Emma war ein nettes Mädchen.
Darüber war man sich, ganz allgemein, einig.
Sie war das Mädchen, das nie auffiel aber auch keinen Wert drauf legte.
Sie war das Mädchen, das sich gerne das Leid anderer anhörte, ohne selbst jemals zu jammern.
Sie war das Mädchen, das immer ein Taschentuch oder ein freundliches Wort für jedermann parat hatte.
Es war leicht, Emma gern zu haben, aber eben auch, sie wieder zu vergessen.
Im Büro kannte zwar kaum jemand ihren Namen, dafür wusste jeder, dass sie allzeit bereit war, ihren Kollegen mit Kleingeld für den Kaffeeautomaten auszuhelfen
Und in der Diskothek war sie das Mädchen, das nur angesprochen wurde, um nach dem Weg zur Toilette zu fragen.
Aber das war in Ordnung.
Sie war zufrieden, so wie es wahr. Wirklich.
Emma hatte nie den Wunsch gehabt, etwas an ihrem – noch jungen - Leben zu ändern.
Sie hatte ihre Freundinnen, einen guten Job, die kleine Wohnung am Stadtrand und Lenny, ihren dunkelbraunen Mischlingsrüden. Eine Erinnerung an ihr Engagement im Tierschutzverein.
Mehr wollte sie nicht und sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, mehr vom Leben zu erwarten als das wohlige Gefühl, nach einem langen Tag nach Hause zu kommen und es sich, den warmen Hundekopf auf dem Schoß, mit einem guten Buch und einer Tasse Tee auf dem Sofa gemütlich zu machen.
Leider war ihr diese Ruhe nicht immer vergönnt.
Das Telefon klingelte, noch bevor Emma die Wohnung betreten hatte.
Eine Einkaufstüte auf dem Arm und die Hundeleine in der freien Hand schlüpfte sie durch die Tür und angelte nach dem Telefon, das auf einer kleinen Anrichte wartete.
Lenny zwängte sich an ihr vorbei und verschwand in der Küche.
Emma musste nicht nachfragen, um zu wissen, wer der Anrufer war.
"Hallo Mutter."
"Emma? Bist du das?" kam es aus dem Hörer.
Emma musste unwillkürlich lächeln.
Sie führten diese Diskussion jede Woche: Ihre Mutter war nicht unbedingt technisch bewandert und die Rufnummernerkennung war ein großes Rätsel für sie – und würde es wohl auch immer bleiben.
Immerhin gab dieses immer-gleiche Geplänkel Emma die Möglichkeit, wenigstens ein paar Worte zum Gespräch beizutragen, bevor ihre Mutter die Unterhaltung dann an sich reisen würde.
"Klar. Wer sonst?" fragte Emma betont freundlich. "Ich bin die einzige, die hier wohnt und ans Telefon gehen kann!"
"Du hast deinen Namen nicht gesagt! Man sagt immer seinen Namen, wenn man sich am Telefon meldet! Habe ich dir das nicht beigebracht?"
"Ja, Mutter." Emma lächelte immernoch. Der strenge Ton ihrer Mutter konnte ihr schon lange nichts mehr anhaben.
Mit dem Apparat in der Hand wandert sie durch ihre Wohnung: Stellte die Einkäufe in der Küche ab, füllte erst Wasser in Lennys Napf und anschließend in den Kocher.
Der Hund hatte es sich bereits auf seiner Decke im Wohnzimmer gemütlich gemacht und beobachtete sein Frauchen mit großen Augen.
Beneidenswert, dachte Emma, während sie Butter und Käse in den Kühlschrank räumte.
Aus dem Telefon drang immer noch die Stimme ihrer Mutter.
"Geht's dir denn gut, Emma? Wir hören ja gar nichts von dir, in deiner Stadt! Und man bekommt dich ja kaum noch zu Gesicht!"
Eine Frage und zwei Vorwürfe.
Gar nicht so schlecht, nicht mal für Clara Maler.
"Mir geht's gut. Alles beim Alten." antwortete Emma.
Etwas anderes wollte ihre Mutter ohnehin nicht hören. Einmal in der Woche rief Clara an um zu beweisen, dass sie ihren Mutterpflichten vorbildlicherweise nachkam.
Die Frage nach dem Befinden war allerdings auch schon das höchste der Gefühle. Anschließend ging sie für gewöhnlich dazu über, ihrer Tochter die kleinen und noch kleineren Sensatiönchen zu schildern, die ihr Leben als allseits beliebte Ehefrau des Dorfarztes ausmachten.
Emmas Geschichten waren fehl am Platz – aber Emma legte auch keine großen Wert darauf, alles mit ihrer Mutter zu teilen.
"Gibt's denn was Neues bei euch?" fragte sie also höflich.
Der Wasserkocher leuchtete und Emma füllte ihren Becher. Geschickt balancierte sie Tasse, Telefon und ein Buch, dass auf dem Esszimmertisch wartete zum Sofa. Lenny folgte ihr schwanzwedelnd und machte es sich neben ihr gemütlich.
An der Wand hingen, ordentlich gerahmt, ein paar Bilder: Langes, dunkles Haar, dass in sanften, unaufgeregten Wellen über zierliche Schultern fiel. Ein schüchternes Lächeln auf einem feinen, eher unauffälligen Gesicht. Die großen, fast grünen Augen blickten scheu in die Kamera.
Emma auf der Abschlussfeier ihrer Schule, Emma nach den bestandenen Bachelor-Prüfungen.
Emma, zusammen mit ein paar anderen Mädchen und Lenny bei einem Ausflug an den Badesee.
"Natürlich gibts was Neues! Bei uns ist doch immer was los, das weißt du doch. Aber du bekommst ja so wenig mit, du bist ja so weit weg. Deswegen rufe ich ja auch an. Bei uns gibt es ja immer etwas Neues!"
blubberte es aus dem Hörer.
Schön, dachte Emma und zählte in Gedanken zwei weitere Vorwürfe.
Heute hatte ihre Mutter es wohl besonders eilig.
"Hab ich dir schon erzählt, was Freya vorhat?"
Emma verdrehte tonlos die Augen. Natürlich. Von Null auf Freya in unter drei Minuten. Das war sogar für ihre Mutter schnell.
Freya war Emmas ältere Schwester. Sie war zwei Jahre älter, um genau zu sein, sechsundzwanzig – aber das bedeutete nicht, dass sie irgendwelche Ambitionen hatte, aus dem Haus ihrer Eltern auszuziehen.
Während Emma schon nach dem Abitur geflüchtet war, um in der Stadt zu studieren, residierte Freya noch immer bei ihren Eltern und genoß alle Vorteile, die man als wohlhabende Tochter eben hatte.
Sehr zur Freude ihrer Mutter.
Aber nicht nur deshalb war Freya die ewige und unangefochtene Nummer eins.
Sie war das Wunschkind – und nicht, wie Emma, nur die Pflicht. Einzelkinder sah man auf dem Land eben nicht so gern, deswegen musste ein Geschwisterchen her. Natürlich wäre es schöner gewesen, nach der hübschen und zuckersüßen kleinen Tochter endlich einen Sohn zu bekommen, der später einmal die väterliche Arztpraxis übernehmen könnte. Aber weder den einen noch den anderen Wunsch hatte Emma ihren Eltern erfüllt.
Emma nahm es ihrer Schwester nicht übel, dass sie das Lieblingskind der Eltern war. Das wäre auch nicht ihre Art gewesen – Emma ärgerte sich ohnehin nur sehr selten über irgendetwas.
Aber sie hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn die Lobpreisungen ihrer Mutter und die allzu ausführlichen Berichte über Freyas große Erfolge und Talente, die sie allwöchentlich in atemberaubender Geschwindigkeit zum Besten gab, etwas knapper ausgefallen wären.
Zumal es sich meistens um ziemlich nebensächliche Dinge handelte, von denen Clara da schwärmte.
"Sie will Fallschirmspringen gehen!" platzte es aus ihrer Mutter heraus, noch bevor Emma ein Wort sagen konnte.
"Fallschirmspringen?"
"Ja, du weißt schon. Sie will aus einem Flugzeug springen!"
"Ist das nicht ziemlich... teuer?" mehr konnte Emma nicht dazu sagen.
Ihre Schwester war noch Studentin – ein Umstand, der in der Familie gerne mit Freyas vielseitigen Begabungen und Interessen begründet wurde – und obwohl sie dank ihrer angenehmen Wohnsituation keine großartigen Kosten hatte, war sie immer ziemlich knapp bei Kasse.
"Teuer? Ach, du machst dir Gedanken! So ein Fallschirmsprung ist eine ganz tolle Sache. Charakterbildend! Das glaubst du gar nicht! Du springst aus einem Flugzeug und schon bist du viel selbstbewusster!"
Übersetzt hieß das, dass natürlich die Eltern für die Kosten aufkamen.
Emma fragte nicht weiter nach.
"Weißt du, wir hätten dir das natürlich auch bezahlt, aber wir wissen ja, dass du es nicht so mit der Höhe hast." plapperte Clara weiter.
Emma schwieg. Die Höhe war nicht das Problem. Emma war einfach nicht der Typ Mensch der Spaß daran hatte, sich aus einem fliegenden Flugzeug zu werfen und zu hoffen, dass der wildfremde Mensch, an den man gebunden war wusste, an welcher Leine er wann zu ziehen hatte.
"Dabei würde dir das auch mal gut tun! Du warst so ruhig auf unserer Grillparty... Dr. Lehner hat sogar gesagt, du seist richtig introvertiert! Aber naja... du warst ja schon immer ein bisschen schüchtern."
"Das kann sein." antwortete Emma nur.
Was war ihr auch anderes übrig geblieben, bei einer Mutter die ununterbrochen redete und einer Schwester, die schon als Neugeborenes ständig ins Rampenlicht geschoben worden war.
"Ach, apropos Party."
Das war das zweitliebste Thema ihrer Mutter: Die unzähligen Partys, Abendessen und Gesellschaften, die sie gab und besuchte. Gerade jetzt im Sommer gab es tausend und einen Anlass für eine hübsche Gartenparty.
"Du kommst doch am Samstag, oder? Ich habe neulich ein ganz tolles Kleid gesehen, das würde dir sicher wunderbar stehen! In dunkelgrün. Ich hätte es ja für Freya mitgenommen, aber ihre blauen Augen passen einfach besser zu hellen Farben... ach, vielleicht kannst du es dir ja mal anschauen."
"Ähm, ja. Wann fängt die Party nochmal an?" hakte Emma nach.
"Um sieben. Aber du kannst auch schon etwas früher kommen, wir brauchen sicher noch etwas Hilfe. Ich habe diese Köchin eingestellt, aber du weißt ja... neues Personal und unsere Küche ist ja auch nicht so einfach. So viel Technik-Schnickschnack! Besser du kommst um sechs, dann kannst du dich noch etwas nützlich machen."
"Natürlich."
"Ach, eigentlich müsste ich dich ja fragen, ob du in Begleitung kommst, aber das ist schon okay. Es wird eine lockere Runde."
Clara lachte und Emma biss sich auf die Lippe, um nichts dazu sagen zu müssen.
Auf diese Aussage fiel nicht mal ihr, dem höflichsten und wohlerzogendsten Mädchen der ganzen Nachbarschaft, eine passende Antwort ein.
Zum Glück erwartete Clara auch keine.
"Oh, Schätzchen, hör mal, Freya kommt gerade nach Hause. Und wir wollten noch um Friseur fahren, sie braucht unbedingt eine Tönung – dieses Poolwasser ist Gift für die Haare! Das kannst du mir glauben!"
"Okay..." brachte Emma gerade heraus, bevor ihre Mutter bereits weiter redete.
"Also dann. Bis Samstag! Denk dran, dir was hübsches anzuziehen. Und komm ruhig früher! Bis dann!"
Das Telefon war still.
Emma warf einen Blick auf die Uhr und seufzte – diesmal lauter.
Zwanzig Minuten mit ihrer Mutter und sie fühlte sich zehn Jahre älter.
"Das hat sie gesagt? Wow." Marie legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
Emma strich sich eine ihrer langen, dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht und schmunzelte belustigt.
Etwas Gutes hatten die Telefonate mit ihrer Mutter doch immer: Anschließend hatten Emma und ihre Freundinnen jedenfalls immer etwas zu tratschen.
"Sie hat es sicher nicht böse gemeint." erklärte Emma dann diplomatisch.
Sie meinte es ganz ernst: Die Gemeinheiten ihrer Mutter, der vorwurfsvolle Tonfall, die ständigen Vorwürfe – das war eben Claras Art mit Emma umzugehen. Es war nie anders gewesen.
"Wie bitte?" Marie war anderer Meinung. "Deine Mutter sagt dir, dass es völlig ausgeschlossen ist, dass du jemals einen Kerl abkriegst den du auf ihre alberne Party mitschleppen könntest und du sagst, sie meint das nicht böse? Wie meint sie es denn sonst?"
Emma zuckte sie Achseln.
"Ach Emma... du musst dich mal wehren." erklärte Marie mit wissender Miene.
"Ich hab gehört, Fallschirmsprünge helfen gegen zu wenig Selbstbewusstsein." gab die mit einem schiefen Grinsen zurück.
Die beiden lachten.
Marie und Emma kannten sich aus der Universität, wo sie – Emma als angehende Biologin und Marie, die vorhatte dieses Fach später einmal zu unterrichten – einige Kurse zusammen besucht hatten.
Man sah sich täglich, man grüßte freundlich und weil nette Gesichter im Studienalltag manchmal Mangelware waren, verbrachte man auch mal ein Mittagessen oder eine Freistunde miteinander.
Irgendwann beschloss Marie einfach, dass sie jetzt Freundinnen waren und Emma hatte nichts dagegen einzuwenden.
Einer der Gründe für ihre Freundschaft war wohl auch, dass ihre Komilitonen dazu neigten, die beiden zu verwechseln: Die unscheinbare, kleine Emma und die blasse Marie.
Blass war das Wort, dass Clara für Marie gebraucht hätte: Die salonfähige Variante von "langweilig".
Sie war ein großes, hageres Mädchen mit heller Haut und kleinen, wasserblauen Augen, die sie hinter einer Brille mit etwas zu dicken Rändern versteckte. Die blonden Haare trug sie "praktisch" und selbst wenn sie sich große Mühe gab, Kleidung auszuwählen, die modisch war, wirkte ihr Outfit immer ein bisschen altmodisch.
Was Marie, die fest davon überzeugt war dass Emma und sie im Grunde Seelenverwandte waren, nicht begreifen wollte war, dass es einen kleinen Unterschied zwischen den beiden gab: Während Emma tatsächlich und ganz aufrichtig zufrieden mit sich und ihrem Dasein war und sich gar keine Veränderung wünschte, tat Marie alles dafür, ihr Leben zu verbessern. Ein bisschen cooler, ein bisschen beliebter, ein bisschen hübscher vielleicht. Ein bisschen mehr wie Lola wäre auch okay. Sie scheute keine Kosten und Mühen, kaufte jeden Ratgeber, durchforstete nächtelang Internetforen und ging zu den Selbstfindungs-Kursen, die an der Universität manchmal angeboten wurden.
Das Ergebnis war ein eigentlich liebenswürdiges Mädchen, dass sich nur allzugern verdrehte und verstellte und am Ende genau deshalb doch nichts erreichte.
"Echt, Marie, das ist schon okay." Emma lächelte unbeschwert.
"Okay ist anders." stellte Marie trotzig fest.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, klopfte es an der Wohnungstür.
Noch bevor Emma aufgestanden war, saß Lenny schwanzdwedelnd vor der Tür und kläffte.
"Dein Hund macht mir Angst." war das erste, was Lola sagte, als sie in der Wohnung stand.
"Er hat mit Sicherheit mehr Angst vor dir, als du vor ihm." meinte Emma ungerührt.
"Dir auch einen schönen Abend, Lola!" rief Marie von ihrem Platz auf dem Sofa aus gut gelaunt.
Lola winkte ihr kurz zu, umarmte Emma und warf dem Hund, der immer noch wartend auf dem Boden saß, einen bösen Blick zu.
Augenblicklich fing Lenny erneut an zu kläffen.
"Er hasst mich!" rief Lola anklagend.
Emma lachte. "Du spinnst. Lenny, sei leise."
Der Hund verstummte und verzog sich an seinen Platz in der Ecke.
"Ich kapier nicht, wie du dieses Vieh in der Wohnung haben kannst. Ehrlich." Lola schüttelte nur den Kopf.
Sie war ebenso wenig ein Freund von Hunden, wie von feinfühligen oder sorgfältig ausgewählten Kommentaren.
Dass sie sich trotzdem in Emmas Wohnung traute, war mehr als nur ein Beweis ihrer Freundschaft.
"Jetzt komm' erstmal rein. Setz dich." meinte Emma und deutete aufs Sofa.
Lola tat wie geheißen, stöckelte an Emma vorbei und lies sich in die weichen Polster fallen.
Sie hatte ihre rotgefärbte Lockenmähne aufwendig hochgesteckt, war bereits fertig geschminkt und trug ein ziemlich knappes, dunkelgraues Kleidchen, dass ihre langen, schlanken Beine noch länger erscheinen lies.
Neben ihr sah Marie mit einem Mal noch etwas farbloser aus. "Ich dachte, wir gehen in eine Bar?" wollte sie wissen und musterte ihre Freundin von oben bis unten.
Lola zuckte die Achseln und klimperte dabei mit einem Paar großen, goldenen Ohrringen. "Ich hatte einen anstrengenden Tag." war ihre Erklärung.
Lola arbeitete als Rezeptionistin in einem der nobelsten Hotels der Stadt. Dort trug sie brav eine schlichte Uniform, musste auf Make-Up verzichten und kämpfte täglich mit den Launen ihres Vorgesetzten.
Marie nickte eifrig.
"Tee oder Cola?" fragte Emma, die bereits auf dem Weg in die Küche war.
"Sekt." orderte Lola.
"Gibt's nicht."
"Du bist so langweilig!"
"Ich weiß."
Emma stellte ihrer Freundin ein Glas Zuckerbrause vor die Nase und nahm dann selbst wieder Platz.
Lolas Outfit glitzerte, als wäre sie die Diskokügel höchstpersönlich.
Eine Sekunde lang bewunderte Emma sie für ihren Mut, in diesem Aufzug an einem Freitag Nachmittag mit der S-Bahn durch die Stadt zu fahren – im nächsten Moment war sie wieder froh, dass sie diese Erfahrung wohl nie machen würde.
In ihrem Kleiderschrank gab es nicht ein Stück, dass auch nur annähernd zu Lolas Garderobe gepasst hätte.
"So, Mädels. Was gibts Neues?" wollte Lola dann wissen. "Ich will alles hören! Heute abend hab ich keine Zeit für Geschichten, ich hab gehört, in der Bar gibt es neuerdings eine Menge heißer Typen."
"Schön, zu wissen." kommentierte Marie nur. "Emmas Mutter hat angerufen."
Lola grinste. "Und? Lebt deine Schwester noch oder ist sie schon an ihrer Arroganz erstickt?"
Emma musste unwillkürlich lachen.
Obwohl Lola und Freya sich nie begegnet waren – und Emma auch keinen großen Wert darauf legte – hasste Lola sie von ganzem Herzen. Aus solidarischen Gründen natürlich.
"Sie will Fallschirmspringen gehen." erzählte Emma.
Marie grinste übers ganze Gesicht. Die Vorfreude, sich die Geschichte noch einmal anzuhören war größer, als ihre Empörung über Clara.
Daran hatte man sich ja schon lange gewöhnt.
"Fallschirmspringen?"
"Natürlich. Ist total gut fürs Selbstbewusstsein." Emma konnte sich den ironischen Unterton nicht verkneifen.
"Na super. Das ist ja genau das, was Freya dringend braucht. NOCH MEHR Selbstbewusstsein."
"Es kommt noch viel besser..." kicherte Marie.
"So?"
"Achja. Ich bin zu einer Party eingeladen, am Samstag."
"Schon wieder? Ich dachte, wir gehen shoppen am Samstag und dann in diesen Club..." Lola zog eine Schnute.
"Ich hatte nie vor, mit in den Club zu gehen." meinte Emma. "Und shoppen gehen können wir ja trotzdem – so wies aussieht muss ich mir ein grünes Kleid kaufen, dass sie irgendwo gesehen hat."
"Sie?"
"Meine Mutter."
"Dann kann es nicht schön sein."
"Keine Ahnung."
"Jetzt erzähl doch endlich, was sie noch gesagt hab!" rief Marie ungeduldig.
"Was hat sie denn gesagt? Wegen dem Kleid?" wollte Lola wissen.
Emma schüttelte den Kopf.
Marie hielt es nicht länger aus. "Sie hat gesagt, dass Emma nie einen Kerl abkriegt!"
Das war eine ziemlich plumpe Zusammenfassung.
Lola riss die Augen auf und Marie wurde augenblicklich rot. Das Kichern war verstummt.
"So hat sie es nicht gesagt..." sagte Emma langsam und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall.
