

 

„...... und denk’ mal an unsere Urlaube!“

 

„Urlaube? Unsere beschaulichen Urlaube? Wir haben weder Sangria aus Eimern gesoffen und anschließend den Inhalt in die Büsche geko...“, hier hielt ich einen Moment lang inne und fuhr dann fort: „Vielleicht wollen die Leute auch etwas über exquisite kulturelle Veranstaltungen wie die Wahl zur Busenkönigin oder über den Wettbewerb wer macht sich als Superstar am meisten zum Affen lesen. Vom IQ-getränkten Dschungelcamp mal ganz zu schweigen. Unter Umständen könnte es auch ein Kapital wert sein, wenn sich jemand fände, der dem deutschen Schlagersänger – der sich einbildet König von Mallorca zu sein – die Krone und den albernen Hermelinumhang klaut. Also, worüber sollen wir aus unserer stinknormalen Familie berichten? Außerdem kommt mir gerade ein genialer Geistesblitz, wir sind keine Schriftsteller.“

 

„Schluss jetzt!“ Mona Marie reagierte ausgesprochen launisch, wenn man ihr etwas abschlug. „Dein Ton klingt schlimmer, als der eines Verhörspezialisten der Stasi. Ich habe das bereits mit Carla am Telefon diskutiert und die hat sich an Mary Lee gewandt. Beide kommen und helfen uns. Wir werden schreiben.“

 

Ich erstarrte wie Lots Weib. Carla und Mary Lee waren allerschwerste Geschütze!

 

Damit war das Thema also zunächst beendet, so ungefähr zwei Tage lang. Dann waren wir wieder am Tisch versammelt.

 

„Wo wollen wir anfangen?“, fragte Mona Marie und sah mich hoffnungsvoll an.

 

„Am Anfang!“, entgegnete ich ebenso hoffnungsvoll, weil ich mich dem optimistischen Gedanken hingab, dass der Stoff ausging, bevor wir überhaupt angefangen hatten.

 

„Wo fängt der Anfang denn an?“, fragte ich dann träge und biss in ein Salamisandwich, das ich mit der linken Hand hielt, weil ich mit der rechten Notizen machen wollte. Auf meinem Block landete mit einem Blubb etwas Mayonnaise und ich wischte sie hastig mit einem Papiertaschentuch ab.

 

„Vielleicht bei unserer Hochzeit?“, schlug ich dann vor.

 

„Das ließe sich eventuell darstellen“, antwortete Mona Marie gönnerhaft und schrieb einige Anhaltspunkte auf. „Dann taucht natürlich die Frage auf, wie haben wir uns kennen gelernt?“

 

„Das weißt du doch, das ist doch keine Frage. Aber wie ist das mit unserem Vorleben bis zu dem besagten Kennenlernen!“

 

Mona Marie sinnierte: „Dann müssen wir uns möglicherweise auch mit unseren Eltern beschäftigen!“ Sie war restlos begeistert. „Was wiederum die Großeltern auf den Plan ruft!“ Mit blitzenden Laseraugen und zerzaustem Haar fuchtelte sie aufgeregt mit beiden Händen herum und wippte mit dem schweren Eichenstuhl. Dabei schob sie ihre Zunge etwas nach vorn und ich starrte fasziniert darauf, da mich die Spitze an etwas erinnerte, das aus der Erde kroch.

 

Bei ‚Plan’ betrat Tim das Zimmer. Er war jetzt im besten Mannesalter und wie ich bemerkte, trat er heute in Rudeln auf. Er hatte einen hübschen, metrosexuellen Freund mit femininen Gesichtszügen und Rastalocken bei sich. Dessen Äußeres täuschte aber, denn er war in Begleitung eines weiblichen Wesens. Selbstbewusst, mit langen blonden Haaren, unzähligen Ohrringen und einem Knopf in der Nase drängelte sie sich vor und meinte: „Eine Familiensaga über mehrere Generationen wirkt nicht schlecht. Man denke an Roots und Fackeln im Sturm! Auch wenn das schon ein wenig angestaubt ist.“

 

„Ein genialer Vorschlag!“, stöhnte Rasta überwältigt.

 

Meine Einstellung war da wesentlich gemäßigter, ich hörte erst einmal zu.

 

„Bei welcher Generation fängt man an?“ Ohrring war gar nicht so dumm. „Vor dem zweiten Weltkrieg und danach gibt es schon eine Menge!“

 

„Dann fällt eine neue Geschichte kaum auf!“, erklärte Tim schulterzuckend. „Ab ovo usque ad mala. Fangt einfach beim Urknall an und arbeitet euch durch die Evolution!”

