Die Millionen Lichtpunkte auf den Wellenkämmen schienen am Ende der Nacht eins zu sein mit dem Funkeln droben am Himmelszelt. Wenig später trennte das Silber eines neuen Morgens jenes vermeintlich große Ganze über dem Horizont der Insel Pellworm. Genau zu dieser Stunde hielt Matta wie nach allen Nächten auf ihrer Sandbank Ausschau nach Frederich, den Kurgast.
„Vielleicht ist er längst verstorben, Kind. Landmenschen leben nicht besonders lange.“ Bei diesen Worten der Mutter hatte das Mädchen bitterlich geweint.
Nacht für Nacht harrte sie seit dem letzten Sommer zwischen den Wellen aus. Ließ sich im Sturm von den Brechern schlucken und lauschte in stillen Momenten den längst verklungenen Glockenstimmen ihres Kirchspiels. Weich wie ein Kleid lag um all ihre Gedanken jener Traum von der wahren Liebe. Fast strich ein jeder von ihnen wie Wellen von Freude um ihren Pelz. Nur in Gestalt einer Robbe konnte sie so weit draußen ihre ewige Ausschau über dem Meer halten.
Mit dem Wind, der stets und ständig an Wellen und Ufern zerrte, heulte die Stimme ihrer Mahnerin zwischen Himmel und Wasser um ihre Einsamkeit: „Sonst, Kind, verdirbst du ein zweites Mal. Mitsamt deinem törichten Herzen wird die See dich auslöschen.“
Auf dem Deck der Fähre hielt Frederich Ausschau. Ob „seine“ Robbe wieder einsam auf ihrer Sandbank lag? Ihretwegen zog es den Kurgast in den unwirtlichen Norden zurück. Jenes Tier hatte er im letzten Kursommer weit draußen und in völliger Einsamkeit gesichtet. Es schien ihm die Erfüllung vieler Leben. Bei ihrem Anblick in der Ferne quälte den Mann seither eine Sehnsucht, sich in die Wellen zu stürzen. Mit jener dort wollte er zwischen Seetang und Meeresrauschen auf der Sandbank glänzen. Wie Sternenstaub ahnte er ihre Augen. Ihr Rücken und die filigranen Flossen schienen von salzigem Meerschaum langer Zeiten bedeckt.
Doch ausgerechnet heute Morgen kämmte ein Sturm die Wellen. Über dem Zorn des Wassers schlingerte Frieders Fähre bedenklich. Die wenigen Kilometer bis zur Insel schüttelten des Verliebten Vorfreude gänzlich aus seinem romantischen Leib. Mit Zitterknien lief er schließlich über den Siel zum Kurheim.
Diesen Sommer käme er dem Tier ganz nahe. Er wollte allein bei der nächsten Ebbe im Watt zu ihr wandern. Ohne die Touristengruppe würde sie sich vielleicht nicht erschrecken und ihm eine kostbare Berührung gestatten. Er träumte seine Finger in ihrem Pelz. Spürte in der Vorstellung ihre Lebenswärme zwischen Salz und Robbenhaut. Sogar ihren Herzschlag glaubte er zu ahnen. Noch heute wollte er nichts anderes als im Anblick dieser unergründlichen Augen versinken, als seien es Wellen von schwarzem Samt.
Matta wollte nicht ausgelöscht sein. Das war durch eine andere Gewalt schon vor vierhundert Jahren geschehen. Wie ein Wunder schien ihr, dass sie lebte, wenn auch als Robbe statt als Mädchen.
Liebe. Nur danach allein schrie ihr Herz. Für jenen Rausch, den sie nie hatte erleben dürfen, heulte das Tier einsam vor der Küste. Um ihre letzte Sehnsucht ließ die Vergangene Leib und Seele vom Sommerwetter der Nordseewellen peitschen. Nur ihrer wahren Liebe wollte die einst Ertrunkene begegnen, bevor das Meer ihren letzten Gedanken umschlänge. Ihr Wunsch sollte sich nun endlich erfüllen. Sonst verlöre sie ihr ewiges Leben, wie es ihrer Familie ergangen war und allen, die damals mit ihr in die Fluten hinab sanken. Auf ewig blieben dann nur Mutters Vorwürfe gegen ihre törichten Träume.
An einem besonderen Kurtag war sie dem Mann im letzten Sommer als Mensch begegnet. Immerfort floh er am Tisch ihre Hände, ihren Blick. Schwärmte von einer Robbe und dass er das Tier um jeden Preis berühren wolle.
