Ich packe meinen Koffer und nehme mit...
Ich platziere das fünfte – und damit letzte Paar – Sommerschuhe, dass sich in meinem Besitz befindet auf dem Klamottenberg, der aus meinem Koffer hervorquillt, und begutachte meine Werk nicht ganz unkritisch.
Die Chancen, dass ich den Koffer so schließen kann tendieren eindeutig gegen Null.
"Hast du auch alles eingepackt?" fragt Mama, bestimmt schon zum dritten Mal in der letzten halben Stunde und ich nicke, ebenfalls zum dritten Mal.
"Zahnpasta?" Mama rückt ihre neue Designer-Brille gerade und entfaltet ihren Notizzettel. Sie hat sich – von ihrer Assistentin natürlich, denn meine Mutter und die Wunderwerke der Technik sind definitiv nicht miteinander kompatibel – extra eine proforma Packliste aus dem Internet ausdrucken lassen, damit ich auch ja nichts vergesse.
Zum Glück bin ich bestens vorbereitet und habe ich meine eigene Liste.
Man darf ja ruhig merken, dass wir verwandt sind.
"Kontaktlinsen-Mittel?" fährt sie vor.
Ich nicke.
"Reicht die Wäsche auch aus?" will sie dann wissen und streckt direkt die Hand nach meinem Koffer-Chaos aus, um das Vorhandensein meiner Unterwäsche zu überprüfen.
Ich beschließe, dass das Theater lange genug ging und klappe, so schnell es geht, den Deckel zu.
Damit werden zwar alle meine Sachen ziemlich unschön zusammengequetscht, aber immerhin entgehe ich so einer weiteren Pack-Orgie.
Alles, was ich an sommer-tauglicher Kleidung besitze befindet sich in diesem Koffer. Selbst wenn ich wollte – mehr kann ich einfach nicht einpacken.
Max, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hat und das Spektakel somit aus sicherer Entfernung beobachtet, grinst vom einen Segelohr zum Anderen.
Ziemlich cool, wie es sich für einen gerade-so-zwanzigjährigen der vor vier Wochen seine erste echte Freundin an Land gezogen hat, eben gehört meint er jetzt, kaugummikauend: "Mensch, Mum, reg dich mal ab. Leni geht ja nicht in den Krieg oder so!"
Vielen Dank dafür.
Wenigstens einer, der nicht vollkommen übertreibt.
Es handelt sich bei dieser Aussage übrigens um eine der wenigen Situationen in Max' Leben, in denen er sich nicht irrt: Ich ziehe tatsächlich nicht in den Krieg.
Allerdings steht mir etwas ähnlich Dramatisches bevor.
Weil ich, als frisch gebackene Abiturientin und angehende Studentin im Moment ein bisschen Zeit, genauer gesagt zehn Wochen!, übrig habe, haben meine werten Eltern beschlossen, dass es wohl das beste wäre, wenn ich die nächsten beiden Monate bei unseren Verwandten verbringe.
Die, das heißt meine Großmutter, mein Onkel und seine Frau nebst Nachwuchs, leiten ein Ferien-Dorf irgendwo im bayrischen Hinterland und freuen sich angeblich tierisch darauf, diesen Sommer von mir unterstützt zu werden.
Klar. Ich könnte jetzt auch irgendwo in der Karibik in einer Hängematte liegen und mich, mein Leben sowieso die Tatsache, dass ich zu den besten Absolventen meiner Schule gehört habe, feiern.
Oder, wie meine Lieblingsfreundin Mimi, mit Hilfe von Work-and-Travel oder Au-Pair gleich für länger ins Ausland verschwinden.
Ich könnte auch, wie ich es letztes Jahr um diese Zeit noch fest vor hatte, jetzt mit Nils in Indien sein und dort ein soziales Jahr absolvieren. Allerdings ist Nils mittlerweile mit Nina zusammen und ich hasse ihn. Von ganzem Herzen.
Das wäre vielleicht nicht ganz so im sozialen Sinne.
Deswegen, weil es mir zum einen ein bisschen egal ist und ich zum anderen tatsächlich nichts besseres vorhabe, ist das schon okay, dass ich ins Urlaubsparadies verbannt werde.
Für ein Mitglied meiner Familie ist das schon fast sowas wie Abenteuer-Urlaub.
Wir gehören eben nicht nur spannenden Sorte Mensch.
Max studiert Architektur, wohnt unter der Woche in einer kleinen, eher langweiligen WG und kommt jedes Wochenende brav nach Hause, damit unsere Haushälterin seine Socken waschen kann.
Mama ist Anwältin und legt schon von Berufswegen viel Wert darauf, dass immer alles mit Rechten Dingen zu geht und Paps ist Abteilungsleiter bei einem großen, süddeutschen Autohersteller, der gerne Taxis produziert.
Das aufregendste, dass sich in diesem Haushalt so ereignet, ist der Sonntags-Krimi im Ersten.
Ich für meinen Teil bin übrigens das Sahnehäubchen, auf diesem vorbildlichen Kuchen, der sich Familie Hofer nennt.
Ich heiße eigentlich Helena, lasse mich aber auch heute noch – mit immerhin achtzehn Jahren, bestandenem Führerschein und dem Recht EU-weit zu wählen! - von allen Leni nennen und ich habe es geschafft, meine komplette Jugend ohne Skandale, Party-Exzesse oder pubertäre Dramen über die Bühne zu bringen.
Ich trinke selten Alkohol, rauche nicht und wenn ich es mir aussuchen kann, lese ich lieber ein gutes Buch, anstatt auf eine wilde Party zu gehen.
Nicht, dass ich jemals zu den wirklich wilden Partys eingeladen worden wäre.
Aber darum geht es jetzt nicht.
Es ist also nicht schwer zu erkennen, dass ich eigentlich tatsächlich ganz gut zu diesem Kleinfamilien-Ferien-Dorf-Idyll passe, in dass Mama mich verfrachten will.
Ich habe das mal gegooglet, weil ich das letzte Mal, als ich selbst dort Urlaub gemacht habe, ungefähr sieben Jahre alt war und mich heute fast ausschließlich daran erinnern kann, dass Onkel Armins Pony einfach nicht mit mir kuscheln wollte und stattdessen nur gierig die Möhren in sich reingestopft hat, die wir ihm füttern durften.
Die Ferienanlage, die auf den klangvollen Namen "Mendelshof" hört, war früher mal ein kleiner Bauernhof mit Gästezimmern an einem Badesee.
Nun muss ich allerdings erwähnen, dass meine Großmutter, eine Dame namens Mona-Marie Mendel, die wir alle aber nur MM nennen, nicht unbedingt die klassische Oma mit Stricknadeln und Stützstrümpfen ist.
Nein, MM ist eine echte Geschäftsfrau und so ungefähr das erfolgreichste, was meine Familie je hervorgebracht hat.
Noch erfolgreicher als Mama sogar.
MM hat aus dem kleinen Landhotel mit Badesteg eine richtig große Anlage gemacht.
Das Haus am See, in dem wir damals noch zu Gast waren, ist jetzt nur noch das Nebengebäude. Stattdessen gibt es ein nagelneues, viel größeres Haupthaus mit Hotelzimmern, einem noblen Restaurant und einem großen Saal, den man für Feiern und Veranstaltungen mieten kann.
MM organisiert Hochzeiten und Jubiläen, es gibt Karaoke-Abende und die Dorfjugend darf Talent-Shows veranstalten.
Zum Hof gehören außerdem zwölf Bungalows, für die Familien, die es gerne etwas ruhiger haben wollen,
ein ziemlich großzügiger Natur-Golfplatz und, weil Onkel Armins einziges Hobbys eben die Pferde sind, einen Stall mit Reithalle.
MM hat einen neuen Badestrand am See anlegen lassen und für die Wanderungen im Wald extra einen Förster und Naturpädagogen eingestellt.
Dieses Jahr will sie sogar einen Teil der Anlage zu einem Ferienlager für Jugendliche aus benachteiligten Familien umwandeln.
Gar nicht so schlecht, oder?
Ich meine, für meine Verhältnisse klingt das schon ziemlich außergewöhnlich.
Mama ist immer noch damit beschäftigt, sich Sorgen zu machen.
Nachdem die Sache mit dem Packen abgehakt ist, geht sie jetzt wieder zu ihrem eigenen Seelenwohl über.
Mit Dackelblick und Sorgenfalte seufzt sie: "Ihr zwei seid einfach so schnell erwachsen geworden!" und Max und ich müssen uns ehrlich anstrengen, um nicht zu lachen.
Diesen Satz hören wir in den letzten Wochen praktisch täglich.
Und wir wissen auch schon, wie es weiter geht.
"Das ist ein komisches Gefühl". sagt Mama. "Am einen Tag können sie noch nicht alleine essen..."
"... und am nächsten bestellen sie die Pizza, weil du selber die Nummer vergessen hast." fällt Max gut gelaunt mit ein.
Ein echter Scherzkeks, mein Bruder...
Ich zupfe ein bisschen an den Reißverschlüssen des Koffers herum, in der Hoffnung, dass sie sich von selbst schließen.
Mama seufzt nochmal laut und geht dann wieder zur Tagesordnung über.
Das ist das Gute an meiner Mutter: Sie jammert immer nur ganz kurz.
"Leni, du musst auf jeden Fall immer höflich zu deiner Großmutter sein. Und freundlich zu Tante Marlen. Du weißt ja, dass sie immer mit ihrer Migräne zu kämpfen hat..."
Ich nicke.
Ja klar.
Auch diesen Vortrag höre ich nicht zum ersten Mal.
Einer von drei Reißverschlüssen lässt sich mühsam zuziehen.
Für die anderen sehe ich schwarz.
"Und mach dich bitte nützlich. Das ist kein Urlaub. Deine Großmutter hat gesagt, sie hätten diesen Sommer sehr viel zu tun. Da kannst du ihnen auf jeden Fall zur Hand gehen!"
Ich nicke brav weiter.
So müssen sich diese Wackel-Figuren vorkommen, die vor einer Weile mal modern waren.
Ich glaube, in Max' Auto klebt noch so einer.
Mein Bruder beobachtet sichtlich amüsiert, wie ich mich mit meinem Koffer abmühe.
Hmpf.
"Und sei immer nett zu Charlotte." fährt Mama in ihrem Monolog fort.
Charlotte ist meine Cousine.
Sie ist siebzehn, glaube ich, und wenn man meinen Eltern Glauben schenken darf, ein wirklich kompliziertes Kind.
Allerdings muss man erwähnen, dass in den Augen meiner Eltern jedes Kind, dass auch nur ab und zu darüber nachdenkt, zu widersprechen, als kompliziert abgestempelt wird.
Ich bin also ganz zuversichtlich, was Charlotte angeht.
Wir werden das schon hinkriegen.
"Ihr teilt euch das Zimmer und Marlen hofft, dass du ein gutes Vorbild für sie bist!"
ich nicke immer noch.
Auch hierbei handelt es sich um keine völlig neuen Informationen.
Ich hatte zwar gehofft, dass mir ein kleines bisschen mehr Privatsphäre vergönnt ist – schließlich wohne ich ja in einem Hotel! - aber ich habe mich auch mit diesem Umstand schon abgefunden.
Und im vorbildlich sein bin ich gut. Richtig gut sogar.
Endlich bequemt mein Bruder sich dazu, von seinem Thron zu steigen und mir zu helfen.
Es dauert zwei Sekunden und die Scharniere des Koffers rasten geräuschvoll ein.
Mama reist erschrocken die Augen auf.
Herzlich willkommen zurück in der Realität, Mutter!
"Hast du den Koffer kaputt gemacht, Max?" ruft sie aufgebracht.
Ich muss kichern.
"Jap." sagt Max trocken. "Jetzt ist er hinüber und Leni muss hierbleiben. Blöd, oder?"
*
Zwei Stunden Zugfahrt sind es bis nach Neustedt. So heißt die Stadt – wenn man das so nennen darf – von der aus ich mit dem Taxi weiter zum Mendelshof fahren muss.
Busse gibt’s offensichtlich nicht.
Dafür hat Paps mir großzügig zweihundert Euro in kleinen Scheinen zugesteckt.
Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Geld in meinem Portemonnaie gehabt.
Als erstes, beschließe ich, während wir über die Landstraße rasen, werde ich MM fragen, ob ich das Geld im Save lagern kann.
Nicht, dass es nachher weg ist!
Du meine Güte, denke ich. Ich stell mich ja schon genauso schlimm an wie Mama.
Gruselig, sowas.
Die Fahrt dauert zehn Minuten, kostet ein Heidengeld und endet auf einem kleinen, frisch geteerten Parkplatz mit Blick auf das neue Haupthaus.
Der Taxifahrer kämpft noch mit meinem Gepäck – der Koffer ist einfach zu groß! - als schon ein, offensichtlich extrem wichtiger, Mitarbeiter mit blauem Tuch um den Hals, auf uns zukommt.
Er winkt mit der Mappe in seiner Hand und ruft: "Sie können da nicht stehen! Das ist für unsere Gäste! Sie blockieren ja alles!"
Aha.
Netter Empfang.
Das ist dann wohl der bayrisch-ländliche Charme.
Mein Taxifahrer brummt etwas völlig Unverständliches, knallt mir den Koffer vor die Füße und verschwindet wieder in seinem Wagen.
Weil das Auto jetzt weg ist und ich ja nicht groß genug bin, um ernsthaft im Weg zu stehen, verliere ich das Interesse des selbsternannten Mitarbeiter-des-Monats mit dem Halstuch wieder.
Er widmet sich neuen Opfern, einer fünfköpfigen Feriengruppe, die ihren Van nicht exakt in der gekennzeichneten Parklücke platziert haben.
Sehr schön.
Zum Glück muss ich den Wedel-Typen nicht nach dem Weg fragen.
Ein hübsches, mit schnörkeliger Schrift verziertes Holzschild sagt mir schon, wo ich hin muss.
"Rezeption" steht auf dem einen Pfeil.
"Wandertreffpunkt B" auf dem kleineren darunter.
Ich entscheide mich fürs Hotel und gegen das Wandern und marschiere los.
Der Koffer holpert über den Kiesweg und ich werde schon nach ein paar Metern von den Falschparkern überholt.
Aber das ist nicht schlimm.
Ich hab's nicht eilig.
Ich glaube nicht, dass es für private Gäste Check-In-Zeiten gibt.
Das Gelände ist wirklich hübsch. Das hat MM nicht nur auf den Fotos im Internet ziemlich gut hingekriegt.
Der Weg führt mich am Park, wo ein Volleyball-Netz aufgespannt ist und ein paar Leute um einen kleinen Brunnen sitzen, vorbei direkt auf das große Hotelgebäude zu.
Ich sehe drei Eingänge und wähle den größten. Den, mit der Marmortreppe und dem Logo über der Tür.
Meine Freunde vom Parkplatz sind schon da und haben sich bereits brav in die Warteschlange eingereiht.
Mama meinte schon, dass heute viel los ist. Samstags und Sonntags ist Bettenwechsel angesagt, dass heißt an diesen Tagen ziehen die meisten Gäste aus oder ein.
Eine ganze Menge davon stehen schon an der kleinen Rezeption, die hier unter einer ziemlich pompösen Marmortreppe, eingerichtet ist.
Die junge Frau im mitternachtsblauen Kostüm, die hinter der Theke steht, blättert hektisch in ihren Unterlagen.
Ich zerre meinen Koffer durch die Tür, lasse dem älteren Ehepaar das mit mir den Raum betreten hat den Vortritt und schaue mich um.
Muss ich mich auch an der Rezeption anmelden?
Was sage ich denn da?
Einmal Charlotte Mendels Zimmer bitte?
Oder soll ich einfach MM's Büro suchen?
Mama meinte, ich soll höflich sein – wäre das höflich?
Nicht, dass meine Großmutter gleich am ersten Tag die Nase voll von mir hat und mich direkt wieder nach Hause schickt!
Wobei...
Je länger ich hier herumstehe, desto mutloser werde ich.
Das ist leider eine meiner Schwächen. Ich bin zwar gut darin, auch zu neuen Bekanntschaften lieb und freundlich zu sein, aber ich gehöre definitiv nicht zu denen, die sich auf Anhieb in fremder Umgebung wohl fühlen. Im Gegenteil. Ich fürchte, ich bin ein echter Angsthase.
Irgendwie hatte ich erwartet – oder zumindest gehofft – dass irgendjemand aus meiner Familie auf mich warten würde.
So ein kleines Begrüßungskomitee. Ich verlange ja nicht viel. Nicht mal ein Schild.
Nur vielleicht ein kleines "Schön dass du da bist!"
Ich lasse die Schultern hängen und seufze still in mich rein.
"Da bist du ja!"
Huch!
Der Text stimmt nicht ganz, aber immerhin!
Ich drehe mich um, so elegant es mit dem schweren Koffer in der Hand eben geht, und blicke in das dezent geschminkte Gesicht meiner Großmutter.
Ich glaube sogar, sie lächelt.
MM ist, genau wie ich, eine eher zierliche Person, aber sie hat eine unglaubliche Präsenz. Wir haben dieselbe rotblonde Haarfarbe, nur dass ihre Frisur aussieht, als wäre sie mit dem Inhalt aus mehreren Dosen Haarspray festbetoniert. Der lachsfarbene Lippenstift passt perfekt zu ihrem Kostüm.
Eine echte Erscheinung, meine Großmutter!
"Hallo!" rufe ich, total erleichtert, dass sich endlich jemand um mich kümmert und will sie sogar umarmen.
Dann erinnere ich mich daran, dass das in meiner Familie nicht unbedingt zu den üblichen Umgangsformen gehört und drücke ihr stattdessen höflich die Hand.
MM ist zufrieden.
Jetzt lächelt sie wirklich.
"Hallo Helena.Wir dachten schon, du kämst gar nicht mehr." stellt sie trocken fest.
Ich beeile mich den Kopf zu schütteln. "Der Zug hatte ein bisschen Verspätung. Tut mir Leid..."
Sie nickt. "Du musst dich nicht entschuldigen, Kind. Merk dir das."
Ah-ja.
Klar.
So schnell geht das – fünf Minuten hier und schon ein bisschen klüger.
Meine Großmutter ist echt ein Genie.
Ich tue wie geheißen, höre auf mich zu entschuldigen, und höre ihr zu.
"Eigentlich sollte Charlotte hier irgendwo sein, aber vielleicht ist sie ja schon wieder oben. Ach. Was soll's. Komm mit, ich bring dich nach oben." erklärt MM und fügt mit einem Blick auf meinen Koffer dazu: "Den wirst du leider selber tragen müssen. Die Angestellten sind alle beschäftigt mit den regulären Gästen."
Ich versichere ihr, dass das natürlich in Ordnung ist und verbiete mir darüber nachzudenken, dass ich die nächsten acht Wochen hier komplett kostenlos für sie arbeiten werde und ein bisschen Hilfe von einem Pagen wohl nicht zu viel verlangt wäre.
Aber Beklagen gehört nun mal nicht zu den Privilegien der Jugendlichen in meiner Familie und so folge ich MM brav wie ein kleiner Hund.
Sie führt mich an der Rezeption vorbei, wo alle hochachtungsvoll Platz für uns machen, durch einen kurzen Gang in einen Anbau.
Hier wohnen also meine Verwandten.
Die kleinen Messingschilder an den Türen verraten mir, dass MM's Wohnung die im Erdgeschoss ist und Armin, Marlen, Charlotte und damit auch ich, im ersten Stock wohnen.
Die Treppe führt noch weiter nach oben, aber ich erfahre erstmal nicht, wer dort wohl untergebracht sein könnte. Auswahl gibt es an und für sich genug – die Anlage beschäftigt jede Menge Angestellter.
MM zückt eine Plastikkarte, wie sie wohl auch für die Hotelzimmer benutzt wird, und die Tür öffnet sich mit einem mechanischen Klicken.
Ziemlich modern alles.
Die Wohnung ist schön.
Vor allem schön groß.
Flur, Küche, Esszimmer mit Blick auf den Park, ein großes Wohnzimmer, zwei Badezimmer.
Die Schlafzimmer und ein kleines Arbeitszimmer sind im hinteren Teil der Wohnung.
"Wir hoffen, dass ihr beide euch gut versteht. Sonst könntest du diese Woche auch ein Bett im Büro haben. Das Hotel ist im Moment noch nicht voll, aber in zwei Wochen, wenn die Hauptsaison los geht, sind wir komplett ausgebucht. Sogar die Angestellten-Zimmer sind dieses Jahr komplett voll." erzählt MM, während wir durch die Wohnung wandern.
Sie vorne draus, mein klappernder Koffer und ich hinterher.
"So. Abendessen gibt's ab nachher unten, im Speisesaal. Wir essen heute ausnahmsweise alle zusammen. Charlotte hat deine Sachen schon bei sich. Bis später, Helena!"
Damit ist MM's Auftrag wohl offiziell abgeschlossen und ich muss alleine herausfinden, was sich hinter der Tür befindet. Ein gelbes Plastikschild mit der Auftritt "Charlies Reich! Betreten verboten!" verheißt schon mal wenig gutes.
Beherzt drücke ich die Türklinke herunter.
Eine Wolke aus Parfum und Waschmittelduft schlägt mir entgegen.
Aha.
Wir duften also gerne... naja. Intensiv. Das wäre wohl das richtige Wort.
Ich wundere mich nur ganz kurz, dass der Duft nicht auch sichtbar ist und mir in kleinen, rosa Puderwolken entgegen schwebt und betrete dann den Raum.
Es ist groß und fast quadratisch, es gibt an einer Seite zwei große Fenster zum Wald hin. Eins davon hat eine ziemlich coole Fensterbank, die zur Sitzbank umgebaut wurde.
Es dauert zwei Sekunden, dann bemerke ich erschrocken, dass ich nicht alleine bin.
"Hallo." sagt ein düster dreinblickendes Mädchen mit dem radikalsten Pony-Schnitt, den ich je gesehen habe.
Das ist dann wohl die komplizierte Charlotte.
Charmant.
"Hi!" ich lächele gut gelaunt und platziere meinen Koffer – endlich! - im Raum.
Sie starrt wortlos auf das Notebook, dass zusammen mit ihr und einer ganzen Menge anderem Krempel auf dem Bett verteilt ist und beachtet mich gar nicht weiter.
Sehr schön.
Wir werden sicher richtig gute Freundinnen.
Ich erinnere mich an Mamas Worte und frage mich, ob meine Vorbildfunktion schon alleine daraus bestehen könnte, dass ich dem Mädel beibringe, mehr als zwei halbe Worte mit einem Menschen zu wechseln.
"Ich bin Leni." sage ich, betont freundlich und mache einen vorsichtigen Schritt auf sie zu.
Ein kurzer Blick, eine Hand, die durch die schwarz gefärbten Haare fährt – mehr bekomme ich nicht.
Okay.
Ich sehe mich also weiter um.
Schreibtisch – vollgemüllt mit Papier, Ordnern und leicht lädierten Büchern.
Der Papierkorb quillt schon über von den vielen zerrissenen Bögen Briefpapier.
Ein großer Kleiderschrank und eine halbleere Kleiderstange daneben.
Ein Sofa in der Ecke, ein Klamottenberg auf dem Boden und zwei Betten.
Das, auf dem Charlotte sitzt ist ziemlich groß und mit schwarzer Satin-Bettwäsche versehen.
An den Wänden hinter meiner Cousine hängen Poster: Ich erkenne die komplette Twighlight-Besatzung, irgendeine Boyband deren kumuliertes Alter wohl noch nicht zum Wahlrecht reichen würde und den guten alten Robbie Williams.
Na dann. Genau so stelle ich mir die Zimmerdekoration von den Problem-Teenagern aus der Bravo immer vor.
Wie unterschiedlich die Geschmäcker sein können!
Das andere Bett ist eindeutig meins.
Es ist schmaler, offensichtlich eins, dass aus dem Hotelbetrieb stammt und die Bettwäsche glänzt frischgewaschen und gestärkt im schönsten Meister-Propper-Weiß.
Es steht in einer Ecke des Zimmers zusammen mit einer kleinen Kommode, die ebenfalls ziemlich unbenutzt aussieht.
Das ist dann wohl mein Bereich.
Ich schaffe meinen Koffer hinüber, werfe meine Umhängetasche und die dünne Lederjacke, die ich Mama zu Liebe mitgenommen habe, auf das Bett und klappe dann das Koffer-Ungetüm auf.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass ich beobachtet werde.
Das ist ein bisschen wie auf Safari hier.
So fühlt man sich, wenn die wilden Tiere dich als Mittagessen auserkoren haben.
Als ich mich umdrehe um etwas zu sagen sind Charlottes Augen wieder fest auf den Bildschirm gerichtet.
Sie summt leise vor sich hin.
Offensichtlich reicht ihre Neugierde noch nicht aus, um sich tatsächlich mit mir zu unterhalten.
Also fahre ich fort: Klamotten in den Kommode, Schuhe ins Regal, die Bücher kommen auf das kleine Board über dem Bett.
Das Sammelsurium an Tabletten, dass Mama mir extra mitgegeben habe, platziere ich demonstrativ auf meinem Nachttischchen.
Wenn das so weiter geht brauche ich die Magentabletten vielleicht früher als gedacht.
Fast eine Stunde lang gebe ich mir alle Mühe, es mir in meiner Zimmerecke irgendwie gemütlich zu machen und Charlottes Aufmerksamkeit dabei wenigstens ansatzweise zu erregen.
Dann, ohne Vorwarnung, richtet sie sich plötzlich auf, klappt das Notebook zu und rutscht gekonnt vom Bett.
"Abendessen."
Aha.
*
Das Restaurant des Hotels befindet sich im Erdgeschoss und verfügt über eine großzügige Gartenterrasse, einen kleinen Wintergarten und eine hervorragende Köchin.
Die heißt Sonja und lässt es sich nicht nehmen, mich an diesem Abend persönlich zu begrüßen.
Kaum sitze ich, zwischen MM und Tante Marlen, am Tisch, kommt eine kleine, untersetzte Frau aus der Küche gerauscht und drückt mir links-rechts-links Küschen auf die Wangen.
"Schön, dass du bist!"
Wow.
Endlich mal jemand, der sich freut.
Die Frau trägt ein neonfarbenes Top unter ihrer fleckigen Kochjacke und hat ihre kurzen, roten Locken mit vielen bunten Klammern zu einer äußerst chaotischen und unförmigen Frisur gesteckt.
"Das ist Sonja Maier, unsere Chefköchin." erklärt Tante Marlen mit verkniffenem Lächeln.
Marlen gehört dem Typ Mensch an, die zwar immer gut gekleidet sind und schon allein deshalb ansehnlich wirken, aber trotzdem über keinerlei eigene Schönheit oder Charme verfügen.
Trotzdem bin ich bisher immer ganz gut mit ihr ausgekommen.
Armin zwinkert mir fröhlich zu. "Unsere Sonja macht den besten Kuchen der Welt."
"Und ich freue mich jederzeit dich..." fängt Sonja an, aber leider werde ich erstmal nicht erfahren, worüber sie sich jederzeit freuen würde. "Du meine Güte!" ruft sie plötzlich und rauscht wieder davon.
Ich glaube, dass ich noch das Wort "Mandel-Juis" höre, bevor die Küchentür ins Schloss fällt.
"So." sagt MM und eröffnet damit wohl offiziell das Essen.
Wir sitzen an einem kleinen Tisch ganz vorne im Restaurant, der schon komplett mit Tellern und Gläsern eingedeckt war.
Hier sitzt die Familie immer, wenn sie es denn schafft, gemeinsam zu Essen.
Heute, zur Feier des Tages, zum Beispiel.
Ein Kellner bringt ungefragt eine Karaffe Wasser und kurz darauf eine Schüssel mit Nudeln in Lachs-Sahne-Sauce.
"Deine Mutter sagte, du magst gerne Fisch." erläutert Marlen.
Ich nicke.
Klar.
Ich esse praktisch alles.
Im Gegensatz zu Charlotte.
Die verzieht ziemlich angeekelt das Gesicht. "Ich will lieber ein Schnitzel." lautet ihr Kommentar und damit auch der erste vollständige Satz, den ich von ihr höre.
"Charlie, wir wollen doch zusammen essen..." sagt Armin leise.
Marlen verteilt ungerührt Nudeln und Fisch auf den Tellern.
MM füllt derweil die Gläser.
Charlottes Wunsch nach Fleisch wird gekonnt ignoriert, stattdessen wechselt meine Großmutter das Thema.
"Erzähl doch mal, Helena." Sie gehört zu den wenigen Menschen, die mich konsequent mit meinem tatsächlichen Vornamen ansprechen. "Deine Mutter sagte, du wärst jetzt mit dem Abitur fertig?"
Was soll das ich da groß erzählen?
"Das stimmt." ich lächle.
"Und?" fragt Armin.
Ich muss grinsen. "Ganz okay."
Charlotte wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Ich fürchte, dass Mama es sich nicht hat nehmen lassen mit mir und meinen guten Noten ein bisschen zu protzen.
Schule ist scheinbar nicht Charlottes Lieblingsthema.
Uni allerdings auch nicht.
Als Marlen höflich nach meinen Studienplänen fragt, gibt Charlotte deutlich hörbare Würggeräusche von sich.
"Charlie, bitte benimm' dich ein bisschen! Wir haben Gäste!" sagt Marlen leise.
"Wir können ja nachher über ein Eis reden..." stimmt Armin schnell zu.
Marlens Blick sagt, dass sie die Idee nicht so gut findet, aber es wirkt.
Charlie zwingt sich sichtlich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck und MM fährt fort, mich auszufragen.
"Wirtschaftspsychologie? Das klingt aber sehr... außergewöhnlich!"
"Außergewöhnlich" ist in meiner Familie normalerweise nur eine nette Beschreibung für "unsinnig" oder "falsch".
Aber MM lächelt dabei und, als ich nicht weiß, was ich sagen soll, hakt sie sogar nach: "Erzähl mal. Das klingt wirklich spannend!"
Also erzähle ich.
Erst berichte ich vom Studium, das wirklich begehrt ist, dann von meinen guten Aussichten auf ein kleines Stipendium und von den Chancen, später einen guten Job zu finden.
"Na, wenn du hier auch so nützlich bist, wie in deiner Schule, dann können wir uns ja glücklich schätzen." erklärt MM schließlich.
Ich glaube, dass soll sowas wie ein Kompliment sein.
Ich lächle und die anderen lächeln auch.
Sogar Tante Marlen, die immer ein bisschen blass um die Nase ist und dauernd krank aussieht, wirkt zufrieden.
Nur Charlotte nicht.
Die hasst mich.
Und zwar von ganzem Herzen.
Ich wache auf, bevor es hell wird und muss mich zwingen, liegen zu bleiben, bis Charlie wach wird.
Ich will sie ja nicht wecken und mich damit noch unbeliebter machen.
Charlie.
So nennen sie alle hier.
Charlotte mag sie nicht und deswegen nenne ich sie jetzt auch Charlie.
