Ein Strandausflug
Es war einer dieser Tage, an dem die Sonne vom Himmel brannte und die Hitze ihren Lauf nahm. An dem sich der Schweiß auf der Stirn perlte und man das Wasser auf der Haut spürte. Anstatt frischer Luft konnte man Wasserdampf und den salzigen Geruch des Schweißes einatmen, der uns allen auf der Stirn klebte. Es war kaum auszuhalten. Mit 80 Kilometern pro Stunde und heruntergekurbelten Fenstern fuhren wir aus der Stadt La Belle, einer der kleinsten Städte in Florida mit gerade mal 3050 Einwohnern.
Wir waren auf den Weg nach Tampa, die neben Jacksonville und Miami die größte Stadt Floridas war, um dort baden zu gehen. Am Meer war ein großer Strand, der meistens ziemlich überfüllt war, aber wir kannten uns besser aus. Nördlich von diesem Strand war ein Platz, zu dem wir immer fuhren, dort waren wir meistens allein.
Das einzige, was ich dabei hatte war meine Tasche, mit einem Handtuch, einem Sandwich, meiner Trinkflasche, Sonnencreme- wenn ich sie nicht zu Hause vergessen hatte- und mein Glücksarmband, das ich von Jenny und Becky zu Weihnachten bekommen hatte. Ohne dieses Armband würde ich nie das Haus verlassen, das hatte ich ihnen und mir geschworen. Es war eine Kette aus Silber, mit vielen kleinen Anhängern, die aus in den verschiedensten Farben leuchtenden Diamanten bestand.
Es war so heiß, dass ich aus Jennys Zeitschrift ein Blatt rausriss und mir damit einen Fächer bastelte. Ich wedelte ihn hin- und her, jedoch war die Luft warm und nich so, wie ich sie mir erhofft hatte. Aber ansonsten hätte ich womöglich noch einen Hitzschlag bekommen.
Als mein Blick auf das Autothermometer fiel, merkte ich, wie sich meine Augen zuerst weiteten, dann schmal wurden.
„Jenny, sag mal, kann es sein, dass dein Thermometer vielleicht kaputt ist? 50°, das kann doch gar nicht sein?!“, platzte ich heraus. Becky drehte sich kurz zu mir um; es war schockierend, denn sie sah aus , als hätte sie Fieber.
„Erstens: mein Thermometer ist nicht kaputt. Zweitens: wenn mein Auto so ein Schrott ist“-sie malte mit einer Hand Gänsefüßchen in dir Luft, während sie mit der anderen Hand das Lenkrad fest umklammerte- „dann fahr doch das nächste Mal mit deinem eigenem Wagen“,fuhr sie mich an. Sie konnte es nicht ertragen, wenn man an ihrem Wagen rumnörgelte. „OK, OK, reg dich ab“, beruhigte ich sie. „Ich konnte es nur nicht glauben, dass es so heiß ist.“
Die restliche Fahrt verbrachten wir schweigend. Wahrscheinlich war Jenny immer noch sauer.
Stumm schaute ich aus dem geöffneten Fenster während mir der kalte Fahrtwind ins Gesicht bließ.
„Kann ich dein Radio anmachen?“, fragte Becky nach einiger Zeit. „Oh... ja klar. Mach nur“, antwortete Jenny gedankenverloren. Becky drehte an dem kleinen Knopf der Stereoanlage und schaltete irgendeinen Sender her. Ich erkannte eins meiner Lieblingslieder, freak out von Avril Lavigne. Leise versuchte ich die Melodie mit zu summen und den Text, den ich kannte, mitzusingen. Schon nach wenigen Minuten gab ich es auf; gesanglich war ich echt nicht begabt.
Nach einiger Zeit- es kam mir vor, als wären wir Tage lang durchgefahren- kamen wir endlich in Tampa an. Viel zu stürmisch machte ich die Tür auf und schaffte es natürlich sie Becky, die ebenfalls aus dem Auto stieg, auf dem Kopf zu hauen. „Ah“, stöhnte sie. „Kannst du nicht besser aufpassen?“
„Oh, 'tschuldigung“, murmelte ich, ohne sie wirklich dabei zu beachten.
Ich nahm meine kleine Tasche aus dem Auto und hängte sie mir über die Schulter. Dann stolperte ich Jenny und Becky, die vor mir zum Strandbad gingen, ungeschickt hinterher.