„Sogar um dein Leben?“, hatte sie ihn gefragt. Zeigte sie sich an jenem Tag besonders attraktiv mit Federhut und einem Strandkleid der neuen Inselmode.
„Um alles, meine Teuerste“, hatte er von ganzem Herzen geantwortet. „Kein anderes Wesen könnte ähnlich vollkommen mein Herz umschlingen wie der Meerschaum ihren Leib.“
Um diese Worte wollte sie noch einmal alles aufbieten. Noch gehörte er ihr nicht. Erst musste er die wahre Gestalt der Matta erkennen. Sie wählte ein letztes Mal das Äußere einer Frau, die ihre Robbengestalt schwächte. Nun blieb ihr nichts als darauf zu vertrauen, dass er sie als Menschen ebenso vollkommen verehren würde wie jenes unwirkliche Geschöpf zwischen den nassen Schwingen der See.
Gerade kleidete Frederich sich nach der Kurmassage für den Tee auf der Terrasse. Da gewahrte er im Sommergarten die Frau vom letzten Urlaub. Er schaute zur Scheibe und erstarrte für eine Sekunde widersprüchlicher Empfindungen.
Diese Feder auf diesem Hut glaubte er wieder zu erkennen. Golden wippte sie in der steifen Pellwormschen Nordseebrise und glänzte in der Sonne, als seien Hut und Schmuck soeben dem Meer entstiegen. Rasch ging er, sich von der Wirklichkeit zu überzeugen.
„So sieht man sich wieder!“, lachte Matta ihr schönstes, seeluftbraunes Lachen zu ihm hin. Eine Hand der Fremden bot ihm den Stuhl. Die andere lag auf dem Tisch, zum Greifen nah.
„Bitte, entschuldigen Sie. Ich musste gerade …“ Was ließ sie ihm nur so vertraut erscheinen? Nachdenklich nippte er an seiner Tasse. „Sagen Sie …“
Er unterbrach sich, um sie nicht mit einer Frage zu beleidigen, die womöglich überflüssig war. Die Frau schien auf seine Worte zu lauern, auf einen Blick voller Freude, wenn er sie erkannte. Ihre Finger kamen auf einmal ganz nahe zum Kluntje. Griffen daran vorbei und direkt über die gefalteten Hände des Mannes. Weich fühlte er ihre Haut über seiner. Genau so ahnte er der Robbe Flossen. Feine Spuren von Seewasser rannen neben dem Zuckerschälchen auf die Tischplatte.
Gleich. Wenn irgendjemand, dann würde er verstehen, dass sie „seine“ Robbe war. Das treue Wesen, wegen dessen Anblick er einen zweiten Sommer lang tapfer der steifen Brise vor der Nordseeküste standhielt. Ungerufen näherte sich ein Kellner dem Tisch.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Hiesige den Kurgast.
„Aber ja! Nicht wahr, Teuerste?“ Er schmunzelte zum leeren Stuhl.
Der Störenfried bohrte weiter: „Geht es Ihnen gut, mein Herr?“
Ein falsches Wort dieses Insulaners, und Mattas einzige wahre Liebe bliebe auf ewig ein Wunsch in Scherben. „Sagen Sie ihm, dass er stört! Bitte!“
Die Frau mit dem Federhut flüsterte in das Ohr ihres ersehnten Menschen. Das duftete von ihr wie Meersalz und Rosen! Ihre Lippen hauchten einen Traum in seine Sehnsucht, die er noch immer nicht bestimmen konnte.
Im Wettstreit gegen das Tosen des Terrassenwindes bellte er den Kellner an: „Sie stören!“
‚Uns!’, hauchte die Versuchung weiter.
„Uns!“, wiederholte er und schmiegte seine Wange gegen die Lippen an seinem Ohr. Auf einmal spürte er die ganze Vertrautheit, die er von seiner Begegnung mit der Robbe erhoffte. Doch diese hier war ein Mensch. Eine Frau, ganz sicher!
Nervös schielte Matta zu dem Kurangestellten hin. Der wischte unschlüssig über die Tische, sortierte die Salz- und Pfefferstreuer … und setzte sich mit bitterer Mine auf die Gestalt der Frau, die einst als seine Tochter ertrunken war.