Ich will ja, dass wir uns vielleicht doch noch verstehen.
Bisher sieht es allerdings schlecht aus.
Charlie geht in die elfte Klasse und hat noch ein paar letzte Tage Schule in diesem Schuljahr vor sich. Deswegen verschwindet sie direkt nach dem Aufstehen erst ins Bad und dann aus dem Haus.
Ich liege stumm in meinem Bett, bis ich die Wohnungstür höre, die lautstark ins Schloss fällt.
Okay.
Die Luft ist dann wohl rein.
Mit meinem extra für dieses Event angeschafften Waschbeutel wandere ich ins Badezimmer, dusche ausführlich, föhne mir die Haare und creme mich dann sorgfältig ein.
Ich bin ein eher blasser Typ – helle Haut mit Tendenz zu Sommersprossen und Sonnenbrand – da ist es wichtig, auf den richtigen Sonnenschutz zu achten.
Schließlich haben wir Juli und draußen hat es an die dreißig Grad!
Während ich mich im Spiegel betrachte, beschleicht mich das Gefühl, dass ich nicht unbedingt fürs Extrem-Urlauben gemacht bin. Nicht nur wegen meiner Porzelanpuppenhaut und meinem, etwas hitzeempfindlichen Kreislauf. Ich besitze nur ein einziges Sommerkleid, dass ich jetzt mal mutig überwerfe und die Sandalen, die Mama mir extra gekauft hat, damit ich nicht, wie sonst, in meinen geliebten Chucks unterwegs bin, drücken an allen Ecken und Enden.
Ich besitze weder das richtige Cocktailkleid für eine coole Strandparty noch eine schicke Designer-Sonnenbrille.
Naja.
Trotz meines ausgiebigen Pflegeprogramms ist es noch ziemlich früh, als ich schließlich fertig bin.
Die Wohnung ist komplett leer. Armin und Marlen sind berufsbedingt während der Sommermonate Frühaufsteher, haben sie gestern erzählt, und Armin frühstückt sowieso immer erst, nachdem die Pferde versorgt sind. Vorbildlich.
Meine Schlüsselkarte hat mir irgendjemand auf der Anrichte hinterlassen.
Sie ist komplett blau, wie alles was offiziell zur Anlage gehört, ohne Schriftzug oder Nummer und ich glaube, dass das ein ziemlich gutes Zeichen ist.
Eigentlich habe ich keine große Lust, raus zu gehen aber ich will auch nicht den ganzen Tag in der Wohnung sitzen.
Das Wetter ist zu schön.
Außerdem soll ich mich ja schließlich nützlich machen!
Leider hat mir noch niemand gesagt, wie ich Mamas Munsch in die Tat umsetzen könnte.
Bisher weiß ich nur, dass ich im Restaurant essen darf, wenn ich Hunger habe, dass ich Sonja in der Küche besuchen darf, wenn ich will und dass es irgendwo im Wald einen kleinen Erdrutsch gab, weshalb einer der Wanderwege vorübergehend gesperrt ist.
Ein bisschen ziellos wandere ich durch die Eingangshalle nach draußen.
Die Sonne scheint bereits aus ganzer Kraft und ein paar wenige Menschen sind zu sehen.
Die meisten von ihnen arbeiten hier, das sieht man an den blauen T-Shirts, den Halstüchern und Uniformen.
Ein Gärtner fischt verirrtes Laub aus dem Brunnen und an einem der Nebeneingänge, der meiner Meinung nach zur Küche gehören könnte, stehen ein paar Angestellte in weißen Jacken und rauchen hinter den niedrigen Rosenbüschen.
Ich durchquere so langsam wie möglich den Park und mache mich auf den Weg zum See. Am Badestrand sitze ein paar Kinder im Sandbecken und werfen Steine ins Wasser.
Ich könnte schwimmen gehen.
Ich schwimme gerne und viel – während der Schulzeit war ich zweimal in der Woche im Training.
Paps meinte immer, dass ich aufpassen soll, dass ich davon keinen zu breiten Rücken kriege, aber Mama behauptet, ich sei so zierlich, dass ein paar Muskeln mehr oder weniger da auch nicht mehr schaden können.
Ich bin tatsächlich weder besonders groß, noch kräftig.
Ich glaube sogar, dass Charlie größer ist als ich.
Vielleicht finde ich das heute nachmittag raus – falls sie dann zur Abwechslung mal mit mir redet.
Der See sieht wirklich hübsch aus, aber meine Badesachen liegen oben und ich kann mich nicht überwinden, nochmal hinzugehen und sie zu holen.
Heute Nachmittag vielleicht.
Ist ja nicht so, dass ich was anderes vorhabe.
Also wandere ich weiter.
Besonders erfolgreich ist mein Ausflug allerdings nicht.
Ich will mir den viel gelobten Golfplatz mit ökologisch wertvollem Bewässerungssystem ansehen, erfahre aber schon nach ein paar Schritten von einem jungen Mann in Karo-Hosen und blauem Poloshirt, dass ich völlig falsche Schuhe trage und deshalb bitte ganz schnell von seinem heiligen Rasen verschwinden soll.
Dann mache ich mich auf den Weg zu der kleinen Zeltstadt, an der anderen Seeseite, wo MM ihr Charity-Ferienlager eingerichtet hat und treffe dort auf eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und bösem Blick.
"He! Nicht im Weg rumstehen!" schimpft sie, kaum dass ich das Schild mit der Aufschrift "Camp Seebad" passiert habe.
"Geh da weg! Fass das nicht an!"
Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet und ergreife schließlich die Flucht.
Vielleicht könnte ich doch erstmal in der Küche vorbeischauen? Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach zwölf und ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob das so eine gute Idee ist.
In der Küche herrscht jetzt sicher schon Hochbetrieb – da stehe ich ja sowieso nur wieder im Weg.
Mutlos schlage ich den Rückweg ein.
Eigentlich will ich am liebsten wieder zurück in mein Bett.
Am allerliebsten in das, dass zu Hause bei meine Eltern steht.
Auf dem Rückweg zum Haupthaus komme ich am Pferdestall vorbei.
Ich muss zugeben dass ich, obwohl ich ja ganz offensichtlich ein Mädchen bin und so, überhaupt keine Begeisterung für diese Tiere oder den Reitsport entwickeln konnte.
Für mich sehen die Leute mit den kniehohen Reitstiefeln über diesen merkwürdigen, eng geschnittenen Stoffhosen und dem ernsten Gesichtsausdruck immer ein bisschen albern aus, wenn sie auf ihren riesigen, auf Hochglanz polierten Pferden durch die Halle eiern.
Ich habe auch nie ganz verstanden, was daran Spaß machen soll.
Außerdem gibt es in Ställen immer tausend Regeln, das weiß ich von Mimi.
Man darf nicht in die Boxen und auch nicht immer in die Halle, man muss leise sein und aus dem Weg gehen und... naja.
Irgendwie ist das einfach nichts für mich.
Ich beschließe, dass ich mein Glück, im Stall eine nützliche Aufgabe für mich zu finden, erst gar nicht versuchen will und mache einen großen Bogen um die Reitanlage.
Dann doch lieber die Einsamkeit von Charlies Schlafzimmer.
*
Meine neue Mitbewohnerin kommt nachmittags wieder und ist in Begleitung.
Charlies Laune ist, soweit ich das beurteilen kann, nicht besser als am Vortag und ich fürchte, dass ein "idiotischer", "völlig bescheuerter" und - das letzte Wort zitiere ich jetzt nicht – ihrer Meinung nach nicht besonders kompetenter Mathelehrer namens "der Fritz" nicht ganz unbeteiligt daran ist.
Charlies Begleitung heißt Bella.
Zumindest stellt sie sich als solche vor.
Immerhin, ein Fortschritt im Gegensatz zu meiner Zimmergenossin: Die Kleine sagt ihren Namen und gibt mir sogar die Hand.
Ich bin fast ein bisschen beeindruckt.
Bella ist, obwohl ihr Name etwas anderes sagt, weder besonders hübsch noch besonders anmutig.
Sie ist kleiner als ich – und das ist dann wirklich ziemlich klein – hat Hamsterbacken, kurze mit viel Gel zurechtgebogene wasserstoffblonde Haare und eine unnatürliche Begeisterung für bunte Leggins, die ihre dicken Beinchen noch etwas kräftiger wirken lassen.
Aber wenigstens ingoriert sie mich nicht völlig.
Gerade, als ich etwas Nettes sagen will, stellt sich Charlie vor mich.
Der Pony, der ihr exakt bis zu den Augenbrauen reicht, wippt aufgebracht während sie mich herablassend mustert.
Tatsache – sie ist größer als ich.
"Kannst du nicht verschwinden?" fragt sie und ich fürchte, dass die Antwortmöglichkeiten eher begrenzt sind.
Sind wir aber charmant heute!
Aber was bleibt mir anderes übrig?
"Kein Problem." behaupte ich und hoffe, dass sie nur "aus dem Zimmer" und nicht "von dieser Welt" meint.
"Wieso schickst du sie denn weg?" fragt Bella noch, als ich schon an der Tür bin.
"Sie nervt." erklärt Charlie.
Dann fällt die Tür ins Schloss.
Na wunderbar.
Ich bin ja ein wirklich geduldiger Mensch und auch ein bisschen leidensfähig, aber für einen Moment ist mir das ganze wirklich zu viel.
Was für ein deprimierender Tag – und dann auch noch diese kleine Zicke.
Soll ich mich vielleicht in Luft auflösen?
Ich überlege kurz, ob ich MM in ihrem Büro besuchen soll und sie um ein anderes Zimmer – oder wenigstens das Bett im Büro – bitten soll.
Aber ich traue mich nicht. Ich will ja nicht gleich am ersten Tag undankbar sein und dastehen wie die letzte Meckerliese.
Ich soll doch schließlich ein Vorbild für Charlie sein.
Und Vorbilder gehen nicht petzen.
Stattdessen rufen sie, mit Kloß im Hals, ihre Eltern an.
Ich zerre mein Handy aus der Tasche, setze mich im Wohnzimmer in einen Sessel direkt am Fenster und lausche dem gleichmäßigen Tonsignal am anderen Ende der Leitung.
Tuuuut – tuuut – tuuut.
Dann endlich Paps' Stimme.
"Das ist der Anschluss von Familie Hofer..."
Der Anrufbeantworter.
Ich muss schlucken.
Verdammt.
Wieso kommen mir denn jetzt die Tränen?
Nicht heulen, Leni!
Immerhin bist du erwachsen.
Und was sollen Marlen und Armin denken, wenn sie nach Hause kommen?
Du meine Güte.
Die glauben noch, ich wäre sieben Jahre alt und hätte Heimweh oder so.
Dabei muss ich zugeben – vielleicht habe ich ein kleines bisschen Heimweh.
So ganz wenig aber nur.
Vielleicht wäre es jetzt schön, mit Mama eine Tasse Tee zu trinken und ihr beim Vermissen der guten alten Zeiten zuzuhören.
Oder Max zu sehen, der einen blöden Spruch bringt und sich dann freut wie Oskar, wenn man trotzdem darüber lacht.
Hmm.
Aus dem Kinderzimmer dringt mittlerweile ziemlich laute Musik und Gekicher.
Ich glaube nicht, dass ich da so bald wieder reindarf.
Was soll's.
Leni, reis dich zusammen.
Mach das beste draus.
Ich greife nach der Fernbedienung für Armins opulenten Flachbildfernseher und beschließe, dass ich meinen ersten Tag im Traumurlaubs-Resort mit Harzt-4-TV und Scripted Reality verbringen werde.
Vielleicht kommt später ja noch Wer-wird-Millionär, dann kann ich mir wenigstens einreden, noch was zu lernen...
*
Es ist schon dunkel draußen, als Bella endlich das Zimmer räumt.
Als ich den Raum, mutig wie ich bin, wieder betreten will, schallt mir nur ein "Verpiss dich!" entgegen und ich beschließe, dass ich die zweite Hälfte vom Spielfilm dann wohl auch noch im Wohnzimmer sehen werde.
Von Armin oder Marlen ist noch immer nichts zu sehen. Ihr Job ist wohl ziemlich zeitintesiv.
Wahrscheinlich sind sie noch fleißig am arbeiten, während ich hier oben meine Zeit totschlage.
Deprimierend.
Auf dem Bildschirm präsentiert eine Frau mit Mittelscheitel das neueste Wunder-Waschmittel und ich wage einen Blick aus dem Fenster.
Der Park wird mit unzähligen kleinen Solarlampen beleuchtet und sieht dadurch gleich noch ein bisschen hübscher aus. Richtig romantisch!
Drüben am See, im Hinterhof des ehemaligen Bauernhauses, in dem jetzt die Angestellten wohnen, glaube ich, ein kleines Lagerfeuer erkennen zu können.
Hmm.
Da verbringt sicher niemand einen ganzen Nachmittag mit Seifenopern und Talkshow-Geblubber.
Die haben garantiert alle was besseres zu tun und jede Menge Spaß.
Im Gegensatz zu mir.
Das Selbstmitleid kommt wieder hoch und ich muss mich ein kleines bisschen zusammenreisen.
Alles wird gut.
Vielleicht rufe ich doch nochmal zu Hause an?
Vielleicht...?
Nein.
Jetzt nicht.
So schlimm kann das Heimweh gar nicht sein.
Ich werde doch mal zwei Tage ohne Mami und Papi auskommen, oder?
Wie soll das denn werden, wenn ich im Herbst in München wohne?
Mein Blick wandert über den schwach beleuchteten Golfplatz hinüber zur Reitanlage.
Auch hier brennt noch Licht – im Stall, wo ich ein paar dunkle Figuren erkennen kann, die eng umschlungen über den Hof huschen, und in der Reithalle.
Das ist komisch.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass um diese Zeit keine Reitstunden mehr stattfinden, aber ich bin mir ebenfalls sicher, dass da jemand reitet.
Ich erkenne nicht viel, weil die Distanz doch ziemlich großzügig ist – aber ja.
Da reitet jemand.
Und wie.
Wow.
Für einen Moment kann ich meinen Blick wirklich nicht losreisen.
Ich sehe die schnellen, gleichmäßigen Bewegung des Pferdes und einen Reiter, der so entspannt im Sattel sitzt, als hätte er es sich hier, direkt neben mir, auf dem Sofa gemütlich gemacht.
Leider bin ich viel zu weit weg, um mehr als die Schatten der beiden erkennen zu können.
Trotzdem: nicht schlecht.
Und vor allem nicht so albern wie das Rumgehoppel, dass ich aus dem Fernsehen kenne.
Apropos.
Der Film geht weiter und ich sinke wieder in die Sofakissen.
Es tut mir Leid für alle Pferdefreunde dieser Welt, aber nur, weil es zufällig mal einen gibt, der eine gute Figur im Sattel macht, heißt dass noch lange nicht, dass ich mir das Happy End auf der Mattscheibe entgehen lasse!
"Ach, unsere Charlie, das is' ne kleine Zicke. Aber gar nicht so schlimm. Vor 'nem halben Jahr, da war sie noch ein liebes Mädel, aber das ändert sich halt. Die Pubertät..." Sonja wirft mir einen bedeutungsschweren Blick zu und die kleingeschnittenen Möhren in den Topf.
"Wäscht du mir mal den Salat, ja?"
Ich nicke.
Klar
Ich bin froh um jeden Handgriff, den ich tun darf.
In der Küche wuselt es nur so vor Mitarbeitern und Aushilfen und trotzdem tut Sonja so, als könne sie mich ganz dringend brauchen.
Ich glaube aber, am aller-dringendsten braucht sie jemanden, der ihr zuhört.
So einen Redeschwall habe ich selten erlebt.
Sonja ist schätzungsweise Mitte dreißig und lebt, zumindest während der Saison, nur für dieses Hotel und ihren Job als Küchenchefin.
"Mach dir da mal gar nichts draus, okay? Die Charlie kann auch anders, die will nur nich'!" fährt sie unbeirrt fort.
Ich nicke wieder und zupfe gehorsam die Salatblätter ins Sieb.
"Das is' es halt, wenn die Kinder hier aufwachsen. Da haben sie alles und was fehlt ist jemand, der ihnen Grenzen setzt. Und wenn man dann noch unglücklich verliebt ist..."
"Verliebt?" ich schaue hoch.
Charlie?
Das ist ja kaum zu glauben.
Sonja lacht und nickt eifrig. "Klar! Glaub mir das mal! Die ist verliebt, das weiß jeder hier. Nur ihre Eltern wollen's nicht glauben. Marlen findet das ja gar nicht gut, weißt du... ihre Tochter und einer von den Angestellten! Die tut manchmal grade so, als wäre das was verbotenes oder so! Als wären wir im Mittelalter und die Blauen alle Menschen zweiter Klasse." Sie lacht glucksend vor sich hin.
Die Blauen - so nennt sie alle Angestellten und Hilfen.
Ich werde neugierig.
Wer um Himmels Willen hat es denn geschafft, dass Oberzicke Charlie sich in ihn verliebt?!
"Was machst du denn da?" quietscht Sonja plötzlich und steht, völlig unerwartet, neben mir.
Sie ist ganz schön schnell für soviel Masse!
Entsetzt starrt sie meinen Blattsalat an und entreist mir das Teil dann heftig.
Mit einer kurzen Handbewegung reist sie den Strunk vom Salatkopf ab und die Blätter rieseln gleichmäßig ins Sieb.
Oh.
"SO geht das." erklärt sie. "Wasser drüber, einmal schütteln, fertig."
Ich schaue wohl ein bisschen hilflos, den sie lacht schon wieder und tätschelt mir die Schulter. "Macht nix, Kleine. Is' ja dein erster Tag. Gibt manche hier, die das nach 'nem Jahr nicht 'raushaben. Aber weißt du, wir haben hier keine Zeit."
Ich nicke und schwenke eifrig den Salat.
"Gut so. Gut so, lass es so." ruft Sonja mir zu und ich stellte sofort das Sieb zur Seite.
Sie lacht. "Super, Kleine. Dann mach jetzt mal die Kartoffeln. Und ich erzähl dir noch ein bisschen was über die Leute hier!"
Was bleibt mir anderes übrig?
Ich stelle den Salat zur Seite und schnappe mir den Sack Kartoffeln, der schon bereit liegt.
Auf der Suche nach einem Schäler durchquere ich einmal die Küche, bevor Sonja mir mit verschmitztem Grinsen ein kleines Messer in die Hand drückt.
"Damit geht's schneller. Versprochen."
Ich nehme das Messer, hoffe das Sonja recht hat und mache mich an die Kartoffeln.
Seit fast drei Stunden bin ich in der Küche und genauso lange redet sie schon ununterbrochen.
Ich kenne alle Öffnungszeiten des Restaurants, ich weiß dass bald eine riesige Hochzeit ansteht und dass die Braut auf Himbeerkuchen und ausgefallene Kleider steht, ich kenne die Namen aller Köche und Küchenhilfen und ich weiß, dass es heute Abend zum Nachtisch eine preisgekrönte Mousse au chocolat gibt, für die Sonja extra Schokolade aus der Schweiz importieren lässt.
Jetzt, nach so vielen elementaren Informationen, sind also die Volkssagen des Mendel'schen Hofstaates dran.
"Hast du denn schon jemanden kennen gelernt?" fragt Sonja fröhlich.
Ich weiß, dass sie mich beobachtet.
Sonja liebt es, die kleinen und großen Geheimnisse ihrer Mitmenschen aufzuspüren und sie dann direkt mit anderen zu teilen.
"Außer Charlie niemanden." erkläre ich wahrheitsgemäß.
Sie schmunzelt. "Okay... schade."
"Gestern abend, hab ich jemanden in der Reithalle gesehen!" rutscht es mir heraus.
Ups.
Wo kam das denn jetzt her?
So ganz spurlos ist die Beobachtung wohl doch nicht an mir vorbeigegangen.
Das sah aber auch wirklich toll aus!
Verdammt.
Ich fühle mich ertappt und Sonjas Grinsen macht es nicht besser.
"In der Reithalle?" wiederholt sie.
Ich nicke stumm und starre auf meine Kartoffeln.
Schäl um dein Leben, Leni!
"Also, im Stall arbeiten ja viele. Aber reiten, also abgesehen vom Chef, der reitet nämlich auch manchmal, so richtig gut reiten tut vor allem einer, glaub' ich. Das is' unser Nick."
Nick.
Aha.
Den Namen hab ich schon mal irgendwo gehört.
Haben Armin und Marlen sich gestern über den unterhalten?
Möglich.
"Nick." sage ich leise.
Sonja hat Ohren wie ein Luchs. Ihr entgeht nichts. "Ja, genau. Der Nick. Netter Typ, echt süß. Das ist der Reitlehrer. Aber da musst du aufpassen. Das is' ein echter Casanova. Dem gehen sie alle ins Netz!" sie lacht schon wieder.
Ich werde ein bisschen rot.
Na super.
Der erste Typ, der mir auffällt ist der größte Aufreißer auf dem Hof, oder was?
Das fängt ja gut an.
"Ich fand nur, dass sah gut aus, mit dem Pferd und so..." versuche ich, mich zu rauszureden. Sonja soll nicht denken, dass ich auch zu Nicks Eroberungen gehöre. Wie peinlich! "Ich hab's sonst nicht so mit Pferden."
"Schon gut, Kleine!" ruft Sonja gut gelaunt. "Den Nick finden sie doch alle irgendwann mal toll. Im Gegensatz zu manch anderer hättest du sogar ne Chance bei ihm, glaub mir. Mit deinem Puppengesicht! Und diesem Augenaufschlag, du meine Güte... du musst nur wissen, ob du so einen auch willst."
Definitiv nicht.
Wer will schon "so einen"?
Auf der Suche nach einer Antwort taxiere ich erneut die armen Erdäpfel mit meinem Blick.
Wenn das so weiter geht, sind die Dinger gar, bevor sie im Topf landen.
Die Küchentür wird geöffnet und ich werde aus meiner Schreckstarre erlöst.
Marlen stöckelt herein und zieht sofort Sonjas komplette Aufmerksamkeit auf sich.
"Na, Chefin? Alles klar da oben? Sag mal, das Menü für diesen Geburtstag... bist du dir sicher mit dem Zander? Findest du nicht, dass 'ne Forelle passender wär? Ich könnte eine räuchern!"
Marlen verzieht ihr hageres Gesicht zu etwas, dass man als Grinsen bezeichnen könnte und hebt abwehrend die Hände.
"Sonja, ich gebe dir gerne die Nummer von diesem Opa und du kannst das mit ihm persönlich ausmachen. Ich kenne mich mit Fisch absolut nicht aus."
"Oder wir machen 'nen Lachs? Gebeizt mit frischem Koriander und... denkst du, der ist schon zu alt für Sushi?" Sonjas Wangen glühen.
Die beiden Küchenhilfen hinter ihr wechseln kichernd Blicke.
Ich muss auch ein bisschen lächeln.
Sonja ist schon eine Nummer für sich.
Marlen kann zum Glück ganz gut mit ihr umgehen. "Ich denke, Sushi ist für einen Fünfundsechzigsten ein bisschen mutig. Aber das mit der geräucherten Forelle klingt gut. Wir könnten auch gebackenen Zander UND die Forelle servieren, wie wär das denn?"
Sonja ist zufrieden.
Marlen nickt und kramt ihr iPhone aus der Tasche.
Die Änderung muss direkt notiert werden.
"Aber eigentlich bin ich wegen was ganz anderem hier..." ihr Blick wandert durch die Küche und bleibt bei mir hängen.
Aha.
Sie hat sich wohl daran erinnert, dass ich ja eigentlich als Arbeitssklave hier bin.
"Leni, wenn du fertig bist, komm doch rüber in den Vogelsaal... ich hab da was für dich."
"Klar..." sage ich schnell. "In fünf Kartoffeln bin ich bei dir!"
Marlen grinst. "Super."
"Ach, jetzt hab ich endlich jemand, der mir zuhört, und du nimmst sie mir gleich wieder weg!" schimpft Sonja, während Marlen wieder zur Tür geht.
Die lacht, überraschend fröhlich. "Tja, so ist das, meine Liebe. Vielleicht kriegst du sie später wieder!"
Das klingt ja vielversprechend.
Während Sonja mir detailliert vom schönen Paul, dem Golflehrer – falls ich mal Abwechslung von Nick brauche – berichtet, schäle ich die letzten Kartoffeln und werfe sie in den Wasserbehälter.
Meine Hände sind ganz runzelig und weiß von der Stärke und meine Finger tun weh.
Offensichtlich bin ich Handarbeit nicht gewohnt.
Komisch.
Ich hätte nie gedacht, dass ich ein bisschen arbeiten mal so anstrengend finden könnte.
Typisch verwöhntes Stadtkind eben.
Sonja grinst, als sie meinen Blick sieht. "Tja, aller Anfang ist... runzelig!" sie gluckst.
Damit bin ich entlassen.
Der Redeschwall hat ein Ende und ich trotte nach oben. Einmal quer durchs Restaurant, an der Rezeption vorbei, rüber in den großen Veranstaltungssaal den hier alle aus unerfindlichen Gründen "Vogelsaal" nennen.
Ein komischer Name.
Marlen steht auf der kleinen Bühne, die an der einen Seite des rechteckigen Raums aufgebaut ist und kramt in einer Mappe voller Zettel herum.
Scheinbar fehlt die entscheidende Information.
Ein paar Männer mit Blaumann und ratlosen Gesichten stehen ebenfalls auf der Bühne.
Als ich näher komme, erkenne ich das Problem.
Sie versuchen, einen Zauberkasten, so ein Ding, mit dem man Leute zersägen kann, aufzubauen.
Ich ahne Schreckliches.
"Leni! Das ging ja schnell!"
Verdammt, sie hat mich gesehen.
Na toll.
"Äh... ja..." stottere ich und erklimme im Schneckentempo die Bühne.
"Ich dachte, du hast vielleicht Spaß an..." Marlen macht eine ausladende Handbewegung die den ganzen Raum umfasst und ein leicht verzweifeltes Gesicht. "Leider hat dieser Künstler keine Anleitung für den Kasten mitgegeben. Wir müssen wohl warten bis heute abend."
"Was ist denn heute Abend?" will ich wissen.
Mir schwant wenig gutes.
Die Handwerker grinsen hämisch.
"Wir haben einen Zauberkünstler eingeladen, der hier sein Programm präsentiert. Dreihundert verkaufte Tickets, gar nicht so schlecht für die Nebensaison. Er braucht immer ein paar, naja, du weißt schon. Falsche Freiwillige aus dem Publikum." sie lächelt schief.
Aha.
Na klasse.
"Und ich soll jetzt...?" frage ich wenig begeistert.
Sie nickt. "Das wird sicher ganz lustig! Letztes Jahr war das noch Charlies Job."
Ja klar.
Es reicht wohl nicht, eine Leni hier zu haben, die völlig überflüssig ist.
Nein.
Wir holen einen Zauberer und machen zwei draus.
Na danke aber auch.
"Mama! Hol mich ab! Ich kann hier nicht bleiben!"
Ich kann gar nicht glauben, dass ich das geschrieben habe.
Da sprach wohl eindeutig die Verzweiflung.
Kein Wunder, im Übrigen.
Marlen hat mich tatsächlich genötigt, die Assistentin für den dusseligen Zauberer zu geben.
Und der hat die ganze alberne Show abgezogen: Kaninchen aus dem Hut, Kanarienvogel aus der Papiertüte und zu guter letzte wurde ich auch noch weggezaubert.
Super, oder?
Im Grunde muss ich froh sein, überhaupt noch in diesem Universum zu existieren.
Das Ende vom Lied war eine fies grinsende Charlie, als ich auf unser Zimmer kam, eine zufriedene Marlen – endlich Arbeit für Leni! – und ein ziemlich verzweifeltes ich.
Da lässt man sich schon mal zu solchen Hilferufen per Kurznachricht verleiten.
Mamas Antwort ist ein bisschen pragmatischer: "Alles wird gut. Wir kommen dich am Wochenende besuchen!"
Na, immerhin.
Mama vermisst mich garantiert auch schon.
Und so lange ist es ja auch nicht mehr bis Samstag.
Wenn alles gut läuft sehen meine Eltern ihren Fehler ein und nehmen mich gleich wieder mit.
Nach einer unruhigen Nacht stehe ich jetzt mal wieder unter der heißen Dusche und hoffe, dass der Tag besser wird als gestern oder wenigstens schnell herum geht.
Klar, ich kann mich wieder zu Sonja in die Küche stellen – aber ob mich das auf Dauer glücklich macht, weiß ich noch nicht. Außerdem bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass sie weder für den Salat noch für die Kartoffeln eine echte Verwendung hatte.
Vielleicht mache ich erstmal einen Spaziergang. Wieder.
Ich ziehe sogar meinen Bikini unter das Sommerkleid, obwohl ich schon weiß, dass ich mich sowieso nicht traue, schwimmen zu gehen.
Ich mag es nicht, alleine irgendwo hinzukommen, mein Handtuch auszubreiten, mir das Kleid vom Leib zu zerren und dann, als einzige zu so früher Stunde wahrscheinlich, in die Fluten zu hüpfen.
Vielleicht hat Paps manchmal Recht, wenn er fürchtet, ich hätte zu wenig Selbstbewusstsein.
Aber wer hat davon schon genug?
Ich lasse mir extra viel Zeit, während ich meine Haare zu einem Zopf flechte, creme mich wieder einmal sorgfältigst ein und überprüfe dreimal, ob ich auch alles habe.
Was ich, abgesehen von der Schlüsselkarte vielleicht draußen brauchen könnte, weiß ich selber nicht.
Aber egal.
Jede Minute zählt.
Es ist halb elf und theoretisch könnte ich noch ins Restaurant gehen und erstmal ein zweites Frühstück einnehmen.
Wenn ich Hunger hätte.
Habe ich aber nicht. Außerdem ist es doch auch ein bisschen peinlich, alleine in so einem großen Restaurant zu sitzen.
Morgen vielleicht.
Ja.
Morgen bin ich mutiger.
Jetzt gehe ich erstmal spazieren.
Bewegung ist ja gesund.
Vielleicht fällt mir dann ja etwas ein, was ich tun könnte.
Ich wandere, wieder einmal, durch den Park, spaziere am See vorbei, meide den Golfplatz und gehe dann, am Wald entlang, zurück.
Ich grüße Roman und Heather von der Animation, die gerade eine Schnipseljagd veranstalten und Andi, den Förster.
Dank Sonja habe ich schon einige Namen drauf.
Auf dem Rückweg komme ich ein bisschen näher an der Reithalle vorbei.
Ein kleines bisschen neugierig bin ich schon.
Nicht, weil dieser Nick so toll reiten kann – nein. Das beeindruckt mich nur ganz wenig.
Aber nachdem Sonja mir so viel von dem Kerl erzählt hat, will ich jetzt wenigstens mal wissen, wer das eigentlich ist.
Und ob er wirklich so toll aussieht.