"Sie meinte nur, dass sie mich ja nicht fragen muss, ob ich jemanden mitbringe, weil ich das schon so lange nicht mehr gemacht habe..."
"Deine Mutter ist wirklich der krasseste Mensch, den ich kenne." stellte Lola mit einem Kopfschütteln fest. "Beziehungsweise, nicht kenne."
"Naja, ganz unrecht hat sie ja nicht." meinte Emma.
"Na und? Sowas sagt man trotzdem nicht!" Lola sprang auf.
"Wo willst du hin?" fragte Marie. Ihre Wangen waren immer noch rot und sie schwankte zwischen Schwamgefühl und Kichern. Das Kichern überwog immer wieder.
"Ins Schlafzimmer." verkündete Lola und machte sich auf den Weg.
Augenblicklich war Lenny an ihrer Seite und wedelte, hoch erfreut über die Abwechslung, mit dem Schwanz.
Die beiden anderen beeilten sich, ihr zu folgen.
Lola war bereits bei Emmas Kleiderschrank angekommen. Mit einer Hand zerrte sie an den Schiebetüren, mit der anderen versuchte sie, sich Lenny vom Leib zu halten. "Dein Hund sabbert mein Kleid voll!" rief sie anklagend.
Emma musste lachen.
Sie schnappte Lenny am Halsband und befreite ihre Freundin. Den Hund an der Hand lies sie sich auf dem Bett, dass in der Mitte des kleinen Raums stand, nieder und beobachtete, wie Lola ihren Schrank durchwühlte.
"Suchst du was bestimmtes?"
Marie setzte sich im Schneidersitz zu Emma und rückte ihre Brille gerade.
"Meine verlorene Jugend oder so?" hakte Emma nach.
Lola schüttelte unwirsch den Kopf. Verwaschene Jeans, einfarbigeTops, eine sündhaftteure Seidenbluse und eine Reihe schlichter Abendkleider landeten zwischen Emma und Marie auf dem Bett. "Dein Schrank ist völlig leer!" beschwerte Lola sich anschließend.
"Du hast ihn ja auch gerade ausgeräumt." kommentierte Emma ungerührt.
"Was suchst du denn?" fragte Marie erneut.
Lola seufzte theatralisch und warf den beiden einen vielsagenden Blick zu.
"Ich suche ein Outfit für Emma. Wir machen sie jetzt richtig schick und gehen dann feiern. Von wegen, es gibt keinen Mann für Emma!"
"Ich hab nie gesagt, dass ich einen brauche..." sagte Emma vorsichtig.
"Schon klar." Lola machte eine wegwerfende Handbewegung und drehte sich wieder zum Schrank.
"Wie lang ist das her, dass du mit Jannik zusammen warst?" überlegte Marie laut und runzelte die Stirn. "Zwei Jahre? Oder drei?"
"Übertreib mal nicht. Das ist noch nicht mal eineinhalb Jahre her... wir haben uns getrennt, als wir mit der Uni fertig waren. Und das ist okay so..." sagte sie. Und dann lauter: "Ich brauche wirklich keinen Typen. Mir gehts gut so!"
Marie kicherte. "Ich sag ja nur."
"Wow! Das gibts ja nicht!" Lola zerrte einen Kleiderbügel aus dem Schrank und hielt ihn triumphierend in die Luft. "Was ist das denn?"
Der Kleidersack, in den das gute Stück eingepackt gewesen war, fiel raschelnd zu Boden und wurde sofort von Lenny in Beschlag genommen.
Mit leuchtenden Augen präsentierte Lola ihren Fund: Ein, für Emmas Verhältnisse, ziemlich knappes Kleid – dunkelrot, mit tief geschnittenem Rücken und garantiert nichts, was sie sich jemals selbst gekauft hatte.
Emma schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Das gehört nicht mir."
"Wie? Das gehört nicht dir?" Lolas Augen wurden noch größer.
"Wie kommt es dann in deinen Schrank?" Marie lachte.
"Das hat mal Freya gehört, glaube ich. Sie hat jede Menge von den Dingern – sie hat es mir vielleicht mal geschenkt und ich hab vergessen, es auszusortieren..."
"Deine Schwester ist zwar eine doofe Kuh, aber ihre Klamotten sind bedeutend cooler als deine." meinte Lola. "Komm schon, Emma. So ein Kleid muss man anziehen! Das darf doch nicht im Schrank verstauben!"
Sie warf Emma das Kleidungsstück zu.
Der teure Stoff landete zwischen den anderen Sachen.
"Das passt mir überhaupt nicht." wehrte sich Emma prompt.
Schon allein der Gedanke, in einem solchen Kleid – und dann auch noch in rot! - in die Öffentlichkeit zu gehen, lies sie rot anlaufen.
"Quatsch. Du hast eine super Figur – du kaufst dir nur nie die richtigen Klamotten dafür." entgegnete Lola.
Marie stimmte ihr zu. Ihre Finger glitten über den glänzenden Stoff. "Wenigstens mal anprobieren. Vielleicht gefällt's dir ja!"
Emma, nicht dafür gemacht um sich dauerhaft zur Wehr zu setzen, gab sich geschlagen. "Ich geh so aber garantiert nicht aus dem Haus." prophezeite sie leise.
Die anderen beiden tauschten einen Blick und grinsten.
"Klar." meinte Lola und machte sich auf die Suche, nach den passenden Schuhen.
Das Kleid saß perfekt und Emma hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so unwohl gefühlt.
Dafür waren Lola und Marie begeistert.
Grinsend saßen sie an ihrem Lieblingstisch im hinteren Teil der Bar und tauschten vielsagende Blicke.
Es kam nicht oft vor, dass ausgerechnet Lola und Marie sich in einer Sache einig waren.
Emma war weniger überzeugt.
Die Schuhe, die Lola gefunden hatte waren ebenfalls ein Erbstück von Freya – sie waren zu eng, drückten an der Spitze und die dünnen Absätze waren so hoch, dass Emma bei jedem Schritt fürchtete, zu stolpern.
In ihren Büchern verwandelte sich das hässliche Entlein mit dem richtigen Outfit immer ganz automatisch in den schönen Schwan. Esprit und Zahnpastalächeln inklusive.
In Emmas Fall lieser dieser Effekt leider auf sich warten.
Sie vermisste ihre Jeans, ihre Ballerinas und vor allem das frische Gefühl auf der Haut, ohne Make-Up, Lipgloss und Maskara.
Immerhin bot der Tisch in der Ecke ein gewisses Maß an Schutz vor den neugierigen Blicken der anderen Gäste.
Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrem Platz wegzubewegen, bevor die Bar nicht wieder komplett leer war.
Darauf würde sie allerdings noch eine Weile warten müssen: Im Minutentakt trudelten die Gäste ein.
Früher war die Bar, die nur ein paar Minuten Fußweg von der Universität entfernt lag, eine kleine Studentenkneipe gewesen: Akzeptable Cocktails, günstige Preise und nette Leute – mehr hatte Emma vom "Miss Morton" nie gewollt. Mittlerweile hatte allerdings der Besitzer gewechselt und die kleine Kneipe avancierte zu einer angesagten Szenebar.
Aus den netten Studenten waren feierwütige Party-People geworden und statt Second-Hand-Klamotten konnte man jetzt Armani-Anzüge und Gucci-Täschchen bewundern.
Lola war voll in ihrem Element. "Der da drüben sieht toll aus." flüsterte sie und beugte sich weiter vor, damit ihre Freundinnen sie auch hören konnten.
"Welcher? Der Blonde?" Maries Blick wanderte durch den Raum.
"Blond? Ich steh doch nicht auf blond!" Lola lachte. "Nein, der da neben der Leinwand. Mit dem schwarzen Hemd."
"Da stehen verdammt viele mit schwarzen Hemden." Emma sah sich um. "Welchen meinst du denn?"
"Na der da!" Lola kicherte. "Der macht bestimmt Sport... Und schau dir mal die Zähne an! Ich geh jetzt mal rüber."
Damit glitt sie elegant von ihrem Hocker, platzierte ihre schwarzen Nieten-Pumps gekonnt auf dem Boden und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.
Eines musste man Lola hinter all den Make-Up-Schichten lassen: Sie war ein hübsches Mädchen und wusste, wie sie sich richtig in Szene setzen konnte.
Emma erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Lola.
Damals hatten sie in der selben Wohngemeinschaft gelebt, zusammen mit drei anderen Studenten.
Emma hatte sich das kleine Zimmer in der Dachgeschosswohnung gemietet, weil sie – nachdem sie die Hoffnungen ihres Vaters, dass wenigstens eine seiner Töchter sich für ein Medizinstudium interessieren könnte, enttäuscht hatte – beschlossen hatte, dass es nicht fair wäre, mehr Geld als unbedingt notwendig von ihren Eltern anzunehmen.
Lola lebte in der WG, weil ihr Job als Kellnerin einfach nicht mehr hergab.
Emma war gerade eingezogen und hatte mühsam ihre wenigen Sachen ins vierte Stockwerk geschleppt, als sie Lola über den Weg lief: Die roten Locken waren damals noch schwarz, die Klamotten aber diesselben.
Und sie weinte.
Emma hatte noch nie jemanden so herzzereissend weinen gesehen und, weil sie eben ein netter Mensch war und weil dieses heulende Stückchen Elend ja nun ihre neue Mitbewohnerin war, setzte sie sich mit ihr ins Wohnzimmer und tröstete sie.
Emma erfuhr nie, was der Anlass für Lolas Trauer war – vielleicht Liebeskummer, ein Streit mit ihrer chronisch vom Leben überforderten Mutter, die Emma später einmal kennen lernen sollte, ein schwieriger Kunde im Restaurant – es war ihr aber auch egal.
Fest stand, dass Lola sie von diesem Moment an ins Herz geschlossen hatte.
Später, als sie das Leben in der Wohngemeinschaft besser kennengelernt hatte, stellte Emma fest, dass sie die einzige war, die sich je um Lola und ihre Probleme bemühte.
Die Blicke der männlichen Barbesucher gehörten ganz Lola, während sie den Raum durchquerte.
Marie zupfte an ihrem blassblauen Pullover. "Egal, welchen Typ im schwarzen Hemd sie gemeint hat, sie kriegt ihn auf jeden Fall." murmelte sie leise. Neid schwang in ihrer Stimme mit.
Emma lächelte nur.
Um nichts in der Welt hätte sie jetzt, in diesem Moment, mit Lola tauschen wollen.
Eher belustigt beobachtete sie, wie Lola sich ihren Weg durch die Menge bahnte und sich schließlich vor ihrem Zielobjekt aufbaute.
Er trug, wie beschrieben, ein schwarzes Hemd und passte auch sonst ganz gut in Lolas Beuteschema: Groß, dunkle Haare, dunkle Augen und ein breites Grinsen, als er sie bemerkte.
Der schlacksige Kerl, mit dem er sich gerade noch unterhalten hatte, machte bereitwillig Platz und gesellte sich zu einer Gruppe Männer am Nachbartisch.
"Er sieht schon ziemlich gut aus. Er hat schöne Lippen!" flüsterte Marie.
Emma zuckte mit den Achseln. "Kann sein."
"Und reich ist er auch. Die Jeans kostet bestimmt hundertzwanzig Euro." fuhr Marie unbeirrt fort. "Wenn einer so viel Geld für Klamotten ausgeben kann, muss er reich sein."
"Oder eitel." Emma lachte.
Marie verdrehte die Augen. "Du bist immer so negativ."
"Ich nenne das realistisch."
Marie seufzte. "Du bist so langweilig."
"Ich weiß."
Die beiden wandten sich wieder Lola zu.
Sie kannten die Szene, die sich gleich abspielen würde, bereits zu Genüge.
Innerhalb von dreissig Sekunden würde Lola den Kerl um den Finger wickeln und kurz darauf hätten sie dann die zweifelhafte Ehre, ihn für ein paar Momante am Tisch kennenzulernen, bevor Lola ihn anschließend erst auf die Tanzfläche und dann zu sich – oder ihm - nach Hause schleppte.
"Wie er wohl heißt?" fragte Marie leise, ohne den Blick von Lola und ihrem gutaussehenden Gegenüber abzuwenden.
Emma zuckte mit den Achseln.
Sie sah zu, wie Lola etwas sagte und dabei ihr Reklamelächeln präsentierte, dann reichte sie dem jungen Mann mit einer kurzen Bewegung die Hand und trat noch einen Schritt näher.
Soweit so gut.
Er lächelte, sagte etwas und dann – völlig unerwartet – machte er einen Schritt zu Seite und drehte Lola den Rücken zu.
Marie gab ein heißeres Quietschen von sich. Da waren sie wieder, die vielen kleinen Falten auf ihrer Stirn.
"Was war das denn?" Aufgeregt rückte sie die Brille gerade.
"Keine Ahnung." Emma nippte an ihrem Glas. Fast sechs Euro für einen alkoholfreien Caipirina – und dann fehlte auch noch das Eis.
Lola kam zu ihnen zurück.
Ihre Wangen glühten.
"Hat er einen Freundin?" war Maries erste Frage.
Lola zuckte die Achseln. "Keine Ahnung." sie leerte ihr Glas in einem Zug. "Ich will jetzt tanzen!"
Die Enttäuschung war ihr anzusehen.
Marie schenkte ihr einen mitleidigen Blick. "Ich komm mit." sagte sie schnell und kletterte von ihrem Stuhl. "Emma, kommst du?"
Emma schüttelte den Kopf. "Ich kann in den Schuhen nicht tanzen..." sagte sie schnell.
"Ach Emma!" Marie streckte die Hand nach ihr aus.
"Lass sie doch. Wer nicht will..." schnaubte Lola.
Ohne sich noch einmal umzudrehen marschierte sie auf die Tanzfläche zu.
Marie lächelte Emma entschuldigend zu. "Wirklich?"
Emma schüttelte den Kopf und dann war Marie auch schon aus ihrem Sichtfeld verschwunden.
Alleine blieb sie am Tisch sitzen und stocherte in ihrem Cocktailglas.
Mittlerweile war die Bar so gut gefüllt, dass sie ihre Freundinnen schon nach ein paar Momenten aus dem Blick verloren hatte.
Emma war keine große Tänzerin. Sie hatte mehr Spaß an einer netten Unterhaltung als am Gedränge auf der Tanzfläche und die Musik war seit dem Umbau der Bar nicht unbedingt besser geworden.
Sie nippte an ihrem Cocktail und sah sich um.
Die vielen Leute, das gekünstelte Gelächter, klirrende Gläser... immerhin gab es viel zu beobachten.
Immer wieder erhaschte sie einen Blick auf Marie und Lola.
Lola hatte bereits ein neues Opfer gefunden – nicht ganz so gutaussehend wie ihr erster Versuch, aber dafür deutlich interessierter.
Marie tanzte alleine und winkte ihr fröhlich zu, als sie Emma sah.
Emma lächelte.
Je mehr Menschen sich auf die Fläche drängten, desto lauter wurde die Musik.
Ein Kellner kam vorbei und schnappte sich die leeren Gläser.
Als er Emma bemerkte hatte er nicht mehr für sie übrig als einen knappen Blick. Aber der sagte alles.
Emma seufzte innerlich.
Sie streckte die Zehen und spürte, wie die ungemütlichen Schuhe sich von ihren Füßen lösten. Mit Geklapper, dass von der lauten Musik übertönt wurde, fielen sie unter dem Hocker zu boden.
Emma griff nach ihrer Tasche, die um die Stuhllehne hing und kramte darin.
Andere, die alleine an den Tischen warteten, hatten ihre Handys, Smartphones oder Notebooks vor sich aufgebaut und miemten die Schwerbeschäftiten.
Emma wählte die altmodische Variante und zauberte ein Taschenbuch hervor.
Eine der Macken, mit denen ihre Freundinnen sie immer gerne aufzogen war, dass sie immer und zu wirklich jeder Gelegenheit ein Buch mit sich herumschleppte: Morgens in der S-Bahn, für die Mittagspausen im Institut, zu den Abendessen bei ihren Eltern.
Marie und Lola hatten schon Recht: Sie war eben ein bisschen langweilig.
Mit einem Lächeln schlug sie die Seite mit dem Eselsohr auf.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Marie sich daran erinnerte, dass sie eigentlich zu dritt hergekommen waren.
Mit rotem Gesicht und leicht zerzausten Haaren kehrte sie an den Tisch zurück.
"Wenn du deine Nase immer nur in Bücher steckst, kriegst du nie was von der Welt mit!" schimpfte sie, als sie das Buch entdeckte. Der Spruch entstammte mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst einem Buch.
Emma lächelte nur und sah kurz auf. "Mir ist heute nicht nach Tanzen..."
"Du bist so langweilig!"
"Nein, aber dieses Kleid... und die Schuhe..." Emma seufzte.
Marie schüttelte den Kopf und rückte ihre Brille gerade. "Ach Emma..."
Diese lächelte tapfer.
"Guck mal, da drüben an der Bar... der Typ mit den Locken, der beobachtet dich die ganze Zeit! Und jetzt grinst er auch noch!"
Emma sah gar nicht erst hin.
Selbst wenn dort der schönste, klügste und großartigste junge Mann dieser Welt gestanden hätte – in ihrem Aufzug hätte sie sich niemals zu irgendeiner Art von Kontaktaufnahme überreden lassen.
Außerdem war sie nicht hier, um jemanden kennenzulernen.
Das überlies sie liebendgerne Marie und Lola.
"Willst du noch was trinken?" fragte Marie dann.
Ihr Glas war bereits vom Kellner erobert worden.
Emma schüttelte den Kopf. "Danke."
"Alles klar. Ich hol mir trotzdem was. Und ich grüße den Lockenkopf von dir!" rief sie und drehte sich wieder um.
Emma widmete sich wieder ihrem Buch.
Die Liebe in den Zeiten der Cholera war sehr viel amüsanter als alle Lockenköpfe in dieser Bar es im Moment sein konnten.
Sie hatte keine zwei Zeilen gelesen, als der Stuhl neben ihr erneut bewegt wurde.
"Du bist ja schnell!" rief Emma überrascht und blickte auf.
"Oh."
"Oh? Das ist ja mal eine Begrüßung." Ihr Gegenüber grinste.
Emma spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
Hoffentlich hatte Lola die Make-Up-Schicht dick genug aufgetragen.
"Ich dachte, du wärst meine Freundin..."
"Schon klar." Er grinste immernoch. Seine dunklen Augen verfolgten jede von Emmas unsicheren Bewegungen und es amüsierte ihn sichtlich zuzusehen, wie sie immer hilfloser wurde.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, wer er war.
Der Kerl, der sich gerade – einfach so, aus heiterem Himmel – an ihren Tisch gesetzt hatte war genau der, an dem Lola vor weniger als einer Stunde ihr Glück vergeblich versucht hatte.
Die Erkenntnis lies Emma für einen Moment aufatmen.
Das musste der Grund sein.
Deswegen war er hier.
Er hatte Lola abblitzen lassen und jetzt wollte er doch mehr über sie wissen. Er wollte seine zweite Chance und versuchte es über ihre Freundinnen.
Natürlich.
Es war alles ganz logisch.
Emma konnte sich zu einem Lächeln durchringen und sah ihn an.
Sie wurde ruhiger.
"Kann ich dir helfen?" fragte sie freundlich.
Er grinste immernoch.
"Klar."
"Und wie?"
"Wie heißt du?"
Emma schluckte. Ihr Herz schlug wieder schneller.
Sollte er sich nicht eher nach Lola erkundigen?
"Emma." brachte sie dann hervor.
"Schöner Name." sagte er gut gelaunt, ohne den Blick abzuwenden. "Ein sehr hübscher Name für ein sehr hübsches Mädchen."
Für eine Sekunde hatte Emma das Gefühl zu fallen. Einfach so, in ein tiefes Loch. Als würde der Boden unter ihrem Hocker einfach so wegklappen. Ohne Vorwarnung.
Ihre Ohren rauschten, ihr Herz machte einen unkontrollierten Hüpfer und sie streckte instinktiv die Finger aus, um sich festzuhalten.
Zum Glück war die Sekunde schnell vorüber.
Damit hatte sie nicht gerechnet.
Nicht, dass es etwas zu bedeuten hatte. Er machte sicher nur seine Späße mit ihr – diese Art von Männern kannte sie bereits zu Genüge.
Er war das männliche Pendant zu Lola: Sie suchten sich ein nettes Mädchen aus, schleppten es ab und meldeten sich nie wieder.
Trotzdem hatte sie dieser Satz kalt erwischt. Die Art, wie er es sagte, sein Blick, dieses Lächeln.
Was für ein Macho, zwang Emma sich zu denken.
Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen und gehen!
So gehörte sich das.
Solche Kerle musste man einfach ignorieren und links liegen lassen.
Aber es ging nicht.
Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie gar nicht daran denken konnte, auch nur einen Schritt darauf zu gehen. Und etwas in seinem Blick, irgendwas an seinem breiten Grinsen und den dunklen Augen, hielt sie davon ab.
Vielleicht lag es am Kleid.
Mit Sicherheit.
Es war dieses sündhafte teure, viel zu kurze Kleid, dass ihn angelockt hatte.