„Sie …“ Die Teuerste stand jetzt hinter Frederich und umarmte all seine Gedanken, ganz und gar in ihrer Liebkosung. Jetzt oder nie. Er musste es wissen, sonst hatte sie jede Chance verspielt!
Der Gast suchte das Fürwort seiner Begleiterin.
„Ist das Ihre Pellwormsche Werbung für Diskretion?“, raunzte er dem Kellner zu. Nur ganz kurz wandte er sich von den Fingern über seinen Schultern weg. Als er hoch griff, waren ihr Leib und der Duft des Meeres aus seiner Nähe verschwunden. Fern im Kurpark wippte die Fasanenfeder zwischen den Menschen. Doch das Gesicht der Frau unter dem Hut blieb verborgen.
Dem Hiesigen entging die unsinnige Geste des Teetrinkers nicht. „Vergessen Sie, was Sie eben erlebt haben. Diese Frau …“
„Eben taten Sie noch so, als sei sie nicht hier!“
Die Haut des Alten schien von einem Leben und der Kuttersonne gegerbt. Traurig nickte er: „Ist sie auch nicht. Nicht in unserem Leben. Teilen Sie nicht ihr Schicksal! Es sind Strander Seelen, die ihre wahre Liebe suchen. Auf ewig, mein Herr. Aber auf ewig sind Sie dort unten mit ihnen verdorben.“
Wie eine Warnung, wie hin gegossen saß der Sprecher und schaute direkt in Frederichs Augen. „Am besten reisen Sie wieder ab und kommen niemals wieder. Denken Sie nicht über die Robbe nach! Sie träumen einen Irrtum, der Sie töten wird!“
Der sagte das so … Niemals würde Frederich seine Liebe leugnen. Sollte ihn ein Schicksal wie Sturmwellen sonst wohin reißen. Die Robbe war sein Ziel. Wenn er schon zu ihr kommen musste, damit sie Sein wäre. Jetzt, da er auch die Frau erkannt hatte, musste es erst recht geschehen.
Wie groß musste ihre Hingabe sein, dass sie ihre Welt verließ für einen wie ihn! Stumm lächelte er und träumte, aller Warnung zum Trotz.
‚Matta …’ hallte eine Stimme von fern wie Glockenschlag stärker und fester in ihm nach.
Von weitem beobachtete Matta entsetzt die Unterhaltung. Näher durfte sie jetzt nicht kommen. Die Lebendigen fürchteten das Meer. Sie würden das Mädchen des Meeres für immer in ihr nasses Grab bannen.
Gott … wie hatte sie jenes Erdleben einst geliebt, als ihre Füße noch über Strandhafer und schwarze Erde liefen! Hatte ihr kurzes Leben geliebt, ganz so, wie sie sich jetzt nach dem Fremden verzehrte. Selbst damals im Sterben fühlte sie Arme ihren Leib umschlingen, die ihr nichts Böses wollten. Die Schwingen der See, als ihr Atem verging, trugen sie sanft auf den dunklen Grund. Erbarmten sich ihrer Seele, die der Liebe nachweinte. Dieser eine Wunsch, auf ewig, glomm weiter. So lange durfte sie Robbe sein und Mensch und suchen, was sie noch niemals erlebt hatte. Ihre erste wahre Liebe.
Endlich verschwand der Alte, an dessen Angesicht sie sich wohl erinnerte. Ihr Frederich saß und träumte und flüsterte Worte in den Wind. Er liebte sie also.
Bevor der Tropfen Wahrheit aus dem Mund des Kellners in das Herz des Mannes vordringen würde, musste sie sich seines Wortes versichern. Mutter wusste bestimmt Rat. Wenn sie auch gegen so kühne Wünsche war. Sie gönnte ihrem Kind alles Glück des Meeres.
„Als Robbe musst du auf ewig um seine Liebe trauern. Oder du setzt alles auf eine Karte, bevor die Lebendigen dein wahres Wesen erkennen. Weißt du noch, wie sie dich einst verfolgt haben? Heute noch, Matta, müsst ihr euch verloben!“
Sein Ja hieße für sie beide ewiges Leben. Ein Nein ließe nur sie allein untergehen. Noch schuldete der Geliebte ihr nichts als seine Freundlichkeit. Das Meer würde nur um Matta ein zweites Mal die schwarzen Schlingen winden. Nur ihre Seele allein ertränke noch einmal und dieses Mal in einer Nacht, die von Sternen glitzerte. Dieses Mal trugen sie bestimmt keine sanften Arme hinab. Wie auch, wenn sie nichts als eine unerfüllte Sehnsucht bliebe!