Ich meine, wenn sie eh schon glaubt, dass ich auf ihn stehe, dann habe ich ja wohl auch das Recht, ihn mir mal genauer anzuschauen, oder?
Rund um Stall und Halle sind Koppeln eingerichtet, auf denen Armins Pferde grasen.
Sie sind ein bisschen kleiner und dicker, als die, die ich aus Mimis Elite-Stall kenne und Armin sagt, es wären Western-Pferde.
Ich gehe mal davon aus, dass das die sind, auf denen die Cowboys aus dem Fernsehen immer unterwegs sind.
Das hieße immerhin, dass es keine albernen Reitkappen mit Schleifchen dran gibt. Und diese komischen Gerten auch nicht.
Vielleicht ist Western-Reiten ja weniger albern als das affige Getue, dass ich sonst so kenne?
Die kleinen Pferde sehen jedenfalls etwas benutzerfreundlicher aus.
Ich sehe meinen Onkel am anderen Ende der Koppeln, wo er zusammen mit zwei Jungs im blauen T-Shirt an einem Zaun herumbastelt.
Neben der Reithalle ist ein kleiner, kreisrunder Platz eingezäunt. Ein kräftiges, fast schwarzes Pferd dreht hier ungeduldig seine Runden.
Okay.
Das sieht tatsächlich ziemlich beeindruckend aus, ich gebe es ja zu.
Komisch.
Kaum bin ich ein paar Tage auf dem Land, schon kann ich mich für so einen Quatsch wie Reiten und Pferde begeistern!
Du meine Güte, Leni.
Reis dich zusammen.
Die Reithalle ist an zwei Seiten nur mit einer hüfthohen Bande versehen, so dass man gut zuschauen kann.
Einige, sichtlich stolze, Eltern, tun das auch und ich reihe mich unauffällig in die Zuschauergruppe ein.
Gespannt werfe ich einen Blick in die Halle.
Was ich sehe ist ein kleines bisschen ernüchternd.
Reihum trödeln vier Pferde an der Wand entlang, jedes mit einem Kind auf dem Rücken.
Die Kleinen sind wirklich noch ziemlich klein und offensichtlich total glücklich mit ihrer Situation.
Ich sehe grinsende Mondgesichter und immer, wenn ein Kind seine Eltern passiert, winkt es eifrig.
Super Sache so ein Reitunterricht.
Sieht auch total spannend aus.
In der Mitte, mit dem Rücken zu uns, steht einer, der wohl der Reitlehrer sein könnte.
Er trägt braune Cowboystiefel über einer Jeans und hat so einen Lederhut auf, als wolle er Reklame für Zigaretten machen. Unter dem kurzen Ärmel von seinem Team-Shirt lugt die Ecke von einem Tattoo hervor.
Wir gehören also zur coolen Sorte.
Sowas ist ja mal gar nicht mein Fall.
In der einen Hand hat er sowas wie eine Plastikpeitsche, mit der er herumwedelt, wenn eins von den Pferden stehen bleibt.
Aha.
Ich fürchte, dass es heute nicht ganz so spannend wird, wie neulich.
Trotzdem bleibe ich stehen.
Ich will, dass er sich umdreht.
Ich will wenigstens sehen, wer das ist, dieser Nick.
Die Kinder drehen eine weitere Runde und ich beginne wirklich, mich zu langweilen.
Dann, endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit tut Nick mir den Gefallen.
Er ruft ein lautes "Whoa!" in die Runde, die Pferde bleiben brav stehen und Nick macht sich daran, den Nachwuchs-Cowboys aus dem Sattel zu helfen.
Dabei kann ich endlich einen Blick auf ihn erhaschen.
Okay.
Er sieht ganz gut aus, das stimmt.
Schöne gerade Nase, ist das erste, was ich denke. Manchmal überrasche ich mich wirklich selbst!
Ich glaube, die Haare unter dem Hut sind blond und seine Augen könnten blau sein.
Ich mag blaue Augen.
Ich hab selber so eine Mischung aus blau und grün und das gefällt mir tatsächlich ganz gut.
Hmm.
Mir fällt auf, dass er ganz schön braun ist.
Wahrscheinlich, weil er soviel draußen ist. Klar. Als Reitlehrer!
Sonja sagt, er macht zweimal die Woche auch Ausritte. Da muss man ja quasi braun werden.
Die Kinder sind mittlerweile alle wieder bei ihren Eltern und die Pferde trotten brav in die Mitte der Halle.
Ich versuche, noch mehr von Nicks Gesicht zu sehen, aber der Hut verdeckt es die meiste Zeit.
"He Nick!" ruft plötzlich jemand und ich zucke zusammen.
Oh.
Wer ist das denn?
Ein ziemlich großer, breiter Typ hat die Halle betreten, eine kleine Schaufel in der Pranke.
Er geht, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln und sein Lachen ist laut und dröhnend.
Nick dreht sich um.
Tatsache.
"Hm?" macht er cool und kickt den Hut in die richtige Position. Eine blonde Haarsträhne rutscht ihm in die Stirn.
Ui.
"Du hast Zuschauer!" ruft der Typ.
Scheiße.
Der meint ja mich! Ich bin die letzte, die noch an der Bande steht.
Schnell tauche ich ab, bevor Nick sich umdrehen kann.
Hilfe.
Ich will hier weg.
Wie peinlich!
Der breite Typ lacht schon wieder.
"Basti, spinn dich aus!" ruft Nick.
"Doch klar. Da war grad eine. 'Ne Neue!" erwidert Basti.
Na super – dann bin ich also "die Neue".
Wenn das kein Kompliment ist.
Leise schleiche ich an der Bande entlang und renne dann die letzten Meter zum Waldrand.
Zwischen den Bäumen bin ich sicher.
Basti und Nick widmen sich den Pferden, und führen, jeder zwei, die Tiere gerade wieder rüber zum Stall.
Ein Knacken im Holz lässt meine sowieso schon angespannten Muskel gleich wieder zusammenzucken.
Mann bin ich schreckhaft.
Als ich mich umdrehe, steht Armin neben mir, eine Zigarette in der Hand.
Hat er nicht erzählt, dass er damit aufgehört hat?
"Ertappt." murmelt er leise.
Ich bin mir nicht sicher, ob er mich meint oder sich, aber sein verschwörerisches Grinsen spricht Bände.
Ich grinse zurück und laufe zurück zum Haus.
Ich bin fast wieder beim Haupthaus und überlege, womit ich den restlichen Tag möglichst sinnvoll totschlage, als ich MM über den Weg laufe.
Heute haben meine Verwandten wohl alle Ausgang.
"Was machst du denn für ein Gesicht!" ruft meine Großmutter und breitet die Arme aus, als wolle sie mich aufhalten. Heute trägt sie einen hellblauen Zweiteiler und hat ihre Sekretärinnen-Frisur mit einem Haarband aus blauer Seide gebändigt. So habe ich mir immer das Vorbild für James Bond's Miss Moneypenny vorgestellt.
Ich bleibe stehen.
Es ist gar nicht nötig, mich anzuhalten.
Ich freue mich sogar richtig, sie zu sehen.
"Geht's dir nicht gut?" fragt sie und klingt dabei ein kleines besorgt. In MM's Welt grenzt diese Frage wahrscheinlich schon an ehrliche Panik.
"Alles gut." flunkere ich schnell, hoffe aber, dass sie mich durchschaut.
MM erhört meinen stummen Wunsch.
"Das glaube ich dir nicht! So sieht kein fröhlicher Mensch aus!" ruft sie und packt mich am Arm. "Weißt du was wir jetzt machen? Wir vergessen jetzt die Arbeit mal für einen Moment!"
Sie schiebt mich zum Eingang.
Kein Problem.
Ist ja nicht so, als hätte ich jemals Arbeit gehabt.
Da fällt das Vergessen durchaus leicht.
"Und dann gönnen wir uns eine Tasse Tee und ein Stück von Sonjas sagenumwogenen Kuchen."
Damit bin ich durchaus einverstanden.
Kuchen ist nie falsch.
MM bugsiert mich in eine Nische des Speisesaals und sofort sind wir von zwei Kellner umzingelt, die bereit sind, uns jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
So ist das eben, wenn man Chef ist.
Vielleicht werde ich später ja auch mal so, wie meine Großmutter.
Die findet den Trubel allerdings überhaupt nicht gut.
"Sind wir die einzigen Gäste hier?" will sie wissen und die beiden Kellner tauschen einen betretenen Blick.
"Ich bitte Sie! Bedienen Sie alle hier, nicht nur die, deren Name auf Ihrem Gehaltscheck stehen."
Ich bin beeindruckt.
MM hat eine ziemlich klare Art, mit ihren Angestellten umzugehen. Aber immerhin bleibt sie höflich.
Mama sagt immer, dass das viel Wert ist.
Ach, Mama.
Ich könnte schon wieder Heimweh kriegen.
Nein.
Das wäre jetzt unpassend.
MM ist hier, sie lächelt (oder so ähnlich) und will sich mit mir unterhalten.
Ich bin zuversichtlich, dass, wenn es jemanden hier gibt, der meine Situation ein bisschen angenehmer macht, es sich dabei um meine Großmutter handelt.
"So." sagt sie, wie so oft.
Ich lächle tapfer.
"Dann erzähl mal. Wieso siehst du so blass aus, Helena?" beginnt sie.
"Mir geht's gut, wirklich. Es ist alles ein bisschen ungewohnt." ich klinge überhaupt nicht überzeugend.
"Soso." sie runzelt die Stirn.
Einer der Kellner ist in atemberaubender Geschwindigkeit zurück gekehrt und serviert den Tee.
Zwei Stücke Sahnetorte folgen wenige Augenblicke später.
Der Service ist sein Geld tatsächlich wert.
"Verstehst du dich gut mit Charlotte?" will MM wissen. Bin ich so leicht zu durchschauen?
Vielleicht liegt es einfach daran, dass auch meine Großmutter ihre Enkelin kennt und deshalb ja sicher wissen muss, dass es nicht ganz leicht mit ihr ist.
"Ich gebe mir Mühe." erkläre ich wahrheitsgemäß.
Ich will nichts Gemeines über Charlie sagen. Am Ende bekommt sie noch Ärger und das wäre zum einen nicht fair und zum anderen unserer Freundschaft – wenn es denn mal eine geben sollte – sicherlich nicht zuträglich.
MM lächelt nur wissend und wechselt dann freundlicherweise das Thema.
Sie hat mich ganz eindeutig durchschaut.
"Und sonst? Gefällt dir die Anlage?"
"Klar." Dieses Mal fällt es mir viel leichter, zu lächeln. "Es ist wirklich toll! So riesig und der Park ist richtig hübsch geworden..."
"Tja. Nur das Beste für unsere Gäste." schmunzelt MM.
Ich muss grinsen. Die Art wie sie es sagt verrät eine gewisse Ironie, ohne dabei abfällig zu klingen.
Sie liebt ihren Job und den Hof, das merkt man.
"Dein Auftritt gestern hat allen gut gefallen. Allerdings fürchte ich, dass wir diesen, naja, nennen wir es mal Künstler, so schnell nicht mehr einladen werden."
Ich nicke. Darüber bin ich definitiv nicht traurig.
"Dafür habe ich eine neue Aufgabe für dich, die vielleicht ein bisschen besser passt."
Ich spitze die Ohren.
Hoffentlich will sie nicht, dass ich den Bingo-Abend leite, oder so etwas. Dann doch lieber Kartoffeln schälen mit Sonja und ihren unendlichen Geschichten.
"Jeden Freitag im Sommer organisieren wir ein kleines Special für unsere Gäste und die Kunden aus der Stadt." erklärt MM. "Diese Woche gibt es einen spanischen Abend. Wir haben eine Aushilfe diesen Sommer, die aus Spanien kommt. Ein nettes Mädchen, du wirst sie kennen lernen, sobald sie mal etwas Zeit hat. Im Moment hilft sie nämlich viel im Stall aus, glaube ich. Aber egal. Also. Pilar, so heißt sie, organisiert diesen Abend. Ich dachte, vielleicht kannst du sie ein bisschen unterstützen."
Ich nicke. Besser als Bingo oder Zaubertricks.
Spanischer Abend, das klingt sogar ganz nett.
MM ist zufrieden. "Deine Mutter sagte, du sprichst fast fließend spanisch. Da freut sich unsere Pilar sicher. Vielleicht werdet ihr sogar Freundinnen!"
Aha, denke ich.
Daher weht der Wind.
Wenn Charlie nicht will, organisiert meine Großmutter mir eben eine neue Spielkameradin.
Auch in Ordnung.
Dann freunde ich mich eben erst mit Pilar an und nehme anschließend wieder meine Cousine in Angriff...
Wir essen Kuchen und MM erzählt mir noch mehr übers Hotel.
Die ganzen Shows und Veranstaltungen interessieren meine Großmutter nicht besonders. Das ist mehr Marlens Aufgabe und die wird dabei fleißig von einer ganzen Horde Angestellter unterstützt.
Es gibt sogar eine Event-Managerin, namens Anne.
MM kümmert sich lieber um die Zahlen.
Da kann ich sogar ein bisschen mitreden.
"Weißt du, da liest man sich in ein Thema ein, vergleicht die Angebote und informiert sich und dann stellt man fest, dass das alles zwar äußerst effektiv ist – aber überhaupt nichts für den Betrieb tut." erzählt sie.
Ich nicke wissend.
"Das ist der Unterschied zwischen Effektivität und Effizienz." sage ich wissend.
MM's Gesicht leuchtet auf. "Du sagst es, Helena! Genau das erzähle ich Armin und Marlen täglich, aber mir glaubt ja keiner."
Sie lacht. "Naja. Am Ende bleibt ihnen ja nichts anderes übrig, als mir zuzuhören."
Ich nicke. "Vielleicht solltest du sie mal zum BWL-Kurs anmelden?" schlage ich gut gelaunt vor.
"Ach... Helena. Wenn das so einfach wäre." sie seufzt. "Ich muss mich damit abfinden. Ich habe einen Träumer großgezogen, der für seine Pferde lebt und eine Frau geheiratet hat, die besser mit Servietten als mit Zahlen umgehen kann. Aber so ist das eben."
Dazu kann ich nicht viel sagen, denn so gut kenne ich die Geschäftsabläufe ja noch nicht.
Klar ist, dass MM die unangefochtene Chefin im Haus ist.
Zum Glück erwartet meine Großmutter auch keine Antwort, denn sie hat schon eine neue Idee.
"Sag mal Helena, du als angehende Wirtschaftsexpertin, für dich ist das doch vielleicht interessant."
"Was denn?"
"Wir haben jeden Mittwoch ein Team-Meating. Alle Abteilungsleiter und eben wir, die Geschäftsführung. Eigentlich passiert da nicht viel spannendes, aber wenn du willst – heute Abend um neun im kleinen Konferenzraum?"
Ich spüre, wie ich ein kleines bisschen rot werde.
Wow.
Damit hätte ich nicht gerechnet. Das klingt ja, als wäre es ein richtig wichtiges Treffen.
"Klar!" sage ich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
Ich würde alles tun, um meiner Großmutter zu gefallen.
"Wunderbar." sie ist sichtlich zufrieden. "Ich hatte auch nichts anderes erwartet."
*
Charlie platzt fast, als ich um kurz vor zwölf zusammen mit ihren Eltern die Wohnung betrete.
Sie sitzt, in Jogginghose und einem verwaschenen Tokio-Hotel-Shirt im Wohnzimmer auf der Couch und stellt gerade den Fernseher aus, als wir durch die Tür kommen.
"Charlie!" ruft Armin überrascht.
"Du solltest doch schon längst im Bett sein! Morgen ist Schule!" sagt Marlen.
Wirklich autoritär klingt keiner von den beiden dabei - eher ein bisschen verschlafen.
Ihre Tochter ignoriert ihre Eltern komplett. "Warum darf Leni mit zum Meating und ich nicht?" ihre Stimme überschlägt sich fast.
Zum ersten Mal sehe ich sie ohne die dicke Make-Up-Schicht. Ihre Augen, von denen ich gestern noch dachte, sie wären grün, sind jetzt kleiner und braun und ihre Wangen leuchten rot vor Aufregung.
"Oma hat Leni eingeladen." erklärt Armin.
Ich fühle mich verpflichtet, ein freundliches Gefühl zu machen und stehen zu bleiben, obwohl mir das ganze ein bisschen unangenehm ist.
So wird das nie was mit Charlie und mir.
Dabei bin ich bis eben davon ausgegangen, dass sie definitiv zu denen gehört, die sich bei so einer Besprechung nur langweilen würden.
"Das ist so fies! Ich darf auch nie hin!" schreit Charlie und springt auf.
Armin und Marlen tauschen nur einen kurzen Blick, dann ist ihre Tochter schon an ihnen vorbei gerannt. Die Kinderzimmertür wird zugeschlagen.
Marlen seufzt. "Ich brauch eine Schmerztablette."
Schön.
So viel Harmonie und Frieden um diese Uhrzeit ist doch was wunderbares.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als meiner Cousine zu folgen, denn auch ich bin müde und um schlafen zu gehen, muss ich nun mal in das selbe Zimmer, wie sie.
Als ich den Raum betrete sitzt sie wiedermal mit dem Computer bewaffnet auf dem Bett.
Dieses Mal ingoriert sie mich allerdings nicht.
"Du musst mir alles erzählen." stellt sie fest.
Es ist definitiv keine Frage.
Ihre Augen sind fest auf mich gerichtet.
Aha.
Da ist aber jemand sehr neugierig auf den Geschäftsbericht und die Buchungspläne für die kommende Woche?
Ich überlege noch was ich sagen soll und wandere erst einmal durchs Zimmer zu meiner Ecke.
Als ich auf meinem Bett platz genommen habe und aus den Ballerinas schlüpfe, habe ich beschlossen, dass ich wohl besser tue, was Charlie sagt. Vielleicht ist das ja die etwas andere Variante des vielzitierten Anfangs einer wunderbaren Freundschaft.
Schaden kann es jedenfalls nicht.
"Was willst du denn wissen?" frage ich freundlich. Am Freitag steht der spanische Abend an, nächste Woche eine Weinprobe und am Sonntag folgt der fünfundsechzigste Geburtstag des ehrenwerten Theodor Oswald, der nun doch den Lachs bevorzugt.
Alles Dinge, die eine siebzehnjährige im Fan-T-Shirt sicher brennend interessieren.
Charlie räuspert sich. Dann beugt sie sich ein bisschen vor und senkt die Stimme: "War Nick da?"
Echt jetzt?
Der schon wieder?
Du meine Güte!
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen.
Das ist es also.
Darum geht's.
Ich erinnere mich an das, was Sonja erzählt hat und es fällt wirklich nicht schwer, eins und eins zusammen zu zählen.
Charlie steht auf Nick, den Reitlehrer.
Großartig.
"Ja, klar war er da." sage ich und muss mich wirklich zusammenreisen.
Charlie nickt.
Weil Nick als Reitlehrer den Stall mehr oder weniger leitet muss er an jeder der Besprechungen teilnehmen.
Gefreut hat ihn das ganz offensichtlich heute nicht, denn die meiste Zeit hing er missmutig, den Cowboyhut ins Gesicht gezogen, in seinem Stuhl und hat auf sein Handy gestarrt.
Ein bisschen unhöflich, aber so richtig übel nehmen konnte ich es ihm nicht.
Die Reitschule oder die Pferde sind heute nicht einmal erwähnt worden.
"Und?" fragt Charlie leise.
"Und?" wiederhole ich, weil ich keine Ahnung habe, was sie hören will.
Sie seufzt. "Das hat keinen Sinn mit dir." brummt sie dann missmutig und verdreht die Augen.
Sie schlägt die Bettdecke zurück und tastet nach dem Lichtschalter, noch bevor ich mich ganz umgezogen habe.
"Gute Nacht." höre ich sie noch murmeln, dann ist es stockdunkel und ich stolpere zu meinem Bett.
Gute Nacht.
Wow.
Ein kleiner Schritt für Charlie, ein großer für unser Zusammenleben.
*
Mit der Zeit habe ich ein kleines bisschen Routine.
Aufstehen, anziehen, eincremen und los geht's. Heute gehe ich tatsächlich schwimmen. Was soll's.
Das Wasser ist klar und kühl und nachdem ich ein paar Runden gedreht habe, schlendere ich zurück ins Haupthaus, um duschen zu gehen.
Tag vier auf dem Hof und ich fühle mich zumindest nicht mehr total fehl am Platz.
Gerade als ich mich mit Wattepads und Nagellackflasche im Esszimmer nieder lasse um meine Zehennägel auf Vordermann zu bringen, betritt Marlen die Wohnung.
Sie macht ein ziemlich gequältes Gesicht und rauscht erstmal an mir vorbei ins Badezimmer.
Ein paar Minuten später kommt sie zurück.
"Na, Leni?" ein unverfängliches, gespieltes Lächeln.
"Alles super." behaupte ich und tupfe Nagellackentferner auf das Wattepad, um mein Werk zu korrigieren.
Ich bin nicht besonders begabt in sowas, aber schließlich laufe ich hier den halben Tag in Sandalen oder Flip-Flops herum, und da sollten die Füße wenigstens halbwegs gepflegt aussehen.
Mama wäre sicher total stolz auf mich und ich finde, altrosa steht meinen Zehen ganz gut.
"Das ist schön." seufzt Marlen. Sie tigert ziellos durch die Küche, wischt hier ein imaginäres Staubkorn weg, öffnet den leeren Kühlschrank nur um ihn wieder zu schließen und kommt dann zurück zu mir an den Küchentisch.
"Leni, du weißt, dass Charlie es nicht böse meint, oder?" fragt sie dann plötzlich.
Ohje.
Kommt jetzt der Part, wo ich meine Tante trösten muss, damit sie nicht weiter unter der Tatsache leidet, ein undankbares Biest großgezogen zu haben?
Ich fürchte, das wäre eher was für Frau Kallwass – ich bin total schlecht im Aufmuntern und Trösten von Erwachsenen.
"Das ist schon okay." sage ich schnell und lächele, um meine Behauptung noch ein bisschen zu betonen.
Sie schüttelt den Kopf. "Naja. Vielleicht wird es ja irgendwann besser."
ich nicke eifrig. "Ich tu mein bestes." erkläre ich, wieder einmal.
Sie lächelt schwach. "Das ist lieb von dir."
Klingt allerdings nicht gerade so, als wäre sie zuversichtlich.
Ich überlege gerade, was ich sagen könnte um Tante Marlen davon abzuhalten, ihr Kind noch mehr zu hassen, als die Wohnungstür erneut geöffnet wird.
Wenn man vom Teufel – im gewagtesten Minirock, den ich je gesehen habe – spricht.
Charlie schleudert ihre Umhängetasche, in der sich außer Handy und iPod sowieso nichts befindet, quer durch den Flur.
"Hi."
Marlen strafft die Schultern.
Auf in den Kampf.
"Hallo Charlie! Ist die Schule schon aus?"
Charlie bleibt im Flur stehen und lugt durch die Tür in die Küche.
"Mathe ist ausgefallen." erklärt sie.
Ich bin mir fast sicher, dass dem nicht so ist, aber es ist nicht meine Aufgabe, dass auch zu sagen.
Ich glaube sowieso, dass Marlen selbst ganz gut weiß, was Sache ist.
Sie kräuselt die Stirn. "Achso. Willst du was essen?" fragt sie dann.
Charlie macht ein angeekeltes Gesicht. "Nee. Ich ess' nachher unten was."
"In Ordnung. Und sonst?"
Charlie und Marlen schauen sich an.
Offensichtlich haben die beiden sich genauso viel zu sagen, wie meine Cousine und ich eben auch. Nämlich gar nichts.
"Wo ist Bella?" erkundige ich mich freundlich.
Charlie sieht mich an. "Nicht da."
Aha.
Schöne Antwort.
Vielleicht haben sie sich ja, pünktlich zu den anstehenden Sommerferien, verstritten.
"Und was machst du heute so? Hast du Hausaufgaben?" will Marlen wissen.
Diese Art der Inquisition kenne ich von zu Hause. Ich kann gut nachvollziehen, wieso Charlie missmutig das Gesicht verzieht.
Leider weiß ich nicht, wie ich ihr helfen könnte.
Da muss man wohl durch, wenn man siebzehn und noch schulpflichtig ist.
"Mum!" Charlie verdreht die Augen und ihre Stimme wird gleich eine ganze Oktave höher. Immer, wenn sie sich ärgert, fängt sie an zu quietschen. "Wir haben nur noch 'ne Woche Schule! Da gibt's keine Hausaufgaben mehr! Die Zeugnisse sind eh schon gemacht..."
"Aha." meint Marlen. "Darauf bin ich ja auch mal gespant."
Charlie stöhnt hörbar auf.
Die Stimmung wird immer besser.
Unauffällig schraube ich mein Nagellackfläschchen zu und mache mich bereit, die Szene zu verlassen.
Das hier ist definitiv nicht meine Baustelle.
Charlie kommt mir zuvor.
"Ich will rüber zum See." sagt sie und sieht mich unverwandt an.
Schön für sie.
"Aber bleib weg vom Zeltlager. Anne kriegt sonst die Krise." folgt, wie üblich, direkt eine Warnung.
Ein simples: "Viel Spaß!" hätte Charlie sicher mehr gefreut.
Aber Marlen ist eben eine alte Meckerliese.
Charlie schaut noch immer zu mir rüber, und ich habe das Gefühl, dass sie erwartet, dass ich was sage.
Wenn ich nur wüsste, was sie hören will?!
"Kommst du mit?" fragt sie schließlich und ich bin baff.
Wow.
Das kam jetzt etwas unerwartet.
Marlen geht es wohl genauso.
In meinem Kopf rattern die Gedanken.
Wer weiß, was Charlie vor hat.
Eigentlich hatte ich mit Sonja ausgemacht, ihr heute Nachmittag beim Tapas-Testessen für morgen Abend zu helfen, aber auf der anderen Seite...
"Ich muss noch..." setze ich an, aber meine Tante unterbricht mich direkt.
"Schon okay, Leni. Ich sage Sonja Bescheid." ihre Augen funkeln verdächtig.
Damit habe ich den Nachmittag frei.
Und Charlie eine Begleitung für ihren Badeausflug.
*
Der alte Holzsteg, der früher, bevor MM den Strand hat anlegen lassen, der einzige Zugang zum See war, liegt ein ganzes Stück vom Hotel entfernt an der Waldseite.
Wir kommen am Nebengebäude vorbei, wo ein paar mir unbekannte Blaue im Schatten sitzen und Karten spielen.
Sie beachten uns gar nicht, und weil Charlie nicht mal daran denkt, zu grüßen, tue ich es eben auch nicht.
Das gute Benehmen unserer Großmutter hat auf meine Cousine leider so gar nicht abgefärbt.
Unser Ziel ist ein kleiner Hügel hinter dem alten Steg, von dem aus man eine gute Sicht auf das ganze Gelände hat.
Vor uns plätschert friedlich eine Entenfamilie im Wasser und wenige Meter hinter uns beginnt ein Ausläufer des Walds.
Man sieht das kleine Häuschen, dass zum höher gelegenen Golfplatz führt, den Park in einiger Entfernung, und, etwas näher, den Reitstall.
Charlies Augen wandern immer wieder hinüber zur Reithalle.
Ich ahne, weshalb sie sich ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hat.
Heute ist Donnerstag und ich weiß, dass Donnerstag nachmittags die Ausritte in Kleingruppen, die Nick seinen erfahreneren Schülern anbietet, stattfinden.
Wir befinden uns also auf Beobachtungsposition.
"Kannst du reiten?" frage ich, nachdem wir eine Weile einfach nur in der Sonnen gesessen und zum Stall rüber geschaut haben.
"Ein bisschen." sie zuckt mit den Achseln. Begeisterung sieht anders aus. "Du?"
"Nicht mal ein bisschen." gestehe ich. "Pferde sind nicht so mein Fall, wenn ich ehrlich bin."
"Hmm."
Soweit so gut.
Wir unterhalten uns – oder so ähnlich.
"Ich wollte es ja lernen, aber Dad meint, ich bin zu ungeduldig. Und er hat mir immer nur die langweiligen Pferde gegeben." erklärt sie.
Ich tue so, als wäre das total logisch und nicke verständnisvoll.
"Du könntest doch bei Nick Reitstunden nehmen." schlage ich dann vor.
Charlie dreht sich zu mir um.
Ertappt.
Hihi.
Ich grinse unschuldig und lasse meinen Blick über die Landschaft gleiten. Innerlich bin ich ein bisschen gespannt auf Charlies Antwort.
"Das wollte ich ja, aber Mum will das nicht. Meine Eltern sagen immer, Nick hätte auch so viel zu tun, aber das stimmt nicht."
"Das ist natürlich blöd." beeile ich mich, mein Mitgefühl kundzutun. Läuft doch gar nicht schlecht, oder?
Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob ich zu Therapiezwecken hier sitze oder ob Charlie sich tatsächlich mit mir unterhalten will – aber zumindest reden wir miteinander!
"Gibts sonst keinen im Stall, der Reiten kann?" frage ich sie dann.
Erneutes Achselzucken. "Doch, klar. Die können alle reiten, aber..." sie scheint nachzudenken. "...aber Nick ist einzige mit so einem Trainer-Schein. Dad sagt, dass sei wichtig. Qualität und so."
Aha und so.
"Letztes Jahr durften die Aushilfen auch reiten. Nick hat ihnen abends Stunden gegeben, aber nur denen, die er mochte..." erzählt sie dann.
Ihre Stimme klingt ein bisschen bitter.
Da ist wohl jemand eifersüchtig auf die Kolleginnen aus dem Nebengebäude!
"Ach..." sage ich und weiß eigentlich gar nicht weiter.
Zum Glück muss ich auch nichts mehr sagen, denn Charlies Aufmerksamkeit gehört jetzt ganz dem Stall und dem, was dort passiert.
Nick kommt heraus, gefolgt von einer kleinen Kolonne Reitschüler, die jeder ein Pferd hinter sich herführen.
Showdown.
Jetzt wird’s also spannend.
Die Gruppe verteilt sich auf die Putzplätze im Hof und Nick wandert hin und her um überall zu helfen.
Ich sehe auch einen anderen Kerl im blauen Team-Shirt, der ebenfalls ein Pferd bringt und sich ans Putzen macht.
Erst glaube ich, dass es Basti ist, der Hüne vor dem ich neulich geflüchtet bin, aber ich glaube, der da drüben ist kleiner.
Es dauert nur wenige Minuten, bis das Pferd, dass er geputzt hat, im frischen Glanz erstrahlt und der Fremde wieder davonzieht, um den Sattel zu holen.
Nicks Reitschüler sind nicht ganz so geschickt.
Charlie kichert schadenfroh, als es einer jungen Frau mit blondem Pferdeschwanz zum wiederholten Mal nicht gelingt, dass Pferd dazu zu bewegen, seinen Huf zum saubermachen herauszurücken.
Als Nick ihr zu Hilfe eilt, und sich charmant hinter die blonde Schönheit stellt, vergeht Charlie das Lachen ganz schnell wieder.