Emma war ziemlich gut darin, logische Erklärungen für wirklich jeden Umstand auf dieser Welt zu finden.
Entschlossen zerrte sie den Rock des Kleides ein bisschen nach unten.
"Eigentlich sollte ich Johannes heißen und Medizin studieren." murmelte sie.
Das Grinsen wurde für einen Moment etwas schmaler. Er war überrascht.
Ihr Denkvermögen kehrte langsam zu Emma zurück. Sein verwirrter Blick half ihr, ihre Stimme wieder zu finden.
"Im Übrigen bin ich mit meinen Freundinnen hier – und wir haben heute abend kein großes Interesse an einer Erweiterung unserer Runde durch..." sie gab sich alle Mühe seinem Blick stand zu halten: "Kerle wie dich."
Emma war stolz auf sich.
Ihr Herz schlug zwar immernoch bis zum Hals, aber sie hatte das Gefühl, das richtige getan zu haben.
Der Kerl mit den dunklen Augen betrachtete sie tatsächlich ziemlich verdutzt. Dann, ganz langsam, kam sein Grinsen zurück.
"Aha. Du meinst sicher die Freundin, die Lola heißt und mich vorhin ziemlich ungeniert angebaggert hat." meinte er dann kühl. "Und die andere, die grade an der Bar hängt und uns beobachtet? Ich sehe schon, ich bin hier völlig überflüssig."
Emma war sprachlos.
Der Besuch ihres Selbstbewusstseins war nur von kurzer Dauer gewesen.
Was sollte man dazu sagen.
Er hatte Recht. Aber auf eine sehr eingebildete Art.
"Du bist aber ganz schön von dir überzeugt!" sagte sie schließlich. Es war mehr eine Feststellung als ein Vorwurf.
"Wieso auch nicht. Ich seh verdammt heiß aus heute abend." er lachte. "Zumindest hat mir dass deine Freundin vorhin gesagt. Da darf man schonmal von sich überzeugt sein!"
Er streckte die Hand nach Emmas Buch aus.
Instinktiv zog sie es zur Seite und verdeckte die Seiten mit einer Hand.
"Hey!" rief er. "Zeig doch mal!"
"Nein."
"Wieso denn nicht?"
Weil es niemanden was angeht, was ich lese, dachte Emma.
Schon gar nicht, wenn er wildfremd ist und mich total durcheinander bringt.
Sie konnte nicht sagen warum – oder besser gesagt: Sie hätte es sich nie eingestanden! - aber sie wollte nicht, dass er sie für kitschig oder langweilig hielt.
"Ich kenn' dich gar nicht." erklärte sie dann und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
Er grinste erneut und schüttelte amüsiert den Kopf. "Da hast du Recht, Emma."
Er richtete sich auf. "Da deine Freundin gleich zurück kommt, gehe ich jetzt wohl besser. Viel Spaß noch mit Fermina und Florentino!"
Er stand auf und streckte ihr die Hand hin.
Emma war viel zu überrascht, um zu reagieren.
Er lachte erneut. "Auf wiedersehen, Emma!" meinte er und wandte sich zum Gehen. "Oder sollte ich dich Johannes nennen?"
Es dauerte weniger als drei Sekunden.
Dann saßen Marie und Lola wieder an ihren Plätzen und durchbohrten Emma mit ihren Blicken.
"Was war das denn?" Marie platzte fast vor Neugier. "Ich hab euch beobachtet! Was wollte er denn?"
"Hat er nach mir gefragt?" wollte Lola wissen. Ihre schlechte Laune war verflogen. "Hat er was gesagt? Hast du ihm meine Nummer gegeben?"
Emma schüttelte hilflos den Kopf.
"Was ist denn passiert?"
Ihre Finger strichen über die kühlen Buchseiten.
"Ich hab keine Ahnung." sagte sie dann langsam. "Absolut keine Ahnung."
Bis zum nächsten Samstag war alles vergessen.
Der Alltag hatte Emma wieder und das mit all seinen Tücken.
Das rote Kleid hing wieder gut verpackt im Schrank und Emma war wieder ganz sie selbst.
Der Bericht, den sie für die Arbeit im Labor erstellen musste – eigentlich wäre ja ihre Kollegin Katja dran gewesen! - raubte ihr jede Minute, sie musste viel zu lange in der Reinigung warten, um ihre Blusen abzuholen und Lenny räumte während einer seiner Erkundungstouren den kompletten Wohnzimmerschrank um.
Die Shopping-Tour mit Marie und Lola war verschoben worden – noch mehr Geplapper und die ständigen Diskussionen über den unbekannten Fremden, die die beiden immer wieder begannen konnte Emma beim besten Willen nicht ertragen.
Lola war der Meinung, dass es sich dabei nur um einen schlechten Scherz handeln konnte.
Marie dagegen war fest überzeugt, dass Romeo, wie sie ihn übermütig getauft hatte, auf jeden Fall ernsthaft an Emma interessiert war.
Deshalb war sie umso entäuschter, dass sie nicht einmal seinen Namen, geschweigedenn irgendeine Kontaktmöglichkeit hatten.
Müde und mit leichten Kopfschmerzen, die sie schon seit dem Abend im "Miss Morton" verfolgten, fand Emma sich schließlich im Vorgarten ihrer Eltern wieder.
Entschlossen hatte sie sich in den vergangenen Tagen dazu gezwungen, jeden Gedanken an den Unbekannten zur Seite zu schieben.
Was auch immer er gewollt hatte: Es war ihr egal.
Er war nur irgendein arroganter Aufreiser-Typ, ein "Sammler", wie Marie diese Art Männer gerne altklug nannte, der seinen Spaß mit einem schüchternen, unsicheren Mädchen in der Ecke gehabt hatte.
Egal, welches Ziel er verfolgt hatte – es interessierte sie nicht, denn sie würde ihn nie wieder sehen.
Emma seufzte.
Erst jetzt bemerkte sie ärgerlich, wie ihre Gedanken schon wieder abgeschweift waren.
Das Hausmädchen warf ihr einen verwunderten Blick zu. "Darf ich ihre Jacke nehmen?" wiederholte sie dann ihre Frage.
"Oh, natürlich. Dankeschön." Emma händigte eilig ihren Mantel aus und betrat die Eingangshalle.
Das Häuschen ihrer Eltern war im Grunde genommen eine ausgewachsene Villa und Clara Maler legte keinen großen Wert auf irgendeine Art von Understatement.
Überall standen antike Möbel herum, an den Wänden hingen Gemälde die mehr kosteten als Emmas komplettes Wohnungs-Inventar und an der Decke funkelte ein großer, altmodischer Kronleuchter.
Emma fand ihre Mutter im großen Wohnzimmer.
Ihr Vater war wohl noch in seinem Büro oder in der Praxis.
"Emma! Endlich!" rief Clara ungeduldig, als sie ihre Tochter erblickte.
"Du hast gesagt sechs Uhr, Mutter." sagte Emma freundlich.
Sie war fünfzehn Minuten früher da.
"Ach, Kind. Du weißt doch, wie das ist! Es gibt so viel zu tun! Kannst du bitte ganz schnell in den Garten gehen und nachsehen, ob die Gläser alle poliert sind! Bitte!" Clara lief ungeduldig zwischen den extra aufgestellten Stehtischen hin und her, zupfte hier an einer Tischdecke, rückte da eine Blumenvase gerade und bedachte jeden Gegenstand im Raum mit einem kritischen Blick.
Ihre Tochter inklusive.
"Na, was ist denn? Emma!"
"Ich bin schon auf dem Weg. Ich wollte noch Freya begrüßen." meinte die, so höflich wie möglich.
"Freya ist oben und macht sich fertig." informierte Clara sie knapp.
Dann, mitten in der Bewegung, hielt sie inne und blieb stehen.
Ihr Blick wanderte von Emmas Schuhen über ihr schlichtes Sommerkleid nach oben zu ihren Haaren. "Ziehst du dich noch um?"
"Nein, Mutter."
"Aha."
Emma seufzte.
"Ich bin dann mal draußen."
Emma kontrollierte die Gläser, befüllte die Eisbehälter, kontrollierte die Zahl der Gastgeschenke und maß den Abstand zwischen den Stehtischen nach.
Sie war eine sehr routinierte und gewissenhafte Party-Helferin, auch wenn Clara das nie zuzugeben hätte.
Irgendwann kam ihr Vater aus dem Büro und begrüßte sie im Vorbeigehen mit einem "Ach, schön dass du auch da bist!" bevor er es sich auf der Couch gemütlich machte.
Und dann, gerade rechtzeitig um mit den ersten Gästen im Wohnzimmer aufzutauchen, kam Freya.
Und natürlich sah sie bezaubernd aus.
Die langen, blonden Haare waren elegant frisiert und umrahmten ihr ausgesprochen hübsches Gesicht. Ihre großen blauen Augen strahlten und der volle Mund leuchtete rot, passend zu ihrem schulterfreien Cocktailkeid.
Wie eine Elfe schwebte sie auf den endlos hohen Highheels durch den Raum und bedachte jeden der eintrudelnden Gäste mit ihrem perfekten Zahnpastalächeln.
Man war sich einig: Die Schönste im Raum war eindeutig Freya.
Emma wurde nicht weiter beachtet.
Sie begrüßte die wenigen bekannten Gesichter zwischen den Partygästen und suchte sich dann, bevor der Trubel endgültig losging einen ruhigen Platz auf der Terrasse, wo sie ungestört von allen sitzen und beobachten konnte.
Das Buch in ihrer Tasche hielt sie sich für den Notfall bereit.
Irgendwann – nach jeder Menge charamanter Unterhaltungen mit allen möglichen Gästen - erinnerte Freya sich wohl daran, dass sie eine kleine Schwester hatte und kam zu ihr herüber.
Die Begrüßung fiel sehr viel herzlicher aus, als Claras.
"Da bist du ja!" ein Cocktailglas in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen kam Freya auf sie zu geschwebt.
Eine kurze Umarmung, ein knapper Blick.
"Hübsch siehst du aus!" lobte Freya. "Die Farbe steht dir. Du solltest öfter... äh... ist das blau?"
Emma lächelte nachsichtig und strich eine imaginäre Falte glatt. "Danke. Du siehst wirklich toll aus heute!" sagte sie dann und meinte es auch so.
Sie konnte nicht eifersüchtig oder neidisch auf Freya sein.
Ihre Schwester konnte nichts dafür – nichts für ihre Schönheit und noch weniger dafür, dass sie von den Eltern bevorzugt wurde.
Abgesehen davon: Was Freya an Schönheit und Eleganz im Überfluss hatte, ging ihr an Intelligenz und Geist wieder ab.
Das bewies sie auch umgehend.
"Emma, ich muss dir unbedingt eine lustige Geschichte erzählen. Das ist so lustig!"
Emma nickte. "Schieß los."
"Also. An meiner Uni, da ist dieses Mädchen. Du weißt schon, so eine, die ein bisschen doof ist..." Freya lachte schon beim Gedanken an ihre Geschichte.
Aus dem eleganten Engel war ein glucksendes Kind geworden.
Emma lehnte sich zurück und gab sich alle Mühe, fröhlich zu wirken und ihr zu folgen.
Irgendwann, nachdem sie ihr das Mädchen, die Uni, einen Professor und die Farbe ihres Ordners genau beschrieben hatte kam dann endlich die Pointe: "Und da fragt die doch tatsächlich, wie Obama mit Vornamen heißt! Ich meine, das weiß doch jeder! Der Typ hat doch nur den einen Namen!"
Sie lachte.
Wenigstens ihr Lachen war schön.
Emma belohnte sie mit einem Lächeln und enthielt sich jeden Kommentars.
Ihre Schwester war gut darin, Hände zu schütteln und Köpfe zu verdrehen. Weltpolitik war ganz offensichtlich nicht ihr Ding.
"Läuft die Uni gut?" fragte Emma schließlich.
Ihre Schwester zuckte ziemlich gelangweilt von diesem Thema mit den Achseln. "Ich dachte, wenn ich was mit Kunst studiere, gibts weniger Prüfungen..." meinte sie dann.
Emma nickte
Aha.
Drei Themenwechsel – das Wetter, Freyas neue Frisur und das kaputte Fenster des Poolhauses – später verkündete dann auch Freya die große Neuigkeit.
"Ich gehe Fallschirmspringen!"
"Ja, ich hab schon davon gehört."
"Wie das denn? Ich war doch noch gar nicht..." Freya grübelte.
"Unsere Mutter hat es mir erzählt." erklärte Emma. "Als sie angerufen hat."
Auch wenn es nicht unbedingt nett war: Die Gespräche mit Freya taten Emma gut.
Jedes Mal bewies ihre Schwester auf sehr eindrucksvolle Weise, dass ein hübsches Lächeln und elterliches Wohlwollen nicht alles waren, was es im Leben gab.
"Achso. Okay." Freya fing sich wieder und ihr Zahnpastalächeln kehrte zurück. "Also hör zu. Das war ja eigentlich Alexs Idee, aber jetzt gehe ich eben mit. Das wird sicher toll."
Alex war Freyas Freund: Ein künftiger Anwalt, der gerade an seinem Staatsexamen feilte und nebenher, genau wie Freya, vom Geld seiner wohlhabenden Eltern lebte.
Aber er war ein netter Kerl.
"Wo ist Alex eigentlich heute?" fragte Emma und vollbrachte damit den fünften Themenwechsel.
Freya stutzte. "Er müsste eigentlich irgendwo sein. Ich bin mir sicher... ähm."
"Vielleicht sehe ich ihn ja noch." sagte Emma schnell. Man wollte ja nicht riskieren, dass Freya sich ihr hübsches Köpfchen über diese Anstrengung zerbrach.
"Genau." Freya lachte.
Dann, nach einer Pause sagte sie: "Weißt du, Emma, es ist schön, wenn du da bist."
Emma glaubte ihr.
Sie lächelte.
Gerade, als sie etwas erwiedern wollte, zuckte sie zusammen. Für eine Sekunde glaubte sie, etwas gesehen zu haben – aber das war unmöglich.
Und trotzdem.
Emma war sich sicher, wenn auch nur für einen Augenblick, dass sie ihn gesehen hatte, ihren unbekannten Gast aus der Bar, da drüben zwischen ein paar anderen Anzugträgern mit ihren Cocktaislgläsern.
Es konnte einfach nicht wahr sein. Ausgeschlossen.
Emma rieb sich die Schläfe.
Da waren sie wieder, die Kopfschmerzen.
Kein Wunder – nach einem langen Tag wie diesem war es ja wohl ganz natürlich, Hirngespinsten zu erliegen. Es war schließlich auch schon spät.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr das.
"Ach, Freya – auch wenn es wirklich schön ist, hier zu sein... ich bin wirklich müde und ich habe einen langen Tag morgen..."
Der Laborbericht, dachte Emma, dankbar eine Ausrede zu haben.
"Emma! Nein!" rief Freya aufgebracht. "Du kannst doch noch nicht gehen! Es ist noch nicht einmal halb elf! Die Party fängt doch erst an!"
Emma schüttelte den Kopf. "Freya, die meisten eurer Gäste sind deutlich über sechzig. Ich glaube nicht, dass ich etwas verpasse Und ich muss noch nach Hause fahren..."
"Du könntest hier schlafen!"
"Ach, Quatsch. Das macht nur Umstände."
Sie sah bereits den Blick ihrer Mutter vor sich, wenn sie ihr eröffnete, dass sie vorhatte, ein Bett in ihrem Elternhaus zu beanspruchen. Der Aufwand für so eine Spontan-Übernachtung war grenzenlos: Frische Bettwäsche und Handtücher mussten her, das Frühstück musste aufgestockt werden und die Badbenutzung erst – das reinste Chaos.
Nein. Ganz ausgeschlossen.
Sie musste los – je schneller, desto besser.
"Nächstes Mal übernachte ich hier. Versprochen." sagte Emma eilig.
Freya schmollte. "Du bist langweilig."
"Ich muss morgen noch einen Bericht fürs Labor schreiben... und ich bin jetzt schon müde." versuchte Emma, sich erneut zu erklären.
"Langweilig." wiederholte Freya und zog eine Schnute.
Emma rutschte von ihrem Stuhl und stellte ihr Glas zur Seite.
"Ich verabschiede mich noch und dann fahre ich."
"Kommst du nächste Woche zum Essen? Alex ist auch da!"
Alex war fester Bestandteil vieler Essen im Hause Maler. Seine Eltern und die Malers verstanden sich, der Kinder zuliebe, mittlerweile sehr gut.
"Vielleicht."
Emmas Blick wanderte noch einmal über die Gästeschar.
Nein, natürlich. Sie hatte sich getäuscht.
Er war nicht hier – er konnte gar nicht hier sein.
Das war ja auch völlig unmöglich.
Sie war einfach nur müde und musste ganz dringend nach Hause.
Es wäre völlig verantwortungslos noch länger zu bleiben und dann später mit Kopfschmerzen nach Hause zu fahren!
Emma verabschiedete sich bei ihren Eltern, und fischte dann ihren Mantel aus dem Garderoben-Chaos.
Als sie schließlich wieder ins Freie trat, strömte ihr die kühle Spätsommerluft entgegen und trieb ihr wieder etwas Farbe ins Gesicht.
Die Stille im Vorgarten, weit weg vom Trubel und den lauten Unterhaltungen auf der Party, taten gut.
Langsam spazierte sie über den Kiesweg.
Die kleinen, weißen Steine unter ihren dünnen Schuhsolen, knisterten.
Ihre Gedanken wurden ebenfalls wieder klar.
Sie musste sich eingestehen, dass sie ein bisschen panisch reagiert hatte. Aber das war in Ordnung, dachte sie. Jeder wäre überrascht gewesen.
Und im Grunde genommen war ja nichts weiter passiert.
Es war nur eine Verwechslung.
Große, gutaussehende Typen mit dunklen Augen gab es schließlich viele.
Clara hatte die halbe Nachbarschaft mitsamt Anhang eingeladen und auch noch freie Partnerwahl gewährt. Eine der Nachbarstöchter hatte vielleicht einen Freund, der...
"Emma, du hast etwas vergessen!"
Sie zuckte zusammen und drehte sich, ganz langsam und darauf bedacht ruhig zu atmen, um.
Sie erhaschte einen kurzen Blick auf den Schatten, der vom Haus her auf sie zukam – ein unklares, verschwommenes Bild.
Das konnte jeder sein – klar.
Trotzdem war sie sich sicher. Sie hatte seine Stimme wieder erkannt.
Das durfte nicht wahr sein.
Es konnte nicht wahr sein.
Das war völlig unlogisch!
Und wieso fing ihr Herz bitteschön schon wieder an, so übermotiviert durch die Gegend zu hüpfen?!
Sie drehte sich wieder um und ging schneller.
Noch ein paar Schritte, dann war sie am Gartenzaun.
Zum Auto war es dann nicht mehr weit.
Sie zwang sich, gerade aus zu sehen und weiter zu gehen.
Schritt für Schritt.
Er kam näher. Sie hörte seine Schuhe auf dem Kies.
Verdammt.
Was wollte er hier?
"Hey! Emma!" er lachte. "Flüchtest du vor mir?"
Sie spürte eine warme Hand auf ihrer Schulter und musste stehen bleiben. Jetzt noch weiter zugehen, das wäre unhöflich gewesen.
Trotzdem war Emma für einen Moment nicht in der Lage, sich zu rühren.
Ohne sich umzudrehen starrte sie auf den Boden.
Die Gedanken in ihrem Kopf fuhren Karussell.
"Du hast was vergessen." er lachte erneut.
Konnte er nicht einfach wieder verschwinden?
Ganz langsam, entschlossen ihm dieses Mal keinen Grund für ein Grinsen zu geben und sich auch auf gar keinen Fall lächerlich zu machen, drehte sie sich um.
Es waren die selben dunklen Augen, das selbe strahlende Lachen. Das Halbdunkel des Vorgartens zeichnete dunkle Schatten in sein Gesicht.
"Was denn?" fragte sie, so kühl wie möglich.
Sein Lachen verstummte.
"So ernst heute?"
"Was willst du?"
"Du hast etwas vergessen."
"Hast du schon gesagt."
Ihre Stimme wurde mit jedem Wort kühler.
Er ist ein Macho, dachte sie. Ein Aufreifer. Ein Sammler. Einer, der sich einen Spaß erlaubt. Lolas Schimpftiraden tauchten in ihrem Kopf auf. Einer, der Mädchen wie dich sowieso nur verarscht!
Es war erstaunlich, wie leicht es ihr plötzlich fiel.
"Könntest du mir jetzt bitte sagen, was du von mir willst?" wiederholte sie mit fester Stimme.
Abweisend zu sein war gar nicht so schwer, wie sie immer gedacht hatte! Und es wirkte.
Diesmal war er es, der unsicher wurde.
Er räusperte sich.
Sie hatte seinen Scherz ruiniert, soviel stand fest. Er versuchte es trotzdem.
"Du hast vergessen, dich bei mir zu verabschieden."
"Ich hatte keinen Grund dafür. Wir kennen uns nicht einmal. Im Übrigen halte ich es nicht für angebracht, dass du mir mitten in der Nacht hinterherläufst." erklärte sie.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er senkte den Blick für eine Sekunde.