„Nur dieses eine Mal. Ich danke dir, Mutter.“
Am Strand suchte Frederich mit der Hand über den Augen den hellen Fleck vor dem Horizont. Des Kellners Benehmen ärgerte ihn. Stärker als aller Zorn war die Trauer um den letzten Blick der Frau am Tisch. Ihre Finger über seinen Schultern … Diese Berührung war weit mehr als die Vertrautheit zweier Sommer.
Auf einmal saß sie wieder neben ihm. Wellen, die nicht hier sein konnten, leckten um ihre nackten Füße.
Matta begann zu reden. Sie klang, als träumte er die See. Zuweilen rauschte ihre Stimme wie die Brandung draußen bei der Fähre. Nichts Böses war in ihren Worten.
Nichts, woraus eine Gefahr des Wassers klang. „ Der Kellner von der Kurterrasse hat Recht. Du träumst einen Irrtum. Verzeih’ mir, geliebter Mensch! In dir habe ich nach vierhundert Jahren meine wahre Liebe gefunden. Aber sie wird sich niemals erfüllen. Denn ich bin nur eine verlorene Seele. Die Robbe …“
Wie eine Flamme stießen ihre Worte in das Herz des Mannes. Die andere Glut jedoch war stärker als ihr Gerede von Gefahr, von Irrtümern und einer verlorenen Seele.
„Nichts bleibt unerfüllt“, begann er eine Antwort. „Ich stille mein Begehren nicht, so lange du nicht die Meine bist. Robbe oder Mensch – meine Seele. Mein Leben. Nichts anderes warst du mir vom ersten Augenblick.“
Fest rückte er da zu seiner Gesuchten hin. Zwischen rauen Männerfingern hielt er sein Geschöpf des Meeres und trauerte und wusste nicht, worum.
„Dein, Frederich. Auf Pellworm und nirgendwo an Ufern kann ich das sein. Du musst mir folgen, wenn es wahr ist. Auf ewig. Deine Suche nach der Nähe der Robbe wird enden. Du wirst sie so nah bei dir haben, wie es nie einem lebendigen Menschen gelingen könnte. Aber du wirst sonst nichts in dieser Nähe haben.“
Bis eben war alles nur eine Ahnung gewesen. Doch Frederichs nächste Worte klangen wie von selbst aus seinem Mund: „Ich weiß. Ich will. Ich werde.“
Am nächsten Morgen zog ein Sturm über Pellworm, wie ihn die Insel seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Die Kurgäste verschanzten sich ängstlich in ihren Appartements. Auf allen Höfen sicherten die Friesen eilig ihr Hab und Gut. Von der Insel konnte keine Fähre mehr ablegen. Sie schlingerte gefährlich auf dem Wasser.
Der Kurhauskellner sprach ins Nichts: „Er geht. Der Gast hat eine Strander Seele gewählt.“ Niemand hörte seine Worte.
Über den Siel zwischen Kurheim und Ostufer ging ein Brautpaar in schlichter Tracht. Die Kirche der Insel war nicht ihr Ziel. Still setzten sie sich gegen Ende der Ebbe ins Watt. Dort hielten sie einander fest in den Armen. Auf ewig würde ihr Schwur sie an die Nordsee binden. Wie ein zorniger Riese riss und brüllte der Sturm um ihre Leiber. Mit jeder Welle vergingen ihre Silhouetten tiefer in der Flut. Die Sehnsucht des Frederich nach der Robbe und die Sehnsucht der Matta nach der wahren Liebe stillten sich im Wasser, das die beiden bald ganz und gar verschlang.
Auf dem Höhepunkt des Unwetters hielten alle Menschen den Atem an. Glockenklang aus der Tiefe belebte plötzlich eine Legende, an die längst niemand mehr glaubte. Einst, so hieß es, könnten alle Lebendigen sie hören, wenn eine der ertrunkenen Seelen ihre wahre Liebe gefunden und mit sich genommen habe.
Der Kurhauskellner lächelte zu den Gästen hin. Und ging. Direkt dem Ufer nach, hinter dem Matta mit Frederich verschwunden war. Den Fremden hatte er nicht retten können. Doch seine Tochter war nach vierhundert Jahren endlich erlöst.
Texte: Magena
Bildmaterialien: Bookrix
Lektorat: Annette Bredendick
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2012
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