Ohje.
Muss Liebe wehtun.
Wir beobachten stumm, wie die Pferde eines nach dem anderen gesattelt und aufgetrenst werden und Nick sich schließlich, als alle auf den Pferderücken verteilt sind, ebenfalls in den Sattel schwingt.
Der unvermeidbare Cowboyhut zeichnet ihn als Anführer der Reisegruppe aus.
"Wo reiten sie denn hin?" frage ich, weil die Stille langsam wirklich anstrengend wird.
Charlie zuckt mal wieder mit den Achseln. "Da rüber."
Aha.
Präzise Antwort.
Nick führt seine Gruppe am Wald entlang davon. Charlie schaut ihnen hinterher, bis sie hinter den Hügeln verschwunden sind und ich widme mich wieder dem Rest der schönen Landschaft.
Jetzt, wo Nick weg ist, muss ich mir dringend ein neues Gesprächsthema einfallen lassen.
Tapas für alle!
Sonja hat sich mal wieder selbst übertroffen mit dem, was sie für den spanischen Spezial-Freitag gezaubert hat.
Pilar und ich haben uns aber auch Mühe gegeben.
Der Speisesaal glänzt in den Nationalfarben, im Hintergrund dudelt landestypische Musik und die Tische stehen in kleinen Gruppen zusammen damit Platz zum Tanzen ist.
Pilar soll nachher einen Grundkurs in Sachen Tango zum besten geben.
Achso.
Pilar.
Wo ist die eigentlich schon wieder?
Pilar Martinez ist im Rahmen von einem Work-and-Travel-Programm hier und hilft den ganzen Sommer über an allen Ecken und Enden des Betriebs aus.
Weil ich ja gestern mit Charlie unterwegs war, haben wir uns erst heute – kurz vor knapp – in der Küche kennen gelernt.
Pilar ist wirklich toll.
Zum einen sieht sie toll aus: Groß und braun gebrannt, mit langen, dunkelbraunen Locken und riesigen, braunen Mandelaugen. Sie hat eine klasse Figur und vor allem mindestens zehn Mal so viel Oberweite, wie ich. Das rote Kleid, dass sie extra für diesen Anlass auf ihrem Wanderrucksack gezaubert hat ist ein echter Hingucker.
Neben Pilar kann jede normale Frau durchaus Komplexe entwickeln.
Zum Glück ist Pilar aber auch total nett. Sie ist ein bisschen aufgeregt wegen heute Abend, aber sie strahlt die ganze Zeit und macht Witze auf Spanisch, von denen ich leider nicht alle verstehe.
Als sie kapiert hat, dass ich tatsächlich ein bisschen was von ihrer Muttersprache drauf habe, ist sie mir direkt um den Hals gefallen.
MM hatte Recht: Pilar ist super.
Und verschwunden.
Seit fünfzehn Minuten laufe ich zwischen Küche und Speisesaal hin und her aber meine Kollegin ist wie vom Erdboden verschluckt.
Im Eingangsbereich warten bereits die ersten Gäste auf das Event.
Weil das Hotel noch nicht so voll ist wie während der Hochsaison hat MM auch Eintrittskarten an die Leute aus den benachbarten Orten verkauft.
Und für den bayrischen Vorstadt-Bewohner ist so ein Abend schon ein echtes Highlight.
Ich rücke noch einmal die Tonplatten mit den kalten Tapas zurecht und laufe dann wieder zurück in die Küche.
"Und? Kann's los gehen?" ruft Sonja mir zu.
"Muss ja!" antworte ich.
Es ist zehn nach acht, wir haben schon ein paar Minuten Verspätung.
Anne, die offiziell mit der Veranstaltung betraut ist und seit dem frühen Nachmittag mit einer mitternachtsblauen Arbeitsmappe durchs Hotel rennt, drängelt schon.
"Na dann!" Sonja lacht.
Stress bewirkt bei ihr scheinbar nichts anderes als gute Laune.
Ich lächle ihr zu und spüre, dass mein Herz ein bisschen schneller klopft.
Wenn Pilar nicht bald auftaucht bleibt es an mir hängen, die Gäste im spanischen Original-Ton zu begrüßen.
Eigentlich sollte Pilar das machen und mein Job wäre es dann gewesen, sie zu übersetzen.
Anne kommt gerade in den Saal, als ich die Küche verlasse.
"Seid ihr jetzt endlich fertig?" schimpft sie.
Anne ist die kleine, schwarzhaarige Furie, die mich am Montag vom Ferienlager-Platz verscheucht hat.
Wenn sie nicht gerade dort ist, um das Lager, dass Anfang August beginnt vorzubereiten, ist sie die selbst ernannte Event-Managerin des Hauses.
Und eine ziemlich strenge noch dazu.
"Alles gut." sage ich schnell.
Tief durchatmen, Leni.
Pilar wird schon auftauchen.
Erstmal müssen die Leute rein.
Anne gibt den beiden Uniformierten an der Tür ein Zeichen und im nächsten Moment muss ich mich zwischen den Buffettischen in Sicherheit bringen, weil die Gäste alle auf einmal in den Saal wollen.
Schwarmintelligenz ist was Schönes.
Anne rennt nervös zwischen den Leuten hin und her und kümmert sich darum, dass alle ihre Plätze finden.
Der Abend soll jeden Moment beginnen – und zwar mit Pilar.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als sie nochmal suchen zu gehen.
Ein Blick ins Foyer verrät mir, dass sie nicht hier ist, also laufe ich zurück in die Küche.
Annes Blick verrät nichts gutes.
Langsam aber sicher werde ich nervös.
"Sonja, wo ist Pilar denn hin?" frage ich sie und ernte nur einen fragenden Blick.
"Da raus!" informiert mich Fernando, der Beikoch.
Ich folge seinem ausgestreckten Zeigefinger durch die Nebentür und gelange nach draußen.
Es dämmert schon. Meine Augen benötigen einen kurzen Moment, bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt und habe – und dann sehe ich sie.
Endlich!
"Pilar!"
Sie steht nur wenige Meter entfernt von der Tür und pustet Zigarettenrauch in die kühle Abendluft.
Ich hätte gar nicht gedacht, dass sie raucht!
Aber das ist jetzt egal.
Als sie mich sieht landet die Kippe auf dem Boden.
"Oh! Leni... Geht es schon e-los?" fragt sie dann.
Ich nicke heftig.
"Wo warst du denn?"
"Luft essen."
"Luft schnappen?"
"Genau..."
Ich werde ungeduldig. Ich wusste gar nicht, dass ich auch so einen Tonfall draufhabe.
"Komm schon, Pilar! Anne wartet!"
Langsam setzt sie sich in Bewegung.
Die energischen Bewegungen vom Nachmittag sind verschwunden.
Was ist denn jetzt kaputt?
Ich tippe auf Lampenfieber und schiebe sie zurück in die Küche.
Annes Reaktion, wenn wir nicht demnächst im Saal erscheinen und den Abend eröffnen ist mit Sicherheit schlimmer als ein bisschen Nervenflattern.
"Ach du Schande! Kindchen! Wie siehst du denn aus!" Sonja rauscht quer durch die Küche, auf uns zu.
Klappernd landen ein paar Metalltöpfe auf dem Fliesenboden.
Sonjas entsetzter Blick gilt nicht mir, sondern Pilar, die hinter mir in der geöffneten Tür steht.
Ich drehe mich um und erschrecke selbst ein bisschen.
Pilars Gesicht, dass vor einer halben Stunde noch hübsch geschminkt war, ist komplett verschmiert. Der leuchtend rote Lippenstift ist spurlos von ihren schönen Lippen verschwunden.
Auf ihrer Wange funkelt eine einzelne Träne.
Sie hat geweint!
Du meine Güte.
Sofort packt mich das schlechte Gewissen. "Pilar! Was hast du denn!"
Wie immer, wenn jemand weint, bin ich total überfordert. Ich kenne das einfach nicht. Da wo ich herkomme gibt's höchstens mal Tränen, wenn ein besonders trauriger Film im Fernsehen läuft!
Sie senkt den Kopf und zuckt nur mit den Achseln.
"Kind! Ist was passiert? Hast du dich gestritten?" will Sonja wissen.
Pilar schüttelt nur den Kopf.
Die Küchentür wird geräuschvoll geöffnet und Anne stürmt herein.
"Leni! Wo ist sie denn... Leni?" sie erblickt uns und kommt auf uns zugelaufen.
Ihre Wangen sind mindestens so rot wie Pilars Kleid.
"Was ist hier denn los?" blafft sie und sieht von Sonja, zu Pilar und wieder zu mir.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Pilar offensichtlich auch nicht.
Zum Glück nimmt uns Sonja diese Aufgabe unverzüglich ab. "Siehst du doch!" schimpft sie im selben Tonfall wie Anne. "Der Kleinen hier geht's nicht gut."
"Sie muss aber jetzt raus! Die Gäste warten! Soll ich selbst die Begrüßung machen oder was?"
"Zum Beispiel." brummt Sonja.
"Die Chefin will eine spanische Begrüßung für den spanischen Abend! Also los jetzt, Pilar!"
Sie greift nach dem Arm der jungen Frau, welche immer noch stumm auf den Boden starrt.
Sie ist eindeutig überfordert mit der Situation.
Wahrscheinlich versteht sie nur die Hälfte von dem, was Anne und Sonja sich gerade an den Kopf werfen.
Sie tut mir unglaublich leid.
Ich will irgendwas tun, um ihr zu helfen.
Noch bevor ich realisieren kann, was passiert höre ich mich sagen: "Ich kann das machen. Ich spreche spanisch."
Anne zieht eine Augenbraue nach oben. "Echt?"
"Ja..." mir wird blitzartig klar, was ich mir da gerade eingebrockt habe.
Ausgerechnet ich, die schon weiche Knie kriegt, wenn sie einen Aufsatz vor der Klasse vorlesen muss, hat sich gerade bereit erklärt, vor einem überfüllten Festsaal eine Ansprache auf spanisch zu halten.
Aber der Blick, den Pilar mir zuwirft, ist es definitiv wert.
Ich straffe meine Schultern. "Das ist kein Problem." behaupte ich.
Anne sieht verwirrt aus. "Na, wenn's sein muss."
"Na siehst du." meint Sonja triumphierend. "Kein Grund, in meiner Küche so ein Theater zu veranstalten!"
Anne lässt Pilars Arm los und packt stattdessen mich bei den Schulter.
Bevor ich weiß, wie mir geschieht, stehe ich vor versammelter Mannschaft auf der Bühne.
Die Feier zieht sich bis in die frühen Morgenstunden.
Pilar verschwindet irgendwann wieder und Anne bekämpft ihren Stress an der Cocktailbar, so dass ich schließlich zu den wenigen gehöre, die gegen halb vier am Morgen die letzten Reste der Party wegräumen.
Sonja klopft mir auf die Schulter.
"Nich' schlecht, Kleine! Haste gut gemacht mit der Spanierin..."
Blieb mir ja nichts anderes übrig.
Ich habe die Gäste begrüßt, die Tapas vorgestellt und den ganzen Abend die Original-Spanierin gegeben. Zum Glück durfte ich auf die Tango-Einlage verzichten.
Nick war auch da, aber nur kurz.
Er hat zugesehen, wie ich meinen Auftritt hatte und ist dann, mit einem Mädchen im grünen Abendkleid wieder abgezogen.
Müde schleppe ich mich nach oben. Charlie, die den Abend mit Bella im Neustedter Kino verbracht hat, liegt längst unter ihrer Poster-Parade und schläft friedlich.
Ich schlüpfe aus meiner Jeans, die Strickjacke landet auf dem Boden, und schlafe ein, bevor ich mich richtig zugedeckt habe.
Der nächste Morgen kommt überraschend früh.
"He, Leni! Aufstehen!" Charlie zerrt an meiner Bettdecke.
Mit verquollenen Augen blinzle ich ihr entgegen.
Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so lange wach wie heute Nacht.
"Wie spät ist des?" frage ich mit rauer Stimme.
Du meine Güte.
Gruselig!
Charlie grinst. "Halb elf. Du hast verschlafen..."
"Verschlafen?"
"Deine Eltern sind schon da!"
Mit einem Mal sitze ich aufrecht im Bett.
Meine Eltern!
Heute ist ja Samstag!
Das hatte ich ja total vergessen.
Eigentlich wollte ich ihnen doch heute mein Leid klagen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht ein Einsehen haben und mich gleich wieder mitnehmen.
Nicht, weil ich nicht erwachsen genug war um hier zu bleiben, sondern weil Charlie wirklich eine Zumutung ist und MM mich eigentlich gar nicht gebrauchen kann.
Die Zumutung steht immer noch neben meinem Bett und grinst.
Kaum ist Wochenende schon bessert sich ihre Laune.
Immerhin.
Ich kämpfe mich aus den Federn und krame auf dem Boden nach meinen Klamotten.
"Wo sind sie denn?"
"Wer?"
"Meine Eltern!"
"Beim Frühstück, mit Oma. Sie warten schon."
Na wunderbar.
Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Mama mit bangem Gesicht und Sorgenfalte auf der Stirn im Restaurant sitzt und meine Großmutter still verflucht, weil sie mir das alles angetan hat.
Ich angele mir ein neues T-Shirt aus der Kommode, binde meine Haare zusammen und mache mich auf den Weg nach unten.
Meine Cousine folgt mir auf dem Fuße.
Mit einem Mal bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich wirklich schon nach Hause will.
Eigentlich ist Charlie gar nicht so schlimm – und das gestern war zwar ein bisschen chaotisch aber eigentlich hat es mir Spaß gemacht.
Außerdem... naja.
Sonja ist lustig und MM mag mich und Pilar ist nett und...
"Leni! Da bis du ja!" Mama springt vom Tisch aus und das Geschirr klappert.
Sie umarmt mich so stürmisch, dass mir fast die Luft wegbleibt.
Das kenne ich gar nicht von ihr.
Normalerweise sorgt sie sich still und heimlich.
Paps murmelt was von "Guten Morgen" und wendet sich dann wieder an Armin. Der Golfplatz ist wohl spannender als meine Wenigkeit.
Meine Augen schmerzen im grellen Sonnenlicht und ich muss ein Gähnen unterdrücken.
Mama und MM schmunzeln.
"Unsere Helena hat gestern ganz schön was geleistet." erzählt meine Großmutter auch prompt.
Mama hebt eine Augenbraue. "So?"
Ihr Blick spricht Bände.
"Ja! Sie war der Star auf unserem spanischen Abend! Alle sind ganz begeistert von ihr..."
Macht grinst. "Stimmt das, Leni?" fragt mir.
Sie macht sich lustig über mich und meinen Hilferuf. War ja klar, dass eigentlich alles gar nicht so schlimm ist.
Ich lächle und schnappe mir ein Brötchen aus dem Korb.
Was soll ich dazu sagen?
Ich würde lieber losgehen und Pilar suchen, um zu erfahren, was los war.
Aber das geht jetzt nicht.
Meine Familie ist extra wegen mir hier raus gefahren, da muss ich mich auch um sie kümmern. Naja.
Pilar bleibt ja noch ein paar Tage hier.
So wie ich - das steht fest.
"Das heißt, es gefällt dir hier ganz gut?" fragt Paps schließlich.
Ich nicke.
Mama seufzt. "Und wir dachten schon wir dürften unser Nesthäkchen gleich wieder mitnehmen..."
MM lacht. "Ach, ich habe dir doch gesagt, dass sie perfekt hier her passt. Alles nur eine Frage der Zeit."
"Wunderbar." sagt Mama und ist plötzlich doch ein bisschen enttäuscht, weil ich so gut ohne sie klar komme.
Paps legt ihr einen Arm um die Schulter. Die Sorgenfalte taucht wieder auf der Stirn meiner Mutter auf.
Ratlos sieht sie vom einen zum anderen.
Schließlich beschließt sie wohl, dass es keinen Sinn macht, weiter darauf zu hoffen, dass ich mich unwohl fühle.
Sie widmet sich Charlie.
"Erzähl mal, wie geht's dir so?"
Charlie sitzt mit vollen Backen neben mir und schaut überrascht hoch. "Hmm" macht sie und nickt.
Etikette ist einfach nicht ihre Stärke.
Nachdem nun feststeht, dass ich bis zum Ende der Saison bleibe und auch Mama sich endgültig davon überzeugt hat, dass es mir hier wirklich gut geht, lasse ich mich dazu überreden, meinen Eltern das Gelände zu zeigen.
Die anderen Erwachsenen müssen wieder an die Arbeit und Charlie murmelt was von "Bella", was wohl heißt, dass sie keine Lust mehr auf die Frühstücksidylle hat.
"So eine schöne Anlage!" sagt Mama immer wieder.
Wir spazieren am See entlang.
"Ist das der Golfplatz?" will Paps wissen.
Ich nicke. "Das ist der Golfplatz." Es ist neu für mich, dass ich es zur Abwechslung mal bin, die meinen Eltern was zeigen kann.
"Reichen deine Sachen denn auch aus? Hast du genug Klamotten dabei?" will Mama wissen.
Sie lässt einfach nicht locker.
"Mehr als genug. Vielleicht kaufe ich mir noch ein paar neue Sommerkleider." erkläre ich.
Mama bekommt große Augen und Paps zückt wortlos sein Portemonnaie.
Ich stecke das Geld in die Tasche und wir marschieren weiter.
"Schade, dass ich mein Golfbag nicht dabei habe..." bemerkt Paps.
"Ihr könnt ja wieder kommen!" schlage ich vor.
Mamas Miene hellt sich auf. "Das ist doch mal eine tolle Idee!"
"Ja, klar! Irgendein Zimmer kriegt MM sicher frei... und es gibt ein Golfturnier, in ein paar Wochen. Da könntest du mitspielen."
Paps nickt. "In der Tat."
"Ich rede gleich nachher mit deiner Tante." stimmt auch Mama zu.
Schön, wie leicht sie glücklich zu machen ist.
"Max kommt sicher auch gerne mit!" meint sie dann. Die Planungsphase beginnt. "Und seine Freundin auch, Meli."
Ich nicke.
Klar.
Max und Meli haben sich den meisten Spaß daran, ihre heiligen Semesterferien in einer Ferienanlage für Rentner, kleine Kinder und Wanderverrückte zu verbringen.
Aber was soll's.
Solange Mama glücklich ist.
"Das wird sicher schön! Hoffentlich hat Marlen noch ein Zimmer frei."
Ich versichere ihr dass sich das sicherlich einrichten lässt.
Wir sind ja Familie und Paps ist sicher bereit, den vollen Preis für die Hochsaison zu bezahlen.
Die Sache ist also beschlossen.
Wir spazieren am Ferienlager vorbei, wo Anne und ihr Kollege Tom gerade die nagelneue grüne Camp-Fahne in Position bringen.
Annes Gesichtsausdruck verrät, dass auch ihre Nacht nicht die längste war.
Aber immerhin verscheucht sie mich heute nicht direkt.
Mama ist richtig beeindruckt. "Das wird ganz toll! Dann machen wir alle zusammen Urlaub!"
"Klar."
"Wenn Leni nicht zu viel arbeiten muss." wirft Paps mit einem schiefen Grinsen ein. "Irgendjemand muss sich ja um die Partys kümmern."
"Ach, wenn wir kommen..." Mama lacht.
"Mal sehen." verspreche ich.
Noch glaube ich ja selber nicht daran, dass ich, nur wegen einem Abend im Rampenlicht, gleich zu einem festen Teammitglied werde.
Klar, das wäre schon cool - aber so schnell geht das nicht.
Auf dem Rückweg zum Haus begegnen wir Nick und Basti, die gerade aus dem Haupthaus kommen.
Nick winkt mir fröhlich zu und sogar Basti bringt ein dumpfes Grinsen zustande.
"Na, alles klar?" ruft Nick gut gelaunt und ich nicke.
Das sind die ersten Worte, die wir wechseln.
Wahrscheinlich kennt er nicht mal meinen Namen. Aber immerhin.
Mama guckt erstaunt. "Wer war das denn?" fragt sie aufgeregt.
Ich grinse cool. Muss sie ja nicht wissen, dass mein Herz grade einen Salto rückwärts gemacht hat.
"Die Reitlehrer. Nette Jungs."
Du meine Güte bin ich erwachsen!
*
Am Sonntag sind meine Eltern schließlich überzeugt davon, dass ich wirklich hier bleiben will.
Marlen und MM haben es sogar geschafft, einen der Bungalows für zwei Wochen freizuschaufeln, so dass meine Familie pünktlich zum Golfturnier wieder kommen kann.
Mama ist mit Marlen auf Besichtigungstour, Paps spielt Golf und ich verbringe den Vormittag bei Sonja in der Küche.
Langsam aber sicher habe ich den Dreh mit den Kartoffeln raus.
Als sie mich nicht mehr braucht, beschließe ich, dass es jetzt endlich an der Zeit ist, Pilar ausfindig zu machen.
Mir geht ihr demoliertes Gesicht vom Freitag einfach nicht aus dem Kopf.
Irgendeinen Grund muss es ja geben – und ich bin einfach zu neugierig.
Außerdem tut sie mir leid.
Sie ist so ein nettes Mädchen und ich glaube, dass es gar nicht so leicht für sie ist, in einem fremden Land zu arbeiten. Da ist Kummer doch quasi vorprogrammiert!
Bevor ich mich auf die Suche mache, will ich mich umziehen.
Es ist heiß draußen und ich fürchte, dass es nicht lange in der langen Jeans aushalten werde.
Ein sommerlicheres Outfit muss her.
Charlie sitzt auf dem Bett in ihrem Zimmer, das unvermeidliche Laptop auf dem Schoss.
"Was machst du?" will sie, offensichtlich gelangweilt von sich selbst und der ganzen Welt, wissen.
"Ich muss mich umziehen." erkläre ich freundlich und öffne die Kommode.
Seit unserem Ausflug zum Steg ist sie tatsächlich etwas freundlicher geworden.
Vielleicht es aber auch nur die Langeweile, die da spricht.
"Wieso?"
Ich krame eine halblange Jeans aus der Schublade und werfe sie aufs Bett.
"Damit ich rausgehen kann."
"Ausgehen?"
"Nein. Raus gehen. Ich will nach draußen."
"Wohin denn?"
Ich schlucke. Das geht sie eigentlich nichts an. Aber was solls.
Ist ja nur Charlie.
"Ich will Pilar besuchen."
"Die Spanierin?"
"Genau."
"Dafür musst du dich aber nicht schick machen!" Charlie verdreht die Augen.
Ich krame immernoch in meinen Schubladen. Es fehlt mir eindeutig an leichten Sachen. Pullover und Jeans habe ich mehr als genug. Mein Sommerkleid liegt nach intensiver Nutzung im Wäschekorb.
Paps Geld wird sicher nicht lange in meiner Tasche bleiben.
"Ich mache mich nicht schick. Es ist warm draußen." erkläre ich, ein bisschen genervt.
Charlie rutscht vom Bett und kommt zu mir herüber. "Was ist das denn?" fragt sie mit angeekeltem Gesichtsausdruck.
Ihr Finger deutet auf eine weiße Leinenhose in der obersten Schublade.
Eigentlich ein hübsches Stück, wie ich finde.
"Eine Hose."
"Das ist ja mal uncool. Hast du keine Hotpants?"
Nein, habe ich nicht.
Ich bin eben eher der praktische Typ.
Charlie seufzt. "Wir könnten mal shoppen gehen!" sagt sie.
Ich nicke.
Da hatten wir wohl den selben Gedanken. Aber nicht jetzt.
"Hast du deinen Führerschein schon? Du bist doch schon achtzehn!" ruft sie plötzlich.
Ich nicke. Klar. Allerdings muss ich im Moment noch auf Max' alten Fiesta zurückgreifen, wenn ich von der Fahrerlaubnis auch tatsächlich Gebrauch machen will.
"Cool..." Charlie bekommt große Augen.
"Wo kann man denn hier shoppen gehen?" ich schließe die Schublade wieder. Es ist sowieso hoffnungslos.
Wo ist denn dieser Zauberer, wenn man ihn mal braucht?
Während ich die abgeschnittene Jeans anziehe und ein ausgeleiertes Trägertop überwerfe, berichtet Charlie mir ausführlich von den begrenzten Shoppingmöglichkeiten in der Nähe.
Ziemlich ernüchternd.
"Aber wir könnten mal nach Graubach fahren!" schlägt Charlie dann mit glänzenden Augen vor.
Die Tatsache, dass ich einen Führerschein besitze macht mich wohl gleich noch etwas attraktiver für meine Cousine.
"Graubach? Ich dachte, die Stadt heißt Neustedt?" frage ich.
"Nee... Graubach ist viel cooler. Da gibts mehr Läden und so..."
"Okay." ich lächle.
"Und wo gehst du jetzt hin?" will sie wissen, als sie sieht, dass ich mich aufrichte.
Ich fürchte, sie langweilt sich wirklich.
Bella fehlt, eindeutig.
Da hilft auch der Posterabklatsch an der Wand nicht weiter.
"Zu Pilar, hab ich doch gesagt."
"Ins Seehaus?"
So nennt Charlie das Nebengebäude.
"Mal sehen. Ich weiß ja nicht, wo sie ist."
"Willst du nicht lieber mit mir einen Film schauen?"
Ich schüttele den Kopf.
Ohje.
Da habe ich es tatsächlich geschafft, Chefzicke Charlie zu enttäuschen.
Sie zieht eine Schnute. "Pilar ist doof." erklärt sie dann.
"Ich finde sie ganz nett."
"Sie ist total arrogant... nur weil sie älter ist! Udn sie redet immer so... effektiv!"
"Affektiert!" ich muss lachen. "Ich mag sie trotzdem."
"Hmm."
Damit ist die Unterhaltung beendet.
Charlie schmollt wieder und ich mache mich auf die Suche.
"Na siehste! Hab ich dir doch gesagt, dass sie auch anders kann!" Sonja klopft mir so heftig auf die Schulter, dass mir fast die Möhren aus der Hand fallen.
Selbst geerntet aus dem Gemüsegarten hinterm Haus.
Ich nicke. "Sie ist schon ganz okay."
Es geht, wieder einmal, um Charlie.
Kein Wunder. Seit zwei Stunden stehe ich mit Sonja in der Küche, zupfe Salat, und höre mir ihre Geschichten an. Irgendwann mussten wir ja wieder auf meine Cousine zu sprechen kommen.
"Hast du Pilar gesehen? Ich kann sie seit Freitag nicht finden!" frage ich schließlich.
Das ist es eigentlich, was mir schon den ganzen Abend auf dem Herzen liegt.
"Pilar? Die Spanierin?"
Ich nicke.
"Habt ihr sie gesehen?" ruft Sonja in die Küche hinein.
Allgemeines Schulterzucken.
"Die war gestern Abend unterwegs, glaub ich!" ruft jemand vom Spülbecken.
"Na siehste. Der geht's gut. Die hatte 'nen Durchhänger, das hat jeder mal. Vielleicht hat sie sich gestritten oder so!" Sonja lacht.
"Letzte Runde!" ruft Maike, die Chefkellnerin in die Küche.
"Endlich!" stöhnt Fernando.
Sonja lacht. "Na, das wird ja 'ne lustige Saison, wenn du dich jetzt schon so anstellst!"
"Ich kann keine Schokotarte mehr sehen!" entgegnet Fernando.
Ich muss lachen.
Ich mag die Küchencrew. Und sie mögen mich. Sonja lobt mich mittlerweile sogar ab und zu.
"Ich glaube, wenn du mir die Auberginen für morgen noch sauber machst, dann bist du auch fertig für heute." meint sie.
Ich nicke.
Feierabend. Auch nicht schlecht.
Mein Rücken schmerzt ein bisschen, vom langen Stehen und ich bin immernoch ein bisschen müde vom Wochenende.
In Windeseile wasche und schneide ich die frischen Aufberginen und setzte die Scheiben in die Metallform.
"Sehr hübsch." kommentiert Fernando mit einem Augenzwinkern.
"Nur für dich!" entgegne ich.
"He!" ruft Sonja und grinst. "In meiner Küche wird nicht geflirtet!"
"Schon gut, Chefin..." brummt Fernando.
Ich hänge das Geschirrtuch, dass ich mir mit einer Ecke in die Tasche gestopft habe ordentlich auf die Wäscheleine und mache meinen kleinen Arbeitsplatz sauber.
"Super. Danke, Leni!" ruft Sonja zum Abschied.
Ich winke den anderen und verlasse die Küche durch die Hintertür.
Die frische, klare Luft tut gut.
Es ist schon spät, und im Park wimmelt es nur so von eng umschlungenen Pärchen.
Wie kitschig!
Da könnte frau ja fast neidisch werden.
Eigentlich bin ich schon ziemlich müde und vor allem kaputt von der langen Schicht in der Küche, aber ich habe trotzdem Lust, noch eine kleine Runde zu drehen.
Es ist einfach zu schön hier draußen.
Im Zimmer wartet sowieso nur Charlie und ich kann mir vorstellen, dass ihre Laune, angesichts der Tatsache, dass sie morgen wieder in die Schule muss, nicht mehr ganz so gut ist, wie die letzten Tage.
Insgeheim hoffe ich ja, heute Pilar über den Weg zu laufen.
Oder, vielleicht dem gutaussehenden Nick?
Ich strecke mich und meine müden Knochen und gehe los.
Vom Seeufer dringt gedämpftes Gekicher an mein Ohr.
Ich glaube, dass sie am Seehaus wieder ein Lagerfeuer gemacht haben.
Ob ich da mal vorbei sehe?
Interessieren würde es mich ja schon.
Vielleicht ist Pilar ja heute da?
Gestern, als ich nach ihr sehen wollte, habe ich eine Abfuhr gekriegt.
Keine Gäste erlaubt – das hat mir ein ziemlich unfreundlicher Kerl mit Föhnwelle klar gemacht, kaum dass ich mich dem Gebäude genähert habe.
Dass ich eigentlich kein Gast bin sondern zur Geschäftsführung gehöre, habe ich dann lieber für mich behalten. Ich habe in der Küche schon mitbekommen, dass die "normalen" Angestellten nicht immer gut auf meine Verwandten zu sprechen sind.
MM ist zwar eine faire Chefin, aber trotzdem: Chef bleibt Chef. Mit denen freundet man sich eben nicht an.
Ich bin also wieder abgezogen.
Pilar war sowieso nirgends zu sehen.
Ich bemerke erst, wohin meine Schritte mich geführt haben, als ich aufsehe und die Reithalle nur noch ein paar Meter von mir entfernt ist.
Wieder einmal brennt noch Licht.
Wahrscheinlich wieder Nick beim Privattraining.
Ich mache mich groß, um über die Bande spähen zu können.
Näher ran zu gehen, traue ich mich nicht.
Verdammt, bin ich schüchtern!
Aber ich will auch nicht, dass er mich für eine Spannerin hält oder so.