"Schon okay. Ich wollte dich nicht erschrecken oder so."
Emma schwieg.
Irgendwo, ganz tief in ihr drin, meldete sich so etwas wie ein Schuldgefühl – wahrscheinlich eine Hinterlassenschaft von Claras Erziehung. Sie war gemein zu ihm.
Vielleicht meinte er es ja gar nicht so böse?
Emma zwang sich, weiter zu schweigen.
Keine Entschuldigungen jetzt!
Egal, ob er es böse meinte oder nicht: Fest stand, dass er irgendwas vorhatte und das konnte nicht Gut für sie sein.
Männer wie er, denen sogar Lola ihre Aufmerksamkeit schenkte, interessierten sich nicht für Mädchen wie sie.
Niemals.
Das war sowas wie ein Naturgesetz und damit kannte sie sich aus.
Sieben Semester Biologiestudium mussten als Grundlage genügen.
Egal was er wollte: Sie würde ihm klar machen, dass er bei ihr an die Falsche geraten war.
Basta.
"Ich wusste nicht, dass Herr Maler dein Vater ist oder so. Er hat nie was von einer Tochter erzählt, die Emma heißt..." fuhr er schließlich fort. Ohne das Dauergrinsen war sein Gesicht weicher. Irgendwie jünger. "Oder von einem Sohn namens Johannes... Er hat immer nur von deiner Schwester erzählt, ich hab erst heute kapiert dass du auch dazu gehörst. Ich verfolge dich nicht oder sowas... ich bin kein Stalker."
Emma schwieg immernoch.
Die Geschichte wunderte sie überhaupt nicht.
Trotzdem war sie nicht bereit, ihrem Gegenüber freundlicher gegenüber zu treten.
Ihr Plan stand fest.
"Ich bin übrigens Phil." sagte er schließlich nach einer Pause. Zum zweiten Mal in dieser Woche streckte er ihr die Hand hin.
Diesmal schüttelte Emma sie.
Ob aus Höflichkeit oder schlechtem Gewissen wollte sie nicht entscheiden.
"Phil." sie hob eine Augenbraue.
"Ja... also eigentlich Philipp. Aber meine Freunde nennen mich Phil."
"Okay, Philipp." Emmas Stimme zitterte, aber immerhin kamen die Worte laut und deutlich aus ihrem Mund.
Sie holte tief Luft und sagte mit aller Entschlossenheit, die sie in diesem Moment zusammenkratzen konnte: "Ich hab keine Ahnung wer du bist und woher du meinen Vater kennst. Ich lege auch keinen großen Wert darauf, es zu erfahren. Unsere Geschichte endet genau jetzt und hier. Ich will nicht wissen, was du vorhast und weshalb du mir hinterher gelaufen bist. Lass mich einfach in Ruhe. Hast du mich verstanden?"
Ohne eine Antwort abzuwarten drehte Emma sich um.
Der Kies knisterte, als sie die letzten Schritte zum Gartentor zurück legte.
Hinter ihr blieb es still.
Als sie am Auto angekommen war, wagte sie nochmal einen kurzen Blick zurück in den Vorgarten.
Phil war verschwunden.
Die Haustür fiel mit einem lauten Geräusch ins Schloss.
Er hatte sie verstanden.
"Das hast du gesagt? Krass." Lola nickte anerkennend.
Emma winkte ab. "Lasst uns über was anderes reden, okay?"
Sie wollte das Thema nur zu gerne wechseln. Phil – oder Philipp, wen interessierte das schon – sollte nicht mehr sein als eine kleine Geschichte, die belegte, dass sogar nette Mädchen wie Emma sich durchsetzen konnten.
"Meine Mum will auf Mallorca ein Café eröffnen." berichtete Lola. "Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich Lust habe, mich darüber zu unterhalten."
Emma lächelte.
"Habt ihr schonmal über diese Online-Dating-Börsen nachgedacht?" lautete Maries Themenbeitrag.
Lola lachte.
"Das ist nicht dein Ernst, oder?"
Marie zuckte unschuldig mit den Achseln. "Wieso denn nicht?"
"Das ist so... so... da sind doch nur alte Männer, die sonst keine mehr abkriegen!" Lola schüttelte den Kopf. "Marie, ich bitte dich!"
"Psst! Nicht so laut!" Marie legte den Zeigefinger an die Lippen. "Meine Mitbewohnerin versucht, zu lernen."
Lola verdrehte die Augen.
Emma versuchte, etwas freundliches zu sagen. "Vielleicht ist es ja eine gute Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Ob da dann mehr draus wird, kann man ja immernoch feststellen, wenn man sich trifft oder so."
Marie nickte dankbar.
"Ja klar. Und dann kommt so ein Psycho-Typ und am Ende liegst du erwürgt irgendwo im Wald. Nein danke."
"Als ob du genau bescheid weißt, über jeden mit dem du so nach Hause gehst!" verteidigte sich Marie. "Man kann sich ja vorher Fotos schicken und so."
"Fotos kann man auch irgendwo klauen. Da denkst du dann, du triffst dich mit Hugh Jackman und dann kommt..." Lola suchte nach einem Vergleich.
Jetzt grinste Marie. "Du findest, Hugh Jackman sieht gut aus?"
"Klar." meinte Lola freimütig. "Findest du nicht?"
Marie sah sich unschlüssig um. "Emma?"
Emma, die sich nicht einmal sicher war welcher der vielen Stars und Sternchen Hugh Jackman eigentlich war, überlegte. "Ich glaube nicht, dass es nur aufs Aussehen ankommt."
Marie und Lola warfen einander einen vielsagenden Blick zu, dann brachen sie beide in Gelächter aus.
Aus dem Nebenzimmer war ein lautes Klopfen zu vernehmen.
"Psst!" Marie kicherte.
"Was ist daran denn lustig?" wollte Emma wissen. "Nur weil jemand gut aussieht macht ihn das ja noch nicht zu einem guten Menschen." erklärte sie trotzig.
"Klar. Aber wer will schon mit einem netten Charakter ins Bett gehen?" brachte Lola ihre Meinung auf den Punkt.
Marie kicherte noch immer. "Emma will nur nicht zugeben, dass ihr Phil eigentlich ganz gut gefallen hat."
Emma versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. "Es ist doch ganz egal, wie er aussieht. Fest steht, dass seine Anmache in der Bar wirklich blöd war. Und, ich meine, wenn ich jemanden kennen lerne, dann doch bitte nicht so."
"Lass sie..." sagte Lola, bevor Marie den Mund aufmachen konnte. "Emma hofft eben weiter auf ihren intellektuellen, perfekt erzogenen Traumprinz. Das mit diesem Phil wäre sowieso schief gegangen."
"He!"
Emma senkte den Kopf und eilte weiter.
Das Großraumlabor, in dem sie ihren Arbeitsplatz hatte, lag am Ende des kleinen, klinisch weißen Flurs.
Das winzige Büro, dass ihr und ihrer Kollegin zugeordnet war, befand sich genau am anderen Ende.
"He!" rief die Stimme noch einmal. "Bleiben Sie doch mal..."
Irgendjemand aus der Verwaltung hatte sich wohl auf ihr Stockwerk verwirrt. So fing der Tag ja besonders gut an.
Endlich fiel die Tür hinter Emma ins Schloss.
"Guten Morgen!" trällerte Katja.
Außnahmsweise saß sie bereits vor Emma an ihrem kleinen Schreibtisch und drehte mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen einen Becher Kaffee in den Händen.
"Hallo." Emma lies ihre Tasche auf den Tisch fallen und fischte sich einen Laborkittel vom Haken.
"Du fragst ja gar nicht!" rief Katja. Bei jedem Wort drehte sie leicht den Kopf hin und her, worauf ihre kurzen, außerordentlich voluminösen Haare von links nach rechts schwangen.
"Wonach denn?"
Emma rückte ihren Drehstuhl zurück und nahm Platz.
Sie holte den aktuellen Laborbericht – diese Woche war sie an der Reihe gewesen – aus ihrer Tasche und kramte in der Schublade nach einer Mappe.
"Nach meinem Wochenende!"
"Oh. Entschuldigung." Emma richtete sich auf und sah ihre Kollegin an. "Dann erzähl mal. Wie wars mit..."
Sie hatte den Namen vergessen.
"Es war unglaublich!" rief Katja, noch bevor Emma ihren Satz beendet hatte. Die Haare wippten euphorisch. "Kevin ist unglaublich, der Ausflug war unglaublich und überhaupt... es war so..."
"Unglaublich?"
"Unglaublich!"
"Unglaublich."
"Genau." Katja strahlte.
"Wo wart ihr nochmal?" Emma begann, die Seiten des des Laborberichts abheften und Katja, die sich gemütlich in ihrem Stuhl zurück lehnte, legte dann endlich mit ihrem eigenen Bericht los:
"Wir waren in diesem tollen kleinen Hotel, an so einem Bergsee. Er hat mich mit dem Cabrio abgeholt und wir sind mit offenem Verdeck gefahren. Und abends waren wir in einem supersüßen Restaurant essen, vier Gänge und zu jedem Gang ein anderer Wein!" sie kicherte. "Ich glaube, er mag mich wirklich."
"Klar." antwortete Emma. "Guter Wein ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er dich mag."
Katja verdrehte die Augen.
"Was verstehst du schon davon!" rief sie.
Emma zuckte die Achseln. "Nichts."
Drei Wochen waren vergangen seit dem Abend im Vorgarten. Drei Wochen. Und Phil hatte sie anscheinend tatsächlich verstanden – selbst wenn sie sich irgendwo zufällig über den Weg gelaufen wären.
Sie hatte ihn nicht wieder gesehen und auch sonst kein Wort mehr von ihm gehört.
Genau, wie sie es sich gewünscht hatte.
Alles war wunderbar.
Absolut.
Irgendwann hatte sogar Marie aufgehört, sie mit der Geschichte aufzuziehen und war wieder zum Tagesgeschäft übergegangen. Mittlerweile lagen fundierte Testberichte über drei verschiedene Dating-Seiten vor.
Emma hatte zwei weitere Abendessen mit ihrer Familie überstanden und Freya plante noch immer, aus einem Flugzeug zu springen.
Die Welt drehte sich immernoch genauso schnell wie zuvor.
"Eben. Ich würde dich ja nach deinem Wochenende fragen, aber ich fürchte dass meins spannender war."
"Gut möglich." antwortete Emma nur. "Zumindest hatte ich genug Zeit, um den Bericht fertig zu stellen."
sie gab der Mappe einen Schubs, so dass sie zu Katjas Seite des Schreibtisches hinüber glitt.
Die fing das gute Stück auf und blätterte durch die Seiten. "Du hast dir ja echt Mühe gegeben."
"Klar." meinte Emma nur.
"Streberin!" Katja lachte.
Emma gab sich Mühe, ein freundliches Gesicht zu präsentieren.
Katjas Bemühungen um die Berichte – oder jeden anderen Bereich ihrer Arbeit – hielten sich in Grenzen. Manchmal vermutete Emma, dass ihre Kollegin im Grunde nur darauf wartete, bis ihr irgendwann der Richtige über den Weg lief, der sie heiratete und von der Pflicht, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, erlöste.
"Weißt du, ich glaube, ein Freund – oder wenigstens ein Liebhaber – würde dir wirklich gut tun."
Emma betrachtete ausführlich die frischen, grünen Mappen, die auf ihrem Schreibtisch bereits warteten. Arbeitsanweisungen für die neue Woche.
Sie wollte einfach nichts zu diesem Thema sagen.
"Ach komm schon." lockte Katja. Die Frisur nickte im Takt mit ihrem Doppelkinn.
"Mir wäre schon geholfen, wenn du das nächste Mal den Bericht schreibst, wenn du an der Reihe bist!"
Emma stand von ihrem Sessel auf und schnappte sich die neuen Versuchsunterlagen.
"Vielleicht. Aber wenn Kevin mich nächste Woche zum Skifahren einlädt, musst du leider nochmal für mich einspringen!" Katja folgte ihr zur Tür.
"Skifahren? Wir haben September!"
"Dann eben zur Heuwagenfahrt...."
"Sowas gibts nur in Ami-Kitsch-Filmen..."
"Kannst du mal aufhören?" Katja lachte.
"Ich hab noch gar nicht angefangen..."
Katja, immernoch lachend und Emma, mit ihrem typischen, zurückhaltenden Lächeln ausgestattet, betraten den Flur.
Mittlerweile herrschte hektische Betriebsamkeit: Die Biologen, zu erkennen an ihren Kitteln, den Versuchsmappen und den holprigen Flur-Unterhaltungen, die sie auf ihrem Weg zum Labor führten, eilten in die eine Richtung, eine kleine Gruppe Menschen in dunklen Kostümen in die Andere.
Emma erkannte nur zwei von ihnen auf Anhieb: Dr. Schumacher war der Abteilungsleiter, ein kleiner, untersetzter Mensch mit etwas zu großen Brillengläsern. Und Nicole, seine Assistentin.
Es war allseits bekannt, dass Nicole den Job hier nur hatte, weil sie die Tochter eines Vorstandsmitglieds des Instituts war und dieser nicht länger hatte mit ansehen können, wie seine Tochter ein Studium und nach dem anderen abbrach.
Nichts desto trotz und obwohl jeder auf dem Stockwerk sehr genau wusste, wie Nicole sich für ihre Stelle qualifiziert hatte, legte sie ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag, wenn es darum ging, sich und ihre Position zu präsentieren.
Zum Glück für Nicole legte Emma mehr Wert auf Höflichkeiten, als auf die Gerüchteküche.
Sie grüßte erst den Doktor, dann seine Assistentin und zu guter Letzt nickte sie auch den anderen Gestalten zu, die mit Sicherheit auch irgendeine Existenzberechtigung und damit ihre Aufmerksamkeit verdient hatten.
Katja, beschwingt von ihrem unglaublichen Wochenende, war weniger höflich.
"Zum Glück muss sie nicht wirklich arbeiten- mit den Fingernägeln wär das auch unmöglich." flüsterte sie Emma zu, als sie an Nicole vorbei gingen.
Der Blick, den sie von der Assistentin dafür erntete, war tödlich.
Emma zog es lieber vor, zu schweigen.
Sie nickte der Runde noch einmal höflich zu, als sie sich an ihnen vorbeischob und stieß dann die Tür zum Labor auf.
Katja folgte ihr lachend. "So eine Zicke!" rief sie, als die Tür wieder ins Schloss gefallen war.
Wortlos machte Emma sich an die Arbeit.
Ihr Job bestand im Großen und Ganzen aus der undankbaren Aufgabe, die Forschungsergebnisse von anderen Teams zu bestätigen, in dem sie gleichartige Versuche noch einmal so oft durchführte, bis dass Ergebnis als erwiesen zu betrachten war.
Die Lorbeeren im Falle eines Beweises ernteten natürlich diejenigen, die die These zuerst aufgestellt hatten.
Konnten Emma und ihre Kollegen vom vierten Stockwerk zufällig einmal nachweisen, dass das ursprüngliche Ergebnis nicht haltbar war bedeutete das zum einen jede Menge Papierkram – zum anderen fand dieser Umstand aber auch wenig Beifall von den anderen Etagen.
Es war die unspektakulärste Aufgabe, die Emma sich hätte aussuchen können aber es war genau das, was sie nach ihrem Studium gesucht hatte.
Solide und ein guter Einstieg ins Berufsleben.
Außerdem zahlte das Institut ziemlich gut.
Trotz aller Belanglosigkeit fand Emma die Aufgabe wichtig genug, um sich voll und ganz zu konzentrieren und Katja dabei den Rücken zuzuwenden.
Am Tisch gegenüber erntete Katjas Kommentar wenigstens ein paar fragende Blicke.
Das reichte ihr vollkommen: "Unser Fräulein Assistenz-Zicke. Steht auf dem Flur und tut so, als hätte sie was zu sagen."
Die Kollegen nickten wissend.
Niemand hier war besonders gut auf die junge Frau aus dem Chef-Büro zu sprechen – allerdings lag es nicht gerade in der Natur der Wissenschaftler, sich mehr mit diesem Thema zu beschäftigen als dringend nötig.
Katja zupfte an ihrem Kittel herum und versuchte, ihr Haar zu einem Zopf zu binden.
"Mein Kevin findet sie sicher genauso dämlich wie ich." sagte sie, als sie schließlich aufgab und gesellte sich endlich an Versuchstisch.
Nach acht Stunden im selben Labor waren Emma und alle anderen Anwesenden bestens informiert über Kevin und sein Cabrio.
Fast schon erleichtert, dem ewigen Geplapper zu entrinnen, verlies Emma schließlich das Institut.
Sie überquerte den Parkplatz, machte einen großen Bogen um eine Gruppe junger Frauen in schicken Kostümen, unter denen sie auch Nicole wieder erkannte und machte sich dann auf den Weg zur S-Bahn.
Das Gute am Institut war, dass es ziemlich nahe an der Innenstadt angesiedelt war und Emma so wenigstens jeden Abend die Chance hatte, noch schnell die Einkäufe zu erledigen, bevor sie schließlich nach Hause fuhr.
Heute abend würde sie sich etwas Leckeres kochen.
Nudelauflauf vielleicht. Oder Hähnchen-Curry. Irgendwas, was schnell ging und trotzdem schmeckte.
Als Belohnung dafür, dass sie Katja so tapfer ertragen hatte.
Unwillkürlich musste Emma grinsen bei diesem Gedanken.
Diese Art der Selbstbelohnung – Wer Gutes tut bekommt auch etwas Leckeres zu Essen! - war noch so ein Relikt von Claras Erziehungsmethoden.
Früher hatte man sie mit Bonbons gelockt, heute reichte der Gedanke an ein nettes Abendessen aus, um sie zu motivieren.
Gemächlich bahnte Emma sich ihren Weg durch die hektische Menschenmenge, die sich zwischen den Bushaltestellen und S-Bahn-Stationen bewegte.
Über die Gedanken an ihr Abendessen kam sie schließlich zu Lenny, der ebenfalls sein Futter haben wollte. Sie dachte an Marie und Lola mit denen sie sich für morgen verabredet hatte und an Katja – die sie wohl oder übel auch wiedersehen würde.
Der einzige, an den sie – zum ersten Mal in den letzten Wochen!- nicht denken musste, war Phil.
Bis er plötzlich vor ihr stand.
Sie war vor einer Schaufensterscheibe stehen geblieben und hatte gedankenverloren die Kleider, die an den Puppen so bezaubernd aussahen, bewundert.
Als sie ihn bemerkte, konnte sie nicht genau sagen, wie lange er schon dort stand.
"Guten Tag." Kein Grinsen, kein Lachen. Nur ein feines, höfliches Lächeln.
"Hallo."
Emma spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu sehen.
Und schon gar nicht, dass er sie tatsächlich noch einmal ansprechen würde.
Vielleicht war ihre kleine Ansprache doch nicht so höflich gewesen.
"Das ist ein hübsches Kleid." sagte er und deutete auf das Schaufenster.
Emma sah nicht einmal hin.
"Kann ich dir helfen?" fragte sie, so höflich es eben ging. Mit viel Mühe schaffte sie es, ihrer Stimme einen ruhigen, unverbindlichen Ton zu geben.
Vielleicht gab es ja einen Grund. Irgendetwas.
Vielleicht wollte er sie nach dem Weg fragen oder nach der Uhrzeit oder er wollte sich nach ihrem Vater erkundigen oder...
Verzweifelt suchte ihr Hirn nach einer akzeptablen Lösung.
Er lächelte immernoch. "Ich wollte dich nicht aufhalten oder so." sagte er und hob, wie zum Beweis, die Hände. "Ich hab verstanden, dass du kein Interesse daran hast, mich wieder zu sehen."
Emma wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich bei ihm entschuldigen zu müssen.
Er machte eine Pause, die seinen letzten Worten noch mehr Nachdruck verlieh.
Dann sagte er: "Aber, liebe Emma, ich habe leider nicht verstanden, warum."
"Wie bitte?"
"Du sagst, du willst in Ruhe gelassen werden. Das ist okay – das ist dein gutes Recht. Aber weißt du, ich habe es nie böse gemeint und..." jetzt, als er sah wie überrascht sie war, wurde aus seinem Lächeln wieder das freche Grinsen. "... und ich finde du bist mir zumindest eine Erklärung schuldig."
Emma zögerte.
Die Worte lagen ihr bereits auf der Zunge: Sie hatte es sich so oft selbst vorgesagt, all die Gründe, die gegen Phil sprachen.
Aber jetzt, wo er vor ihr stand, kam ihr das alles plötzlich ziemlich fadenscheinig vor.
Nicht, weil er so nett lächelte. Nicht, weil er so gut aussah. Und schon gar nicht, weil das Hemd, dass er trug teurer wirkte als Emmas komplette Garderobe zusammen. Einfach nur, weil er hier stand.
Trotzdem - trotz der Gemeinheiten, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte.
Bevor Emma etwas sagen konnte – sie war sich noch nicht sicher, wie ihre Antwort lauten sollte - redete Phil weiter.