Von hinten sah man Jennys blaues Top, das zu ihrem kurzem Jeans-Mini-Rock lässig, geradezu elegant aussah. Ihre langen, braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengeknotet. Immer, wenn ich ihre Harre anschaute, überkam mich eine Welle von Eifersucht, denn meine Haare waren blond und längst nicht so schön wie ihre. Sie waren nicht so füllig, wie ihre, stattdessen hingen sie nur langweilig hinunter. Beckys Haare dagegen waren wunderschön. Denn sie waren ebenfalls blond mit einem leichten Goldstich im Licht und hatten Locken, die ihr bis zur Schulter gingen. Sie trug ein pinkes, mit weißen Punkten geflecktes Sommerkleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Von hinten sahen wir bestimmt aus, als wären sie irgendwelche modernen Prinzessinnen und ich ihre Kammerzofe,denn meinen dunkelblauen, Faltenrock und meine grüne Bluse konnte man mit ihren Sachen nicht vergleichen.
Am Strand viel der Unterschied noch mehr auf. Sie hatten die schönsten Bikinis an und ich hatte nur einen altmodischen Badeanzug. Aber das lag daran, weil Becky und Jenny aus reichen Familien kamen. Beckys Papa war ein Bankangestellter und ihre Mutter war Lehrerin an einer Privatschule. Jennys Eltern waren beide Doktoren und haben irgend so einen medizinischen Quatsch studiert. Meine Eltern dagegen waren geschieden und meine Mama verdiente ihr Geld an einer Kasse im La Belle-Kaufhaus, womit wir uns gerade mal etwas zu essen kaufen konnten.
Die Wellen am Sandstrand waren schön zu betrachten. Ich liebte die Hitze, den Strand und am meisten mochte ich das Meer. Ich spürte, wie mir der Wind ins Gesicht fegte und wie er meine Haare in allen Richtungen blies. Der salzige Geruch vom Meer stieg mir in die Nase. Es war schön, das Meer rauschen zu hören.
„Lucy, kommst du mit? Wir wollen ins Wasser.“ Ich blickte auf; es dauerte einen Moment, bis ich registriert hatte, das ich gemeint war. Jenny hielt mir einen Arm hin und schaute auf mich herab. „Oh! Äh, klar“, stotterte ich und nahm ihre Hand, damit sie mir aufhelfen konnte.
Es tat gut, endlich in das erfrischende Wasser zu springen. Ich tauchte unter die Wasseroberfläche und versuchte, die Augen aufzumachen, um Goldfische, oder andere Meerestiere anzuschauen. Doch ehe ich sie aufgemacht hatte, bereute ich es, denn es brannte höllisch. Als ich wieder auftauchte, um mir die Augen zu reiben, wurde ich plötzlich von hinten mit Wasser bespritz. Ich drehte mich um, um zu schauen, wer das war, dabei kam ich mir vor, wie eine fünf Jährige, die sich die Augen rieb und weinte, weil sie das erste mal tauchte. Um Jenny's Mundwinkel zuckte es und dann fing sie an zu lachen. Ich konnte nicht anders als mitzulachen und Becky ging es ebenso. „Na, warte, du Nilpferd...“ sagte ich drohend; ich machte mir nicht die Mühe, den Satz zu Ende zu sprechen, ehe ich sie ebenfalls mit Wasser bespritzte. Dann begann eine Wasserschlacht, jeder gegen jeden, und obwohl es albern war, machte es einen höllen Spaß.
Nach einiger Zeit bekamen wir Hunger, also gingen wir aus dem Wasser. „Ich hab gewonnen“, sagte Becky stolz.
„Hast du nicht, ich hab dich viel mehr bespritzt als du Lucy und mich gemeinsam“, widersprach Jenny.
„Einigen wir uns auf ein Unentschieden, okay?“, scherzte ich.
„Okay, aber die zweite Runde gewinne ich.“ Jenny lächelte.
Ich packte mein Sandwich aus und begann daran zu knabbern, während sie immer noch diskutierten, wer von ihnen besser war. Ich fand es nach wie vor albern.
Es war immer noch sehr heiß; so heiß, dass ich nach einigen Sekunden total trocken war, ohne mich mit meinem Handtuch abzurubbeln. Und so heiß, dass ich Sonnencreme brauchte. Deshalb schaute ich in meine Tasche, um sie mir rauszuholen. Während ich in ihr wühlte, kam mir plötzlich der Gedanke, dass ich sie wahrscheinlich zu Hause vergessen hatte. Bestimmt lag sie jetzt auf meinem Schreibtisch, dort, wo ich sie das letzte mal sah, bevor Jenny vor meinem Haus stand, um mich abzuholen.