Vorsichtig, wie ein Indianer auf der Pirsch gehe ich an der Halle vorbei und positioniere mich weiter oben am Hügel, von dem aus Charlie und ich schon neulich Nick beobachtet haben.
Eigentlich lächerlich - aber was solls. Sieht ja keiner.
Ich weiß nicht warum, aber meine Neugier ist geweckt.
Ich will nochmal sehen, was ich letzte Woche vom Wohnzimmer aus beobachtet habe.
Ich spähe in die Halle und werde erst mal enttäuscht.
Im ersten Moment sehe ich nichts, außer dem Hallenboden und etwas, das von weitem aussieht wie eins von diesen orangefarbenen Verkehrshütchen, mit denen sie immer die Straße absperren.
Hmm.
War wohl nichts.
Nicks Training scheint schon vorbei zu sein.
Schade eigentlich.
Dann, wie aus dem nichts, rast ein Schatten durch mein Sichtfeld. In atemberaubenden Tempo durchquert das Pferd samt Reiter die Halle, einmal längs, dann von der anderen noch einmal.
Wow.
Und wieder sieht es so aus, als säße der Reiter total entspannt im Sattel.
Der Pferd schießt wieder durch die Halle und ich merke, dass ich tatsächlich den Atem angehalten habe.
Irgendwie war mir nicht klar, dass ein Pferd so schnell sein kann!
Dann, mitten in der Bewegung stoppt das Pferd, setzt sich dabei fast auf die Hinterbeine und kommt innerhalb von ein paar hundertstel Sekunden zum Stehen.
Der Reiter richtet sich geschickt auf, das Pferd macht eine halbe Umdrehung um sich selbst und schießt direkt wieder los, dieses Mal in die andere Richtung.
Ich bin beeindruckt.
Selbst wenn ich wollte, es gelingt mir nicht, wegzusehen.
Sowas habe ich wirklich noch nie gesehen.
Nick lenkt das Pferd im Galopp durch die Halle, stoppt es immer wieder, vollführt Pirouetten in Höchstgeschwindigkeit und galoppiert dann, aus dem Stand, wieder los.
Ich wusste gar nicht, dass sowas überhaupt geht!
Nicht schlecht.
Je länger ich zuschaue, desto faszinierter werde ich.
Dann, nach einigen Runden im Galopp, bremst er sein Pferd und geht in eine langsamere Gangart über. Jetzt ist es nicht mehr rasant sondern elegant.
Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Hm, komisch.
Ich dachte, Nick wäre blond?
Ich bin mir sogar sicher, dass Nick blond ist.
Oh.
Interessant.
Falls er sich nicht heute Nachmittag die Haare gefärbt hat, dann ist das da drüben nicht Nick.
Der Reiter hat ganz eindeutig dunkles Haar.
Ich überlege kurz, wer in Frage kommt – Armin vielleicht, aber der ist kleiner, oder Basti, der Hüne?
Aber auch der scheidet aus.
Sicher einer von den Hotelgästen, entscheide ich.
Vielleicht einer, der Profi-Reiter ist und sein eigenes Pferd hier stehen hat.
Da macht es ja Sinn, abends zu trainieren, wenn alles ruhig ist.
Zu gerne würde ich rüber gehen und mir das Ganze nochmal genauer aus der Nähe anschauen, aber ich traue mich nicht.
Jetzt, wo ich weiß, dass es nicht Nick ist, habe ich ein komisches Gefühl dabei, hier zu sitzen und einen wildfremden zu beobachten.
Sowas macht man doch nicht.
Ein kalter Windhauch erwischt mich und erinnert mich daran, dass ich nur eine dünne Strickjacke über dem T-Shirt trage.
Vielleicht ist es besser, ins Haus zu gehen, bevor ich noch Ärger bekomme.
*
Wann bin ich eigentlich so neugierig geworden?
Komisch.
Früher war ich nicht so.
Kaum ist Charlie, leicht verspätet und überhaupt nicht fröhlich, in die Schule verschwunden, husche ich aus der Wohnung.
Auf dem Reitstall.
Der Vormittag ist fast vorüber und ich halte es einfach nicht mehr länger aus.
Ich will jetzt wissen, wen ich da gestern beobachtet habe.
Vielleicht hab ich mich ja getäuscht und es ist doch Nick?
Und selbst wenn nicht. Vielleicht weiß er ja was.
Ich habe mir vorgenommen ihn ein bisschen, ganz unauffällig natürlich, auszuquetschen.
Im Stechschritt durchquere ich den Park.
Ich habe mein neuestes T-Shirt angezogen – das ist gut fürs Selbstbewusstsein, sagt Mama immer.
Also los.
Ich habe mich die halbe Nacht geärgert, weil ich zu feige war, gleich nachzusehen.
Aber zum Glück kenne ich ja den Tagesplan im Hotel mittlerweile fast auswendig und weiß, dass Nick jetzt gerade damit beschäftigt sein dürfte, den Ausritt für die Kinder heute nachmittag vorzubereiten.
So steht es jedenfalls in seinem Dienstplan.
Nicht, dass jetzt jemand denkt, ich hätte mich doch aus versehen ein bisschen in ihn verliebt.
Nein, das bestimmt nicht.
Ich bin einfach nur neugierig.
"He! Kann ich dir helfen?"
Ich bin noch nicht ganz am Stall angekommen, da hat Nick mich schon erspäht.
Ich setze ein Lächeln auf und lege die letzten Meter so entspannt wie möglich zurück.
"Hallo Nick!"
"Hey!" er grinst. Mit einer coolen Handbewegung schiebt er den Cowboyhut, der ihm in die Stirn gerutscht ist, gerade.
Hab ich's doch gewusst.
Er ist blond.
Und seine Augen leuchten hellblau.
Okay, ich gebe es zu. Er sieht gut aus. Aber sein Grinsen ist ein bisschen hohl.
"Leni, stimmt's?" fragt er. "Hab dich neulich gesehen, im Vogelsaal. Cooler Auftritt!"
Ich nicke. Wow, Nick kennt meinen Namen. Nicht schlecht.
Wenn Charlie das wüsste, würde sie mir wahrscheinlich vor Eifersucht die Augen auskratzen.
Aber sie ist ja in der Schule. Und ganz abgesehen davon habe ich nicht vor, den Reitlehrer tatsächlich anzugraben.
Naja.
Ein bisschen vielleicht.
Das ist sicher auch gut fürs Selbstbewusstsein.
"Ich hab gehört, dass du ein bisschen Hilfe brauchen könntest." flunkere ich.
Nicks Augen wegen schmaler und er legt den Kopf schief. "Wer hat das denn gesagt?"
Blöd - irgendwie dachte ich, dass er schneller darauf eingeht.
Ups.
"Ach, meine Tante..."
"Schon gut." er lacht. Jetzt hat er es kapiert. "Ist ja egal. Wenn du willst kannst du helfen."
Super.
Guter Anfang.
Leider habe ich keine Ahnung von Pferden.
"Kommst du?" Nick ist schon in der Stallgasse verschwunden.
Ich folge ihm.
Er drückt mir ein paar quietschbunte Halfter, die er von den Haken an der Wand nimmt, in die Hand und deutet mir, ihm zu folgen.
Einträchtig marschieren wir zur Koppel.
"Ich hole die Schulpferde für die Kinder." erklärt er mir.
Aha.
So richtig flüssig ist unser Gespräch nicht. Ich muss leider feststellen, dass Nick zwar gut aussieht aber nicht unbedingt der hellste ist.
"Reitest du auch?" will er wissen, während wir die Wiese überqueren.
"Ich? Oh, nein..." ich schüttele eifrig den Kopf.
Er grinst. "Na, was nicht ist, kann ja noch werden."
Ui.
Ich glaube, ich werde rot.
Doof aber charmant.
"Ich hab gar keine Zeit um das zu lernen." erkläre ich.
"Das ist aber schade!"
Okay, jetzt bin ich mir sicher. Mein Gesicht verwandelt sich in eine Tomate.
"Du reitest sicher total gut..." versuche ich, auf mein ursprüngliches Gesprächsthema zurück zu kommen.
Er sieht mich an und lacht. "So? Wer sagt das denn?"
"Alle.."
"Mein guter Ruf eilt mir also voraus!"
Jaja.
An Selbstbewusstsein mangelt es ihm definitiv nicht.
Ich denke an das, was Sonja über ihn gesagt hat und meine Wangen kühlen wieder ab.
Ich bin schließlich nicht hier, um mit ihm zu flirten.
"So. Das da ist Buster, unsere älteste Stute, die noch im Schulbetrieb ist." sagt Nick plötzlich und zeigt auf ein kleines, hellbraunes Pferd, dass friedlich auf einem Büschel Gras herum kaut.
Hallo Buster.
Ich fürchte, jetzt wird es ernst.
Nick kommt auf mich zu und sucht das passende Halfter aus.
Unsere Hände berühren sich, als er danach greift.
Innerlich bereite ich mich darauf vor, gleich von kleinen elektrischen Stößen erfasst zu werden, Herzklopfen zu kriegen und Schmetterlinge im Bauch zu spüren.
Aber nichts passiert.
Er dreht mir den Rücken zu und die Welt dreht sich weiter.
Okay.
Sehr gut Leni.
Du bist eindeutig nicht in ihn verliebt.
Du bist höchstens ein bisschen beeindruckt von ihm.
Nick kommt, gefolgt von Buster zurück und drückt mir den Strick in die Hand.
"Halten." kommandiert er.
Okay.
Ich tue wie geheißen.
Er sammelt noch zwei weitere Pferde ein und wir gehen zurück zum Putzplatz.
Die Pferde sind alle hell wie Buster oder noch heller.
Das Pferd gestern war fast schwarz, da bin ich mir sicher.
"Hast du ein eigenes Pferd?" frage ich.
Nick lacht. "Ich hätt gern eins. Aber das ist teuer."
"Oh."
"Ich reite immer den da." er macht eine lässige Handbewegung in Richtung der Boxen.
Ich glaube, er meint ein braun-weiß geschecktes Pferd, dass ganz vorne steht.
Hmm.
"Trainierst du viel?" frage ich. Ich will trotz allem gerne wissen, wen ich da gestern gesehen habe. Irgendwie muss ich ihn endlich auf dieses Thema bringen.
Er lacht.
"Du stellst ganz schön viele Fragen, Leni! Vielleicht sollten wir uns darüber mal, naja... ein bisschen privater unterhalten?"
Ich werde schon wieder ein bisschen rot, aber dieses Mal, weil ich mich ertappt fühle.
Ich will gar nicht wissen, was der jetzt von mir denkt!
Eifrig schleppe ich die Plastikboxen, in denen das Putzzeug aufbewahrt wird, in den Hof.
Hoffentlich erklärt Nick mir gleich, was ich tun muss.
Sonst stehe ich nämlich ziemlich doof da.
"Ich trainiere immer morgens, vor den Reitstunden." erzählt er mir dann.
Damit steht eindeutig fest: Nick ist nicht der Reiter, den ich gestern gesehen habe.
Eigentlich könnte ich jetzt wieder gehen, aber das wäre natürlich ziemlich unhöflich.
Und fies.
Und ich will nicht, dass er denkt, ich wäre jetzt eingeschüchter oder so.
Nick verteilt die Plastikboxen und beginnt, die Stute, die er mir als Molly, vorgestellt hat, zu putzen.
Ich schiele zu ihm hin und versuche, einfach mal das gleiche zu machen.
Buster guckt dabei genauso kritisch, wie ich.
Dann mal ran ans Pferd, Leni!
"He! Was machst du denn da!" die Rache für meine Unwissenheit folgt nach wenigen Momenten.
"Das ist für die Mähne, nicht fürs Fell." Nick zerrt mir die Bürste aus der Hand.
Plötzlich ist er gar nicht mehr so freundlich. Ganz schön ungeduldig, der Gute! Von einem Reitlehrer könnte man doch eigentlich ein bisschen mehr pädagogisches Feingefühl erwarten.
Für einen Moment sieht er sogar ziemlich wütend aus.
Ups.
Ich hab doch gesagt, dass ich keine Ahnung habe!
Der Moment dauert zum Glück nicht lang. Wenige Sekunden später lacht Nick wieder.
"Schon gut, Leni." er schleudert die Bürste zurück in die Kiste. "Wir haben ja noch ein bisschen Zeit. Ich mach das alleine."
Okay.
Ich bin damit offiziell raus.
Unschlüssig sehe ich zu, wie er zurück zu Molly geht.
Kann ich jetzt gehen?
Soll ich jetzt gehen?
"Da drüben kannst du dich hinsetzen, wenn du willst!" Nick deutet auf eine kleine Bank, die neben den Stalltüren steht. Er grinst immernoch. "Vom Zuschauen kann man auch was lernen!"
Okay.
Ich nehme Platz und schaue zu.
Nick gefällt es, beobachtet zu werden. Immerwieder schaut er zu mir rüber und unterhält sich lautstark mit mir.
"Man merkt, dass das hier nicht deine Sache ist." erklärt er.
Aha.
Ist ja nicht so, als hätte ich jemals das Gegenteil behauptet.
Vielleicht sollte ich doch besser gehen?
"Aber das ist okay." er grinst. Ich bin hin und her gerissen. "Du hast sicher andere Talente!"
Nett.
Hat er mir grade wirklich zugezwinkert?
Ich glaube, ich spinne!
Das letzte bisschen Begeisterung für ihn, dass sich ganz tief in meiner Magengrupe versteckt hat, ist damit auch endgültig Geschichte.
Am liebsten würde ich aufspringen und gehen.
Die ersten Reitschüler kommen, in Begleitung ihrer Eltern, angelaufen.
Zwei kleine Mädchen mit rosafarbenen Reitkappen stürzen sich sofort auf die armen Pferde.
"Ich will Molly! Ich will Molly!" quietschen beide im Chor.
Ich fürchte, dass das nicht möglich sein wird.
Die Eltern stehen unbeteiligt daneben und überlassen es Nick, die Pferde einzuteilen. Charmant.
"Leni, kannst du mir mal die Liste geben?" ruft er mir zu und deutet auf einen Zettel, der zwischen ein paar anderen Sachen neben mir auf der Bank liegt.
Ich komme also noch nicht weg von hier.
Ich bringe Nick den Zettel mit den Namen, sorge dann dafür, dass die Kinder – deren Eltern sich beim Betreten des Putzplatzes sofort für überhaupt nichts mehr zuständig fühlen und nur noch als Zuschauer am Spektakel teilnehmen - von den Pferden wegbleiben, während Nick die Sättel holt, und helfe schließlich sogar noch einer der kleinen Rotznasen beim Aufsteigen.
Nick verzichtet auf sein eigenes Pferd, er führt den Ausritt zu Fuß an.
"Willst du mitkommen?" fragt er gut gelaunt.
Ich schüttele heftig den Kopf.
Um nichts in der Welt.
Ich habe die Nase voll.
Von den Kindern, den Pferden – und vor allem von Nick.
Ich bin enttäuscht.
"Dann sehen wir uns sicher später noch!" er hebt die Hand und die kleine Gruppe setzt sich in Bewegung.
Mit den Kindern verschwinden auch die Eltern.
Ich will meine Jacke holen, die noch auf der Bank liegt, und dann nichts wie weg.
"Na? Keinen Erfolg gehabt?"
Gerade, als ich mich, die Jacke in der Hand, wieder aufrichten will, tritt jemand neben mich.
Ich zucke zusammen.
Die Stimme klingt nicht unbedingt freundlich.
Als ich aufsehe, erkenne ich, dass es Basti, der überdimensionerte Stallbursche ist, der sich da vor mir aufgebaut hat.
"Hallo." sage ich leise.
Keine Ahnung, was er von mir will.
Er lacht nur und beobachtet mich aus kleinen, zusamengekniffenen Augen.
Er macht mir Angst.
Komischer Typ.
"Das ging ja schnell. Kaum 'ne Woche hier und schon..." er grinst dämlich.
Mir dämmert, was er damit sagen will.
"Ich hab Nick nur geholfen, weil..."
Wieso verteidige ich mich eigentlich?
Er lacht schon wieder fies.
"Jaja, schon klar. Das sagen sie alle." sein Grinsen geht mir auf die Nerven.
"Wenn du mal ne Abwechslung brauchst, weißt du ja, wo du mich findest." meint er dann und lehnt seine riesenafte Gestalt betont lässig an die Wand.
Igitt.
Ich bin so perplex, dass ich gar nicht weiß, was ich sagen soll.
"Halt die Klappe, Basti!"
War das meine Stimme?
Nein.
Pilar steht hinter mir.
Wo kommt die denn her?
Basti, sichtlich überfordert mit gleich zwei Mädchen, ist plötzlich gar nicht mehr so cool.
Mit einem gemurmelten, nicht ganz jugendfreien Kommentar verzieht er sich wieder in den Stall.
Ich starre Pilar an.
"Wo kommst du denn her?"
Sie lächelt.
"Ich war im, eh... Camp. Bei Anne." erklärt sie.
Blöd. Da hatte ich ganz vergessen, nachzusehen.
"Läuft alles gut?" frage ich fröhlich.
Sie sieht gut aus.
Keine Tränen, kein verschmiertes Make-Up.
Statt dessen präsentiert sie ihre Modellfigur in einem schulterfreien blauen Leinenkleid.
Wenn ich das nächste Mal ein selbstbewusstseinsförderndes Outfit brauche, frage ich Pilar.
Soviel steht fest.
Allerdings müsste ich dann wohl erstmal zum Schönheits-Doc und mir meine Oberweite ein bisschen aufpumpen lassen.
Bei dem Gedanken daran muss ich schmunzeln.
"Basti ist ein Idiot." stellt Pilar fest.
Ich stimme ihr auf spanisch zu: "Was du nicht sagst!"
Sie lacht.
Ich glaube, wir verstehen uns. Trotz ihrer Flucht letzte Woche.
Sind wir jetzt schon Freundinnen? Wie lange dauert das eigentlich, bis man das offiziell sagen kann?
Pilar hakt mich gut gelaunt unter – in Spanien geht das mit der Freundschaft wohl ein bisschen schneller als bei uns – und wir schlendern zurück zum Haupthaus.
Der Schreck ist verflogen, zusammen mit meiner Enttäuschung über Nick.
Ein kleines bisschen neugierig bin ich schon noch, aber das ist jetzt egal.
"Gehen wir noch einen Kaffe trinken?" frage ich.
Pilar nickt. "Kaffe ist gut. Anne ist nicht nett zu mir gewesen." Sie redet spanisch, ich deutsch. So verstehen wir uns am besten.
Ich muss lachen.
"Super. Um fünf muss ich bein Sonja in der Küche sein. Da ist noch mehr als eine Tasse drin."
*
Im Konferenzraum wird es nach und nach voller.
Je näher die Hauptsaison rückt, desto mehr Mitarbeiter trudeln im Feriendorf ein.
Diese Woche ist der Chef der Animation für die Hauptsaison neu dabei und Sonja hat eine neue Kellnerin zur Vorstellung mitgebracht.
Ich helfe MM, die kleine Präsentation, die sie vorbereitet hat, einzurichten.
Sie will die Sache mit dem Ferienlager, das ja nächste Woche los geht, nochmal für alle erklären.
Als einer der letzten betritt Nick den Raum.
Als er mich sieht, verwandelt sich sein Gesicht automatisch in ein breites Grinsen und er nickt mir zu.
Hmm.
Nicht hinsehen, Leni.
Ich drücke MM den Laserpointer in die Hand, den sie extra bestellt hat und suche mir einen Platz am Tisch.
Viele Stühle sind nicht mehr frei.
Nick fängt meinen suchenenden Blick auf und klopft auf das leere Polster neben sich.
Super.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu ihm zu setzen.
MM räuspert sich, Marlen präsentiert ihren superernsten Business-Blick, der uns sagt, dass es jetzt los geht und ich beeile mich, um Platz zu nehmen.
Nick rückt mir sogar den Stuhl zurecht.
Wenigstens ist er ein Gentleman.
Ein selbstverliebter Gentleman zwar, aber immerhin.
MM fängt damit an, alle für ihre Arbeit in der letzten Woche zu loben und wir applaudieren uns selbst für den erfolgreichen spanischen Abend.
Zum Glück ist Pilar nicht hier – Anne gibt sich nämlich alle Mühe, jeden noch so kleinen Kritikpunkt in die Schuhe der Spanierin zu schieben.
Ich sitze stumm da und lächle freundlich.
Die Besprechungen sind nicht besonders formell.
Es ist schon spät, die meisten tragen noch ihre Team-Polos oder Uniformen und im Grunde geht es nur darum, die Angestellten auf dem Laufenden zu halten.
Ich sehe müde Gesichter und so mancher kann sich das Gähnen nicht verkneifen.
Der einzige, der wie immer frisch und ausgeschlafen aussieht, ist Nick.
Als er meinen Blick bemerkt, grinst er mich an.
"Na? Alles gut?"
Ich nicke stumm.
MM beginnt ihre Präsentation und zeigt ein Bild vom mittlerweile fertig aufgebauten Zeltlager.
"Bist du am Freitag wieder mit dabei?" flüstert Nick.
"Hm?" mache ich leise.
Freitag?
"Die Weinprobe!"
Achso. Klar.
Diesen Freitag veranstaltet MM eine Weinprobe mit den ansässigen Winzern. Tolle Sache.
Zumindest für diejenigen unter uns, die im Gegensatz zu meiner Wenigkeit, auch tatsächlich Wein trinken.
Allerdings hat MM mich bereits eingespannt.
"Ich muss..." murmele ich leise.
Marlen wirft mir einen warnenden Blick zu.
Ich richte meinen Blick wieder nach vorne.
"Dank der finanziellen Mittel, die uns vom Land Bayern zu Verfügung gestellt werden und den Spenden unserer Gäste, belaufen sich die Kosten pro Teinehmer und Woche auf gerade einmal neun Euro. Diese werden von der Organisation getragen, die den Jugendlichen zu uns schicken." erklärt MM gerade. Wir sind mittlerweile bei der Präsentation angekommen.
Ich bin mir fast sicher, dass die meisten im Raum schon lange nicht mehr zuhören.
Das nächste Bild zeigt Anne und Tom in ihren nagelneuen, lindgrünen Camp-Shirts.
"Das sind die beiden Teamleiter. Sie werden unterstützt von einigen ehrenamtlichen Helfern, die morgen im Laufe des Tages hier ankommen werden. Ihr erkennt sie an den grünen Shirts."
Schön zu wissen.
Nicks Finger bohrt sich in meine Schulter.
"Hast du noch Lust auf einen kleinen Spaziergang?" flüstert er, nahe an meinem Ohr.
Um Himmels Willen.
Ich hab mich ja wohl hoffentlich verhört!
Mein entgeisterter Blick, den ich einfach nicht vermeiden kann, sagt alles.
Nick grinst. "War ja nur ne Idee."
MM's Vortrag endet damit, dass sie uns ankündigt, dass in jeder der vier Campwochen insgesamt dreißig Jugendliche aus sozial-schwachen Familien bei uns untergebracht sein werden.
Zustimmendes Gemurmel hebt an.
Marlen tritt vor und löst ihre Schwiegermutter ab.
Der Rest der kurzen Tagesordnung besteht aus den Plänen für Freitag und der Information, dass eine Frau namens Marta diSantos aus ihrem Karibik-Urlaub zurück ist und ab nächste Woche wieder jeden Donnerstag Tanzstunden im Vogelsaal anbieten wird.
Die Besprechung ist beendet.
Ein bisschen erleichtert stehe ich auf.
Nick folgt mir zur Tür.
Als er sieht, dass ich demonstrativ auf Armin und Marlen warte, grinst er wieder frech, beugt sich vor und flüstert: "Ich hoffe, dass ich dich am Freitag zu einem Gläschen Wein überreden kann. Oder zwei!" und verschwindet dann im Flur.
"Und? Wie war's?" Charlie sitzt, gespannt wie ein Flitzebogen, auf ihrem Bett und beobachtet mit großen Augen, wie ich mich bettfertig mache.
Seit wir ganz offiziell miteinander kommunizieren ist sie ganz schön anhänglich geworden.
Ich fürchte, wenn ich ihr erzähle dass Nick tatsächlich versucht hat mit mir zu flirten, wird das eine kurze Nacht.
"Es ging ums Camp." erzähle ich wahrheitsgemäß.
"Jaja..." Charlie macht eine wegwerfende Handbewegung.
Heute war ihr letzter Schultag.
Das Zeugnis ist nicht ganz so schlimm wie befürchtet und jetzt ist sie, vor lauter Vorfreude auf die Sommerferien, noch ein bisschen aufgedrehter als sonst.
Das wird eindeutig sicher eine lange Nacht.
Dabei würde ich jetzt wirklich gerne schlafen gehen.
"War Nick da?" stellt sie schließlich die unvermeidliche Frage.
Ich nicke. "Klar."
"Hat er was gesagt?"
Jede Menge.
Aber das muss Charlie nicht wissen. "Nicht so viel."
"Und sonst? Komm schon, Leni! Ich verlasse mich auf dich!" bettelt sie.
Wenn sie was will, kann sie richtig nett sein. Das weiß ich mittlerweile.
Ich strecke mich auf dem Bett aus.
"Leeeeniiii!" macht sie langgezogen.
Du meine Güte.
Was für eine Nervensäge.
"Am Freitag ist die Weinprobe." erzähle ich ihr schließlich schläfrig. "Da will er unbedingt hinkommen."
Endlich ist Ruhe im Karton.
"Pilar, du musst unbedingt mitkommen." sage ich und versuche, so ernst wie möglich zu gucken. Meine Wangen glühen vom Rennen.
Es ist Freitag und bis zu dieser ominösen Weinprobe sind es nur noch ein paar Stunden.
Bisher habe ich ihr noch nichts von Nicks Flirt-Offerten erzählt, weil ich nicht wusste wie, aber da der Abend immer näher rückt, ist es höchste Zeit, sie ins Boot zu holen.
Ich hoffe, dass Nick mich eher in Ruhe lässt, wenn Pilar dabei ist.
Einen anderen Plan gibt es leider nicht.
"Muss ich?" fragt sie grinsend.
"Du musst." erkläre ich mit fester Stimme.
Sie lacht. "Wieso?"
Wir sitzen nebeneinander auf der kleinen Bank neben dem Volleyballfeld. Eigentlich soll Pilar hier die Schiedsrichterin geben, aber das, was sich auf dem Spielfeld zuträgt ist leider nicht mal ansatzweise mit einem Spiel zu vergleichen und so hat Pilar bisher nichts weiter zu tun, als gelangweilt zuzuschauen.
Zum Glück gibt es ja mich.
Offiziell bin ich gerade damit beschäftigt, die Deko aus falschem Weinlaub im Vogelsaal anzubringen, aber Anne hat mich nochmal losgeschickt, um Draht zu holen.
Und das Volleyballfeld liegt ja quasi auf dem Weg zwischen Saal und Küche.
Ich versuche Mamas Dackelblick zu imitieren.
"Weil ich hin muss und nicht alleine hin will. Komm schon, Pilar!"
"Ist ja schon gut." sagt sie schließlich. "Gibt es einen bestimmten Grund? Oder nur so?"
"Hmm."
Ich überlege, ob ich ihr von Nick erzähle.
Wie sagt man denn, dass man schamlos angeflirtet wurde, ohne dabei arrogant zu klingen?
"HE!" schallt es über den Rasen.
Sonjas gedrungene Gestalt mit dem neonfarbenen Haarschmuck steht in der Küchentür am Haupthaus. "Leni! Du wirst vermisst!"
Okay.
Die Geschichte mit Nick muss warten.
"Also. Zwanzig Uhr, okay?" sage ich zu Pilar.
Sie nickt. "Schon gut."
"Danke!"
Ich springe auf und laufe über den Rasen zur Küche.
Sonja drückt mir Draht, Bindfaden und alles, was sie sonst noch zum Befestigen der Deko finden konnte in die Hand und schiebt mich durch den Raum. "Beeil' dich, Kleine! Anne steht kurz vorm Nervenzusammenbruch!"
Gut zu wissen.
Ich zwänge mich an der Warteschlange vor der Rezeption vorbei und betrete den Saal.
In Gedanken rechne ich bereits mit einem Donnerwetter, aber das bleibt aus.
Alle Aufmerksamkeit gehört Charlie.
Die steht mitten im Raum, umringt von Marlen, Anne und ein paar neugierigen Helfern und präsentiert, wieder einmal ihre übernatürlich lautes Stimmorgan.
"Ich will aber!" brüllt sie mit Kopfstimme. Ihr Gesicht ist dunkelrot und die kleinen, perfekt manikürten Hände sind zu wütenden Fäusten geballt.
Marlen massiert sich die Schläfe. "Charlie, du bist zu jung dafür..."
"Keine Kinder erlaubt." stellt auch Anne fest.
Ich ahne, worum es geht.
Charlie will zur Weinprobe. Ich glaube, das ist meine Schuld.
"Das ist so ungerecht! Ich hasse dich!" schreit sie.
In meinem Kopf klirren bereits die Fensterscheiben.
"Charlie, sowas sagt man nicht..." versucht Marlen ihre Tochter zu beschwichtigen.
Anne verdreht genervt die Augen. Als sie mich sieht, lässt sie Charlie und Marlen einfach stehen. "Da bist du ja! Endlich!"
Anne entreist mit das Bastelmaterial.
Jetzt habe ich auch Charlies Aufmerksamkeit auf mich gezogen.
"Wieso darf DIE und ich nicht?" keift sie Marlen an.
"Leni ist schon achtzehn und... sie hilft ja auch mit..."
Manchmal frage ich mich, woher meine Tante die Geduld hat, immer alles mit ihrer Tochter auszudiskutieren.
Das sind dann wohl die Nachteile von antiautoritärer Erziehung.
Das, und den Hörsturz, den jeder normale Mensch erleiden muss, wenn er es länger mit Charlie zu tun hat.
"Na und? Ich will aber auch hin! Ich kann auch helfen! Außerdem, was macht sie schon? Was kann sie denn, was ich nicht kann?" schimpft Charlie weiter.
Marlen seufzt. "Charlotte, du bist zu jung."
Charlie funkelt mich aus wütenden, kleinen Augen an.
Heute sind sie, Kontaktlinsen-sei-dank wieder grün.
"Blöde Kuh!" faucht sie.
Okay.
Eigentlich sagt sie was anderes, aber das gehört leider nicht zu meinem Wortschatz.
"Blöde Kuh!"
Ich versuche, zu lächeln. Vielleicht verwirrt sie das ja so sehr, dass sie aufhört zu schreien.
Marlen wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.
Jaja.
Die Jugend von heute.
"Charlie, wir versuchen hier zu arbeiten... würdest du bitte nach oben..." startet meine Tante einen neuen Versuch.
Charlie unterbricht sie direkt: "Halt die Klappe! Ich gehe nicht, wenn ich nicht zur Weinprobe darf! Basta!"
Trotzig verschränkt sie die Arme vor der Brust.
Anne kommt von der Bühne zurück.
Sie geht ganz langsam und fast lautlos, so dass Charlie sie erst bemerkt, als die beiden sich direkt gegenüber stehen.