"Wie wärs, wenn du bei einer Tasse Tee weiter überlegst." schlug er vor.
"Tee?"
"Oder lieber Kaffee? Ich dachte, wer am Freitag Abend in einer Bar sitzt und Bücher liest anstatt zu tanzen, trinkt auch lieber Tee statt Kaffee..." fügte er gut gelaunt hinzu.
"Ich mag beides." rutschte es Emma heraus.
Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Das war alles, worauf er gewartet hatte
"Na dann, los."
Er drehte sich um und ging voran.
Emma konnte nicht anders, als ihm zu folgen.
Phil glitt elegant zwischen den Menschenmassen hindurch und sie hatte Mühe, ihm zu folgen.
Nach ein paar Schritten, zwei Häuser weiter, blieb er stehen und öffnete eine Glastür.
Das Cafe war ein winziger Laden mit dunklen Möbeln und moderner Neon-Beleuchtung.
Emma spürte, wie ihr beim Anblick des kalten Lichts, dass den Tresen beleuchtete, eine Gänsehaut über die Arme kroch.
Na wunderbar. Wo war sie denn hier gelandet?
Phil schien nichts von ihrem Unbehagen zu bemerken.
Er steuerte auf einen freien Tisch zu und winkte der Kellnerin.
"Also, Tee oder Kaffe?"
"Kaffee." sagte Emma fest entschlossen, obwohl ihr eine Tasse Kamillentee deutlich lieber gewesen wäre.
Sie brauchte dringend etwas, dass ihre Nerven beruhigte.
Eine ziemlich hübsche junge Frau mit Schürze, die Phil wie einen alten Freund begrüßte und Emma einen skeptischen Blick zuwarf, notierte sich ihre Bestellungen.
Als sie weg war, beugte Phil sich über den Tisch und fixierte Emma mit seinen dunklen Augen.
"Also, Emma." sagte er.
"Ja bitte?" sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
Wollte er jetzt wirklich eine ausführliche Erklärung hören? Das konnte doch nicht sein!
Emma versuchte es mit einem Lächeln.
Das gelang ihr schonmal ganz gut. Das Jahrelange Training machte sich endlich bezahlt.
"Oder sollte ich besser Johannes sagen?" fragte Phil und lachte.
Emma musste einen Moment nachdenken, dann erst fiel ihr wieder ein, dass sie es ja selbst gewesen war, die ihm dieses Detail verraten hatte. Wie peinlich.
"Ich denke, Emma passt besser." murmelte sie.
Er lachte schon wieder.
"Du bist lustig. Wirklich." meinte er unverblühmt.
Sie wurde rot.
Es war unglaublich wie hilflos sie sich in seiner Gegenwart plötzlich fühlte.
Zwei Tassen wurden gebracht. Erst jetzt sah Emma, dass Phil für sich selbst tatsächlich Tee bestellt hatte.
Er grinste, als er den Beutel aus der Tasse fischte.
Der Gedanke, der Emma durch den Kopf schoss, trieb ihr noch mehr Hitze ins Gesicht.
Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht.
Vielleicht war er ja doch nicht nur ein gutaussehender Aufreiser. Kein "Sammler" und auch kein "Jäger". Vielleicht war er einfach nur ein netter Kerl – der zufällig gerne Tee trank.
Für einen Moment, hier in diesem kleinen, hässlichen Café war sie absolut bereit, daran zu glauben.
"Okay, Emma. Du hast die Wahl." sagte Phil nach einer Weile.
Sie wartete, bis er fortfahren würde.
Nach einer kurzen Pause erfüllte er ihr diesen Wunsch: "Du kannst mir jetzt ausführlich erklären, was ausgerechnet ich dir getan habe um gleich zweimal so unfreundlich behandelt zu werden."
sie schluckte. Hoffentlich war die Alternative etwas weniger peinlich.
"Oder du erzählst mir jetzt, wieso du eigentlich Johannes heißt und Medizin studieren solltest." er grinste und fügte hinzu: "Ich muss gestehen, dass Variante zwei sehr viel unterhaltsamer klingt und deshalb auch mein Favorit wäre."
"Aha." sagte Emma.
Sie nahm einen Schluck Kaffee und setzte sich aufrecht hin.
Er beobachtete sie amüsiert.
"Du hast die Wahl."
"Okay." sagte sie und versuchte, sich die Worte zurecht zu legen.
Es war keine Geschichte, die so oft erzählte. Und auch nicht gerade gerne. Aber es war besser, als sich jetzt mit Phil darüber zu unterhalten, wieso sie so voreilig Schlechtes über ihn gedacht hatte.
"Eigentlich ist die Geschichte total langweilig." fing sie dann unvermittelt an.
"Ohja, du verstehst es, dein Publikum zu begeistern!" er lachte.
Emma hob eine Augenbraue und gab sich Mühe, wenigstens ein kleines bisschen verärgert zu wirken. Das Lächeln auf ihrem Gesicht, überwog allerdings.
"Ich versuche nur, keine falschen Hoffnungen zu wecken. "erklärte Emma. "Also. Wie du ja weißt, habe ich eine Schwester, Freya. Und nachdem Freya eben ein Mädchen geworden ist haben meine Eltern sich gewünscht, dass ihr nächstes Kind ein Sohn wird."
Phils Lächeln wurde schwächer. "Nett." meinte er nur.
"Ja. Sie haben das sicher nicht böse gemeint, aber es war eben ihr Wunsch. Mein Vater ist Arzt und er wollte gerne jemanden haben, der seine Praxis irgendwann übernehmen kann, während Freya als Supermodell oder Schauspielerin Karrire macht." sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und er musste unfreiwllig lachen.
"Naja." fuhr Emma schließlich fort. "Wie du siehst, ich bin kein Junge geworden. Leider war darauf wirklich niemand vorbereitet: Sie hatten mein Kinderzimmer blau gestrichen und an der Tür hing, bis ich ein Jahr alt war ein Schildchen mit dem Namen Johannes. So hätte ich nämlich geheißen, wenn ich ein Junge geworden wäre."
"Wow." sagte Phil schlicht. "Eltern sind schon was Tolles."
"Ja."
"Und die Sache mit dem Medizinstudium? Wieso hast du das nicht gemacht?"
"Weil ich keine Lust dazu hatte..." sagte Emma. "Ich hab mich dann doch für Biologie entschieden..."
Er schwieg und weil ihre Geschichte zu Ende war, tat Emma das selbe.
Sie leerte ihre Tasse.
Das Schweigen zwischen ihnen dauerte eine ganze Weile und irgendwann wurde es unbehaglich.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. "Ähm, ich muss jetzt los." sagte sie und stand auf. "Mein Hund..."
"Dein Hund?"
"Ich muss ihn füttern."
"Oh. Das klingt tatsächlich wichtig." er lachte schon wieder.
Sie kramte nach ihrem Portemonnaie, aber Phil war schneller. "Passt schon, Emma. Das hier ist quasi mein zweites Wohnzimmer, die Rechnung geht natürlich auch mich!"
Emma konnte nicht anders und nickte ergeben.
Sie hob die Hand, weil sie nicht wusste, wie sie sich von ihm verabschieden sollte.
Das gute Gefühl von eben, die Vertrautheit war verschwunden.
Hatte sie zu viel erzählt?
War die Geschichte zu privat gewesen, um sie einfach so mit einem Wildfremden zu teilen?
Definitiv.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen – der ganzen Welt gegenüber.
Verdammt.
Als sie sich noch einmal zu Phil umdrehte, plauderte er bereits mit der hübschen Kellnerin, die lasziv an seinem Tisch lehnte.
Verdammt, verdammt, verdammt.
"Verdammt." Lola steckte sich den blutenden Finger in den Mund und goß mit der freien Hand Sekt in die Gläser.
"Was ist passiert?" rief Marie aus der Küche.
"Sie hat sich geschnitten." sagte Emma.
"Ich sterbe!" rief Lola mit theatralisch nach oben gezogenen Augenbrauen.
"Man stirbt nicht an einem kleinen Schnitt." meinte Emma ungerührt.
Lola warf ihr einen vielsagenden Blick zu. "Aber vielleicht an solchen Freundinnen!" sie drückte Emma ein volles Glas in die Hand und marschierte mit einem zweiten Richtung Küche.
"Pflaster sind im Bad!" rief Emma ihr hinterher.
Die gemurmelte Antwort verschwand mit Lola hinter der Tür.
Emma lies sich in die Sofakissen fallen und platzierte ihr Glas auf dem Wohnzimmertisch.
Der Fernsehbildschirm präsentierte bereits das Thema ds Abends: "Frühsück bei Tiffanys" stand in großen schwarzen Lettern neben Audrey Hepburns schmalem Gesicht.
Genau das richtige um für ein bisschen Abwechslung in ihren Gedanken zu sorgen, fand Emma.
Bewaffnet mit ihren Gläsern und einer großen Schale Popcorn kamen Lola und Marie aus der Küche.
Lola kaute noch immer an ihrem verletzten Finger herum.
"Das ist voll eklig." schimpfte Marie Marie.
"Na und?" Lola nahm einen großen Schluck Sekt und grinste zufrieden. Marie verdehte die Augen.
"Können wir anfangen?" fragte Emma ungeduldig. Sie hatte die Fernbedienung bereits in der Hand.
Es war ein langer Tag gewesen – ein verdammt langer Tag – und sie war nicht in der Stimmung für Streitereien.
"Nicht, wenn sie mit der Hand im Popcorn rumkramt!" rief Marie und zog die Schüssel weg.
Lola schnaubte. "Du tust grade so, als wäre ich giftig."
Emma unterdrückte ein Seufzen. Sie drehte die Fernbedienung in den Händen. Ihr war einfach nicht nach den Kabbeleien und Diskussionen ihrer Freundinnen zu mute.
"Das ist eklig. Wasch dir wenigstens die Hände!" verlangte Marie.
Lola beugte sich vor und schnappte nach der Popcorn-Schale.
Marie zerrte die Schüssel so ruckartig weg, dass ein ganzer Schwall Popcorn auf dem Sofa verteilt wurde.
Emma versuchte, sich zu entspannen und wartete einfach ab, bis die beiden sich wieder beruhigt haben würden. Sie konnte selbst nicht genau sagen, woher ihre gedrückte Stimmung kam – fest stand nur, dass sie da war und einfach nicht wieder weggehen wollte.
Schon den ganzen Tag über kämpfte sie immer wieder mit Stimmungsschwankungen und ihrem eigenen Ärger darüber, dass sie so etwas auch noch zulies.
Schlechte Laune zu verbreiten sah ihr doch sonst nicht ähnlich!
Lenny winselte in seiner Ecke und steckte den Kopf zwischen die Pfoten.
Sogar der Hund hatte heute einen schlechten Tag.
Lola krallte sich eine Hand voll Popcorn und schleuderte es Marie ins Gesicht.
"Hör auf! Igitt!" quietschte diese prompt, war sofort auf Rache auf und klaubte ihrerseits Popcorn-Stückchen zusammen.
Die weißen Körner flogen, Lola schrie, Marie quietschte und im nächsten Moment ging klirrend ein Glas zu Boden.
Emma zuckte zusammen.
Die beiden Streithähne neben ihr erstarrten.
Das Kissen, dass Lola gerade nach Marie werfen wollte, verharrte regungslos in der Luft.
Marie und Lola tauschten einen Blick.
Diesmal war Emmas Seufzen deutlich zu hören. Ihr Blieb nichts anderes übrig als ihre gemütliche Position auf dem Sofa aufzugeben und sich stattdessen auf den Weg in die Küche zu machen.
Der Tag wollte und wollte einfach nicht besser werden.
Dabei hatte sie sich wirklich auf den Abend mit den Mädels gefreut!
Die Kissenschlacht auf dem Sofa war schon wieder in Vollem Gange, bevor sie Handkehrer und Schaufel aus dem Schrank geholt hatte.
Gerade als sie mit ihrem Werkzeug zurück kehren wollte klingelte das Telefon im Flur.
Gedankenverloren griff Emma nach dem Hörer.
"Ja bitte?"
"Wer ist da?"
Es war die Stimme ihrer Mutter.
Emma zuckte unwillkürlich zusammen.
Auch das noch.
Der Anruf kam diese Woche ungewöhnlich früh. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
"Hier ist deine Tochter. Emma." sagte sie und blieb im Flur stehen.
Aus dem Wohnzimmer drang Audreys Stimme und die wohlbekannte Gitarrenmelodie.
Der Kampf war vorüber und die Mädels waren zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen.
Emma lehnte sich an die kühle Wand und massierte sich die Schläfen.
Für eine kurze Sekunde, für den Bruchteil eines Augenblicks, hatte sie sich dazu verleiten lassen zu hoffen eine andere Stimme am Telefon zu hören.
Wie dumm von ihr.
"Habe ich dir nicht beigebracht, dass du deinen Namen sagen sollst, wenn du dich am Telefon meldest?" schnarrte es aus dem Hörer.
"Ja, Mutter." Emma zog eine Grimasse. Die junge Frau im Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand angebracht hatte, tat das selbe.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fiel es ihr schwer, sich zu einem unbeschwerten Tonfall zu zwingen.
"Geht es dir gut, mein Kind? Du klingst so komisch!" stellte Clara auch unverzüglich fest.
"Mir ging es nie besser." behauptete Emma. "Aber Mutter, ich habe Besuch hier... ich sollte vielleicht..."
"Das war ja klar!" rief Clara. "Du in deiner großen Stadt mit deinen Freundinnen, du hast ja überhaupt keine Zeit mehr für uns. Und dabei rufe ich an, um dich einzuladen! Damit du wenigstens mal was mitbekommst von dem, was zu Hause so passiert!"
"Einladen?" hakte Emma nach, in der Hoffnung, auf diese Weise die Unterhaltung etwas beschleunigen zu können.
"Genau. Am Samstag ist Freyas großer Tag."
Dieses Mal lieferte Clara die fehlende Information, bevor Emma nachfragen konnte: "Am Samstag machen Freya und Alex ihren Fallschirmsprung! Und da dachten wir uns, das wäre doch ein schöner Anlass für ein Abendessen mit der ganzen Familie. Am Freitag Abend. Um sieben. Ich hoffe, du bist pünktlich."
"Freitag um sieben." wiederholte Emma.
Im Wohnzimmer wurde gekichert.
Die erste Szene war bestimmt schon vorbei.
"Ja. Und am Samstag treffen wir uns um elf Uhr am Flugplatz."
"Mutter, ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe..." Emma war noch nicht bereit nachzugeben.
"Emma. Es geht um deine Schwester. Egal war du vorhast, das kann ja wohl warten." sagte Clara schnell. "Und falls es um den Hund geht – den kannst du ausnahmsweise mitbringen, wenn es sein muss."
Damit war die Unterhaltung beendet.
Emma seufzte.
Was für ein überaus erfreulicher Tag.
Das Café, dass Phil als sein zweites Wohnzimmer bezeichnet hatte, hieß "Flowers". Soviel wusste Emma, nachdem sie drei Tage hintereinander auf dem Weg zur S-Bahn daran vorbeigeschlichen war.
Jeder Blick, den sie durch die getönten Scheiben riskierte fühlte sich erst falsch an und hinterlies dann ein flaues Gefühl in ihrem Magen.
Trotz der vielversprechenden Bemerkung: Er war nicht da.
Weder am einen, noch am anderen Abend.
Am Donnerstag änderte das Geschäft, vor dem er sie bei ihrem letzten Treffen aufgegabelt hatte, die Auslage im Schaufenster.
Emma beschloss, dass das ein Zeichen war.
Es war an der Zeit, die Sache abzuhaken. Erneut.
Und diesmal endgültig.
Sie hatte, obwohl dieses Mal gar nicht gewollt, dafür gesorgt, dass Phil sein Interesse – wenn es denn jemals eines gegeben hatte – an ihr verloren hatte. Emma war sich fast sicher, dass er sich nur deswegen nicht mehr in das Café traute, weil sie jetzt wusste, dass er öfter dort war.
Aber das war in Ordnung.
Es war ja nicht so, dass sie sich wirklich es aus ihm gemacht hätte.
Nein.
Abgesehen davon war es dringend an der Zeit, dass sie wieder die Alte wurde. Sie ertrug ihre eigene schlechte Stimmung nicht mehr.
Er war eben irgendein Kerl, den sie in einer Bar kennen gelernt hatte. Das war ohnehin eine völlig langweilige Geschichte. Wer lernte sich schon in einer Bar kennen?
Eben.
Emma fuhr nach Hause und gestand sich ganze zwanzig Minuten der Niedergeschlagenheit zu.
Dann schnappte sie sich die Leine und entführte Lenny zu einem spätsommerlichen Spaziergang.
Als sie am Freitag morgen wieder aus der S-Bahn stieg marschierte sie einfach am Café vorbei.
Es gab Wichtigeres zu erledigen.
Sie hatte einen weiteren Anruf ihrer Mutter erhalten: Weil Freya es sich so sehr wünschte, hatte Clara Emma dazu überredet, das ganze Wochenende bei ihren Eltern zu verbringen.
Eine Absage wurde nicht geduldet: Das Gästezimmer war bereits hergerichtet.
Im Kopf ging Emma durch, was sie einpacken musste und rechnete aus, wie lange sie brauchen würde, um nach der Arbeit noch Blumen zu besorgen und Lenny im Auto zu verstauen.
Der Berufsverkehr an einem Freitag abend war nicht zu unterschätzen.
Vielleicht würde sie etwas früher aus dem Labor gehen müssen.
Emma lächelte.
Das wäre das erste Mal seit ihrer Karriere als Arbeitnehmerin, dass sie früher Schluss machte. Und das auch noch an einem Freitag!
Katja würde sicher Augen machen.
Pünktlich um neunzehn Uhr stand Emma, den riesigen Blumenstrauß in der einen und Lennys Leine in der anderen Hand auf der kleinen Marmortreppe, die zur Eingangstreppe ihrer Eltern führte.
Das Hausmädchen öffnete erst nach dem dritten Klingeln und begrüßte Emma dann mit einem verwunderten: "Was kann ich für Sie tun?"
"Ich möchte meine Eltern besuchen..." Emma hatte ihre übliche Höflichkeit wieder gefunden.
Eine Augenbraue des Hausmädchens schnellte nach oben.
"Herr und Frau Maler sind nicht hier."
"Oh."
Emma sah sich im leeren Flur um, als würde sie ihre Eltern jeden Moment irgendwo, versteckt hinter einem Regal oder der Garderobe, entdecken.
Unschlüssig trat sie vom einen Fuß auf den Anderen.
"Wo sind sie denn hingegangen?"
War es unangebracht, trotzdem das Haus zu betreten?
Immerhin war sie hier aufgewachsen – wenn auch mit einem anderen Hausmädchen. Und sie war ja schließlich extra eingeladen worden, den Freitagabend hier zu verbringen.
Das Hausmädchen zuckte mit den Achseln. "Ich kann nachsehen." sagte sie und verschwand im Halbdunkeln des Eingangsbereichs.
Lenny machte es sich auf den Stufen gemütlich.
Emma lies die Hand mit den Blumen sinken.
Das war sogar für ihre Mutter ungewöhnlich: Sie war nie besonders liebevoll im Umgang mit ihrer Tochter, aber zumindest bestellte sie Emma sonst nicht zu sich, um dann selbst durch Abwesenheit zu glänzen.
Sie überlegte, ob sie einfach wieder nach Hause fahren sollte – das wäre mit Sicherheit nicht die schlechtes Alternative.
Aber das wäre wohl ein Fauxpas, den Clara ihr so schnell nicht verzeihen würde.
Das Hausmädchen kam zurück und drückte Emma eine Karte in die Hand.
"Wollen Sie den Hund mitnehmen?"
Emma seufzte.
"Ich weiß es nicht."
Es war die Karte von einem schicken Restaurant im Nachbarort – Freyas Lieblingslokal.
Sie hätte es wissen können.
Naja.
Zumindest erahnen.
"Kann der Hund denn hier beiben?" wollte sie wissen.
Das Hausmädchen war ratlos und so blieb Emma schließlich nichts anderes übrig, als Lenny wieder in den Kofferraum zu setzen und zusammen mit ihm zum Restaurant zu fahren.
Das Lokal war ziemlich schick und warb mit einer winzigen Speisekarte, voller exquisiter Gerichte.
Die wenigen Personen, die vor dem Eingang standen und Zigarettenrauch in die kühle Abendluft pusteten trugen dunkle Anzüge und elegante Etui-Kleider und vermittelten Emma, noch bevor sie einen Fuß in den Laden gesetzt hatte, dass Gefühl, dass sie fehl am Platz war.
Sie selbst trug nur einen schlichten Rock und eine helle Bluse, die Haare waren lose und offen und der Blumenstrauß kam ihr mit einem Mal vor, wie ein riesiges, buntes Schild dass nur so schrie: Hier bin ich. Seht mich an und macht euch lustig über mich!
Mit hängenden Schultern betrat sie das Lokal.
Lenny presste sich an ihr Bein.
Er war zwar an Trubel gewöhnt – nicht aber daran, dass sein Frauchen dabei so unsicher zwischen den Tischen herum wanderte.