 

„Raus!“, erklang es aus zwei Kehlen wie aus einem Munde. Mona Marie und ich waren selten so einig.

 

„Wir müssen nun Prioritäten setzen!“, meinte ich endlich, nachdem wir eine Weile vor uns hingestarrt hatten, und das Schweigen die Ohren knacken ließ. Mona Marie hörte auf mit dem Stuhl zu wippen und blickte mich anerkennend an. Ich machte eine wirkungsvolle Pause, um ihre Erwartung ins Maßlose steigen zu lassen

 

„Das Klügste wäre, eine Autorenvorlesung zu besuchen und mit Fachleuten in Kontakt zu treten.“

 

 

 

Das Literaturforum

 

 

Voller Spannung hatten wir ihn erwartet, jenen ersten Abend im Literaturforum, der in einem uns unbekannten Kindergarten stattfand. Das Treffen begann völlig unliterarisch, weil wir den Eingang nicht fanden, oder nicht zu finden glaubten. Er war nämlich noch verschlossen, als wir ankamen.

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Während wir herumirrten, tauchte vor uns im Dunkeln ein Mann auf, der größtenteils aus einem schwarzen Bart zu bestehen schien, und bei dem ich zunächst einen Sprengstoffgürtel vermutete. Er entpuppte sich aber als gleichgesinnt und suchte auch nur den Eingang ins kulturgetränkte Vergnügen.

 

Kurze Zeit später hatten sich dann alle gefunden, und die Runde begann nach einigem Stühle rücken mit dem, was sie hierher geführt hatte. Außerdem wurde die Tür abgeschlossen, damit niemand mehr entfliehen konnte. Meine Erwartungen stiegen ins Maßlose und die erste Erzählung wurde vorgelesen. Sie war perfekt, gut durchdacht, und der Sound spiegelte die Lebensweise und Perspektivlosigkeit der Handelnden einfühlsam wieder. Jedenfalls klang das für meine profanen Ohren so. Nicht aber für die Reich Ranicki-Verschnitte, die sich hier in Scharen profilieren wollten. Sie meinten, der Text hätte noch stellenweise gekürzt, also bis zur Unkenntlichkeit zusammengehauen werden müssen. Überhaupt wären einige Passagen völlig fehl am Platz und sie hätten das so oder so geschrieben.

 

Erstaunlich, ich sagte lieber nichts mehr und beschränkte mich aufs Zuhören und Beobachten.

 

Dann las Little Shakespeare, so taufte ich den distinguierten Herrn, mit tragender Stimme einen englischen Text vor. Wahrscheinlich traute sich niemand zuzugeben, dass er nicht genügend Englisch verstand, also folgten allgemeine Begeisterungsstürme.

 

Wie dem auch sei, Mona Marie meinte hinterher respektlos, dass sein Englisch in ihren Ohren gerauscht hätte und ihre Schwester Mary Lee ihn wahrscheinlich mit ihrem Peacemaker vom Hof jagen würde und Onkel Corky, mit einer Rifle fuchtelnd, den erneuten Krieg gegen eindringende Engländer ausrufen würde. Immerhin war Mona Marie Amerikanerin und ihr fünf oder sechs Mal Urgroßvater hatte „The Declaration of Independence“ gleich unter Benjamin Franklin unterschrieben. Dabei fiel mir dann nebenbei ein, dass ich die vorgelesene Story just am vergangenen Samstag als Film im Fernsehen gesehen hatte. Jedenfalls fiel sie sehr ähnlich aus - mit Liam Neeson in der Hauptrolle.

 

Eine etwas gesetzte Dame rezitierte dann ein Gedicht, in dem sich Torten und Kuchen unterhielten und Kinder mit mutierten Clowns durch die Luft wirbelten.

 

Es folgten eine Adenauer-Anekdote, die ein Herr mit weißem Seidenschal verzapft hatte, und ein etwas längeres Gespräch über Veranstaltungsplanungen und Buchveröffentlichungen, unterbrochen von Kritik, immer von den gleichen Leuten. Eine junge Dame kam endlich mit zwei zeitkritischen Gedichten zum Zuge, die ich persönlich nicht übel fand. Aber einige Kritiker hatten natürlich wieder um der Kritik willen etwas zu bemängeln, und ich war erstaunt, wie viel philosophisches man aus einem sozialen Netz herauskatapultieren kann. Über falsch verstandene i Punkte wollen wir gar nicht erst reden.

 

Eine Lehrerin las eine Geschichte vor, die von einer Klavierunterrichtsstunde handelte, in der die Protagonistin ein Gesangsstück vortrug. Das war schön und gut, aber mussten die Szenen zwecks besserer Anschauung unbedingt mit einer etwas schrillen und zitternden Stimme singend vorgetragen werden?

