Das große, dunkle Haus hinter sich zu lassen, Frank hinter sich zu lassen, befreite sie schon lang nicht mehr. Früher war es ein Hochgefühl gewesen. Die ersten zaghaften Schritte, bis sie das schwere Gartentor öffnen konnte. Danach tastend die Straße hinunter, das Haus saß ihr im Nacken.
Wenn Frank jetzt aus dem Fenster sah, dann hatte er sie noch im Blick. Also ging sie langsam, vorsichtig. Nur nicht so aussehen, als fiele einem der Abschied leicht. Um die Ecke biegen. Und kaum hatte sie die Straße verlassen, kaum war das Haus außer Sichtweite, einfach losrennen. Laufen, als gäbe es kein Morgen mehr. Als verfolge sie der Teufel. Dann jagte Brittany Brewer den Bürgersteig hinunter, die Handtasche fest umklammert und lächelte. Auf zur Bushaltestelle, auf ins Leben!
Mittlerweile schlich sie den ganzen Weg. Trottete einfach so dahin. Die Stadt schlief noch, alles lag im Dunkeln. Der Herbst kam. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Eigentlich hätte die Sonne jetzt ihre ersten Strahlen über den nachtschwarzen Himmel schicken sollen. Aber der Horizont blieb leer. Sie hatte es nicht gewagt, sich Frühstück zu machen. Weil sie zu laut war, und Frank dann in die Küche kam. Sich morgens mit Frank auseinanderzusetzen, das war schon lang nicht mehr drin.
Ihr knurrte der Magen, und der kalte Wind rüttelte an ihren Knochen. Früher hatte Frank sie noch zum Krankenhaus gefahren. Und sie nachmittags dort abgeholt. Mal mit einem Strauß Blumen unter dem Ledersitz, mal mit einer Überraschungseintrittskarte fürs Theater. Einmal hatten sie einen spontanen, romantischen Ausflug nach Paris gemacht. Das war zwei Jahre her. Das letzte Geschenk lag ein paar Wochen zurück. Ein Bündel Wertpapiere, und ein paar Aktien von einer Firma, deren Namen sie noch nie gehört hatte. „Da hast du was für dein Geld.“ Hatte er gesagt, und ihr die ganzen komischen Papiere überreicht. Sich dann lächelnd korrigiert. „Nein, für mein Geld. Es ist ja mein Geld.“ Als sie ihrem Vater entrüstet von dem Geschenk erzählte, hatte er gesagt dass Frank ein kluger Kopf sei. Und sie bloß eine Frau. Ihre Mutter war stolz gewesen „Man sieht, der Mann plant voraus. Ich finde, ihr seid schon viel zu lange verlobt. Es wird Zeit für den nächsten Schritt, mein Schatz!“
Sie betrat die Bäckerei. Es war warm. Früher hatte sie den Duft frischer Brötchen geliebt. Die Nasenflügel gebläht, um ihn ganz erfassen zu können. Jetzt wurde ihr übel. Am liebsten hätte sie sich ein Taschentuch gegen den Mund gepresst. An den Zimtschnecken und Vanillestangen ging sie vorbei. „Einen Kaffee bitte. Schwarz“
Hinter der Theke stand ein junger Mann. Undefinierbare Herkunft. Seine Augen waren fast schwarz, seine Haut hatte die Farbe dunkler, reifer Oliven. „Einsfündfzig, bitte.“ Seine Handfläche war rissig. Sie warf ein Zweipfundstück hinein.
„Stimmt so.“
„Danke“. Der Kaffeebecher war zu heiß. Aber im Laden bleiben kam nicht in Frage. Sie wusste, dass der junge Mann sie anstarren würde, bis die nächste Kundschaft kam. Angestarrt werden wollte sie nicht. Das tat Frank schon zu genüge. „Du wirst immer dünner. Ich mag das nicht. Iss in Zukunft nicht mehr so wenig. Ich will was zum anfassen haben.“ Etwas zum anfassen?
Sie trat hinaus in den kalten Wind, überquerte hastig die Straße. Wenn sie ihre Hand an ihre Wange legte, dann war da nichts mehr. Sie konnte sich ja selbst nicht mehr spüren. Manchmal, wenn nachmittags der Bus voll war, wunderte sie sich darüber dass niemand versuchte, sich auf ihren Schoß zu setzen. Dass die Menschen sie immer noch sahen. Brittany selbst fühlte sich schon längst wie ein Geist. Ein Schatten. Ein Lufthauch. Nichts weiter.
Sie zeigte beim Einsteigen ihr Ticket, ohne das der Fahrer sie darauf ansprechen musste. Der Bus war fast leer. Die üblichen Frühschichtler kauerten sich auf zerschlissene Sitze. Sie setzte sich in die letzte Reihe. Auf das Busfenster war irgendeine Werbeanzeige gedruckt worden. Sie konnte nicht hinausschauen. Das machte nichts. Die Motorengeräusche ließen ihre Augenlieder schwer werden. Wann hatte sie das letzte Mal richtig geschlafen? Gesund geschlafen? Sich nach dem Aufwachen wie ein kleines Kind gefühlt, frisch und voller Energie?
Ohne Alpträume, ohne Herumwälzen, ohne stundenlanges Wachliegen und Deckeanstarren?
Sie legte den Kopf zurück. Es roch scharf nach billigem Rasierwasser. Als sie die Augen schloss, war sie sicher dass es nur für ein paar Minuten sein würde. Sie wachte erst wieder auf, als der Busfahrer
scheppernd die Krankenhaushaltestelle ansagte.
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2010
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