Anne hat wohl genauso genug von Charlies Auftritt, wie alle anderen auch.
"Hör mal zu." sagt sie mit scharfer Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Marlen hält hörbar den Atem an.
"DU hältst jetzt mal die Klappe und gibst Ruhe. Nervensäge!" sagt Anne.
Charlie bekommt große Augen.
Hilfesuchend wendet sie sich an ihre Mutter, aber die ist viel zu überrascht um irgendwas zu tun.
"Und jetzt verschwinde hier, sonst gibt's richtig Ärger. Sowas wie dich kann hier keiner brauchen!"
Anne macht auf dem Absatz kehrt und geht zurück zur Bühne.
Ihre Ansage wirkt.
Charlie rennt, mit Tränen in den Augen aus dem Saal.
Marlen folgt ihr wenige Sekunden später, die Finger an die Stirn gepresst.
Wenn ich ein Kind wie Charlie hätte, hätte ich wohl auch Migräne.
Ein ganz kleines bisschen schadenfroh widme ich mich wieder meiner Arbeit und dem Plastik-Laub.
Anne brummt leise vor sich hin.
Da hat MM ja die richtige ausgewählt, um das Jugendcamp zu leiten!
*
"Geschieht ihr ganz Recht!" Pilar kichert. "Ich mag sie nicht. Sie ist immer so... naja. Zickig."
Natürlich konnte ich nicht anders, als ihr von Charlies Drama am Nachmittag zu erzählen.
Schadenfreude ist gar kein Wort für das, was ich in Pilars Augen sehe.
Wir sitzen nebeneinander an einem der kleinen, runden Tische, die Anne im Saal verteilt hat und warten auf die Ansage des Präsentators.
Der ist ein echter Experte und stellt uns gerade die zweite von elf Weinsorten für diesen Abend vor.
Um uns herum sitzen ein paar Hotelgäste in schicken Abendkleidern, die sehr viel interessierter wirken, als wir.
Unsere Aufgabe besteht eigentlich nur noch daraus, hier zu sitzen und die leeren Plätze zu füllen. Pilar hat ein tolles grünes Kleidchen und atemberaubende Highheels an und sogar meine Wenigkeit trägt heute Rock und kleine, aber feine, Absätze.
Man gönnt sich ja sonst nichts.
Der erste Schluck Wein hat weder mir noch Pilar geschmeckt und ich habe wenig Hoffnung, dass es besser wird.
Nick sitzt, zusammen mit Paul, dem Golflehrer am Nachbartisch, direkt hinter uns.
Als wir reingekommen sind, hat er erst ziemlich überrascht dreingeschaut und dann wieder blöd gegrinst.
Egal, wie toll Charlie ihn findet: Ich mag ihn nicht.
Die zweite Runde Wein wird serviert.
Mutig nehmen Pilar und ich je einen großen Schluck.
Zum Glück gibt es diese komischen Glaskaraffen, in die man das Zeug gleich wieder ausspucken darf.
Pilars Gesichtsausdruck spricht Bände.
"Deutscher Wein!" schimpft sie leise.
Ich muss grinsen. "Wein allgemein!"
Die Dame in schwarz gegenüber runzelt empört die Stirn.
Ich fürchte, wir nehmen die Sache hier nicht ernst genug.
Meine Großmutter geht durch die Reihen und begrüßt die Gäste an den Tischen mit ihrem strahlenden Lächeln. Heute ist sie ganz in burgunderrot gekleidet – passend zum Thema.
"Wie lange müssen wir hier bleiben?" flüstert Pilar mir zu.
Ich spüre, dass die wenigen Schlucke Wein ausgereicht haben, um mein Gehirn ins Schwanken zu bringen. Ich bin den Alkohol eindeutig nicht gewohnt.
"Noch neun Gläser." sage ich leise.
"Und zwei Dessertweine." informiert uns ein dicker Mann, der direkt neben Pilar sitzt.
"Hilfe." murmelt Pilar.
Wir lachen beide.
Nach dem dritten Glas wird unsere Laune – ganz im Gegensatz zum Wein – besser.
"Das ist so albern!" murmelt Pilar. "Wein trinken und ausspucken. Und dazu gibt es nur trockenes Brot!"
Ich nicke. "Ich hab Hunger, Pilar."
Sie lacht. "Hast du heute schon was gegessen?"
Mittlerweile geben wir uns gar nicht mehr die Mühe, leise zu sprechen.
Die Lautstärke im Raum nimmt mit jeder neuen Weinsorte stark zu.
"Wann denn? Anne ist eine Sklaventreiberin!"
"In der Küche gibts bestimmt nichts mehr..." meint Pilar nachdenklich.
Ich drehe den Kopf und muss ihr Recht geben. Sonja sitzt selbst an einem der Tische und prostet fröhlich in die Runde.
MM hat wohl zu wenig Karten verkauft.
In der Küche ist wohl nichts mehr zu holen.
"Blöd." mein Magen knurrt laut und deutlich. "Wenn ich noch mehr auf nüchternen Magen trinke, bin ich dicht." prophezeie ich.
Pilar lacht. "Dann sollten wir vielleicht gehen. Ich weiß, wo es was zu essen gibt!" verspricht sie leise.
Sie schiebt ihr Glas weg und richtet sich auf.
"Jetzt?" frage ich alarmiert. Das dürfen wir nicht! Oder?
"Klar!" sie lacht.
Auch bei ihr hat der Alkohol Spuren hinterlassen.
Ich suche den Raum nach MM ab. Hoffentlich kriegt sie nichts davon mit, wenn wir verschwinden.
Mein Blick schweift durch den Saal, aber meine Großmutter ist nirgendwo zu sehen.
Stattdessen sehe ich Nick, der mir direkt in die Augen schaut.
Mit einem breiten Grinsen hebt er sein Glas und prostet mir zu.
"Nichts wie weg!" flüstere ich.
Wir stolpern über den Rasen.
Nicht, wegen dem Alkohol – der ist dank der frischen Abendluft längst verflogen – sondern, weil wir nicht aufhören können zu lachen.
Das Gefühl, etwas wenigstens ansatzweise verbotenes zu tun, beflügelt meine Laune.
Es ist ein nebliger Abend und ich glaube, es nieselt sogar ein bisschen.
Die feinen Wassertropfen fühlen sich gut auf der Haut an.
"Charlie rastet aus, wenn sie das mitkriegt!" rufe ich Pilar zu, die neben mir läuft.
Sie lacht. "Du musst es ihr ja nicht erzählen!"
Stimmt.
Logisch.
"Die ist so in diesen Nick verliebt, dass sie total durchdreht." sage ich.
"Das sind viele." antwortet Pilar nur.
Wo sie recht hat, hat sie Recht.
Wir steuern auf das Seehaus zu.
Heute Abend gibt es, vielleicht wegen dem Wetter oder einfach so, kein Lagerfeuer.
Überhaupt sitzt zur Abwechslung mal niemand vor dem Haus auf dem Rasen.
Als wir näher kommen, werden wir langsamer.
Ich denke an den Typ, der mich neulich so unfreundlich vertrieben hat. "Darf ich da überhaupt rein?" will ich wissen.
Pilar macht eine wegwerfende Handbewegung. "Du musst ja nicht jedem sagen, dass du zu den Chefs gehörst."
Okay.
Wahrscheinlich interessiert es sowieso niemanden, wer ich bin.
Wir betreten das Gebäude durch eine kleine Tür, die nur angelehnt ist und gelangen in einen großen Raum, der früher mal Eingangsbereich und Esszimmer zugleich war.
Jetzt stehen wir neben ein paar ausgemusterten Tischen und Stühlen auch zwei durchgesessene Sofas.
Der große, halbdunkle Raum ist voller Leute und der Lärm ist ohrenbetäubend.
In einer Ecke laufen Fußballspieler über einen Fernseher und aus der Stereoanlage dröhnt Musik.
Wow.
Ich sehe blaue und grüne T-Shirts überall. Die meisten kenne ich nicht einmal vom Sehen.
Sie stehen herum, essen irgendwas von schlichten Papptellern, unterhalten sich. Ein paar tanzen sogar, andere stehen um einen Tischkicker herum und feuern sich gegenseitig an.
"Herzlich Willkommen!" sagt Pilar, der meine überraschte Miene nicht entgeht.
Ich wusste gar nicht, dass sowas erlaubt ist!
"Hast du noch Hunger?" fragt Pilar.
Ich nicke.
Stimmt. Da war ja was.
Wir schlängeln uns durch den Raum in die angrenzende Küche. Auf einer Theke stehen große Schalen mit Essensresten, die eindeutig aus Sonjas Küche stammen.
Ich sehe Kartoffelsalat, Gemüselasagne und einen Berg Schoko-Muffins.
Pilar verteilt geschickt eine bunte Mischung aus allem auf zwei Papptellern und drückt mir einen davon in die Hand.
"Guten Appetit!"
Ich muss lachen.
Ich befinde mich in einem Haus voller feiernden Angestellter, obwohl ich eigentlich mit meiner Familie an einer Weinprobe teilnehmen sollte.
Ich glaub, sowas spannendes hab ich noch nie erlebt.
Pilar zieht mich wieder ins Wohnzimmer, wo wir auf einem der Sofas einen Platz finden.
Auf dem Boden steht eine große Wasserpfeife, deren Schläuche im Kreis herum gegeben werden.
"Rauchst du?" fragt ein junger Mann im lindgrünen Shirt.
Der gehört dann wohl zu den Neuen.
Schön, wie schnell die sich hier eingelebt haben!
"He, Martin! Nicht trödeln!" ruft ein anderen, der schon gar kein T-Shirt mehr anhat.
Der Grünling gibt den Schlauch weiter und Pilar und ich widmen uns wieder unserem Abendessen.
"Ist das überhaupt erlaubt hier?" frage ich leise.
Sie lacht.
"Spätestens seit Dirty Dancing gibt es in jedem Hotel solche Partys!" informiert mich einer von denen, die auf dem Boden sitzen. "Das is' so n Klischee-Ding!"
Ich nicke wissend.
Sie müssen mich ja nicht gleich alle für eine Langweilerin halten.
Zwei große, junge Männer, die einen Bierkasten schleppen, bahnen sich einen Weg durchs Wohnzimmer.
Mit lautem Gejubel werden die beiden empfangen.
"Bier?" jemand hält mir eine Flasche unter die Nase.
Ich schaue hoch und sehe in zwei grüne Augen, die mich unverwandt anstarren.
"Ähh..." mehr bringe ich nicht zustande.
"Dann halt nicht." die Flasche verschwindet wieder. Der Kerl wendet sich an Pilar.
"Hallo! Na? Wie wars da drüben?"
Pilar lacht nur und präsentiert dabei ihre schönen weißen Zähne.
Ihr Gegenüber nickt. "Aha." Die beiden verstehen sich wohl auch ohne Worte.
Sein Kumpel lässt sich neben mir auf das durchgesessene Sofa fallen.
"Na? Auch neu hier?"
Ich lächle unsicher.
Vielleicht hält er mich ja für einen der Grünlinge.
Ich muss mir dringend mal ein paar von den Team-T-Shirts besorgen, damit ich nicht mehr so auffalle!
Pilar und der Junge mit den grünen Augen unterhalten sich angeregt und sie lächelt die ganze Zeit.
Ob sie wohl ein bisschen in ihn verliebt ist?
Ich begutachte ihren Gegenüber: Er ist groß, größer als sie und seine Figur mit den trainierten Oberarmen und den breiten Schultern könnte man wohl guten Gewissens als athletisch bezeichnen.
Von seinem Gesicht sehe ich im Halbdunkel nicht so viel, aber er hat dunkles, kurz geschnittenes Haar und den dazu passenden Dreieinhalb-Tage-Bart.
Im Gegensatz zu Pilar lächelt er nicht.
Seine Miene ist ernst und ziemlich trocken.
Hm.
Da hat aber jemand nicht viel Spaß am Leben!
Als sie bemerkt, dass ich die beiden beobachte, dreht Pilar sich wieder zu mir um.
"Oh! Das ist übrigens Leni!" sagt sie zu Grün-Auge.
Ich richte mich auf und präsentiere wieder einmal mein freundlichsten Lächeln.
Der Typ neben mir grunzt laut.
"Leni, das ist Chris." stellt Pilar ihren Gesprächspartner vor.
Der Mensch namens Chris mustert mich für einen Augenblick mit seinen großen grünen Augen und reicht mir dann, ohne eine Miene zu verziehen die Hand.
Huch!
Mit so viel Höflichkeit hätte ich hier gar nicht gerechnet.
Ein bisschen verdattert drücke ich seine Hand und ernte dafür einen unterkühlten Blick.
Wahrscheinlich hält er mich für ein kleines, unsicheres Ding. Na danke aber auch.
Pilar mag ihn ganz offensichtlich trotzdem.
"Bist du neu hier?" fragt Chris mich kritisch.
Ich nicke schnell. Nur keinen Verdacht erregen.
Pilar strahlt. "Leni arbeitet den ganzen Sommer hier!"
Chris nickt nur. "Hab dich noch nie gesehen."
Aha.
Damit ist unsere kurze Unterhaltung beendet.
Pilar rückt zur Seite, damit Chris sich zu uns setzen kann.
"Wo warst du denn heute Nachmittag? Ich hab dich gar nicht gesehen!" sagt Pilar.
Eindeutig.
Sie mag ihn.
Ihre Augen strahlen.
Er verzieht das Gesicht. "Ich war beim Chef... wegen dem Turnier."
Ich lausche auf.
Was bleibt mir auch anderes übrig.
Der Typ neben mir döst vor sich hin, die Jungs und Mädels auf dem Boden sind mit sich und der Wasserpfeife beschäftigt und Pilars Unterhaltung ist das einzige, woran ich mich wenigstens ansatzweise unterhalten kann.
Ob er wohl vom Golfturnier redet?
Offensichtlich nicht.
"Und? Kriegst du das Pferd?" fragt Pilar.
Er zuckt mit den Achseln. "Keine Ahnung. Er glaubt mir nicht, dass ich mit ihr klar komme. Ich soll die Zuschauer betreuen und mich ruhig verhalten."
Aha.
Es geht also, wie so oft auf dem Hof, um die Pferde. Scheint so, als gäbe es auch für diesen Fachbereich ein Turnier auf dem Hof.
Wahrscheinlich gehört Chris dann auch zu Nicks Team.
Mein Interesse verflüchtigt sich wieder.
"Er könnte dir wenigstens mal eine Chance geben..." seufzt Pilar.
"Vielleicht kommt er ja mal zu meinem Training oder so."
Und - schwupps - da ist es wieder.
Mein Interesse.
Ich blicke auf.
Training?
Chris fängt meinen Blick auf, aber nur für eine Sekunde. Dann widmet er sich wieder Pilar. "Wer weiß."
Er will wohl nicht darüber reden.
Hat er etwa Angst, dass ich petze?
Mit einem Mal bin ich mir ganz sicher, dass Chris derjenige ist, den ich schon zweimal abends in der Reithalle gesehen habe.
Die Statur, die Haarfarbe - alles passt.
Schade - irgendwie hatte ich mir den Unbekannten ein bisschen spannender vorgestellt.
Oder wenigstens mit einem netten Lächeln auf den Lippen.
Die Eingangstür wird geräuschvoll aufgestoßen.
Nick und Paul betreten den Raum, offensichtlich angetrunken.
Die beiden haben die Sache mit der Weinprobe eindeutig durchgezogen.
"Na ihr Langweiler?" brüllt Nick und lacht.
Paul grinst nur dämlich.
Dann verschwinden die beiden durch die Nebentür.
Die meisten ignorieren die beiden einfach.
Chris nickt.
"Angeber." knurrt er leise.
Ich muss grinsen. Da hat wohl jemand gerade meine Gedanken gelesen.
"Arrogantes Arschloch!" fügt er hinzu.
"Aber hallo!" rutscht es mir heraus.
Er sieht auf und tatsächlich - da ist der Anflug eines Lächelns. Es macht ihn gleich ein bisschen sympathischer.
Seine klaren Gesichtszüge werden ganz weich und ein bisschen jungenhaft.
Besser.
Pilar steht unvermittelt auf und verschwindet zwischen den Gästen. Wahrscheinlich will sie zur Toilette.
Wein und Bier verträgt sich eben nicht - das weiß sogar ich.
"Wie lange bist du denn schon hier?" fragt Chris während ich ihr noch hinterher sehe.
Den Gedanken, ihr zu folgen, verwerfe ich wieder.
"Zwei Wochen... fast." sage ich.
"Hmm." macht er. Da ist wieder dieser kritische Unterton.
Er überlegt immer noch, was an mir faul sein könnte.
"Ich wohne drüben, im Haupthaus." sage ich dann schnell. "Hier waren ja keine Zimmer mehr frei."
Jetzt nickt er und guckt auch gleich wieder etwas freundlicher.
Zum Glück ist mir das so schnell eingefallen.
Chris gehört ganz offensichtlich zu denen, die mit der Geschäftsleitung auf Kriegsfuß stehen.
"Klar. Diesen Sommer ist es extrem voll. Mit all den Grünlingen!" Er lacht.
So werden die Camp-Betreuer schon seit Tagen genannt.
Ich nicke eifrig.
"Und was machst du so?" fragt Chris.
"Alles mögliche... ich helfe, wo es Arbeit gibt." erkläre ich.
"Wie Pilar?"
"So ähnlich. Und du? Wo gehörst du hin?" wechsle ich dann schnell das Thema, bevor er noch weiter fragen kann.
Nicht, dass ich mich am Ende doch noch verrate!
"Zum Stall." Seine Augen blitzen auf.
"Bist du auch ein Reitlehrer?"
Es fällt mir richtig leicht, mich mit ihm zu unterhalten. Er gehört zwar nicht zur fröhlichen Sorte, dafür aber eindeutig zu den netten.
Und er ist definitiv cleverer als Nick.
"Ach..." Chris zieht eine Grimasse. "Das wärs's ja. Nein, ich hab kein Geld für den Trainerschein und der Chef... ach, ist ja egal. Ich kümmere mich um die Pferde und helfe Nick ein bisschen... sowas."
"Klingt doch cool." sage ich schnell.
Richtig begeistert klinge ich allerdings nicht.
"Ist es auch. Ich mach das schon seit Jahren, immer."
"Oh."
Für einen Moment frage ich mich was alle, die hier im Sommer arbeiten und sonst nur während der Weihnachtsferien teilweise nochmal kurz gebraucht werden, eigentlich tun, wenn sie nicht hier sind.
Ob irgendjemand wohl auch einen richtigen Job hat?
"Bist du die ganze Saison hier?" will Chris wissen.
"Bis zum bitteren Ende..." meine ich.
Er grinst.
Pilar kommt zurück und sieht ein bisschen zerknittert aus.
Eindeutig: zu viel Alkohol.
Dabei hat sie doch eigentlich gar nicht so viel getrunken!
Chris rückt zur Seite und macht Platz für sie.
"Alles klar?" fragen wir beide gleichzeitig.
Pilar nickt nur und greift nach einer neuen Flasche aus der Kiste.
Ob das wohl so eine gute Idee ist?
"Wo warst du gestern so lang?" begrüßt mich Charlie, ziemlich unfreundlich, als ich aus dem Badezimmer komme.
"Auf der Weinprobe." behaupte ich.
Pilar hat Recht. Sie muss nicht alles wissen.
Dabei würde ich ihr wirklich nur zu gerne erzählen, dass ihr Traumtyp Nick gestern ziemlich blau auf der Party im Seehaus aufgekreuzt ist und sich überhaupt nicht beliebt gemacht hat.
Da unten ist er definitiv keine ganz so große Nummer, wie hier.
"Die ging gar nicht so lange! Du hast dich heute Nacht aber erst um halb drei rein geschlichen!" wirft sie mir vor.
Da hat sie Recht.
"Ich musste noch aufräumen." sage ich. Die Party ging noch eine ganze Weile und war, nachdem Pilar sich wieder ein bisschen gefangen hatte, noch ziemlich lustig.
Charlie zieht eine Schnute.
Eigentlich ist es ihr total egal, wo ich war und was ich gemacht habe.
Sie langweilt sich und will eigentlich etwas ganz anderes fragen.
"War Nick da?"
Da ist sie, die unvermeidliche Frage.
Ich nicke. "Klar."
"Sah er gut aus?"
Ich verkneife mir ein Grinsen.
Als er ins Seehaus gekommen ist jedenfalls nicht mehr.
Aber auch das gehört zu den Dingen, die ich meiner kleinen, naseweisen Cousine nicht erzählen werde.
"Total." meine ich nur im ironischsten Tonfall, den ich zustande bekomme und gehe an ihr vorbei.
Charlie folgt mir, wie ein kleiner Hund.
Heute ist Samstag, das Hotel versinkt wieder mal im Chaos wegen dem anstehenden Bettenwechsel und außerdem sind alle, inklusive Pilar, mit den Vorbereitungen für die morgige Geburtstagsparty beschäftigt.
Alle außer mir.
Ich habe einen Sonderauftrag bekommen, von Marlen höchst persönlich: Ich muss Charlie beschäftigen, damit sie zur Abwechslung mal Ruhe gibt.
Einen Plan habe ich auch schon.
Ich bürste meine Haare, bewundere seelenruhig meine mittlerweile wenigstens leicht gebräunte Haut und lasse sie noch ein bisschen zappeln.
"Mir ist langweilig." meckert Charlie neben mir.
Ihre Mutter hat ihr verboten, die Wohnung ohne mich zu verlassen.
Sonst verschwindet das Notebook aus ihrem Zimmer.
Erziehung ist reine Erpressung, sagt Paps immer und ich fürchte, in Charlies Fall hat er sogar recht.
Ihre langen Fingernägel trommeln auf der Kommode.
"Gehen wir zum See?"
Ich schüttele den Kopf.
Okay.
Sie hat genug gelitten. Irgendwie habe ich sie ja, trotz allem, ins Herz geschlossen.
"Ich hab was besseres." erkläre ich.
Sie schaut mich skeptisch an.
Ja, schon klar. Unsere Vorstellungen von Spaß gehen vielleicht ein bisschen auseinander, aber dieses Mal liege ich goldrichtig.
Da bin ich mir sicher.
"Was denn?" fragt sie schließlich.
Ich zaubere den Schlüssel von Sonjas Auto aus der Hosentasche.
"Ich hab gehört, in Grauburg kann man gut einkaufen gehen."
Jetzt strahlt sie.
Na also. Geht doch.
Ich beglückwünsche mich zu meiner Idee und fische Paps' Taschengeld aus der Jeans, die noch über dem Stuhl hängt.
Charlie ist glücklich und ich hab die Chance, mir endlich ein paar coolere Klamotten zuzulegen.
Es ist schon nach acht, als wir über die verregnete Landstraße zurück zum Hof fahren.
Charlies sorgfältig geschminktes Gesicht strahlt glücklich.
Der Kofferraum von Sonjas kleinem Cabrio ist voll mit Tüten und Taschen aus Grauburgs Boutiquen.
Charlies gespartes Taschengeld ist fast komplett für ein überraschend teures, blutrotes Partykleid mit äußerst gewagtem Ausschnitt und ein Paar bunter Hello-Kitty-Ohrstecker drauf gegangen, und ich muss zugeben, dass auch Paps' Finanzzuschuss nicht lange gehalten hat.
"Das ist so cool, dass du Autofahren darfst." gesteht Charlie mir in einem Anflug von Übermut.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Drei Wochen in der Anlage und schon gehöre ich plötzlich zu den coolen Kids.
"Du hast doch sicher auch bald deinen Führerschein, oder?" frage ich. "Wann wirst du denn achtzehn?"
"Im Januar." sie zuckt mit den Achseln. "Aber ich darf den Führerschein erst nach der Saison machen. Und Geld krieg ich auch keins dafür..."
Ohje.
"Wieso denn nicht?" frage ich.
Ganz unverständlich ist es ja nicht für mich, dass Charlies Eltern die Eskapaden ihrer Tochter nicht auch noch durch finanzielle Unterstützung fördern wollen. Aber die Kleine wirkt, nicht zum ersten Mal heute, ein bisschen geknickt deswegen.
"Sie sagen, ich kann ja arbeiten."
Da haben sie allerdings Recht.
"Wieso machst du's denn nicht?" will ich wissen.
Wir biegen auf den kleinen Parkplatz ein und ich platziere Sonjas Flitzer gekonnt zwischen den Hotel-Sprintern.
Charlie antwortet mir gar nicht mehr sondern hüpft direkt aus dem Auto.
Mit den Tüten unterm Arm wartet sie ungeduldig, bis ich das Auto abgeschlossen habe.
"Ich hab Hunger." verkündet sie.
Na dann mal los.
Einträchtig wandern wir zum Haupthaus.
Ich lächle Marlen zu, die mit den Fingern an der Schläfe, neben Nathalie an der Rezeption steht und die Buchungen überprüft.
Als sie unsere Errungenschaften und das Strahlen ihrer Tochter sieht lächelt sie sogar zurück.
Im Restaurant herrscht noch Hochbetrieb.
Wir lagern unsere Tüten am Tisch bei der Theke und Charlie schießt sofort davon, um sich ihr geliebtes Schnitzel vom Buffet zu holen.
Ich erblicke Pilar beim Gläserpolieren und begrüße sie.
"Na?" fragt sie neugierig.
Ich grinse. "Mein Geldbeutel ist leer und der Kleiderschrank voll." verkünde ich.
"Cool." attestiert sie mir mit einem Augenzwinkern. "Wie war es mit der kleinen Zicke?"
"Ganz gut." meine ich mit einem Achselzucken.
Pilar seufzt. "Ich verstehe nicht, wieso du dich mit ihr abmühst."
"Sie ist schon okay. Sie hat es auch nicht leicht hier..." sage ich und meine es auch so.
Ich meine - Charlie verbringt jeden Sommer ihres Lebens in dieser Anlage, wo sie von ihren Eltern nur zur Seite geschoben und von den meisten Angestellten gemieden wird - weil sie eben die Tochter der Chefs ist.
Das macht sicher keinen Spaß.
Kaum zu glauben, aber sie tut mir wirklich ein bisschen Leid.
"Kein Grund immer so fies zu sein." meint Pilar nur.
Ich lächle.
Klar, Pilar hat Recht.
Aber auch Charlie hat ein bisschen Mitgefühl verdient.
Sie kommt mit einem vollen Teller zurück und winkt mir zu. "Willst du nichts essen?"
Ich schenke Pilar ein letzte, versöhnliches Lächeln und mache mich dann auch auf den Weg zum Buffet.
Shopping macht hungrig!
*
"Hast du dich extra für mich schick gemacht?" begrüßt Fernando mich mit breitem Grinsen.
Ich muss lachen. "Klar. Ausschließlich!"
Schön, dass es jemandem auffällt.
Ich trage eine nagelneue, eng sitzende Jeans und ein schickes, beigefarbenes Oberteil aus fließender Seide. Inklusive Hüftgürtel.
Ich glaube, dass sind die coolsten Klamotten, die jemals den Weg in meinen Kleiderschrank gefunden haben.
Charlie ist zwar eine Nervensäge, aber das mit dem Shoppen haben wir beide ganz gut hinbekommen.
Sonja grinst ebenfalls, als sie mich sieht.
"Uiuiui! Leni!"
Wir lachen beide.
Dann reicht es aber auch wieder.
Ich bin eigentlich in der Küche um zu helfen und nicht, um eine Modenschau zu starten.
"Was kann ich tun?" frage ich Sonja, die mich zu sich winkt.
Ein großer, quadratischer Geburtstagskuchen mit sechs verschiedenen Schichten wartet darauf, von uns dekoriert zu werden.
Ich darf Sonja die kandierten Früchte und Marzipanblüten reichen, die sie dann liebevoll auf dem Kuchen drapiert.
"So ein Aufstand wegen 'nem alten Knacker!" schimpft die Küchenchefin leise vor sich hin.
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen.
Meine Laune heute ist wunderbar. Ich weiß selber noch nicht genau, warum.
Draußen schüttet es in Strömen, Marlen klagt schon den ganzen Tag über ihre Migräne und Anne steht, wieder einmal, kurz vorm Herzinfarkt.
Mir ist das egal. Ich bin fröhlich.
Sonja zieht eine Augenbraue nach oben.
"Neues Outfit und super Stimmung? Sind wir verliebt, Kleine?" Sie wittert gleich eine neue Story.
Ich schüttele heftig den Kopf.
So ein Quatsch.
"Gar nicht."
"Jaja! Das behaupten sie alle!" Sonja lacht.
Geschickt platziert sie die kleinen Kerzen auf dem Kuchen. Hoffentlich zählt niemand nach - für ganze fünfundsechzig wäre nämlich wirklich kein Platz gewesen.
"Ist es Nick? Na? Ich hab schon gehört, dass da was ging... drüben am Stall!" kichert Sonja.
"Definitiv nicht." sage ich kühl.
Nick ist ein Idiot.
Punkt.
"Wer ist es dann? Der schöne Paul? Oder jemand von den Gästen? Oh, bitte nicht so einer. Das ist gefährlich, Kleine, glaub mir das!"
"Ich bin nicht verliebt." ich muss schon wieder lachen. "Echt nicht!"
"Na hoffentlich! Die Chefs mögen das nämlich gar nich'. Das mit den Gästen, mein ich. Das ist zwar gut fürs Geschäft, aber später gibt's Ärger. Das finden sie noch schlimmer, als wenn die Belegschaft miteinander flirtet."
Aha.
Gut zu wissen.
"Das is' nämlich okay. Untereinander dürfen sie das. Solange sie die Finger von Charlie lassen, klar. Und von den Gästen eben."
Sonja sieht auf und gemeinsam begutachten wir ihr Werk.
"Die Erdbeere ist schief." sage ich.
"Für den ollen Opa wird's wohl reichen!" erklärt sie.
Auch in Ordnung.
Ich werde damit betraut gemeinsam mit Fernando das Meisterwerk in den Vogelsaal zu transportieren.
Vier Stunden später liegt Sonjas Arbeit klein geschnitten auf den Tellern.
Der ehrenwerte Theodor Oswald, der sich dazu herabgelassen hat bei uns seinen Ehrentag zu begehen sitzt, umringt von Familie, Freunden und halb Bayern im Saal und lässt sich feiern.
"So ein Schnösel." brummt Anne und stellt sich zu mir ans Buffet.
Ich lächle nur.
Ihre schlechte Laune kann mir überhaupt nichts anhaben.
Draußen trommelt noch immer der Regen gegen die hohen, geschwungenen Fenster.
"Für wann ist das Abendessen geplant?" frage ich Anne, obwohl ich es eigentlich schon weiß.
Ich will ein bisschen Konversation machen, damit sie ruhiger wird.
Das klappt meistens.
"Halb sieben. Und danach kommt der lächerliche Alleinunterhalter und die Familie präsentiert eine kleine Show." Anne verdreht die Augen. "Der übliche Mist."
"Schon klar..."