„Ich geh mich mal umschauen“, murmelte ich, weil es mir zu heiß in der Sonne war. Ich brauchte dringend Schatten. Bestimmt hatte ich morgen einen Sonnenbrand; meine Haut war sehr empfindlich, was das Liegen ohne Sonnencreme in der prallen Sonne betraf.
„Ja, mach nur“, murmelte Jenny, nachdem sie von ihrem Hamburger abbiss.
Ich ging noch weiter von dem großen Strand weg und sah, wie Becky und Jenny in der Ferne immer kleiner wurden. Die Sonne brannte auf meinen Rücken und der Schweiß perlte sich wieder auf meiner Stirn.
Aber wo sollte ich hingehen? Es war weit und breit keine Palme, kein Baum und auch sonst nichts, was Schatten hätte machen können. Es war nur der Sand und daneben das rauschende Meer. Während mir der Wind ins Gesicht wehte, lief ich schnell zum Wasser, um mich abzuspritzen. „Aua!“, rief ich und sprang schnell aus dem Wasser. Es brannte auf meinem Rücken, als hätten sich ich zehn Feuerquallen draufgesetzt. Offenbar hatte ich einen üblen Sonnenbrand, denn es fühlte sich so an, als wäre mein ganzer Rücken rot. Nach einer Weile hatte ich Durst, also wollte ich mich wieder zu Becky und Jenny auf den Weg machen, als plötzlich eine schöne, geheimnisvolle, unbekannte Stimme meinen Namen rief.
„Komm doch, hier her!“, flüsterte sie. „Komm her, Lucy!“
Ich blickte mich um und wollte schauen, wer das gesagt hat. Aber es war nichts und niemand zu sehen. Halluzinierte ich etwa? War ich verrückt geworden? Jetzt bildete ich mir auch schon Stimmen ein! Mein Tempo beschleunigte sich und meine Schritte wurden größer.
„Warum gehst du denn weg? Ich tue dir doch gar nichts! Komm schon, komm schon!“
Nun verlangsamte sich mein Tempo und schließlich blieb ich stehen. Einige Minuten rührte ich mich nicht von der Stelle, ich war ganz steif und stand mitten in der prallen Sonne, bis ich mich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Woher kam diese Stimme und woher wusste sie meinen Namen?
„Ja, siehst du, war doch gar nicht so schwer, oder?“ Es war eindeutig eine Rhetorische Frage. „Und nun komm her!“
Langsam gehorchte ich dieser Stimme. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, wobei mir nicht bewusst war, was ich gerade tat. Ich war wie hypnotisiert, wusste nicht einmal, wohin ich ging.
Wer bist du? Fragte ich in meinen Gedanken. Ich traute mich nicht die Frage laut auszusprechen, aus Angst, dass meine Stimme versagen würde.
„Das braucht dich jetzt nicht zu interessieren. Komm schon, Lucy.“
Gegen meinen Willen setzte ich wieder einen Fuß vor den anderen. Was machte ich hier? Ich folgte einer Halluzination, mitten in der prallen Sonne, obwohl ich eigentlich Durst hatte und mich auf den Weg nach Becky und Jenny machen wollte. Aber ich konnte gar nicht anders, ich war wie betäubt. Ich fühlte mich wie ein Roboter, den man per Knopfdruck einschaltete und den Befehl gab, einer hirnlosen Stimme oder Halluzination zu folgen.
Auf einmal begann es um mich herum dunkler zu werden. Schatten, jubelte es in mir. Ja, diese hirnlose Halluzination hat mich tatsächlich gerettet.
„Jetzt bist du fast da“, sagte sie mir.
Ich folgte der Stimme weiter. Um mir herum waren jetzt viele Palmen, die in einer Reihe standen , als hätte sie jemand geradegerückt.
Vor mir war jetzt ein Pfad, dünn und schmal. Das Rauschen des Meeres wurde immer leiser, bis es dann gar nicht mehr zu hören war. Stattdessen hörte man das Rauschen der Palmen im Wind und das Zwitschern der Vögel. Es wurde immer unheimlicher.
„So, nun öffne deine Augen-“, sagte die Stimme, obwohl dieser Kommentar ziemlich unwichtig war; ich hatte sie die ganze Zeit über offen. „Und schau dich um. Ist doch schön hier, nicht war?“
Sie hatte recht. Es war der schönste Ort, an dem ich je gewesen bin. Vor mir war ein kleiner, wunderschöner, strahlender, jedoch unheimlicher, blauer See. Die Farbe war unnatürlich für einen See, viel zu grell. Er leuchtete nicht auf eine normale Weise; einerseits war er wunderschön, so schön, wie kein anderer auf dieser Erde. Es war ein See inmitten vieler Palmen. So etwas hatte ich sonst nur im Fernsehen gesehen und da waren es einsamen Inseln.