 

Die letzten beiden Gedichte wurden von einer besonders hingebungsvollen Kritikerin vorgelesen, die Wert darauf legte, dass sie nichts Besonderes zu bieten hätte. Dem wurde natürlich erwartungsgemäß widersprochen. Da inzwischen schon Aufbruchstimmung herrschte, hatte wohl niemand mehr Zeit und Lust, die Gedichte fachgerecht zu sezieren. Glück gehabt! Obwohl, die Ode zum Abschluss klang für mich eher wie eine Feststellung und nicht wie Lyrik.

 

„Ich öffnete meine Augen und sah, er war blond!“, sprach die junge Dame.

 

Dann Stille – und wieder: „Ich öffnete meine Augen und sah, er war blond!“

 

Tosender Beifall – und ich hoffte, niemand würde die begriffsstutzigen Gesichter von Mona Marie und mir fotografieren. Wir blickten uns verdutzt an, weil das wahrscheinlich eine Spur zu anspruchsvoll für uns war.

 

Aber ich merke schon, ich muss aufhören – ich werde sonst selber zum Kritiker der Kritiker.

 

 

Damals in Kindertagen …

 

Rudolf ist mein allerbester Freund und Tims Patenonkel.

 

Ich kannte ihn seit meiner Kindergartenzeit. Am Tag unserer ersten Begegnung zog ich ihm mit einer Schaufel freundschaftlich einen blutigen Scheitel, schnurgerade, wie ein Bahnhofsgleis. Anschließend wunderte ich mich, dass auf sein Geschrei hin Tante Brigitte – zu jener Zeit waren alle Kindergartenerzieherinnen aus unerfindlichen Gründen Tanten – schimpfend und zeternd angerannt kam. Meine Mutter musste mich sofort abholen und ein weiterer Besuch des Hortes hatte sich für mich erledigt.

 

Rudolf und ich wurden aber in der Schule trotzdem Freunde. Seiner Großmutter, die im Ort allgemein „der Feldwebel“ genannt wurde, missfiel das sehr. Ich hatte bei ihr den Ruf eines Rüpels und sie pflegte mich immer grimmig mit der Physiognomie einer besonders hässlichen Bulldogge, anzusehen. Das hielt mich davon ab, allzu oft Rudolf zu Hause zu besuchen. Er lebte mit seinen Eltern auf dem Bauernhof seiner Großeltern, und ich kam nie ungesehen an Großmutter Jürgens vorbei.

 

Eines Tages passierte es dann. Rudolf und ich waren auf die hohe Mauer geklettert, die das Grundstück umsäumte, als Großvater Jürgens vom sonntäglichen Frühschoppen zu lustig und zu spät nach Hause kam. Als er seinen Hof betrat, stellte sich ihm seine Tochter in den Weg, wohl in der guten Absicht, ihn zu warnen. Er wischte jedoch heiter ihre feigen Einwände beiseite, um durch die Tür ins Haus zu gelangen. Schließlich hatte er sich nach dem anstrengenden Morgen ein Nickerchen verdient. Kaum hatte er jedoch seinen Fuß auf die Schwelle gesetzt, stürzte ihm seine Gemahlin entgegen. In unmissverständlicher Absicht schwang sie mit der rechten Hand eine schwere gusseiserne Bratpfanne. Jäh ernüchtert, drehte er sich unverzüglich um und rannte los, weil er verständlicherweise der lebensbedrohlichen Attacke entgehen wollte. Sie hinterher, wobei sie ihre Tochter aus dem Weg stieß, die daraufhin die fünf Stufen zur Eingangstür hinunterstürzte.

 

Unglücklicherweise schickten sich die Kontrahenten an, durch die Gasse zu spurten, in der sich unsere Mauer befand. Die Gasse war eng, Bäuerin Jürgens schwang hurtig und erbost ihre Pfanne wie einen Dreschflegel und erwischte ihren Enkel am Fuß. Vor Schreck trat er mit dem anderen Fuß zu, der streitlustigen Dame auf den Kopf. Sie war ebenso erschrocken wie er und ließ ihre Waffe fallen, die auf ihrem linken großen Zeh landete. Wütend und empört kreischte sie auf und sah mit ihren nach allen Seiten abstehenden Haaren aus, wie eine leibhaftige Medusa. Sie griff nach oben und erwischte mit Krallenhänden Rudolfs Bein. Um nicht zu fallen, hielt er sich an mir fest. Seine Großmutter aber ließ nicht nach und zog und zerrte. Und so passierte schließlich was passieren musste, Rudolf plumpste auf Frau Jürgens und ich auf ihn.