Ich bin wirklich gespannt, wie sie sich ab Montag dann als Camp-Leiterin macht.
"Entschuldigung?" eine kleine, dürre Frau mit Turmfrisur baut sich vor uns auf und lächelt schief. "Entschuldigen Sie!"
"Können wir Ihnen helfen?" fragt Anne, jetzt wieder total freundlich.
Service wird hier ja bekanntlich großgeschrieben.
"Haben Sie meine Töchter gesehen?" will die kleine Frau wissen.
Annes Blick ist köstlich.
"Ihre Töchter?"
"Kleine Mädchen!" sagt die Frau.
Aha.
Ausführlicher ging's wohl nicht.
"Hier sind viele kleine Mädchen..." werfe ich vorsichtig ein.
In der Tat. Allein am Bühnenrand sitzen vier kleine Gören in Rüschenkleidern, die für das Erinnerungsfoto posieren müssen.
"Sie sind sechs und acht. Rosa Kleidchen. Lilli hat eine Schleife im Haar! Ich finde sie nirgends!" die Frau guckt verzweifelt.
"Haben Sie schon im Foyer nachgesehen?" fragt Anne.
Wir ernten einen hilflosen Blick.
"Ich kenne mich hier gar nicht aus!" klagt die Kleine.
Ich glaube Anne platzt gleich.
"Ich gehe gerne nachsehen." biete ich schnell an.
Die Dame atmet auf. "Vielen Dank! Nicht, dass sie sich verlaufen haben!"
"Schon in Ordnung." ich lächle.
Hier gibt es für mich sowieso nicht mehr zu tun, als auf die Kuchenauswahl aufzupassen.
Anne nickt mir zu und ich verschwinde durch die Nebentür.
An der Rezeption ist wenig los und Nathalie, die Dienst hat, weiß auch nicht weiter.
Also los.
Ich sehe im Speisesaal nach, wo gerade der Nachmittagstee serviert wird, schaue in der Küche vorbei und im Gymnastikraum.
Viele Menschen, auch einige in Rosa, aber keine kleinen Mädchen und auch keine Schleife.
Jetzt mache ich mir tatsächlich ein bisschen Sorgen.
Die beiden könnten überall sein.
Wer weiß, was passiert ist!
Hoffentlich sind sie nicht zum See gelaufen oder...
Beruhig dich, Leni.
Alles wird gut.
Ich gehe zurück zu Anne um nachzufragen, ob die beiden nicht doch unter irgendeinem Tisch saßen und Verstecken gespielt haben.
Ich werde enttäuscht.
"Vielleicht draußen irgendwo?" schlägt Anne vor.
Ich seufze.
Das dämmt meine gute Laune dann doch ein bisschen ein.
Das Wetter lädt nicht gerade zu einem Spaziergang übers Gelände ein.
Aber mir bleibt nichts anderes übrig.
"Geh schon!" drängelt Anne und schiebt mich zur Tür.
Okay.
Dann mal los.
Innerhalb von Sekunden bin ich komplett durchnässt.
Vielleicht wäre eine Jacke klug gewesen - aber dafür ist es jetzt zu spät.
Ich laufe durch den Park und zum See.
Von den Kleinen ist nichts zu sehen.
Heather, die mir entgegen kommt schüttelt nur den Kopf. "Du bist ja verrückt!" ruft sie.
Ich nicke.
Muss ich wohl sein.
Weiter geht's.
Vielleicht haben sie sich im Wald untergestellt?
Möglich wäre es.
Ich laufe weiter und höre plötzlich leises Gekicher.
Natürlich.
Sie sind im Stall.
Kleine Mädchen verstecken sich immer bei den Pferden!
Ich renne los.
Der Regen peitscht mir ins Gesicht und zerstört den letzten Rest, der noch von meiner Frisur übrig war.
Das Seidentop klebt an meinem Körper.
Hoffentlich sieht mich so niemand.
Ich finde die beiden Ausreißer in den Überresten von einem Strohballen, den sie zum Spielen missbraucht haben.
Die komplette Stallgasse liegt voll davon.
"Hallo ihr zwei!" rufe ich und sehe in erschrockene Kindergesichter.
Tatsache.
Rosa Kleidchen, eine Schleife.
"Wer bist du denn?" fragt die Kleinere mit großen Augen.
"Ich bin Leni. Eure Mama sucht schon nach euch!"
Die zwei tauschen einen Blick. "Wir sind doch hier!" sagt Schleifchen-Lilly und ihre Schwester nickt heftig.
Sie heißt Nele und die beiden finden die Geburtstagsparty von Großonkel Theo ziemlich langweilig.
"Da ist es doof." erklärt Nele.
Ich muss schmunzeln.
"Ihr könnt euch aber nicht einfach verstecken." sage ich dann.
Ein bisschen Erziehung muss schließlich sein.
Die Reaktion besteht aus einem Achselzucken. "Da sind Pferde." erklärt Lilly.
Sie zeigt auf die Box, aus der das gescheckte Pferd von Nick neugierig hervorschaut.
"Aber so weit oben!" schimpft Nele.
Ich kann nicht widerstehen.
Sie sind einfach zuckersüß.
Außerdem regnet es mittlerweile so stark, dass wir sowieso nicht zurück zum Haupthaus können.
Ich krame mein Handy aus der Hosentasche, wische ein paar Regentropfen vom Display und schicke Anne die frohe Botschaft.
Dann nehme ich beide Mädchen an der Hand. "Kommt mit. Ich zeig euch mal die Pferde."
Ein paar der Namen bekomme ich noch zusammen.
Die alte heißt Buster und die hübsche Molly.
Die anderen Namen stehen zum Glück auf den Tafeln, die an den Boxen hängen und ein paar erfinde ich einfach neu.
Immer abwechselnd hebe ich die Kleinen hoch, in sicherer Entfernung von den Pferdenasen natürlich, damit sie in die Boxen schauen können.
Dann erzähle ich ihnen eine Geschichte zu jedem Pferd.
Falls mal jemand fragt: Molly ist eine ältere Lady aus England, die gerne Tee zu ihrem Hafer trinkt.
Und Buster ist ihre beste Freundin.
Die Mädchen quietschen vor Freude. "Du bist ja lustig!" bescheinigt mir Lilly mehrfach.
Dann quietscht eine Tür.
"Was zum Teufel...?"
Ich zucke zusammen und lasse die kleine Kinderhand los.
Lilly schaut fragend zu mir hoch.
Den kenne ich doch.
Die Augen unter dem Cowboyhut schauen mit unverwandt an.
Chris?
"Was ist hier denn los?" will er wissen und nimmt den Hut ab. Sein Blick gleitet über das Stroh auf dem Boden zu mir und meiner ungewöhnlichen Begleitung.
Jetzt erkenne ich ihn.
Tatsache.
Er kommt näher und schaut dabei ziemlich skeptisch drein. Ich fürchte fast, jetzt gibt's Ärger.
Er trägt eine blaue Regenjacke mit dem aufgestickten blauen M darauf und seine Stiefel sind Zentimeter dick mit Schlamm bedeckt.
"Das sind Lilly und Nele." stelle ich ihm meine Begleitung gut gelaunt vor.
Nur weil er schon wieder mies drauf ist, muss ich mich davon ja nicht anstecken lassen.
Eben hatten wir noch so viel Spaß!
Jetzt sind die Mädchen total eingeschüchtert.
"Sie sind ausgebüchst." erkläre ich.
Chris nickt. "Aha. Das ist gefährlich hier. Ich dachte, irgendein Tier wäre eingebrochen oder so!"
Ich lächle beschwichtigend.
Er kommt näher und steht jetzt direkt vor uns.
"Schon gut." sage ich schnell.
Ein letzter unfreundlicher Blick, dann lässt er die Schultern sinken. "Du bist ja ganz nass."
Tatsache.
Sag ich doch, ein kluges Kerlchen.
Seine Züge entspannen sich ein bisschen.
Er sieht zu den Kleinen nach unten und lächelt sogar ein bisschen. "Und was macht ihr jetzt hier?" fragt er dann mit einem Seufzen.
Wahrscheinlich ist im gerade klar geworden, dass das schlechte Wetter uns von unserer Rückkehr ins Haupthaus abhält und ich hier auch nur versuche, das beste daraus zu machen.
"Leni zeigt uns die Pferde!" sagt Nele.
"Molly kommt aus England." fügt Lilly mit altkluger Miene hinzu.
Ich grinse unschuldig.
Chris verzieht sein Gesicht ebenfalls zu einem Grinsen, wirft mir einen letzten knappen Blick zu und schnappt sich dann Lilly, um sie auf seine Schulter zu setzen.
"Na, dann erzähl ich euch mal was über den hier."
Ich hebe Nele hoch und folge ihm.
"Das ist unser Chicago. Der kommt aus Amerika." erzählt Chris.
Die Mädchen staunen. "Das ist aber weit weg..."
"Allerdings! In Amerika hat er bei einem richtigen Cowboy gewohnt. Wisst ihr, was ein Cowboy ist?"
Die kleinen bejahen diese Frage augenblicklich. "Die mit dem Hut!" ruft Nele.
"Genau. So ein Cowboy hat unserem Chicago alles beigebracht, was er wissen muss. Chicago kann Kühe jagen. Und er gehört zu den schnellsten Pferden auf der Welt!"
Die Kleinen staunen nicht schlecht.
Chris macht das ziemlich gut.
Ich habe zwar keine Ahnung, was von seiner Geschichte auch tatsächlich war ist, aber seinem Publikum gefällt es.
Wir stehen vor der Box und ich beginne zu frösteln.
Das Top hört einfach nicht auf zu tropfen.
Und meine dünnen Schuhe sind sowieso schon lange durch.
Chris sieht zu mir hinüber.
"Wollt ihr die Sattelkammer sehen?" fragt er im Animateur-Tonfall und setzt Lilly ab.
Die Kinder jubeln und stürmen davon.
Chris schält sich aus seiner Jacke und drückt sie mir in die Hand. "Da."
Ein Lächeln gibt's dazu leider nicht.
Aber immerhin muss ich jetzt nicht mehr frieren.
Er folgt den Mädchen zu den Sätteln.
Als er an mir vorbei geht, höre ich, wie er dicht an meinem Ohr knurrt: "Bevor du das nächste Mal Blödsinn über meine Pferde erzählst, kannst du mal zum Grundkurs antreten!"
Alles klar.
Sobald der Regen nachlässt liefere ich die Mädchen, pünktlich zum Abendessen wieder im Vogelsaal ab.
Anne bedenkt mich mit einem schockierten Blick und ich habe nicht einmal den Hauch eines schlechten Gewissens, weil ich mich anschließend gleich davon stehle um zu duschen.
Ich bin so durchgefroren, dass ich fürchte, demnächst tatsächlich Gebrauch von Mamas Medikamentensammlung machen zu müssen.
Erst im Badezimmer, als ich an meinen durchnässten Sachen zerre, fällt mir auf, dass ich Chris' Jacke noch trage.
Naja.
Er wird wohl einen Abend ohne sie auskommen.
Ich stelle mich unter die Dusche und lasse mir das heiße Wasser auf den Kopf rieseln.
Endlich.
Wie gut das tut!
Es war zwar lustig, aber wiederholen möchte ich diesen Nachmittag definitiv nicht.
Am besten wird sein, wenn ich Pilar die Jacke mitgebe. Die hat ja ganz eindeutig einen besseren Draht zu Chris dem Nicht-Reitlehrer, als meine Wenigkeit.
Ein komischer Typ.
Ich meine - er kann ja nett sein. Im Seehaus unten war zum Beispiel. Da ging es ja auch irgendwie. Und mit den Kindern kam er auch klar.
Nur Zwischendurch - da werde ich einfach nicht schlau aus ihm.
Hmm.
Zum Glück ist es ja Pilar, die an ihm hängt, und nicht ich.
Ich muss grinsen.
Wo die Liebe hinfällt.
Wenigstens sieht er gut aus.
Ja wirklich. Die beiden wären sicher ein hübsches Paar.
Pilar ist wunderschön und Chris... naja. Irgendwie erinnert er mich ein bisschen an die Bad-Boy-Schauspieler aus alten Filmen.
Coole Frisur, durchtrainierter Body, böser Blick.
Aber trotzdem nicht so schlecht.
Ich höre, wie die Badezimmertür geöffnet wird.
"Leni?" das ist Charlies Stimme.
"Ja?" rufe ich und hoffe, dass sie mich nicht all zu lange stört.
Aber Charlie wäre nicht Charlie, wenn sie nicht schon wieder irgendwas wollte.
"Guckst du mit mir Twilight? Bella hat die neue DVD da gelassen!"
Uff.
Auch das noch.
"Nachher, okay?" rufe ich ihr zu.
"Hmm." macht meine Cousine.
Die Badezimmertür fällt ins Schloss.
Ich überlege, ob ich nochmal nach unten, auf Onkel Theos lahme Feier gehen soll, oder ich Charlie als Ausrede vorschiebe.
Vorbildfunktion und Familienfrieden und so.
Die Faulheit - und der komische Vampir-Klamauk - siegen.
*
"Jaja, die Partys am See..." Sonja seufzt verträumt.
"Warst du da auch mal?" frage ich neugierig.
Pilar will, dass ich heute Abend wieder mitkomme.
Im Haupthaus spielt irgendeine kleine Band, so dass die Chefs und Anne beschäftigt sind. Unten wollen die anderen feiern, dass heute die letzte Woche der Nebensaison angefangen hat. Am Samstag lädt MM zwar auch noch offiziell zum Saisonstart ein, aber ein bisschen vorfeiern hat ja noch keinem geschadet.
Noch fünf Mal schlafen, dann ist hier die Hölle los.
"Früher ständig!" erzählt Sonja mir mit leuchtenden Augen. "Aber jetzt wohn ich ja nich' mehr da. Und aus dem Alter bin ich auch raus..." sie kichert.
Ich richte einen Salatteller nach dem anderen an und schiebe ihn Meike und ihren Kellnern hin.
Der Mittagstisch läuft gut.
Der leichte Regen, der immer wieder einsetzt, scheucht die Gäste, aber auch die Wanderer aus der Umgebung ins Restaurant.
"Das waren wilde Partys, sag ich dir! Alkohol bis zum Umfallen und getanzt haben wir... du meine Güte!"
ich muss grinsen.
Sonja wird richtig melancholisch.
"Allein das war's wert, jeden Sommer herzukommen. Als ich dann fest angestellt worden bin und wir das neue Haus hier gebaut haben, war keine Zeit mehr, klar. Früher, da haben wir in kleinen Hütten am Wald gewohnt! Da war was los!"
Sie verfällt ins Schwärmen.
Ich schiebe meine Salattellerchen von links nach rechts und höre zu.
Die guten alten Zeiten, also.
Jaja.
Anne kommt herein und wedelt mit ihrer Mappe. "Leni, ich brauch dich oben!" ruft sie unwirsch.
"Ich brauch' sie hier." gibt Sonja zurück.
Anne runzelt die Stirn. "Die Band..."
"Das Mittagessen."
Fernando lacht als er an mir vorbei geht. "Du bist heiß begehrt!"
Sieht so aus.
Sonja gewinnt.
Anne bekommt mich erst, wenn die Mittagsschicht vorbei ist.
"Du musst bei der Bar helfen! Sonst können wir keine Getränke verkaufen." informiert Anne mich, bevor sie wieder geht.
Die nächste Besucherin, die uns eine halbe Stunde später gegen Ende der Schicht beehrt, ist Marlen.
Es ist mittlerweile ein bisschen ruhiger geworden.
Sonja singt leise vor sich hin.
"Na? Alles klar bei euch?" fragt Tante Marlen.
Mir fällt auf, dass ich sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr viel gesehen habe.
Sie sieht abgehetzt und müde aus.
"Alles wunderbar!" ruft Sonja gut gelaunt. "Du siehst krank aus, Schätzchen!"
Marlen schüttelt den Kopf. "Ach, dieses Wetter... du weißt schon."
Sonja nickt.
Klar.
Sie weiß alles.
Ich hänge mein Tuch auf die Leine und räume die letzten Tellerchen wieder in den Schrank.
Das Mittagessen ist fast vorbei und Meike hat keine neuen Bestellungen mehr für mich.
"Leute, ich wollte euch kurz an Mittwoch erinnern! Zwanzig Uhr für alle!" ruft Tante Marlen in den Raum.
Ich schiebe mich an ihr vorbei.
Anne wartet wahrscheinlich schon.
"Jetzt trinkst du erstmal eine Tasse Tee und ruhst dich ein paar Minuten aus." höre ich Sonja sagen.
Gute Idee, denke ich.
Marlen braucht dringend mal eine Pause.
Die Bar steht, die Band spielt und das Publikum wippt brav im Takt dazu.
"Gehen wir?" fragt Pilar leise.
Wir stehen ganz hinten im Saal, umgeben von denen, die nicht mehr in der Lage sind ohne Hilfsmittel zu feiern und zu tanzen.
"Zum Seehaus?"
Pilar nickt.
Es ist zwar noch früh, aber das interessiert sie wohl nicht.
Es gibt sicher einen Grund, wieso sie so drängelt.
Ich gebe nach.
Hier ist es sowieso nicht so spannend.
"Ich muss nochmal kurz in die Wohnung!" sage ich.
"Wieso?"
Sie folgt mir zur Tür.
"Chris hat mir seine Jacke geliehen. Ich will sie ihm zurück geben."
Pilar zieht eine Augenbraue nach oben. "Seine Jacke?"
"Am Sonntag!" ich lache.
Auf dem Weg nach oben erzähle ich ihr von unserer kleinen Begegnung.
Hoffentlich ist sie nicht eifersüchtig oder so. Ich meine - falls sie ihn tatsächlich mag.
So richtig sicher bin ich mir bei Pilar da im Moment nicht.
Sie hätte mir doch sicher gesagt, wenn sie auf ihn stehen würde?
Ich meine - Chris, der ist doch trotz allem ganz in Ordnung. Das kann man doch zugeben!
Ich öffne die Wohnungstür und lasse Pilar den Vortritt.
Staunend wandert sie durch den Flur. "Cool!"
Ich nicke. "Nicht schlecht, oder?"
"Du solltest mal unsere Zimmer sehen!" sie lacht.
ich gehe ins Bad, weil ich glaube, die Jacke dort vergesen zu haben.
Aber ich werde enttäuscht.
Hm.
Vielleicht habe ich sie ja doch ins Kinderzimmer gepackt?
Hoffentlich hat Marlen sie nicht einfach weggeräumt. Ich meine, jeder der Angestellten hat so eine Jacke, vielleicht hat sie ja gedacht...
"Suchst du was?" Charlie taucht im Flur auf.
Sie schwenkt triumphierend die blaue Windjacke vor meinem Gesicht.
Ich will dankbar danach greifen, aber sie zieht sie weg.
"Charlie! Gib her!" rufe ich.
"Nein."
"Wieso denn nicht?"
"Von wem ist die?" will sie wissen.
Du meine Güte.
Bin ich hier im Kindergarten oder was?
"Geht dich nichts an."
"Die ist von Nick oder?" Charlies Stimme wird wieder einmal zu einem hohen Piepsen.
Ich ahne, dass sie schon eine ganze Weile mit der Jacke unterm Arm durch die Wohnung tigert und auf mich wartet.
Leider bin ich mir nicht ganz sicher, was sie jetzt vorhat.
"Die gehört nicht Nick." mischt Pilar sich ein.
"Halt die Klappe!" faucht Charlie.
Leider muss ich meine Cousine mal wieder falsch zitieren: "Blöde Kuh!"
Pilar reist die Augen auf. "Zicke." brummt sie.
Ich versuche es, auf die ernste Tour. "Charlie, die Jacke gehört jemandem, der sie gerne wieder haben will."
"Ja. Nick." behauptet sie.
"Woher willst du das denn wissen?" frage ich mit einem Seufzen.
Sie verrennt sich da eindeutig in was.
"Da sind Pferdehaare dran!" Charlie hält mir das Beweisstück so nah vors Gesicht, dass ich sie diesmal erwische.
Wir zerren für einen Moment beide an dem Kleidungsstück, dann halte ich das Ding in der Hand.
Na geht doch.
"Komm, Pilar." sage ich und drehe mich um.
Chris bekommt seine Jacke und wir haben unsere Ruhe.
Leider habe ich die Rechnung ohne Charlie gemacht.
Sie läuft uns einfach hinterher.
"Wo geht ihr hin?" will sie wissen.
"Weg."
"Wohin?"
"Du nervst." seufzt Pilar.
Ich seufze ebenfalls. Ein bisschen tut Charlie mir ja schon wieder leid - aber auf der anderen Seite hat Pilar eindeutig Recht.
Ich überlege, ob es eine Chance gibt, sie abzuwimmeln, aber ich sehe schwarz.
Wir sind schon in der Eingangshalle und Charlie macht noch immer keine Anstalten, zurück zu gehen.
"Sollen wir sie nicht einfach mitnehmen?" frage ich Pilar leise.
Was soll sie schon groß anrichten?
Pilar schaut entsetzt. "Spinnst du?"
Ich zucke mit den Achseln. "Komm schon."
Es ist ja nur ein Abend im Seehaus.
Charlie wohnt schon so lange hier, dass sie garantiert weiß, was da abgeht.
Außerdem hat sie es, als Tochter der Chefs sicher auch nicht immer leicht hier.
Ihre Miene wird gleich viel freundlicher, als sie begreift, worum es geht.
"Gibt es eine Party?" fragt sie aufgeregt.
"Psst!" macht Pilar.
wir verlassen das Haupthaus und laufen durch den Park Richtung See.
"Du darfst mitkommen, wenn du versprichst, die Klappe zu halten." beschwöre ich sie.
"Wow!" ihre Augen glänzen.
Es sind eben die kleinen Dinge im Leben.
Pilar findet die Idee immer noch nicht so gut. "Sag keinem, wie du heißt. Klar?" sagt sie zu Charlie.
Ich bin mir zwar nicht sicher, ob das hilft - aber gut.
Wir sind da.
Vor dem Haus glüht das Lagerfeuer noch nach, dass dem Regen nicht stand gehalten hat.
Im Haus ist ebenfalls nur wenig los.
Die meisten sind wahrscheinlich noch unterwegs oder hören der Band zu.
Ich schaue mich um - auch Chris ist nicht zu sehen.
Ich hänge die Jacke zu den anderen an die Garderobe und folge Pilar zu den Sofas.
Charlie sieht gar nicht beeindruckt aus.
Roman, der Animateur und Tom von der Camp-Leitung sitzen auf der Couch neben uns und grüßen freundlich.
Sie haben Cola-Flaschen in der Hand und im Hintergrund singt Robbie Williams.
Die Enttäuschung steht Charlie ins Gesicht geschrieben.
"Wir haben vor, eure Idee mit den selbst gebauten Floßen zu klauen. Das wird sicher lustig." sagt Tom zu Roman.
Der stimmt ihm zu.
Die Enttäuschung steht Charlie ins Gesicht geschrieben.
Keine Party. Und vor allem kein Nick.
"Das ist ja langweilig hier!" sagt sie.
Pilar grinst hämisch. "Musst ja nicht hier bleiben!"
"He! Bist du nicht die Tochter vom Chef?" Roman mustert sie.
Sein Interesse reicht aber nicht über diese Frage hinaus.
"Vielleicht machen wir auch eine Nachtwanderung. Aber nur, wenn Andi mitkommt." fährt Tom mit seinem Bericht über die Camp-Planung fort.
Ich nutze die Chance und steige mit ein: "Vielleicht könnt ihr ja Streckenposten aufstellen, damit niemand abhaut!"
Charlie hat endgültig genug.
"Ich haue ab." erklärt sie und verschwindet.
Das war dann wohl der kürzeste Party-Besuch ihres Lebens.
Pilar und ich tauschen einen schadenfrohen Blick.
Eine Stunde spät ist die Musik lauter und das Wohnzimmer voller Leute.
Alle, die sich eingefunden haben, sind fest entschlossen, diese letzte, etwas entspanntere Woche nach Kräften zu feiern.
Aus den Boxen dröhnt Diskomusik, die ich nur aus dem Fernsehen kenne. Pilar tanzt mit Chris zwischen einigen anderen und ich trinke das erste Bier in meinem Leben.
Roman und Tom sitzen noch immer mit mir in der Ecke.
"Und wie läuft's bei dir so? Alles klar bei den Großen?" fragt Roman mich.
Er weiß, dass ich nicht einfach nur eine schüchterne Neue bin und ich bin ihm unendlich dankbar dafür, dass er es nicht ausgeplaudert hat.
Roman ist ein netter Kerl.
"Da spielt irgendeine Band." meine ich nur.
"Glaubst du, dass das 'ne gute Idee war, die Tochter vom Chef mit hier her zu bringen?" will Tom wissen.
Noch einer, der informiert ist.
"Keine Ahnung. Sie hat sich nicht abwimmeln lasse." sage ich leise.
Hoffentlich kriegt niemand von den anderen was mit.
Tom nickt nur. "Jaja. Die liebe kleine Charlotte will eben auch mal bei den großen Kindern mitspielen." er kichert.
Lieb und klein?
Das ist aber definitiv schon ein paar Tage her.
"Was machen denn die Vorbereitungen für das Camp?" erkundige ich mich, um das Thema zu wechseln. "Nächste Woche geht's los, oder?"
Tom verdreht die Augen und seufzt theatralisch.
Er ist, mit seinen in alle Himmelsrichtungen gegelten Haaren und den gezupften Augenbrauen eine echte kleine Diva.
"Frag nicht!" stöhnt er.
Roman lacht. "Annes Laune wird auch nicht mehr besser, oder?" will er wissen.
Tom verzieht das Gesicht. "Diese alte Zicke. Ich will meinen richtigen Job wieder haben..."
"Was ist denn dein richtiger Job?" frage ich gut gelaunt.
Ich kann ihm nachfühlen.
Vier Wochen Camp-Leitung mit Anne wäre wohl für jeden hier zu viel.
"Letztes Jahr hab ich noch die Animation geleitet." erzählt Tom.
Roman grinst. "Tja..."
"Was ist denn passiert? Wieso hast du denn dann gewechselt?"
"Er hat nicht gewechselt." meint Roman. "Er wurde gewechselt!"
Ich werde neugierig.
Die spannenden Geschichten hier nehmen einfach nie ein Ende. "Hast du was verbrochen?" frage ich fröhlich.
Tom macht eine wegwerfende Handbewegung die einfach allerliebst ist.
"Ich hab den Sohn von einem Gast verführt." erzählt er trocken.
Roman bricht in lautes Gelächter aus.
Ich bin verwirrt.
"Den Sohn?"
Tom seufzt. "Der Sohn war fünfundzwanzig, zuckersüß und ganz offensichtlich nicht an den jungen Damen im Raum interessiert. Ich hatte keine andere Wahl!"
Jetzt muss ich auch lachen. "Und deswegen wurdest du ins Camp abgeschoben?!"
"Der spießige Vater von dem Knackarsch fand das gar nicht lustig und hat sich bei MM beschwert." er verdreht die Augen.
"Der fand das schlimmer dass sein Sohn wohl so schnell keinen eigenen Nachwuchs fürs Familienunternehmen produzieren wird, als die Tatsache, dass er was mit dem Animateur hatte." fügt Roman hinzu.
"Für die Chefin hat es jedenfalls gereicht. Das mit dem Camp ist meine letzte Chance."
Hmm.
"Jetzt schau nicht so überrascht!" Roman lacht schon wieder.
"Das ist schon ein bisschen streng, oder...?" höre ich mich sagen.
Klar, ich weiß dass MM hier hart durchgreifen muss und so. Aber gegen ein bisschen Romantik kann doch keiner hier was haben, oder?
"Regeln sind Regeln." meint Tom nur. "Die Angestellten lassen die Fingern von den Gästen."
"Jedenfalls die meisten." stimmt Roman ihm zu und macht eine Kopfbewegung in die Richtung, in der Nick und der schöne Paul es sich gerade gemütlich gemacht haben.
Aha.
Das sind also die Ausnahmen.
Tom hat offensichtlich genug von diesem Thema. "So Kinder. Ich geh jetzt tanzen!" ruft er und springt auf.
Ein paar Sekunden später steht er im Mittelpunkt der Tänzer und legt eine erstklassige Show hin.
Da hat wohl jemand mehr als eine Tanzstunde bei Marta diSantos genommen!
Ich spüre, dass ich beobachtet werde. Nick starrt zu uns rüber und grinst dämlich.
Er flüstert Paul etwas zu und setzte sich dann in Bewegung.
Du meine Güte.
Will der jetzt echt zu uns rüber?
Ich springe auf und schnappe mir Romans Arm. "Komm." sage ich leise. "Tanzen!"
Alles ist besser als eine Unterhaltung mit Nick!
"Wohin so eilig?"
"Entschuldigung!"
Ups.
Da hätte ich wohl fast meine Großmutter umgerannt.
Ich sehe hoch, erblicke ein taubengraues Kostüm und MM's ernste Miene.
Mein Herz macht einen unkontrollierten Hüpfer.
Scheiße.
Mein erster Gedanke ist: Charlie hat gepetzt.
Sie ist gestern Abend, nachdem die Party so enttäuschend für sie war, zu ihren Eltern gerannt und hat uns verraten!
Das gibt Ärger.
Wenn Toms kleine Affäre mit einem erwachsenen Gast schon ausreicht um ihn inklusive Verwarnung in Annes Zwangs-Ferienlager abzuschieben, dann ist so eine nicht ganz legale Party im Seehaus, auf der ich eigentlich nicht sein sollte bestimmt Grund genug um mich umgehend nach Hause zu schicken.
In Gedanken packe ich schonmal meine Koffer.
Ich will hier nicht weg!
Verdammt!
"Helena?" MM'S Stimme holt mich zurück in die Realität.
Bin ich schon gefeuert?
"Hm?"
"Ich habe eine Spontan-Aufgabe für dich." wiederholt meine Großmutter.
Oh.
Das klingt nicht unbedingt nach Kofferpacken.
"Ja? Kein Problem!" höre ich mich sagen.
Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus und löst die Schockstarre ab.
Alles, was sie will.
"Nick hat gerade angerufen."
Schön.
Was habe ich damit zu tun?
"Basti ist irgendwie krank und Armin ist mit diesem anderen Jungen unterwegs, wegen den Kutschen für Freitag."
Aha.
Die Kutschen sind für das anstehende Event: Sonja serviert ein mittelalterlich angehauchten Festmahl und anschließend dürfen die Gäste eine Runde in der Kutsche um den See drehen. Pilar und ich sind natürlich mal wieder für die Deko zuständig.
"Nick meint, er braucht dringend jemanden der ihm hilft und will, dass du zum Stall kommst. Schnell." fährt MM fort und schaut mich eindringlich an.
Oh.
Ich?
"Helena, geht es dir nicht gut? Du siehst ein bisschen blass aus!"
"Nein, nein. Alles super. Ich geh sofort rüber!" sage ich schnell, grinse sie noch einmal zum Beweis dafür an und laufe los.