Andererseits wirkte er durch seine Farbe geheimnisvoll, geradezu beängstigend. Als würde jeden Moment ein riesiges Furcht einflößendes, jedoch auf eine Weise schönes Seeungeheuer aus dem Wasser springen und mich auffressen.
Ich fragte mich, warum mich diese Stimme hier hergeführt hat. Irgendetwas stimmte hier nicht, da war ich mir ganz sicher. In mir tobte es. Die eine Hälfte schrie 'geh weg', während die andere Hälfte das Gegenteil sagte. Was sollte ich machen, ich hatte kein Gefühl mehr in meinen Beinen. Ich merkte, wie mich meine Füße vom See wegtrugen, aber ebenso schnell wieder stehen blieben.
„Willst du mich denn schon wieder verlassen? Bleib doch noch ein bisschen, oder gefällt dir der See nicht?“, sagte die Stimme wieder, offenbar amüsierte sie sich ziemlich.
Ich konnte nicht anders, als nachzugeben.
Langsam, Schritt für Schritt näherte ich mich dem See, immer noch wie betäubt. Aber kurz vor dem Wasser blieb ich stehen. Ich wollte da nicht rein, er war mir immer noch unheimlich, denn offenbar kam die Stimme aus dem Wasser- sie war keine Halluzination, dessen war ich mir sicher- und vor ihr hatte ich am meisten Angst. Ich fasste an mein Handgelenk, dort, wo immer noch mein Armband war. Langsam drehte ich es um meinen Arm- das machte ich immer, wenn ich Angst hatte- und spielte mit den Edelsteinen vom Armband.
„Verflucht“, murmelte ich, als ich den Haken aufmachte, es nicht mehr schaffte, ihn zuzumachen und es mir ins Wasser flog.
Ich bückte mich und wollte es aufheben, da sah ich plötzlich eine Hand im Wasser. Sie sah dünn und zerbrechlich aus und schimmerte im schwachem Sonnenlicht. Ich erschrak und zuckte schnell zurück, aber die Hand war schneller. Sie ergriff meinen Arm und wollte mich nach unten ziehen. Sie hielt meine Hand fest umschlungen und ließ mich nicht los. Ein kurzer, jedoch lauter Schrei kam über meine Lippen, während ich versuchte ihr meine Hand zu entziehen. Mit aller Kraft wehrte ich mich, den wütenden erschöpften Blick nur auf sie gerichtet. Mein Herz pochte wie wild, es machte Saltos. „Nein“, wollte ich schreien, aber meine Stimme versagte.
„Ach komm schon...“ Ausgerechten jetzt kam sie wieder, diese idiotische Stimme, aber dieses mal ignorierte ich sie. In Gedanken antwortete ich „Halt die Klappe!“ und versuchte weiterhin den Griff zu lockern.
„Lass mich los!“, wollte ich schreien, aber es kam kein Ton raus. Da kam mir eine Idee. Ich führte die Hand langsam zum Mund und biss ihr in den Finger. Ihr Griff wurde lockerer, aber zu gleich fasste sie sich wieder und umschlang mein Armgelenk noch fester. Ich merkte, wie mir die Tränen aus den Augen quollen und hörte ein leises Schluchzen, das aus meiner Kehle kam.
'Komm, lass los, du hast sowieso keine Chance', dachte ich für einen kurzen Augenblick. Es klang verlockend, denn ich hatte wirklich keine Chance. Für einen kurzen Augenblick gab ich mich geschlagen und wollte ihr fast folgen. 'Nein, spinnst du? Wenn du jetzt loslässt, dann ist das dein Sicherer Tod', rief ich mich zur Vernunft. Ich hatte recht, ich musste weiterkämpfen, auch, wenn für mich die Chancen ziemlich schlecht standen. Mit meiner anderen Hand versuchte ich die warmen, weichen Finger zu lockern. Aber sie war immer noch hartnäckig, sie wollte nicht nachgeben. Stattdessen erfasste sie auch noch die. Jetzt war es aus, ich hatte den Kampf verloren. Ich war machtlos. Mit einem laute Schrei stürzte ich in das Wasser und ließ mich mit der Hand mitziehen.
Mom, ich liebe dich, waren die letzten Worte, die ich dachte, ehe ich in den Tiefen des Sees verschwand.
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2009
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