Ein Kellern fand sie schließlich und eilte Emma zur Hilfe.
"Suchen Sie jemanden?" fragte er, nicht gerade höflich.
Emma nannte ihren Namen und sein Gesicht wurde augenblicklich freundlicher.
"Aber natürlich. Natürlich. Folgen Sie mir."
Die kleine Gesellschaft, die Clara für diesen wichtigen Abend eingeladen hatte, saß in einem kleinen Nebenraum, der eigentlich ein Wintergarten war und erfreute sich gerade am Aperitif: Ein ganz ausgezeichneter Champagner!
Als Emma den Raum betrat starrten Acht Augenpaare sie überrascht an.
Sie spürte, wie sie rot anlief.
"Guten Abend..."
Nach der ersten Schrecksekunde war Freya die erste, die sich wieder fing.
"Emma! Da bist du ja endlich!" sie sprang auf und umarmte ihre Schwester stürmisch.
Emma lächelte dankbar.
"Ich wusste gar nicht, dass wir uns hier treffen würden..." erklärte sie.
Clara war sofort zur Stelle, um das Missverständnis aufzuklären.
Sie zerrte ihr den riesigen Strauß aus der Hand und meinte im fröhlichsten Plauderton: "Ach, so ein Quatsch! Das habe ich dir natürlich gesagt! Wir wollten Freyas Abend natürlich angemessen feiern..."
Ihr Blick glitt über Emmas Kleidung.
Angemessen, dachte Emma mutlos.
Lenny streckte sich auf dem Boden aus.
"Ich dachte allerdings nicht, dass du das Vieh mitbringst." sagte Clara dann leiser.
"Du hast gesagt, ich kann ihn mitbringen..."
"Aber doch nicht ins Restaurant!" Ihr Blick verriet alle Verachtung dieser Welt.
Emma schwieg.
Wie dumm von ihr.
Freya, überglücklich ihre kleine Schwester wieder zu sehen, schob sie zu einem freien Stuhl und drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand.
"Ich kann doch nichts trinken, ich muss noch Autofahren..." sagte Emma leise, aber Freya duldete keine Wiederrede.
"Dann iss eben ein bisschen mehr!" rief sie und hob ihr eigenes Glas.
Die Runde brauchte nicht lange, bis sie sich wieder gefangen hatte und zur Routine übergehen konnte.
Herr und Frau Maler saßen am einen Kopfende und unterhielten ihren Teil der Gesellschaft – bestehend aus Freya und deren Freund Alex – mit einem detaillierten Bericht über die Renovierung des Poolhauses und Alex' Eltern, Herr und Frau Markward plauderten mit der anderen Seite des Tisches, ihrem jüngeren Sohn Paul und dessen Freundin Sophia, über den letzten Griechenlandurlaub.
Emma saß zwischen den fröhlichen Paaren und war glücklich damit, nicht angesprochen zu werden.
Nach vier Gängen und einer großzügigen Käseauswahl erklärte Clara schließlich das Essen für beendet und erlöste Emma damit aus ihrer Schockstarre.
"Das war ein wirklich zauberhafter Abend!" rief sie wiederholt, als man sich gegenseitig in die Mäntel half.
Emma balancierte Jacke, Schal und Hundeleinen in den Händen und hatte einige Schwierigkeiten, dabei eine gute Figur zu machen.
Es war schließlich Paul, der sich erbarmte und ihr half.
Als sie sich bedanken wollte, hatte er sich schon wieder seiner besseren Hälfte zugewandt.
"Ich hoffe, wir sehen uns morgen alle wieder." lies Clara verlauten.
Alle beeilten sich, ihr zuzustimmen.
"Das wird bestimmt fabelhaft." Herr Markward klopfte Emmas Vater auf die Schulter. "Fabelhaft."
Der ironische Unterton in seiner Stimme wurde von Clara einfach ignoriert.
"Ich denke, nach der ganzen Aufregung morgen, müssen wir uns unbedingt gemeinsam stärken." schlug diese gerade vor und wurde von Frau Markward direkt in ihren Plänen unterstützt.
Wenn es etwas gab, wofür Frau Markward sich begeistern konnte, dann war es ein gutes Essen.
"So. Die Taxis sind da. Kinder, beeilt euch!" Clara schob Freya zur Tür.
Emma verlies das Restaurant als letzte und sah zu, wie die kleinen Gruppen sich auf die Autos verteilten.
"Oh, Emma! Es ist nicht nötig, dass du jemanden von uns mit nimmst. Du hast ja schon den Hund... und die Blumen." war das letzte, was Clara sagte.
Auch am Samstag morgen entschied Clara sich dafür, lieber in einem eigenen Fahrzeug zum Flugplatz, wo das große Spektakel stattfinden sollte, zu fahren, als sich den Wagen mit Lenny zu teilen.
Freya war die einzige, die die Gesellschaft ihrer Schwester vorzog.
Emma war sich nicht sicher, ob sie ihr dafür dankbar sein sollte – aber immerhin gab es jetzt jemanden, der bereit war, sich auch tatsächlich mit ihr zu unterhalten.
Leider war die Themenauswahl sehr eingeschränkt.
"Ach Emma, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin! Ich bin so nervös!" rief Freya immer wieder.
Emma nickte und lenkte den Wagen über die Landstraße.
"Das ist doch ganz normal, oder?" fragte sie.
"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man sowas macht! Meine Finger kribbeln schon vor Aufregung." Freya kicherte. "Ach Emma. Du weißt gar nicht, was du verpasst!"
"Ach, das ist in Ordnung."
"Nein, wirklich Emma. Ich meine das ganz ernst." Freya versuchte ihre Aussage mit einem ernsten Gesichtsausdruck zu unterlegen. Es gelang ihr für einen kurzen Augenblick, dann brach sie wieder in nervöses Gelächter aus.
"Weißt du, du bist immer so ruhig und still! Ich mache mir manchmal wirklich Sorgen, dass du gar nichts mitbekommst vom Leben!"
Das war sicher nett gemeint, aber Emma fühlte sich voll und ganz dazu berechtigt, diese Sorge ihrer Schwester zurückzuweisen.
"Keine Angst, ich bin ganz glücklich so, wie alles ist."
"Glücklich?" Freya schüttelte den Kopf. "Emma, wenn man sich mit dir unterhält, denkt man immer, du erlebst überhaupt nie etwas! Dein ganzes Leben besteht nur aus Arbeiten und... und naja. Was du eben sonst so machst."
Emma wollte dazu nichts sagen.
Freya war nicht die Art von Mensch, die den tieferen Sinn von Arbeit – nämlich Geld zu verdienen, um nicht länger von Eltern abhängig zu sein, die einem diesen Umstand bei jeder Gelegenheit zum Vorwurf machten – durchschaute.
Und sie hatte auch sonst keine besonders klare Vorstellung davon, wie Emmas Dasein aussah.
"Und dann, wenn ich schon überlege, ob du freiwillig so bist, dann höre ich solche Geschichten über dich!"
Emma hob den Blick.
Freya kicherte.
Ihr Ausruf hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
"Geschichten?" Emma musste schlucken.
Es war nie gut, wenn es Geschichten gab, die über jemanden erzählt werden konnten.
"Was für Geschichten?"
"Na, das was Paul gestern erzählt hat! Da warst du noch nicht da... wir waren Golfspielen, also Alex, Paul, Sophie und ich." Freya gluckste vergnügt.
Von ihrer Aufregung war nichts mehr zu spüren.
Wie es ihre Art war verbrachte sie ersteinmal kostbare Zeit damit, alles ganz ausführlich zu beschreiben: Den Golfplatz, Sophies Outfit, den netten Kellner im Clubrestaurant.
Emma grübelte, welche Geschichte ausgerechnet Paul – den sie nur von den kurzen, schweigsamen Zusammentreffen im Haus ihrer Eltern kannte – wohl über sie zu erzählen hatte
Sie erfuhr es, nach Freyas detaillierten Bericht über ihr gestriges Mittagessen.
"Er hat uns erzählt, dass sein Mitbewohner, ich weiß gar nicht mehr wie der heißt, dass sein Mitbewohner dich kennen gelernt hat."
"Mich?"
"Ja. Und zwar auf eine ganz sonderbare Art. Natürlich, sonst, wenn es nicht sonderbar gewesen wäre, hätte er es uns ja nicht erzählt. Sonst wäre es ja eine langweilige Geschichte gewesen."
"Mich?" wiederholte Emma fassungslos.
Ein ohrenbetäubendes Surren machte sich in ihrem Kopf breit.
Sie schluckte.
"Philipp!" rief Freya dann. "Philipp heißt er! Ein ganz netter Typ. Auf jeden Fall redet Philipp seit zwei Wochen nur noch von einen Mädchen namens Emma. Er, dieser Philipp, er war auf unserer Grillparty! Er ist der Neffe von Dr. Lehner."
Dr. Lehner war der Arzt, der vor ein paar Jahren in die Praxis ihres Vaters eingestiegen war.
Emma spürte, wie ihre Hände begannen zu zittern. Ihre Finger klammerten sich fester um das Lenkrad.
Sie wollte nicht mehr zu hören.
Sie wollte es einfach nicht.
Das Ganze war doch längst abgehakt!
Wieso musste Freya ausgerechnet jetzt, wo sie endlich alle Gedanken aus ihrem Gehirn verbannt hatte, damit anfangen?
"Paul dachte ja, das wäre irgendein Mädchen, diese Emma. Niemand, den wir kennen. Er wäre ja nie auf die Idee gekommen, dass du das bist! Und das ist ja gerade das komische daran." Freya kicherte schon wieder. "Das ist ganz lustig eigentlich, weil ihr ja auf derselben Party wart und euch gar nicht getroffen habt! Aber dann, dann war Philipp plötzlich ganz komisch und Paul sagt, er hat sich sogar richtig Sorgen um ihn gemacht – aber jetzt ist ja alles wieder gut."
"Alles wieder gut?" wiederholte Emma mechanisch.
"Natürlich! Paul hat alles erzählt! Wie Philipp neulich nach Hause gekommen ist, ganz glücklich, und gesagt hat, er hätte dich wiedergefunden! Also, seine Emma. Wir haben erst jetzt verstanden, dass er damit ja dich meint... naja, wer soll sowas auch ahnen. Jetzt erzähl doch mal Emma!" rief sie.
Abrupt bog Emma auf den Parkplatz des Flugplatzes ein.
Der Anblick der altmodischen Blechgebäude in denen die Sportflugzeuge untergebracht waren, lies Freya verstummen.
Emma atmete erleichtert auf, als sie beobachtete, wie ihre Schwester mit großen Augen die Hangars musterte.
"Wow." sagte Freya dann leise.
Pauls Geschichte war vergessen.
Die Aufregung brach wieder über sie herein: "Ich bin ja so nervös! Ach Emma! Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist!"
Emma lächelte.
Das Gefühl in ihren Fingern kam langsam zurück und es fiel ihr wieder leichter, ruhig zu atmen.
Auch, wenn sie nie aus einem Flugzeug gesprungen war – sie hatte in diesem Moment das Gefühl, sehr gut nachempfinden zu können, was ihrer Schwester gleich bevorstand.
Emma war müde.
Zwei Tage mit ihren Eltern, die Kommentare ihre Mutter, die übertrieben Aufregung um Freyas Fallschirm-Abenteuer – anstrengend war gar kein Wort für dieses Wochenende.
Ihre Schläfen pochten schmerzhaft und sie hatte Schwierigkeiten, sich auf die Straße zu konzentrieren, während sie dem dichten Samstagnachmittags-Verkehr in die Stadt folgte
Die Autobahn war völlig überfüllt.
Als wäre der Tag nicht schon unfreundlich genug zu Emma gewesen, zogen auch noch dunkle Wolken am Himmel auf, als sie endlich das Ortsschild passierte.
Sie konnte ein Seufzen nicht unterdrücken.
Pauls Geschichte – nein, Freyas Geschichte über Paul, der von Phil berichtete – dröhnte noch immer in ihren Ohren.
Wie überrascht Freya darüber war, dass ausgerechnet Emma die Aufmerksamkeit von irgendjemandem auf dieser Welt auf sich zog! Völlig unfassbar!
Und Phil.
Er hatte sie wiedergefunden? Was sollte dass den bedeuten?
Emma versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.
Darin war sie üblicherweise ziemlich gut.
Sie musste nur lange genug logisch darüber nachdenken, dann bekamen sogar die verworrensten Angelegenheiten irgendwann einen Sinn. Im Grunde genommen war es also nur eine Frage der Zeit – aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Sie wurde einfach nicht schlau aus dem, was passiert war. Und auch nicht, aus dem was Freya erzählt hatte.
Vielleicht, dachte Emma, während sie das Auto auf dem Parkplatz abstellte, hat Freya auch einfach nur ein bisschen phantasiert.
Vielleicht hat Paul einfach nur beiläufig bemerkt, dass sein Mitbewohner ein Mädchen namens Emma kennt und der Rest der Geschichte ist Freyas Kreativität entsprungen. Das wäre völlig logisch.
Freyas Künstlerseele, gepaart mit ihrem fehlenden Talent dafür, anderen tatsächlich einmal zuzuhören – und schon kam eine solche Geschichte dabei heraus.
Emma nickte sich selbst zu.
So konnte es sein.
Sie würde es nicht herausfinden, aber sie konnte es sich zumindest einreden.
Es war nicht ihre Aufgabe, die Sache aufzuklären – sie war nicht neugierig und sie wollte auch nicht wissen, wie es weiterging. Nein, sie war einfach nur Emma.
Emma, die sich nicht beklagt und die mit dem zufrieden ist, was sie bekommt.
Und die sich keine Gedanken macht, nur weil ein Typ sie zu einer Tasse Kaffee einlädt. Sie war nicht so eine.
Ihre Beziehungen, von denen es ja überhaupt nur zwei gegeben hatte, begannen für gewöhnlich im Hörsaal oder einer Lerngruppe und beinhalteten anschließend vor allem das Ausloten realistischer Zukunftsaussichten und ein sinnvolles Abwägen der Chancen für diese Verbindung.
Romantik wurde auf gemeinsame Kinobesuche verschoben.
Sie hatte sich von Jannik getrennt, weil er die Stadt nach dem Studium verlassen hatte – und sie wäre niemals auf die Idee gekommen, an seiner Wohnung, seiner Stammkneipe oder seinem neuen Büro vorbei zu schleichen in der Hoffnung auf eine zweite Chance.
Wie albern!
Emma zog die Kapuze ihrer Jacke ins Gesicht und den Kopf zwischen die Schultern.
Draußen regnete es bereits in Strömen.
Wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit war, trocken in ihrer Wohnung anzukommen?
Das Unwetter ignorierte die Kalenderregeln und zog sich bis in die neue Woche hinein.
Durchnässt kam Emma im Institut an und als sie das Büro betrat, sah sie, dass sie nicht die einzige war, der es so ergangen war.
Katjas guter Laune tat der Regen zum Glück keinen Abbruch.
Mit einem kleinen Handtuch – wahrscheinlich einer "Leihgabe" aus dem Laborinventar rubbelte sie sich die Haare trocken und grinste breit, als Emma herein kam.
"Naaaa?" machte Katja gedehnt.
"Na?" Emma lächelte und hängte ihre tropfende Jacke an den Haken.
"Na komm schon!" rief Katja. "Frag mich!"
"Ich frage dich gerne, wenn du mir verrätst wonach..."
Katja verdrehte die Augen. "Nach meinem Wochenende!"
"Ich würde ja viel lieber fragen, ob du Zeit hattest, den Bericht für die F8-Reihe fertig zu machen..." sagte Emma.
Katja warf ihr einen abschätzigen Blick zu. "Ach Emma."
"Das heißt nein?"
"Alles schon geklärt. Der Doktor erwartet den Bericht am Mittwoch – ich hab ihm erzählt, dass ich einen privaten Notfall hatte."
Emma nickte nur. "Hoffentlich glaubt er dir dass auch noch, wenn du wirklich mal einen Grund hast."
Katja lachte.
"Du machst dir immer so viele Sorgen, Emma!"
"Vielleicht."
"Fragst du mich jetzt endlich?" Katja wippte auf ihrem Stuhl hin und her.
Das Handtuch, dass achtlos auf dem Boden gelandet worden war, zeigte Spuren von roter Schaumtönung. Emma konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Also gut." lenkte sie schließlich ein. "Wie war dein Wochenende? Wie gehts Kevin?"
Wie auf Kommando wurde Katjas Strahlen noch ein bisschen breiter.
"Oh, das war so unglaublich!"
"Wow. Unglaublich." Emma lachte.
"Was?"
"Na, das zweite unglaubliche Wochenende hintereinander! Das ist schon ein bisschen unglaublich."
Katja schüttelte nur den Kopf. "Deinen Humor verstehe ich einfach nicht. Also. Hör zu. Es war wirklich ganz... also, es war echt toll. Wir waren in München, er hat dort einen Freund, der uns seine Wohnung überlassen hat. Es war so romantisch! Wir waren in der Therme und danach Essen und wir haben den ganzen Abend vor dem Kamin gesessen und geredet und..." sie kicherte.
Emma nickte.
"Danke. Das war ausführlich genug." sie hatte mittlerweile an ihrem Schreibtisch Platz genommen und sah die Mappen mit den neuen Versuchsanweisungen durch. Der Stapel war übers Wochenende nicht gerade kleiner geworden.
"Du freust dich ja gar nicht für mich!" klagte Katja.
Emma lächelte. "Doch, ich freue mich. Was habt ihr am Sonntag gemacht?"
Die Antwort war ein Kichern und Emma erkannte, dass sie lieber nicht gefragt hätte.
Katja ging dazu über, von der großartigen Therme – mit Sauna und Salzstollen! - zu erzählen.
Gerade als Emma den Stapel mit den Mappen zurück in die dafür vorgesehene Schublade schieben wollte, glitt etwas durch ihre Finger.
Ein einzelnes Blatt Papier, zweimal zusammen gefaltet.
Kein Logo, kein Name darauf.
Vielleicht hatte Nicole den Zettel zwischen den anderen Unterlagen vergessen, als sie diese herein gebracht hatte.
Vor ein paar Wochen hätte Emma den Zettel einfach genommen und pflichtbewusst wie sie war im Büro der Assistentin abgegeben.
Sie hätte ein falsches Lächeln dafür geerntet und Nicole hätte in der Mittagspause einen Grund gehabt, sich über die dusslige Laborantin lustig zu machen, die wegen eines einfachen Schmierzettels in ihr Büro kam.
Aber jetzt, in diesem Moment, während Katja vom italienischen Marmor in München schwärmte und draußen der Regen an die Fenster klatschte, konnte Emma nicht anders.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, als sie das Blatt Papier aufschlug – aber was sie fand, war eindeutig mehr.
Drei einfache Worte standen da, und ein gemaltes Smilie: "Kaffee oder Tee?"
Emmas Herz machte einen Sprung.
Unkoordiniert stand sie von ihrem Stuhl auf, ohne nachzudenken wohin sie eigentlich wollte, den Zettel noch in der Hand und stieß dabei fast die Garderobe um.
Katja warf ihr einen verwunderten Blick zu. "Was hast du da?" wollte sie wissen.
"Nichts." Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Sie konnte nicht anders.
"Jetzt sag schon?"
"Ach, nur... das ist wegen den neuen Laborkitteln. Sie überlegen, ob wir blaue bekommen." flunkerte sie und steckte die Notiz wieder weg.
Katja winkte ab. Ihre feuchte Haarpracht versprühte kleine Wassertropfen auf dem Schreibtisch.
"So was langweiliges..." meinte sie und rappelte sich endlich von ihrem Sitzplatz auf. "Wobei. Blau wäre gar nicht so schlecht, oder? Blau steht mir gut!" Sie folgte Emma auf den Flur.
"Wenn wir blaue Kittel hätten, könnte ich Kevin auch mal mit hierher bringen!" sie war mit einem Mal ganz begeistert von der Vorstellung.
Emma nickte nur.
Die Hand in ihrer Tasche umklammerte noch immer das Stück Papier.
Vorausschauend wie Emma war, hatte sie einen Regenschirm mitgebracht.
Er versagte seinen Dienst, bevor sie die Haltestelle erreicht hatte.
Eine Windböe erfasste das gute Stück und verbog die schmalen Streben innerhalb von Sekunden zur Unbrauchbarkeit.
Mit einem Seufzen stopfte Emma den demolierten Schirm in ihre Umhängetasche und eilte weiter.
Sie wollte nach Hause.
Nachdenken.
Oder mit jemandem reden.
Irgendwas.
Acht Stunden im Labor hatten ausgereicht, um ein Gefühlschaos in ihr auszulösen, dass erstmal verarbeitet werden musste.
Mit roten Wangen erreichte sie die überlaufene Ladenstraße.
Augen zu und durch, dachte sie.
Sie hatte ausführlich über den Zettel und die Botschaft nachgedacht und war sich fast sicher, dass er von Phil war.
Nein. Nicht nur fast sicher.
Allerdings wusste sie noch nicht, was sie davon halten sollte.