Ich bin so froh darüber, dass Charlie dicht gehalten hat und ich keinen Ärger mit MM bekommen habe, dass mir die eigentliche Aufgabe sogar egal ist.
Bis ich am Stall angekommen bin, jedenfalls.
Nick steht, den Hut im Nacken und ein breites Grinsen auf den Lippen im Hof vor der Stallgasse und wartet schon.
"Das ging ja schnell!" lautet seine Begrüßung.
"Hallo Nick."
Mir dämmert, dass er meine Hilfe nicht unbedingt wegen meiner übernatürlichen Fähigkeiten in Sache Pferdepflege angefordert hat.
Aber egal.
Ich bin hier und ich helfe Nick.
Das mit dem Flirten ist aber ersatzlos gestrichen.
"Was steht denn an?" frage ich mit ernster Miene. Wir haben ja schließlich Arbeit vor uns.
"Ich reite mit einer Gruppe zur Flussquelle. Ziemlich schön da." erzählt er mir. "Lust, mitzukommen?"
"Ich kann gar nicht reiten." sage ich schnell.
Er lacht. "Das ist wirklich schade!"
Absolut.
Ich darf wieder die bunten Halfter tragen, während wir die Koppel nach den Pferden abklappern.
Die Sonne hat das miese Wetter zwar wieder abgelöst, aber es ist immernoch ein bisschen kühler als die letzten Tage und der Boden ist matschig.
Meine Turnschuhe versinken im Boden.
Nick stolziert in seinen frisch polierten Cowboystiefeln voran. "Was ist denn los?" er lacht.
"Nichts." behaupte ich trotzig und hole mit schnellen Schritten auf.
Buster, Molly, Pepsi, Donna, Baby.
Nick legt fachmännisch die Halfter an und die Pferde trotten uns brav hinterher zum Putzplatz.
"Du kannst schonmal die Putzboxen holen, Kleine!" kommandiert Nick lässig.
Er lässt gerne den Chef raushängen.
Während ich die Plastikkisten in den Hof balanciere holt er das gescheckte Pferd aus der Box und stellt es zu den anderen. "Das ist Thunder." erklärt er stolz.
Schön für ihn.
Das Pferd schleckt ungerührt von Nicks Begeisterung die Pflastersteine ab.
Wirklich nett.
Ich darf die Bürsten, die Nick zum bürsten der Tiere braucht, sauber machen und zupfe büschelweise Pferdehaare in eine Schubkarre.
Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass ich wirklich nur zu Nicks Unterhaltung hier bin.
Und der nutzt das auch fleißig aus.
"Ich könnte dir mal 'ne Privatstunde geben!" bietet er an.
Um nichts in der Welt.
"Glaub mir, das bereichert dein Leben."
Ist klar.
"Eher nicht. Danke."
"Was ist denn mit dir los?" er dreht sich um.
Das Grinsen hat er abgestellt.
"Nichts." sage ich locker. "Ich arbeite hier!"
"Tja. Wer nicht will..."
Eben.
Schön, dass er es kapiert hat.
Es dauert eine Weile, bis er sich wieder gefangen hat.
Ich zupfe stumm vor mich hin und überlasse es ihm, wieder etwas zu sagen.
"Du warst neulich auch im Seehaus. Hab dich gesehen." sagt er dann.
Tatsache.
"Stimmt." meine ich nur.
"Mit Pilar?" will er wissen.
"Ja."
Nicht, dass es ihn etwas angeht.
"Hmm." macht Nick nur. Er geht in die Stallgasse und kommt mit dem ersten, großen Ledersattel und einem blauen Sattelpad mit aufgesticktem Logo zurück.
Ich darf das Pad auf dem Pferderücken platzieren und Nick wirft die schweren Sättel darüber.
"Gar nicht schlecht." kommentiert er meine Leistung schließlich.
Tja.
Wenn man mir zeigt, wies geht stelle ich mich gar nicht so doof an.
Seit er aufgehört hat zu flirten ist Nick auch nicht mehr ganz so anstrengend.
Gerade als wir das letzte Pferd gesattelt haben und uns zu unserer erfolgreichen Team-Arbeit gratulieren nähern sich die Reitschüler.
Die schöne Blonde mit dem Pferdeschwanz ist auch wieder mit dabei und ich bin vergessen.
Charmant und gut gelaunt wie immer begrüßt Nick seine Ausflügler und teilt ihnen die Pferde zu.
"Claudi, warte! Ich helfe dir!"
Nick packt die Blondine an der Hüfte und setzt sie schwungvoll in den Sattel.
Claudi lacht überglücklich.
Da ist wohl noch eine in den Reitlehrer verknallt.
Ich stehe daneben, hake die Namen auf der Teilnehmerliste ab und mache ein freundliches Gesicht.
Nick ist so mit seinem Hühnerstall auf den Pferderücken beschäftigt, dass er mich gar nicht mehr bemerkt.
Einige Minuten später reitet die Gruppe davon.
Ich sehe mich im Hof um.
Die Plastikkisten stehen noch aufgeklappt auf dem Boden und überall liegt Stroh und der Dreck, den Nick aus den Hufen gekratzt hat.
Ich beschließe, dass das Aufräumen wohl auch zu meinem Job gehört und mache mich auf die Suche nach einem Besen.
"Na? Bist du den Angeber losgeworden?"
Kaum herrscht hier mal fünf Minuten Ruhe schon taucht der nächste Cowoboyhut auf.
Dieses Mal ist es Chris, der sich gerade die Arbeitshandschuhe abstreift.
Er hat eine Rolle Zaundraht über der Schulter und seine Stiefel sind genauso schlammig wie meine Schuhe.
"Hey!" sage ich freundlich.
Auf ein Lächeln von ihm warte ich wieder mal vergeblich.
Stattdessen schaut er sich mit kritischem Blick um.
"Was machst du denn hier?"
"Ich hab Nick geholfen!"
Blöde Frage. Pff.
"Das hab ich gesehen." meint er. Der Cowboyhut landet auf der kleinen Bank und Chris kommt zu mir herüber.
"Und jetzt räume ich auf." sage ich.
Er macht mich ein bisschen nervös.
Vor zwei Tagen war er noch richtig nett - und jetzt ist er wieder so komisch.
"Das sehe ich." sagt er.
Ich kehre einfach weiter, damit ich nicht hilflos dastehen und mich von ihm anstarren lassen muss.
Wortlos holt Chris eine kleine Schaufel und hilft mir, das was ich zusammen gekehrt habe in die Schubkarre zu bugsieren.
Ich lächle dankbar, weil ich wahrscheinlich niemals selber auf diese Idee gekommen wäre, aber er dreht sich einfach weg.
Geschickt stapelt er die schweren Plastikboxen, die noch immer herumstehen, aufeinander und trägt sie in die Sattelkammer.
Wow.
Dafür hätte ich sicher fünfmal so lange gebraucht.
Chris kommt zurück und ich sage, so freundlich wie möglich: "Danke!"
Er nickt nur schlicht.
Okay.
Da stehen wir nun also.
Eigentlich könnte ich ja jetzt gehen, oder?
Allerdings macht Chris selbst keine Anstalten wieder abzuhauen und irgendwie wäre es ja auch ein bisschen unhöflich ihn jetzt einfach so hier stehen zu lassen.
Er hat mir schließlich grade jede Menge Arbeit abgenommen.
"Kann ich dir noch irgendwie helfen?" biete ich also an.
Chris zieht eine kritische Augenbraue nach oben und fährt sich mit der Hand durch die kurzen Haare.
Es stimmt schon: Er sieht gut aus.
Leider ein bisschen ernst.
"Hast du nichts anderes vor?" fragt er.
Oh.
Da habe ich es mit der Höflichkeit wohl übertrieben.
Anscheinend will er mich loswerden.
"'Tschuldigung. Ich bin schon weg..." sage ich schnell und will den Rückzug antreten.
"So war das nicht gemeint!" sagt er plötzlich, also bleibe ich stehen.
Ich sehe hoch, sehe zwar immer noch keine freundliche Miene dafür aber die beiden großen grünen Augen, die mich aufrichtig anschauen.
"Ich will dich nicht vom arbeiten abhalten. Nicht, dass du noch Ärger bekommst oder so." meint er.
Ich nicke.
Okay.
Versöhnlich setze ich ein Lächeln auf. "Bisher habe ich nichts vor." sage ich dann ehrlich.
Er nickt ebenfalls, ein bisschen nachdenklich.
Was will er denn?
Soll ich nun gehen oder nicht?
Ich verstehe ihn einfach nicht.
Komischer Typ.
Dann, ganz unvermittelt folgt eine Frage: "Hast du was mit Nick?"
Ich reise die Augen auf.
Nicht lachen, Leni!
Wie kommt er denn auf so eine Idee.
"Definitiv nicht!"
Jetzt lächelt er doch.
Nick und Chris sind ganz eindeutig keine Freunde.
"Ich dachte schon..." murmelt er leise und ich beeile mich, heftig den Kopf zu schütteln.
"Garantiert nicht."
"Viele hier stehen auf ihn." meint Chris.
Das Lächeln macht ihn auch heute wieder viel sympathischer.
Das ist wirklich faszinierend, finde ich: Wie das simple Verziehen von ein paar Gesichtsmuskeln gleich einen ganz anderen Menschen aus ihm macht!
Ich will, dass er weiter lächelt.
Ich kann gar nicht so genau sagen, wieso.
"Du hast es nicht so mit Pferden, oder?" fragt er, jetzt schon ein bisschen freundlicher und kommt auf mich zu.
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
Er liebt seinen Job hier ganz offensichtlich und ich will nicht, dass unsere Unterhaltung hier jetzt gleich wieder scheitert, nur weil ich die Begeisterung nicht teilen kann.
Keine Ahnung warum - aber ich wünsche mir plötzlich, dass er mich mag.
Wenigstens ein kleines bisschen.
Vielleicht liegt es an seiner komischen Art oder an der Tatsache, dass er mir eben, völlig ungefragt und ohne eine Gegenleistung zu erwarten geholfen hat.
Jemand wie Nick oder Basti hätte das sich nicht gemacht. Jedenfalls nicht ohne Hintergedanken.
"Ich kenne mich halt nicht aus." sage ich diplomatisch.
Er grinst. "Klar. Stadtkind."
"Eigentlich nicht... ich bin halt nie dazu gekommen."
Er nickt.
"Dann wird es wohl Zeit, dass du es lernst. Was meinst du, wie Nick guckt, wenn du das nächste Mal selber mit anpacken kannst und nicht mehr nur daneben stehen musst!"
Das stimmt allerdings.
Mir gefällt die Idee.
Nicht nur, weil ich Nick damit vielleicht eins auswischen kann.
"Wenn du willst zeige ich dir ein bisschen was..." bietet er an.
"Echt?" mein Herz hüpft. Sag ich doch: Er kann auch nett sein.
Er lacht. "Klar. Wenn du keinen Wert auf den Trainer-Schein legst, ist das gar kein Problem. Nick ist nicht da und der Chef ist im Krankenhaus..."
Ich nicke.
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
"Ich hab aber wirklich gar keine Ahnung!" warne ich Chris.
Er grinst. "Aber du wirkst auf mich, als hättest du was im Kopf. Das reicht erstmal."
Das war kein Kompliment, sondern eine Feststellung.
In Ordnung.
"Chicago kennst du ja schon." meint Chris und führt mich in die Stallgasse.
Ich muss schlucken.
"Du hast doch gesagt, der wäre so... besonders!"
Chris lacht. "Er ist achtzehn Jahre alt und, zumindest für längere Ausritte, schon in Rente. Aber die eine oder andere entspannte Stunde in der Halle geht schon noch. Komm schon. Er ist echt total unkompliziert!"
Zögernd lasse ich mich in die Box schieben.
Eine Trödeltüte wie Buster wäre mir im Moment irgendwie lieber - aber die ist ja mit Nick unterwegs.
Chris zeigt mir, wie das mit dem Halfter funktioniert und Chicago hält tatsächlich ganz still, bis ich es endlich geschafft habe.
Beim zweiten Anlauf klappt es.
"Na, geht doch." meint Chris gut gelaunt.
Er ist sehr viel geduldiger, als Nick.
Ein bisschen motivierter führe ich das Pferd nach draußen.
Dort bekomme ich dann endlich einmal die Funktionsweise der vielen kleinen Bürsten aus den Putzboxen erklärt.
Chris macht alles so lange vor, bis ich es kapiert habe und dann darf ich üben.
Ich glaube Chicago döst irgendwann wieder vor sich hin.
Ich fasse Mut.
Ein bisschen Spaß macht es ja schon.
Vor allem, weil Chris mich immer wieder anfeuert und dabei so freundlich ist.
Es dauert zwar eine kleine Ewigkeit, aber irgendwann steht das Pferd geputzt und gesattelt im Hof.
Es kann los gehen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrete ich die Reithalle.
"Alles klar?" will Chris wissen.
Ich nicke tapfer.
Klar.
Muss ja.
"Dann mal los. Ich nehme dich an die Longe, dann kannst du dich erstmal ein bisschen einfühlen." schlägt er vor.
Damit bin ich mehr als Einverstanden.
Chris holt die Longe und stellt mir eine kleine Leiter hin.
Empört werfe ich ihm einen Blick zu. "Sehe ich schon so alt aus?"
Er schüttelt ernst den Kopf. "Du nicht. Aber für Chicago ist es so besser."
In Ordnung.
Ich klettere in den Sattel, versuche mich so gerade wie möglich hinzusetzen und es geht los.
An dem langen Seil, dass Chris als Longe bezeichnet, läuft Chicago immer im Kreis um ihn herum.
Das Pferd ist entspannt, Chris auch, also versuche ich ebenfalls, ruhig zu atmen.
Er grinst. "Du darfst dich nicht verkrampfen! Das spürt dein Pferd und dann wird es ungemütlich."
Aha.
Gut zu wissen.
Ich nicke.
Chicago trödelt gemütlich im Kreis und ich versuche, alles richtig zu machen.
Chris beobachtet mich genau und sieht jeden noch so kleinen Fehler.
"Atmen nicht vergessen!" ruft er mir zu. "Entspann dich!"
Jaja.
Fersen runter, Rücken gerade.
Es dauert ein paar Minuten, dann hab ich den Dreh raus.
"Wollen wir mal ein bisschen Tempo machen?"
Ich weiß nicht, ob ich das will aber ich nicke einfach mal.
Chris schnalzt und Chicago trabt los.
Für eine kurze Sekunde verliere ich das Gleichgewicht
Ich rutsche im Sattel hin und her, weil es so holpert und schaffe es gerade noch, mich am Sattelknauf festzuklammern.
"Alles in Ordnung?" ruft Chris mir zu.
"Alles gut!" ich muss lachen.
Das gute alte Adrenalin.
Er lacht ebenfalls.
Achja.
Er hat ein schönes Lachen.
Eine Stunde später steht Chicago wieder in seiner Box mit Freigang und Chris und ich sitzen auf der Bank vor dem Stall.
Ich gebe es ungern zu, aber das komische Ziehen in meiner Oberschenkelmuskulatur hält mich gerade eindeutig davon ab, den Heimweg anzutreten.
Das, und Chris, der neben mir sitzt.
"Und? So schlimm wars gar nicht, oder?" fragt er fröhlich.
Die Stimmung ist besser als je zuvor.
Wir trinken Wasser aus kleinen Flaschen und jetzt, am Nachmittag, wird es dank der Sonne auch endlich wieder richtig schön warm.
Eine Dusche würde mir jetzt gut tun, oder ein Sprung in den See - aber das kann noch ein bisschen warten.
Erstmal sitze ich hier, schone meine Beine und plaudere noch ein bisschen mit meinem neuen Kumpel.
"Das musst du Chicago fragen!" lache ich.
Chris grinst. "Ach was. Dem geht's gut. Du hast dich ganz gut angestellt, so fürs erste Mal. Wenn du willst, können wir nächste Woche gerne da weitermachen, wo wir heute aufgehört haben..."
Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, damit er mir meine Freude über dieses Angebot nicht direkt ansieht.
"Okay..." sage ich cool.
"Also, abgemacht?"
"Ja."
Er nickt mir zu. "Cool."
Aber hallo.
"Reitest du schon lange?" frage ich dann.
Es interessiert mich tatsächlich.
60 Minuten mit Chicago haben ausgereicht um mir kräftigen Respekt vor allen Reitern dieser Welt einzuimpfen: Das ist wirklich gar nicht so einfach!
"Schon immer, eigentlich." meint er dann.
"Wie geht das denn?" ich lache.
Seine Miene verfinstert sich ein bisschen. "Meine Mutter hatte früher selber Pferde."
Aha.
Sein Tonfall warnt mich davor, weiter zu bohren.
Also sage ich: "Du machst das toll. Das mit dem Erklären und so."
Jetzt lächelt er wieder.
Puh.
Das näherkommende Hufgetrappel lässt uns aufhorchen und unterbricht unseren kleinen Plausch.
Nick und seine Reitschüler kommen zurück.
"Ich bin dir nicht böse, wenn du abhaust." Chris zwinkert mir zu.
Dagegen habe ich fast nichts einzuwenden.
"Braucht er keine Hilfe oder so? Nicht, dass..."
Ich habe zwar keine Lust auf Nicks Angeberei, aber Ärger auf MM ist auch nicht unbedingt mein Ziel.
Schließlich hat sie mich ja persönlich hier her zitiert.
"Kein Problem. Ich mach das schon..." flüstert Chris.
Ich springe auf und laufe, so schnell meine malträtierten Beine mich eben tragen, in Richtung Park davon.
Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass Chris mir einfach so und völlig ungefragt hilft.
Ich glaube, er mag mich doch ein bisschen.
"Du strahlst ja richtig!"
Lacht sie mich etwa aus?
Hallo?
"Nur ein bisschen." behaupte ich.
Pilar grinst. "Aha."
"Genau."
Wir sitzen am See und genießen die Mittagssonne. Pilar hat eine Stunde frei und ich muss erst nachmittags wieder ran.
In zwei Wochen findet eine riesige Hochzeit hier statt und MM will, dass ich bei der Vorbesprechung mit Braut und Bräutigam dabei bin.
Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb ich hier sitze und grinse wie die Katze aus Alice im Wunderland.
"Ich hatte gestern meine erste Reitstunde!" Die Worte stolpern einfach so aus meinem Wund.
Pilar öffnet und schließt den Mund, ohne etwas zu sagen.
Drei Sekunden später hat sie scih wieder gefangen. "Bei Nick? Ich dachte, du magst ihn nicht."
Ich schüttele heftig den Kopf.
"Nein... Chris war da."
Hoffentlich ist sie nicht eifersüchtig oder so.
Ich meine - wenn sie wirklich was von ihm wollte, dann hätte sie mir das gesagt.
Offensichtlich ist Pilar nicht eifersüchtig.
Sie lächelt ganz entspannt. "Und? Wars gut?"
Ich nicke.
Erleichterung macht sich breit.
Pilar steht nicht auf Chris. Und ich?
Naja.
Ein bisschen gefällt er mir ja schon.
Ein bisschen mehr, wenn ich ehrlich sein soll. Keine Ahnung, wo das plötzlich herkommt.
"Und deswegen strahlst du so?" will Pilar wissen, die den Braten schon riecht.
Ich muss kichern.
Wie kindisch!
"Es war ganz nett, irgendwie..."
Sie nickt. "Verstehe."
Wir starren eine Weile auf den See und die Gedanken in meinem Kopf fahren noch eine Runde im Fantasie-Karussell.
Es ist nicht so, dass ich jetzt richtig in Chris verliebt bin.
Nein.
Ich habe mich nur ein bisschen in ihn verguckt. Er macht mich eben neugierig.
Dauernd fallen mir Fragen ein, die ich ihm gern stellen würde.
Ob Pilar dieses Gefühl wohl kennt?
Wahrscheinlich nicht.
Ich habe noch nie gesehen, dass sie mit jemandem so richtig geflirtet hat. Sie hat auch niemals jemanden erwähnt...
"Chris ist ein netter Kerl." höre ich sie nach einer Weile sagen.
"Ein bisschen komisch, aber nett." stimme ich ihr zu.
"Komisch?"
"Manchmal ist er so... ernst." sage ich ehrlich.
Das gehört sicher auch zu den Dingen, die ihn so spannend für mich machen.
Er ist nicht wie Nick, der jedem Rockzipfel hinterher schaut. Und man weiß nicht immer gleich, was er gerade denkt. Geheimnisvoll.
Ui.
Jetzt wird's aber klischeehaft hier.
"Manchmal. Aber er ist wirklich okay. Er war der erste hier, der sich mit mir unterhalten hat." erzählt Pilar. "Die anderen hatten Angst, dass sie mich nicht verstehen, oder so. Aber Chris nicht. Er hat einfach englisch geredet, bis er gemerkt hat, dass ich schon ein bisschen Deutsch kann."
Ich muss lachen. "Witzig!"
"Stimmt." sie nickt. "Erst dachte ich, er hätte sich in mich verliebt oder so. Aber das hat er nicht. Er wollte nur nett sein, weil die anderen es nicht waren."
Wow.
Das klingt ja richtig heldenhaft.
Pilar seufzt und schaut auf die Uhr. Die Stunde ist um. "Ich muss los. Anne wartet schon."
Ich nicke.
Ich will auch noch duschen, bevor das Brautpaar kommt.
Wir stehen auf, klopfen uns mich verschmitzten Gesichtern den Sand von den Klamotten und verabschieden uns.
"Bis heute Abend!" ruft Pilar.
Ich wundere mich noch kurz, was sie damit meint - heute steht keine Party an, schließlich muss ich zum Teammeeting - winke dann aber einfach zurück.
Vielleicht meint sie ja das Abendessen.
"Das oder das?" fragt Charlie und hält mir zwei ziemlich knappe Kleidchen unter die Nase.
Ich habe mal wieder keine Ahnung, was sie von mir will.
"Das da." sage ich und deute auf die Variante, die mir spontan jugendfreier erscheint.
Sie nickt und verschwindet mit dem Kleid im Badezimmer.
Wer weiß, was die schon wieder vorhat.
Eigentlich bin ich im Moment diejenige, die dringend Stylingtips braucht.
Ich muss mich schick machen, für die Besprechung mit dem Hochzeitspaar.
Das hat MM gesagt und ich muss zugeben, dass sie Recht hat: Mein Standard-Look mit Jeans und T-Shirt ist tatsächlich wenig feierlich.
Ich krame in den Sachen, die ich neu gekauft habe.
Ein paar schickere Teile waren tatsächlich dabei.
Charlie kommt zurück und beäugt kritisch, wie ich in eine dunkelblaue Seidenbluse schlüpfe.
Der schwarze Rock dazu, die schlichten Ballerinas - das wird schon gehen.
Wir sind hier ja im Urlaub.
Außerdem besitze ich nun mal keine Pumps.
"Gehst du zu einer Beerdigung?" fragt meine Cousine.
"Die Kellermanns kommen nachher. Wegen der Hochzeit."
"Hmm."
Hochzeiten interessieren Charlie nicht besonders.
Vielleicht liegt es ja an mir und meiner guten Stimmung, aber ich glaube, Charlie ist heute trotzdem ein bisschen freundlicher als sonst.
"Gehst du nochmal mit shoppen?"
Okay. Vielleicht ist sie auch nur deswegen so nett.
"Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür habe."
"Ach komm schon..."
"Wieso denn? Brauchst du was Bestimmtes?" will ich wissen.
"Am Samstag ist die Party... du weißt schon. Wegen der Hauptsaison. Mum sagt, wie dürfen mitkommen, wenn ich die Woche über anständig bin."
"Wir?" frage ich.
Irgendwie bin ich einfach mal davon ausgegangen dass zumindest meine Wenigkeit nicht erst brav sein muss, um anwesend sein zu dürfen.
Aber man weiß ja nie.
"Bella und ich!" erklärt Charlie.
Achso.
Stimmt ja.
"Und jetzt?" frage cih dann.
"Ich brauch ein Kleid."
"Aber das ist ja schon am Samstag... das wird knapp, Charlie."
Sie schmollt.
"Kannst du nicht mit Bella einkaufen gehen?" frage ich.
"Aber dann können wir nicht nach Graubach... in Neustedt finde ich garantiert nichts."
Ohje.
Das Leben einer siebzehnjährigen kann schon verdammt hart sein, fürchte ich.
"Kann dich niemand fahren?" frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
"Wer denn?"
Ich überlege.
Nein, du schlägst ihr jetzt nicht vor, Nick zu fragen.
Der gibt zwar gerne mit seinem Auto an - aber das wäre der Harmonie im Hause sicher nicht zuträglich.
Nachher bin ich noch Schuld, wenn Charlie tatsächlich was mit ihm anfängt!
"Vielleicht schaffe ich es ja noch..." verspreche ich.
Im Moment fehlt mir leider die Zeit um mir noch mehr Gedanken über die Wünsche meiner Cousine zu machen.
Die Kellermanns warten.
"Das wäre so cool!" ruft Charlie mir hinterher, aber ich bin schon an der Wohnungstür.
Zusammen mit MM, Sonja und Anne - dem ganzen Hochzeitskomittee eben - komme ich etwas verspätet am Konferenzraum an.
Heute ist es noch voller als sonst.
Vielleicht liegt es ja an den Kleidersäcken, die überall im Raum verteilt hängen.
Aus den geöffneten luken die Kostüme für das Mittelalterliche Spektakel übermorgen hervor.
Als ich den Raum durchquere stelle ich allerdings fest, dass es nicht nur wegen der Klamotten so voll ist.
Es sind mehr Leute da.
Ich sehe einige Aushilfen, die sonst nie dabei sind und ziemlich viele Grünlinge mit aufgeregten Gesichtern.
Was ist denn jetzt los?
"Hey!" Chris steht plötzlich vor mir und ich zucke bei seinem Anblick erstmal zusammen.
Was macht der denn hier?
Interessiert mustert er mich in meinem Business-Aufzug. "Warst du bei einer Beerdigung?"
Sehe ich wirklich so trist aus in den Sachen?
Ich schüttele schnell den Kopf.
Verdammt.
Kann ich ihm jetzt sagen, dass ich bei der Besprechung war und deswegen so schick aussehe?
Dann glaubt er mir garantiert nicht mehr, dass ich einfach nur irgendeine Aushilfe bin.
Hinter Chris taucht Pilar auf.
Ich murmle etwas unverständliches, lächle ihm nochmal zu und bahne mir dann einen Weg zu meiner Freundin.
"Hallo!" sie lächelt.
"Pilar! Warum sind denn alle hier?" frage ich aufgeregt.
Hoffentlich merkt keiner, dass ich gelogen habe.
Das wäre ja mal total peinlich!
Und wahrscheinlich auch das Ende meiner Freundschaft mit Chris.
"Das machen wir jedes Jahr." informiert mich Roman, der neben Pilar steht.
Aha.
"Einschwören auf die Hochsaison!" fügt Tom hinzu.
Schön zu wissen.
Konnte mir das nicht mal jemand vorher sagen?
Pilar lächelt unschuldig.
Na super.
Ich verstecke mich hinter ihr und spähe hinüber zu Chris.
Der steht zwischen ein paar anderen im blauen Shirt und wartet mit seinem üblichen, verbissenen Gesichtsausdruck darauf, dass es los geht.
Man muss kein Hellseher sein um zu wissen, dass er überhaupt keine Lust auf das hier hat.
In mir keim Hoffnung auf.
Vielleicht geht er ja gleich wieder?
Vielleicht vergisst er mich und mein Kostüm und stellt keine Fragen mehr?
Leider ist es nur ein winziges bisschen Hoffnung.
MM tritt vor und ich halte den Atem an.
Mein Herz rast.
Du meine Güte.
Ich glaube, ich war noch nie so nervös.
Hoffentlich sagt sie nichts über mich. Hoffentlich muss ich nicht einspringen, weil die Präsentation wieder hängen bleibt!
Hoffentlich sieht sie nicht zu mir rüber!
Bitte!
In diesem Moment würde ich wirklich alles für ein unverfängliches blaues T-Shirt mit Logo drauf geben.
Ich mache mich ganz klein und versuche, so ruhig wie möglich zu bleiben.
Die Panik lässt nach, als MM anfängt zu sprechen.
Sie schaut weder in meine Richtung noch erwähnt sie meinen Namen.
Klar.
Warum sollte sie auch?
Stattdessen werden die Mitarbeiter begrüßt und eingeschworen.
Marlen präsentiert die Buchungspläne und das Programm für die kommenden Wochen.
Das erste Highlight nach dem Golfturnier soll der jährlich stattfindende Ballabend sein.
Super Sache.
Die Führungskräfte dürfen gerne ihre Partner mitbringen, die anderen sollen sich ruhig verhalten und wegbleiben.
Super.
Chris' Blick wird immer grimmiger, je länger wir uns in diesem Raum befinden.
Mir ist noch nie aufgefallen, dass MM ganz schön herablassend sein kann, wenn sie so mit ihren Mitarbeitern redet!
Es gibt klare Unterschieden zwischen denen, die wirklich wichtig sind, wie Sonja zum Beispiel und dem Rest.
Die sind austauschbar.
Krass.
Zum Glück für mich und meine Nerven dauert die Besprechung nicht lange.
Kommt das nur mir so vor, oder ist es mittlerweile sowieso total stickig hier drin?
MM entlässt die Anwesenden und sofort geht das Gedrängel an der Tür los.
ich lasse mir Zeit - Chris aber leider auch.
Er steht vorne und unterhält sich leise mit Armin.
Sein Gesichtsausdruck ist nicht gerade fröhlich.
Als er meinen Blick bemerkt huscht für eine Sekunde ein Lächeln über sein Gesicht.
Ich atme auf.
Er hat nichts gemerkt.
Wahrscheinlich hält er mich nach meiner Flucht eben für total unhöflich und kautzig - aber das ist egal.
Er ist nicht böse mit mir.
Ich gehe langsam zur Tür. Pilar, Tom, Roman und die anderen haben sich schon wieder auf den Weg gemacht.
Eigentlich würde ich gerne noch kurz stehen bleiben und warten - vielleicht kommt Chris ja gleich und wir können uns doch noch kurz unterhalten?
Auf der anderen Seite ist es vielleicht besser, gleich abzuhauen.
MM nimmt mir die Entscheidung ab.
"Ah, da bist du ja." sie kommt auf den Flur und lächelt mir zu. "Ich muss dich nochmal loben. Sehr professionelles Verhalten mit den Kellermanns."
Ich lächle müde.
"Danke."
"Wirklich gut. Bis morgen, Helena!" sie legt mir kurz eine Hand auf die Schulter und verschwindet dann auf dem Flur.
Ich will mich ebenfalls in Bewegung setzen, aber ein Geräusch hinter mir hält mich davon ab.
Da steht jemand und räuspert sich leise.
Langsam drehe ich mich um.
Chris starrt mich aus seinen großen, grünen Augen unverwandt an und sagt kein Wort.
*
Ich kann damit einfach nicht umgehen.
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2013
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