 

Anschließend hatte die Bäuerin einen gequetschten Zeh und einen verstauchten Arm. Rudolfs Mutter ein gebrochenes Bein und er selber eine Gehirnerschütterung. Bauer Jürgens schlief fünf Wochen lang auswärts, mir ging es gut, aber ich durfte mich ein Jahr lang nicht bei Rudolf sehen lassen weil ich Gefahr lief, von einer weiblichen Bulldogge gebissen zu werden.

 

 

Tante Rosa und der Puff

 

Eine meiner ganz speziellen Verwandten war meine Tante Rosa, die ältere Schwester meiner Mutter. Manchmal besuchten sie und ihr Mann Walter uns. Meine Mutter verfiel dann vorher immer in eine hektische Betriebsamkeit um Mahlzeiten wie für die sprichwörtliche Fußballmannschaft vorzubereiten.

 

Als sich Rosa und Walter wieder mal angekündigt hatten, kannte ich Mona Marie noch nicht lange und hatte auch versäumt, sie auf meine Verwandten vorzubereiten.

 

Mona Marie stand gerade mit einer unseren Katzen auf dem Arm auf dem Hof, als ein brauner VW Käfer hielt und ein grauhaariger Mann nebst einer Dame, die man großzügigerweise als Matrone bezeichnen konnte, aus dem Auto quollen. Außerdem stiegen noch zwei kleine Mädchen aus, offensichtlich die Enkel des Ehepaares. Eines der entzückenden Kinder zeigte auf die Katze und die Frau rief: „Ein Töwe!“.

 

Sie wollte wohl gleichzeitig Tiger und Löwe sagen, und so wurde dann eine neue Wortschöpfung geboren.

 

Mona Marie war etwas konsterniert und dann kam meine Mutter auf den Hof. Die Frau walzte sofort auf sie zu und schwenkte dabei eine riesige Plastiktüte. Statt einer Begrüßung legte sie los: „Du hast ja schon wieder eine Kittelschütze an. Was sollen denn die Leute denken? Da kommt man drei Mal im Jahr hierher und du ziehst dich nicht vernünftig an. Aber ich habe vorher eingekauft und dir ein neues Kleid mitgebracht. Keine Angst wegen des Geldes, es war billig und ich konnte unmöglich daran vorbeigehen. Ich selber fühle mich nach dieser langen Fahrt auch nicht recht wohl und muss mich jetzt erst einmal ausruhen. Aber vorher müssen wir noch etwas essen. Ich habe natürlich auch dafür eingekauft. Sonderangebote, wohlgemerkt. Walter, pack doch schon mal die Taschen aus“, sie winkte herrisch dem Mann mit dem vollen, grauen Haar, „und pass auf, dass Iris und Carola nicht auf die Straße laufen. Stell dir vor, sie werden überfahren. Und das auch noch mit leerem Magen. Wo ist denn überhaupt Gerhard?“

 

Sie blickte sich suchend um. Gerhard war mein älterer Bruder, der aufs Stichwort aus dem Haus trat. Wohl um die Gäste zu begrüßen, was aber von Rosa sofort abgewürgt wurde.

 

„Du hast ja schon wieder nur Hose und Pullover an. Du solltest mal einen Anzug tragen. Hast du überhaupt einen? Es gibt doch schon ganz billige. Na ja, wahrscheinlich würden sich die Leute sowieso wundern, weil sie dich immer nur so unordentlich kennen. Der Heinrich ist ja genauso. Immer nur diese Jeans anstatt mal Schlips und Kragen. Meinem Schwiegersohn predige ich das auch immer. Sogar Weihnachten trägt der immer nur Rollkragenpullover. Bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Hat der sich jetzt doch einen Bootsmotor gekauft, obwohl er gar kein Boot hat!“

 

Rosa holte Luft, wobei ihr Gebiss ein klackendes Geräusch von sich gab und meine Mutter nutzte die Pause, um die Ankömmlinge endlich ins Haus zu bitten. Dabei stellte ich noch kurz Mona Marie vor und Rosa konnte sich nicht verkneifen, sie zu fragen: „Wollen Sie wirklich den Heinrich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Maggie Milton
Bildmaterialien: Foto: Heinrich Plaschke, Maggie Milton - Covergestaltung Katja Matzke
Lektorat: Adrian Plaschke
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7923-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet all denen, die in den Erinnerungen Heinrichs vorkommen. Auch den Tieren, die uns teilweise schon von der Regenbogenbrücke aus beobachten ... und es sollte mich nicht wundern, wenn sie ihre Kommentare dazu abgeben.

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