Sie freute sich – natürlich. Aber wieso eigentlich?
Was war das denn nun zwischen ihnen?
Und was würde es bedeuten, wenn sie auf sein Angebot einging – falls sie einen Weg finden würde, es überhaupt anzunehmen?
Ohne eine Adresse oder eine Telefonnummer war es ja praktisch unmöglich Phil ihre Antwort mitzuteilen.
Falls sie jemals wissen würde, wie diese aussah.
Emma hatte in den letzten Stunden mehr als einmal festgestellt, dass sie einfach zu unerfahren in diesen Dingen war.
Sie wusste nicht, wie man sich in so einer Situation verhielt – es gab keine klugen Bücher darüber und sie war überzeugt davon, dass auch die ausführlichste Internetrecherche keine hilfreichen Antworten hervorgebracht hätte.
Echte Lebensweisheit musste her.
Sie musste sich mit Marie oder Lola treffen – so schnell es ging.
Die Anzeigetafel an der Haltestelle verkündete, dass "so schnell es ging" noch einen Moment auf sich warten lassen würde. Wegen des Sturms fuhren die Bahnen nur unregelmäßig.
Ungeduldig wanderte Emma zwischen den Wartebänken hin und her.
Der überdachte Bereich der Station quoll bereits über von den Zuflucht suchenden Fahrgästen und Emma blieb nichts anderes übrig, als dem Regen noch ein bisschen länger stand zu halten.
Nicht, dass ihr das Wetter noch viel anhaben konnte – sie war längst nass bis auf die Knochen.
Erst heiß duschen, dann Marie und Lola anrufen, nahm sie sich in Gedanken vor.
Und dann würden sie, bei einer heißen Tasse Tee beratschlagen, was zu tun war.
Nachdem Emma sich mehr als vier Jahre lang die großen und kleinen Dramen, die Maries Leben ausmachten und die schier unendlichen Männergeschichten, aus denen Lolas Dasein bestand, angehört hatte, war es nun wohl tatsächlich einmal an der Zeit, dass sie selbst die Hilfesuchende war.
Ein komisches Gefühl.
Vielleicht stand ja doch etwas im Knigge zu diesem Thema?
Eine Hand legte sich auf Emmas Schulter und holte sie aus ihren Gedanken.
Im ersten Moment begriff sie gar nicht, was passierte – sie war so durchgefroren, dass sie die plötzliche Hitze eher ihrer von der schweren Tasche schmerzende Schulter, als einer Berührung, zuschrieb.
Dann zuckte sie zusammen.
"Ignorierst du mich etwas?" Phil lachte und steckte die Hand wieder in die Jackentasche.
Emma öffnete den Mund um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Überrascht – das Wort konnte ihrem Zustand nicht einmal annäherungsweise gerecht werden
In keinem der Szenarien, die sie sich den Tag über ausgemalt hatte, tauchte er einfach so vor ihr auf der Straße auf.
Ein Treffen im Café, ein Anruf bei Alex um Pauls Adresse und damit auch Phils Wohnsitz ausfindig zu machen, eine weitere Notiz im Büro – sogar ein zweites Treffen im "Miss Morton" – Emma hatte an alles gedacht, aber nicht daran.
Phil schien der Regen sehr viel weniger auszumachen als ihr selbst.
Er hatte die dicke Kapuze seiner Jacke ins Gesicht gezogen, so dass nur ein paar dunkle Haarsträhnen frech hervorlugten. Seine Kleidung war noch weitestgehend trocken.
Wahrscheinlich war er gerade erst aus einem der Geschäfte gekommen.
"Ignorieren?" brachte Emma endlich hervor.
"Klar!" er grinste. "Ich sitze seit fünf Minuten da drüben und winke!" er deutete hinter sich.
Emma sah die dunklen Fenster des kleinen Cafés und wurde rot.
So einfach war es also gewesen.
Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen?
"Ach so." sagte sie und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern.
Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper.
Phil lächelte weiterhin und kam etwas näher, damit sie sich besser unterhalten konnten.
Um sie herum drängelten und schoben sich die Passanten gegenseitig aus dem Weg.
"Und? Was ist?" fragte er dann.
Emma wusste nicht, was sie antworten sollte. Lud er sie etwa JETZT ein? Einfach so? In ihrem Aufzug – völlig durchweicht, mit herunterhängenden Haaren und kurz vor dem Erfrierungstod?
Das war unmöglich.
So hatte sie sich ihr Wiedersehen definitiv nicht vorgestellt!
Deshalb fragte sie: "Was meinst du denn?" und hätte sich dafür am liebsten direkt selbst geohrfreigt.
Wie dämlich.
Wenn sie noch länger hier stand und vom Regen gequält wurde, würde er sie sicherlich für eine absolute Idiotin halten.
"Du siehst aus, als könntest du eine Tasse Tee gut vertragen. Oder Kaffee, falls dir das immer noch lieber ist." meinte er gut gelaunt und bedachte sie mit einem ausführlichen Blick.
Seine Stimme klang aufrichtig und freundlich.
"Das geht nicht..." sagte Emma schnell. Die Worte stolperten einfach so aus ihrem Mund.
Sie suchte nach einem Grund. Hauptsache schnell weg von hier!
Sie wollte ins Trockene, wollte sich frisch machen, wollte Ordnung in ihre Gedanken bringen. Und sie wollte nicht, dass irgendjemand - vor allem nicht Phil! - sie noch eine Sekunde länger so zu Gesicht bekam.
"Es geht nicht, weil... der Hund." Es war das erste, dass ihr einfiel.
"Der Hund?"
"Ja, der Hund. Du weißt schon." sie lächelte entschuldigend.
Er grinste. "Ich erinnere mich. Du musst ihn füttern. Klar."
Emma nickte eifrig.
Die Aussicht, die Situation gleich überstanden zu haben, machte sie unbeschwerter.
"Ja. Und ich treffe mich noch mit meinen Freundinnen."
"Aha." seine Augen blitzten amüsiert. Er wusste, dass sie schwindelte, aber er lies es durchgehen.
"Deine Freundin von der Theke und die andere mit dem großen Ausschnitt, nehme ich an?" meinte er dann.
Emma nickte wieder.
"Okay, Emma." er lächelte. "Ich hatte ja gehofft dass mein Angebot unverfänglich genug ist, um dich davon zu überzeugen, dass ich nichts Böses mit dir vorhabe."
Es dauerte eine Sekunde, bis sie verstand, was er da sagte.
Seit sie seine Nachricht in die Finger bekommen hatte, hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, dass sie ihn noch vor einigen Wochen so eindeutig in die Wüste geschickt hatte.
Anscheinend hatte ihr Vortrag bei ihm deutlichere Spuren hinterlassen.
"Oh!" rief sie. "Nein, so ist das nicht. Ich meine..." sie lächelte. "Ich habe mich gefreut."
Er sah auf.
"Also, über deinen Zettel. Und... und, also..." sie suchte nach Worten.
Für einen kurzen Moment tauchte der Gedanke in ihrem Kopf auf, dass sie sich vielleicht doch getäuscht hatte. Was, wenn die Nachricht doch nicht von ihm war?
Bevor sie in Panik ausbrechen konnte, war Phil schon wieder bereit, ihr mit seinen eigenen Worten auszuhelfen.
"Das freut mi, auch wenn du es ganz schön kompliziert machst.. Und ich bin beruhigt. Weißt du Emma, ich bin so neugierig."
"Neugierig?" Jetzt war sie es, die große Augen bekam.
"Ja. Ich habe gehört, du hattest ein sehr spannendes Wochenende mit deiner Familie und wir haben ja bereits festgestellt, dass deine Familie sehr unterhaltsam ist – zumindest wenn du von ihnen erzählst. Ich hatte gehofft, dass du mir davon erzählst."
Sie musste lachen.
Die Art, wie er das sagte, der sanfte, leicht-ironische Unterton der aber nicht zum Ziel hatte sie, Emma, auf den Arm zu nehmen sondern vielmehr für ihre Eltern bestimmt war, verursachte ein warmes Gefühl in ihrer Magengegend.
"Naja, also..." sie überlegte, was sie sagen konnte.
"Wie wäre es, wenn du mir die Geschichte ein anderes Mal erzählst?" schlug er vor.
Emma beeilte sich zu nicken.
Ein Treffen mit Phil - wenn sie sich in Ruhe darauf vorbereiten konnte und nicht vom Regen gepeinigt wurde - seine ungeteilte Aufmerksamkeit, dieses umwerfende Lächeln... was wollte sie mehr?
"Gerne."
"Wunderbar. Morgen Abend bin ich leider bereits ausgebucht – aber wie wäre es am Mittwoch?"
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
Sie würde ihn wiedersehen. Am Mittwoch!
"Okay. Um acht im "Flowers", ist das in Ordnung? Dann kannst du vorher deinen Hund füttern." er zwinkerte.
"Okay... klar." stotterte Emma, unfähig einen ganzen Satz zustanden zu bringen.
Er lachte.
"Sehr schön, Emma. Ich freue mich!" er hob die Hand, genau wie sie es letzte Woche gemacht hatte und verschwand wieder zwischen den Passanten.
Emma spürte, wie sich eine innere Anspannung, die ihr jetzt erst bewusst wurde, löste.
Der Regen hatte nachgelassen.
Und sie hatte tatsächlich ein Date!
"Wer bist du denn?"
Das Mädchen, an dessen Namen Emma sich zugegebenermaßen ebenfalls nicht mehr erinnern konnte, verschränkte die Arme vor der Brust und versperrte so die Wohnungstür.
Der Blick ihres Gegenüber sagte Emma genug um zu wissen, dass sie heute Abend wohl keine Freundinnen werden würden.
Glücklicherweise war das auch nicht der Plan gewesen.
Emma musste mit jemandem reden – endlich.
Zwei fast schon panische Telefonate hatten ergeben, dass Lola noch im Hotel zu tun hatte und wohl nicht vor Mitternacht zu Hilfe eilen konnte. Marie saß ihrerseits fest: Auf der Geburtstagsparty ihrer Mitbewohnerin.
"Emma! Hey!" Marie kaum aus der Küche gelaufen, während Emma sich noch aus ihrem Mantel schälte.
"Hallo!" sie umarmten sich und Marie zog Emma ins Wohnzimmer, wo ein paar junge Leute um eine Wasserpfeife versammelt auf dem Sofa saßen.
Andere standen in kleinen Gruppen zwischen den Möbeln herum.
Auf dem Küchentisch war eine kleine Bar aufgebaut und aus zwei offensichtlich extra für diesen Anlass herangeschafften Lautsprechern drang leise Musik.
Das war sie also, dachte Emma amüsiert. Die "Jugend von heute" über die Clara sich immer so gerne echauffierte.
Jemand drückte Emma einen Becher in die Hand, den sie geschickt in einem vollgemüllten Regal verschwinden lies.
"Marie, ich muss dir was erzählen!" flüsterte sie, während sie sich einen Weg durch den überfüllten Raum bahnten.
"Ich dir auch!" entgegnete Marie.
Ihre Augen glänzten fiebrig. Das Glas, dass sie gerade leerte war sicher nicht ihr erstes.
"Aber, Marie... es ist wirklich wichtig." bat Emma.
"Hör zu, dieser Kerl... Tobi! Der mit dem schnuckeligen Profilbild. Der will sich mit mir treffen!" Maries Wangen glühten.
Emma bemühte sich, aufrichtig interessiert zu wirken.
Und sich daran zu erinnern, wer eigentlich Tobi war.
Die Internet-Flirtseite fiel ihr wieder ein.
"Wann trefft ihr euch?"
"Am Freitag! Ich bin so aufgeregt! Wir gehen Essen und ins Kino und... ach Emma!"
"Okay." Emma holte tief Luft. "Auch wenn das wirklich toll ist, meine Angelegenheit ist dringender fürchte ich."
"Wieso das denn?"
"Weil mein Date früher ist."
Marie riss die Augen auf.
"Wie bitte?"
"Ich hab Phil getroffen." berichtete Emma.
In ihrer Vorstellung war das jetzt der Moment gewesen, in dem Marie fast die Augen aus dem Kopf fielen und sie kreischend oder quietschend ihre Freude darüber kundtat.
Aber Marie blieb stumm.
"Phil? Der Phil?!"
"Klar... Der Phil der... du weißt schon!" Emma überlegte, wie sie ihn am besten beschreiben konnte.
Erschrocken stellte sie fest, dass sie tatsächlich nicht viel mehr über ihn wusste als seinen Namen.
Aber naja.
Das konnte sich ja ändern.
"Er... Erst hat er mir eine Nachricht ins Büro geschickt und dann sind wir uns an der Haltestelle... er hat mich einfach eingeladen! Ein Date! Marie, ich habe ein Date!" Die Worte sprudelten nur so aus Emma heraus.
Diese Nachricht reichte endlich aus um bei Marie den gewünschten Effekt hervorzurufen.
Sie lies fast ihren Becher fallen und starrte Emma überrascht.
"Du hast WAS?"
"Ein Date." wiederholte Emma leise. "Mit Phil."
"Egal mit wem... ich kanns gar nicht glauben! Du meine Güte!"
Emma grinste.
Sie hatte ein Date.
Tatsache.
Jetzt, wo sie es laut ausgesprochen hatte klang es gleich noch viel realsistischer.
Ein Date.
Für Emma.
Wahnsinn.
"Emma! Hallo Süße!" rief plötzlich eine stark alkoholisierte Stimme und im nächsten Moment wurde Emma von dem dazugehörigen, ebenfalls stark alkoholisierten Mädchen umarmt. So kannte man Tanja ja gar nicht!
"Hallo!" Emma musste sich gar keine Mühe geben, zu lächeln. "Alles Gute zum Geburtstag!"
"Danke, danke! Toll, dass du's noch geschafft hast!" die Worte stolperten ungleichmäßig über ihre Lippen. Sie lachte. "Und da ist ja Marie! Meine Lieblings-Mitbewohnerin!"
Sie fiel auch Marie etwas ungestüm um den Hals.
"Süße! Schön, dass ihr alle da seid! Nur wegen mir!"
"Natürlich." bestätigte Emma.
Tanja lachte. Dann, ohne Vorwarnung, erschienen Tränen in ihren Augenwinkeln. "Ist das schön!" rief sie noch einmal und seufzte. "Ich brauche noch was zu trinken!" verkündete sie dann.
Emma und Marie nickten.
Während Tanja versuchte ihren Weg zum Tisch zu finden, packte Marie Emma am Arm und zog sie aus dem Zimmer.
Wortlos durchquerten sie den Flur, betraten Maries kleines Schlafzimmer und liesen sich aufs Sofa fallen.
"Also." sagte Marie schließlich mit ernster Miene. "Wann?"
Das fiebrige Glänzen in ihren Augen war abgeschwächt, stattdessen waren die eifrigen Denk-Falten auf ihrer Stirn zurückgekehrt.
"Mittwoch Abend..."
"Mittwoch?" Zeit für noch mehr Falten.
"Was ist falsch an Mittwoch?"
"Naja... Mittwoch... ich meine, das ist bald. Das sind nur zwei Tage."
"Ist das schlimm?" Emma verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. Wahrscheinlich handelte es sich mal wieder um irgendeine Regel aus den Dating-Ratgebern. Oder den Internet-Foren. Oder aus dem Selbsthilfekurs.
Es gab verdammt viele Quellen für solchen Unsinn.
Großzügigerweise war Marie bereit, diese eine Regel ausnahmsweise außer Acht zu lassen.
"Ach, das ist schon okay. Was macht ihr denn?" sie hatte ihre Begeisterung schnell wieder gefunden.
"Wir treffen uns in diesem Café..."
Erneutes Stirnrunzeln.
Der nächste Regelverstoß.
Wenn das so weiterging bekam Emma die rote Karte, bevor sie ihr erster echtes Date überhaupt erlebt hatte!
Sie seufzte. "Komm schon Marie, ich weiß nicht ob das alles so regelkonform ist, aber das ist doch egal. Es ist ein Date. Und du musst mir helfen!"
Marie lachte und wirkte gleich ein paar Zentimeter größer.
Die jahrelange Beschäftigung mit diesem Thema machte sich endlich bezahlt.
"Klar doch. Natürlich." sie kicherte. "Das wird das beste Date aller Zeiten!"
Emma war ihr sofort dankbar. "Ich wäre auch schon mit einem ganz mittelmäßigen zufrieden..." meinte sie gut gelaunt.
Marie winkte ab. "So ein Quatsch. Und weißt du was, wenn ich mir diesen Tobi am Freitag geschnappt habe..." sie grinste von einer roten Wange zur anderen. "..dann ist dein nächstes Date ein Doppeldate!"
Die Stunden wollten einfach nicht vorübergehen.
An und für sich war Emma wirklich kein ungeduldiger Mensch. Sie war eine sehr begabte Warterin – normalerweise.
Aber dieser Mittwoch stellte sogar ihre Geduld auf eine harte Probe.
Die Zeiger auf der Uhr schlichen unendlich langsam im Kreis.
Sogar Katja, die es sich auch heute nicht nehmen lies alle Anwesenden mit einer Geschichte über den fantastischen Kevin vom Arbeiten abzuhalten, bemerkte irgendwann, dass Emma nicht sie selbst war.
"Sag mal, bist du krank oder so? Du bist ganz bleich!"
Emma schüttelte schnell den Kopf.
Konzentriert betrachtete sie die Reagenzglas-Halterung um ja nicht aufsehen zu müssen.
Wie peinlich.
"Du siehst wirklich nicht gut aus. Du bist in letzter Zeit so komisch!"
Erneutes Kopfschütteln.
"Mir geht's gut. Wirklich." mit einem nicht ganz ehrlichen Lächeln wandte sich wieder dem Versuchsstand zu.
Katja schob sie beiseite und schnappte sich das Reagenzglas. "Du zitterst ja richtig!"
Emma zwang sich zu einem unbekümmerten Gesichtsausdruck.
"Mir geht's gut." wiederholte sie stur.
"Na hoffentlich! Untersucht irgendjemand hier gerade tödliche Krankheiten? Ich hätte hier eine Probandin!" rief sie ins Labor.
Aus einem entfernten Winkel drang ein kurzes Gelächter.
Emma warf ihr einen knappen Blick zu.
"Wirklich. Es ist alles in Ordnung."
Katja schüttelte den Kopf.
Sie war ganz offensichtlich vom Gegenteil überzeugt.
Emma beschloss, dass es dringend an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Eine weitere Anspielung, eine weitere Erinnerung an das, was sie heute Abend erwartete und sie würde hier und jetzt zusammenklappen.
"Hast du den Bericht schon fertig? Dr. Schumacher hat doch gesagt, du musst ihn heute abgeben."
Die Reaktion bestand aus einem Achselzucken.
"Na, dann hab ich ja noch ein paar Minuten Zeit."
Emma sah sie an. "Bist du noch nicht fertig?"
"Ach, ich hatte echt viel zu tun diese Woche..."
Normalerweise wäre Emma jetzt alarmiert gewesen, aber nicht einmal Katjas Ignoranz schaffte es, das merkwürdige Gefühl, dass sich schon den ganzen Tag in ihrem Magen eingenistet hatte, zu vertreiben.
Stattdessen sagte sie mit matter Stimme: "Wie wär's, wenn ich den Bericht fertig mache und du hier weiter machst?"
Dass lies sich Katja nicht zweimal sagen.
Erleichtert, dem Blick ihrer Kollegin zu entkommen schlüpfte Emma aus dem Büro.
Ihre Hände waren eiskalt und kribbelten.
Auch wenn sie es nur äußerst ungern zugab: Sie war aufgeregt.
Und wie.
Dabei war alles bestens vorbereitet.
Marie hatte sie ausführlich beraten, sie hatten ein Outfit ausgewählt – schlichte Jeans und eine süße, dunkelblaue Strickjacke die zu ihren Augen passte! - und Emma hatte sich sogar überreden lassen, etwas von Maries Schminke zu benutzen.
Natürlich erst nachher – im Büro musste ja niemand wissen, was sie vorhatte.
Lola hatte sie lieber gar nicht erst gefragt. Sie hatte ihren Korb von Phil ja schon gekriegt, abgesehen davon.
Insgeheim fürchtete Emma, dass Lola noch immer nicht daran glaubte, Phil könne tatsächlich an ihr interessiert sein und wollte sie deshalb lieber nicht um Hilfe bitten.
Allerdings waren Lolas Ansichten im Moment völlig nebensächlich.
Fest stand: Sie hatte ein Date mit ihm.
Und das schon in wenigen Stunden.
Emma zählte die Minuten bis zum Feierabend.
Als sie den Bericht schließlich mühsam fertig gestellt hatte und auf Nicoles Schreibtisch platzierte, war sie sich sicher dass er völlig unzureichend und voller Fehler war – aber das war im Augenblick nicht so wichtig.
Nicole warf ihr einen fragenden Blick zu.
"Is noch was?" wollte sie, kaugummikauend, wissen.
Ihre langen, rot lackierten Fingernägeln trommelten auf der Arbeitsplatte.
Emma schüttelte den Kopf.
"Nein, alles super." sie grinste.
Der Zeiger der Uhr über Nicoles Kopf sprang auf die fünf. Endlich Feierabend.
Im Eiltempo machte Emma sich auf den Weg nach Hause.
Sie hatte Glück – das Unwetter hatte sich verzogen und über den Hausdächern konnte man sogar ein paar letzte, herbstliche Sonnenstrahlen vermuten, wenn man genug Fantasie hatte.
Emma sah sie ganz deutlich.
Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte sie die Treppe nach oben und stieß keuchend die Wohnungstür auf.
Lenny wartete bereits schwanzwedelnd auf dem Sofa.
Während Emma seine Sachen zusammen suchte, um ihn in die Obhut der Nachbarn– Lennys Zweitfamilie – zu geben, versuchte sie, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Sie musste duschen. Und sich anziehen.
Haare föhnen – ganz wichtig. Marie hatte ihr sogar so ein Glätteisen dagelassen, was auch immer sie damit machen sollte.
Make-Up nicht vergessen.
Typen wie Phil erwarteten das garantiert.
Es gab so viel, an dass sie denken musste!
Wenigstens wusste sie schon genau, worüber sie reden würde. Das war ebenfalls Maries Verdienst: Keine peinliche Stille beim ersten Date.
Emma hatte jede Menge Fragen.
Zu allererst musste sie wissen, wie Phil es geschafft hatte, den Zettel in ihr Büro zu schmuggeln.
Und dann wollte sie alles über ihn herausfinden, was es herauszufinden gab. Wohnsitz, Beruf, Mädchenname der Mutter. Sie musste wissen, wieso er mit so einem Langweiler wie Paul zusammen wohnte und wie seine Lieblingsband hieß.
Einfach alles.
Fünf Minuten nach acht betrat Emma das "Flowers". Noch einer von Maries überlebenswichtigen Tipps: Nie zu früh da sein, lieber ein bisschen auf sich warten lassen.
Fünf Minuten, hatte Emma entschieden, nachdem sie dreimal um den Block gelaufen war, mussten reichen.
Im Moment war Emma ihrer Freundin ziemlich dankbar für die viele Zeit, die sie zu Gunsten der Flirt-Lektüre verschwendet hatte.
Die Tür fiel lautstark ins Schloss und Emma sah sich um.
Sie hatte erwartet, dass er wieder am selben Tisch saß, wie damals – ein kleiner Holztisch für zwei, am Fenster.
Irgendwie hatte sie ihn immer dort gesehen – jedesmal, wenn sie an den heutigen Abend gedacht hatte.
Ihr Blick streifte die kleinen, voll besetzten Tische, ohne Phil zu sehen. Die Kellnerin, die ihren Blick auffing machte schließlich eine Kopfbewegung in die andere Richtung des Raums.
Emma lächelte.
Neuer Abend, neuer Tisch.
Auch in Ordnung.
Dann, mitten in der Bewegung, blieb sie stehen.
Phil saß auf einem, mit kitschigem violetten Samt bezogenen Sofa mit lässig übereinander geschlagenen Beinen und hielt bereits ein Glas in den Händen.
Er lachte – aber nicht, weil er Emma sah, sondern über den Scherz eines Freundes, der den Rest des Sofas belagerte.
Insgesamt zählte Emma neun Menschen, die es sich gemeinsam in der Ecke gemütlich gemacht hatten.
Ihr Lächeln verschwand.
Das war eine wirklich seltsame Interpretation von Date.
Emma kämpfte für einen Moment gegen den Kloß in ihrem Hals an, dachte gerade darüber nach auf dem Absatz kehrt zu machen und das ganze einfach zu vergessen, als Phil sie entdeckte und aufsprang.
Gut gelaunt bahnte er sich seinen Weg zu ihr.
"Emma! Hey!" er umarmte sie kurz, als wären sie alte Freunde.
Emma schluckte.
Das war es also – ihr erstes echtes Date.
Was Maries Bücher dazu wohl sagen würden?
"Hallo."
Es fiel ihr schwer, zu sprechen.
Sie dachte an all die höflichen Floskeln, die hübschen Formulierungen die ihr sonst so routiniert über die Lippen kamen. Nichts.
"Pünktlich auf die Minute!" stellte Phil anerkennend fest.
Emma nickte.
Enttäuschung – das Wort reichte bei Weitem nicht aus, um das Gefühl, dass sich in Emma ausbreitete zu beschreiben.
Phil schien überhaupt nicht davon zu bemerken. Er legte Emma einen Arm um die Schulter, völlig zufrieden mit sich und der Situation, und schob sie sanft aber bestimmt durch den Raum.
Die kleine Gruppe lächelte einheitlich als die beiden näher kamen.
"Leute, das ist Emma." sagte Phil schlicht.
"Emma, das sind ein paar Kollegin von mir, die diese Woche zu Besuch in der Stadt sind... Wir... naja. Wir tun dasselbe hier wie du – den Feierabend genießen."
Gelächter.
Emma lächelte.
Das Gefühlschaos der letzten Tage, ihre Nervosität, das Karussell in ihrem Kopf: Wen kümmerte das jetzt.
Durchhalten war die Parole.
Und freundlich sein.
Schließlich konnte Phil nichts dafür, dass sie ihn falsch verstanden hatte – denn das war, darauf konnte Emma sich schnell einigen, die völlig logische und naheliegendste aller Erklärungen.
Es war ein Missverständnis.
Sowas passierte schon mal.
Für gewöhnlich tat es nur weniger weh.
Zwei ohnehin schon ziemlich schlanke Mädchen, die sich eine Sitzbank teilten rutschten zusammen und machten großzügig Platz für Emma. Sie versuchte, sich so aufrecht und elegant wie möglich zu setzen, scheiterte aber kläglich.
Neben den beiden Schönheiten kam sie sich vor wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellan-Laden.
Emma sah sich zögerlich um.
Wenigstens war Paul nirgendwo zu sehen – das ersparte ihr zumindest die Peinlichkeit, dass auch diese Episode ihres Lebens unverzüglich ihren Weg zu Freya und ihren Eltern fand.
Ihre Schwester hätte sicher großen Spaß daran gehabt: Da freute sich die kleine, unbeholfene Emma so sehr auf ihr Treffen mit dem vermeintlichen Traumprinz und dann landet sie mit Barbie und ihrer Freundin auf einem Plüschsofa.
Haha.
"Emma, trinkst du gar nichts?" fragte eines der Mädchen.
Sie klang erstaunlich nett.
"Ach, ich weiß nicht..." Darüber hatte sie sich gar keine Gedanken gemacht.
Das andere Mädchen winkte der Kellnerin. "Du musst unbedingt den Long Island Ice Tea probieren." schlug sie vor. "Phil sagt, dass ist der Geheimtip hier!"
Phil sagt, dachte sie. Interessante Gesprächsthemen – so unter Kollegen, die zu Gast sind.
Entschieden lehnte sie das Angebot ab. "Ich trinke gar nicht so gerne Alkohol."
Die beiden machten enttäuschte Gesichter. "Nicht mal ein Gläschen Sekt?" lockte Nummer eins.
Die Flasche stand bereits auf dem Tisch.
Emma sah sich gezwungen, wenigstens aus Höflichkeit, zuzustimmen.
Unwillig marschierte die Kellnerin los, um ein Glas zu bringen.
Die beiden Mädchen, immernoch eifrig bestrebt es dem Neuankömmling so gemütlich wie möglich zu machen, stellten sich vor.
Laura und Elli.
Oder anders herum, Emma war im Moment beim besten Willen nicht in der Lage, die beiden auseinander zu halten.
"Wohnst du hier in der Nähe?" fragte die eine – oder die andere – dann.
Emma schüttelte den Kopf. "Nicht direkt. Aber ich arbeite gleich um die Ecke."
"Bist du auch eine Kollegin von Phil?" ein großer, ziemlich breiter junger Mann, der ihnen gegenübersaß beugte sich vor. "Thorsten. Übrigens."
Erneut musste Emma verneinen.
Sie wusste ja nicht einmal, wie Phil überhaupt seinen Lebensunterhalt bestritt!
"Ich arbeite in einem Forschungsinstitut..." erzählte Emma langsam in die aufkommende Stille hinein. Als sie die fragenden Blicke sah, fügte sie hinzu: "Ich bin Laborantin."
Die beiden Mädchen tauschten einen kurzen Blick und Emmas Gegenüber nickte mit einem ziemlich schiefen Schmunzeln.
"Das ist ja mal was ganz anderes." dröhnte er.
"Für mich nicht." mehr fiel Emma dazu nicht ein.
Die Mädchen lachten.
Emmas Lebensgeister kehrten ganz langsam zu ihr zurück.
Sie warf Phil einen kurzen Blick zu.
Er hatte es sich wieder an seinem Platz auf dem Sofa gemütlich gemacht und plauderte angeregt mit seinen Sitznachbarn.
Sein Outfit erinnerte tatsächlich an ein Feierabend-Treffen mit Kollegen. Dunkle Stoffhosen, schicke Schuhe und ein leicht zerknittertes Hemd.
Emma war, wieder einmal, die einzige in der Runde mit Jeans.
Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, begegneten sich ihre Blicke für einen Moment.
Kein Grinsen, kein Lächeln.
Nur ein kurzer Blick.
Nicht einmal ein Zeichen des Erkennens.
Ein Treffen unter Kollegen. Gehörte sie, die Zufallsbekanntschaft aus der Bar, jetzt auch dazu?
Hatte sie sich wirklich so sehr getäuscht?
Emma nahm freundlich ihr Glas in Empfang und stieß mit Elli und Laura an.
"Leute, ich bin am Verhungern..." stellte eine der Schönheiten anschließend fest. "Was sagst du, Emma?"
Emma konnte nur nicken.
Sie hatte vor Aufregung den ganzen Tag über unfreiwillig gefastet. Völlig unbegründet, wie sie nun hatte feststellen müssen.
"Essen ist immer gut!" rief Thorsten und zog mit seiner viel zu lauten Stimme die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.
"Sag bloß, du hast schon wieder Hunger?" lachte der Typ, der neben Phil auf dem Sofa saß und bezog damit die komplette Gruppe in die Diskussion mit ein.
"Ich darf nichts Essen, das Mittagessen war so schwer." klagte Elli – oder Laura, wer wusste das schon – ihr Leid.
"Glaubt ihr, dass wir im Hotel noch etwas bekommen?" fragte ihr Pendant.
"Wieso im Hotel?" Phil winkte der Kellnerin. "Ich bitte euch. Natürlich gibt es auch hier etwas zu essen."
Dieses Mal war die Service-Kraft deutlich motivierter an ihrem Tisch erschienen. Sie schenkte ihm ein überaus herzliches Lächeln.
Man kannte sich eben.
Thorsten zog anerkennend eine Augenbraue nach oben und flüsterte seinem Nachbarn leise etwas ins Ohr. Dieser quittierte das Gesagt großzügig mit einem "Jaja, unser Phil!"
Emma starrte konzentriert auf ihre Schnürsenkel.
Ja. Man kennt sich, dachte sie bitter.
Phil gab der Kellnerin den Auftrag, irgendetwas Essbares herbeizuschaffen und Thorsten erklärte Emma zufrieden: "Dieser Kerl sorgt echt gut für uns. Immer, wenn wir hier sind kümmert er sich um uns. Eigentlich wäre das ja nicht sein Job aber..." Emma nickte wissend. Sie hätte nichts dagegen gehabt, das Thema zu wechseln "...aber er hat es sich nicht nehmen lassen, uns die Stadt zu zeigen."
Sie lächelte.
Ja. Er war wirklich ein ganz prima Kerl, dieser Phil.
Die Kellnerin schleppte eine ganze Reihe kleiner Schälchen an. "Mit Empfehlung des Chefs." erklärte sie und Emma war sich ziemlich sicher, dass damit ausnahmsweise mal kein Koch gemeint war.
Alles, was die Küche zu bieten hatte, befand sich in den Schüsseln.
Phil und seine Gäste waren zufrieden.
Reihum wurden die Plätze getauscht: Die Hungrigen versammelten sich an einer Seite des Tisches und die, die verzichteten machten es sich in den großen, samtbezogenen Ohrensesseln gemütlich.
Elli räumte ihren Platz, Emma tauschte mit Thorsten und im nächsten Moment hielt Phil ihr eine Schale unter die Nase.
Er streckte die langen Beine neben ihr aus und grinste.
"Hungrig?"
Sie schüttelte den Kopf. Überhaupt nicht, dachte sie. Es sei denn, du servierst mir eine Erklärung für das hier.
"Ach, Emma! Ich bitte dich!" mischte Thorsten sich ein. "Du musst doch bei Kräften bleiben!" er gluckste und warf Phil einen vielsagenden Blick zu.
Emma wurde rot.
Phil ignorierte ihn einfach und tauschte die Schale gegen eine andere. "Vielleicht ist das ja eher was für dich..."
Der Inhalt ging ins Undefinierbare. Um ihn ruhig zu stellen, griff Emma beherzt zu.
Salzig und ein bisschen zäh.
Sicherlich eine Sepzialität – irgendwo auf dieser Welt.
"Die Mädels sind nett, oder?" fragte er mit gedämpfter Stimme.
Was sollte dass denn jetzt?
Da Laura und Elli die einzigen am Tisch waren, die das Prädikat "Mädels" tragen konnten, schloss Emma, dass er sie meinte.
Sie nickte langsam.
Natürlich waren sie nett.
Sie waren vor allem nett-hübsch, nett-blond und nett-schlank.
Und sicher auch ganz nett im Bett.
Aber da Emma selbst ja auch ein durchaus nettes Mädchen, wenn auch nur im eigentlichen freundlich-netten Sinne war, sah sie sich schließlich gezwungen, ihm zuzustimmen. "Sehr nett, wirklich. Und sehr charmant."
Er grinste.
"Ich wusste, dass du sie magst."
Emma hob eine Augenbraue.
Bevor Phil die unausgesprochene Frage beantworten, oder ihr zumindest geschickt ausweichen konnte, erschien bereits wieder Thorstens leicht rötliches Gesicht zwischen ihnen.
"Was gibts da zu tuscheln?"
Phil lachte ungeniert.
Emma spürte, wie sie schon wieder rot wurde.
Die Art, wie er sie anschaute, war ihr mehr als unangenehm.
Man musste kein Hellseher sein um zu wissen, was Thorsten dachte.
"Weißt du, Phil, deine Freundin hier" Thorsten gluckste zufrieden "wollte gerade erzählen, woher ihr euch kennt."
Emmas Wangen glühten.
"Wollte sie das?" fragte Phil amüsiert.
Ihn schien das ganze überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil. Er genoß die Situation sichtlich.
"Eigentlich..." begann Emma, ohne zu wissen, wie der Satz enden sollte.
Thorsten grinste.
"Weißt du, Emma, unser Phil hier – wenn der uns besucht, das ist jedes Mal ein echtes Highlight. Wenn du einen Mann brauchst, der immer eine gute Geschichte auf Lager hat, dann hast du hier den richtigen gefunden." plauderte er schließlich fröhlich weiter.
Emma wusste instinktiv, welche Art von Geschichten Thorsten meinte.
"Aber eine Emma, so eine war noch nicht dabei." Thorsten brüllte vor Lachen.
Ein paar Gesichter wandten sich zu ihm um.
Phils entspannter Gesichtsausdruck verdunkelte sich kaum merklich.
Emma spürte, dass er sie für einen Moment ansah.
Sie stopfte sich noch eine handvoll der unbekannten Speise in den Mund, damit sie nicht gezwungen war, etwas zu sagen oder aufzusehen.
Wäre sie eine andere gewesen – Lola zum Beispiel – wäre sie jetzt mit Sicherheit aufgestanden und wäre nach Hause gegangen.
Nicht nur, wegen den mitleidvollen Blicken des Barbie-Duos, nicht nur wegen Thorsten alkoholschwangeren Anspielungen.
Allein dass er sie hier her eingeladen hatte, dass er sie so vorführte, vor seinen Kollegen mit dem dämlichen Grinsen, war schon unverschämt genug!
Aber sie war keine Andere.
Sie war nicht Lola, die es liebte in dramatisch inszenierten Wutanfällen aus dem Raum zu stürmen. Und sie war auch nicht Marie, die auf Kommando in Tränen ausbrechen und sich damit aus jeder noch so unangenehmen Situation stehlen konnte.
Sie war eben Emma.
Sie war klug, sie war nett und sie war gut erzogen.
Und Emma ertrug den Abend, so gefasst es irgendwie ging.
Rausstürmen, in Tränen ausbrechen - das gehörte sich nicht.
Sie ertrug es, neben Phil zu sitzen der gar nicht bemerkte, was er ihr angetan hatte und ohne mit der Wimper zu zucken das Thema wechselte. Verkehrspolitik statt Bettgeschichten.
Sie ertrug die Blicke, die Phils Gäste belustigt tauschten, seit sie nebeneinander saßen und auch das verschmitzte Grinsen des einen oder anderen, als man sich schließlich verabschiedete.
Schließlich – es war spät geworden – standen sie vor dem Café und sahen zu, wie die kleine Gruppe Kollegen aus München davon marschierte.
"Ich muss los." sagte Emma als erste in die Stille hinein.
"Kann ich dich nach Hause bringen?" bot er schnell an. "Ich glaube..."
"Es sind nur zwei Stationen." ihre Stimme duldete keine Wiederrede.
Er lächelte mutlos.
"Ich hoffe, es war okay, dass... naja. Du weißt schon."
Vielleicht hatte er ja doch etwas mitbekommen.
Aber dafür war es zu spät.
Sie wollte keine Erklärungen - sie wollte nach Hause.
"Klar." sagte sie freimütig. "Es war doch ein netter Abend. Mit mehr Leuten ist es doch immer schöner, oder?"
Er nickte.
"Tschüß Phil." Diesmal war sie es, die ihn mit einer kurzen, kühlen Umarmung überraschte.
"Auf Wiedersehen, Emma."
Das kleine rote Licht an der Telefonstation begrüßte Emma mit monotonem Blinken.
Die Tatsache, dass sie tatsächlich noch von der altmodischen Anrufbeantworter-Einrichtung Gebrauch machte, verdankte Emma ihrer Mutter – die mit Mobiltelefonen ebenso auf Kriegsfuß stand, wie mit deren komplizierten Nummern.
Sie drückte auf den Knopf und ging zur Garderobe.
Claras Stimme hallte durch den Flur.
"Emma? Emma bist das du? Oder ist das... ach, ist das wieder dieser komische Maschine? Emma? Ich wollte nur... ach, wieso piepst das denn jetzt? Emma? Verdammt, ich hasse es, wenn ich mich mit einem Automaten unterhalten muss!"
Die Nachricht war zu Ende.
Emma seufzte.
Eine einzelne Träne hatte sich auf ihrer Wange verwirrt.
Wie lange was er her, dass sie das letzte Mal geweint hatte?
Erneut löste Claras Stimme die Stille im Flur ab: "Also. Emma. Du rufst ja sowieso nicht zurück. Dein Vater sagt, die Maschine nimmt auf, was ich sage. Also, hör zu. Deine Tante kommt am Samstag zu Besuch. Samstag um sieben, hörst du? Wir erwarten dich. Und, ach du musst mir unbedingt die Nummer von diesem Catering-Unternehmen heraussuchen... für den Geburtstag von deinem Vater, weißt du?"
Emma registrierte die Information, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Samstag.
Sieben Uhr.
Geburtstag.
In Ordnung.
Wie auch immer.
Die dritte Nachricht war von Marie.
"Emma! Was ich dir noch sagen wollte: Viel Glück mit Phil! Das wird sicher super! Und ruf mich unbedingt an, wenn du wieder zu Hause bist! Ich weiß, dass du schon unterwegs bist und so... aber trotzdem. Ruf mich an!"
Ihr Lachen erfüllte den Flur.
Emma gelang es nicht länger, die Tränen zurück zu halten.
Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Fräulein Maler. Der Bericht ist eine Katastrophe.
Natürlich.
Lächeln.
Nicken.
Tut mir Leid. Kommt nicht wieder vor.
Etwas mehr Konzentration bitte.
Konzentration.
Kein Problem.
Der Tag überholte Emma einfach.
Das Labor.
Die neue Versuchsreiche.
Katja.
Wer war nochmal Kevin?
Die Minuten glitten an ihr vorbei ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
Wie spät war es?
Mittagspause.
Zeit nach Hause zu gehen.
Auch in Ordnung.
Tschüß.
Auf Wiedersehen, Emma.
"Wir müssen etwas tun!" Marie machte eine ernste Miene. "Wir brauchen einen Schlachtplan."
Lola lachte heißer. "Ach komm schon. Was soll dass denn bringen? Glaubst du wirklich, dass er auf sie steht?"
"Natürlich! Sonst hätte er sie doch nicht eingeladen!"
"Er hat sich einen Scherz erlaubt! Verdammt, gib's auf Marie. Der Typ ist eindeutig eine Nummer zu groß für Emma."
"Du bist ja nur eifersüchtig, weil er DICH nicht haben wollte."
Lola schnappte hörbar nach Luft.
Emma bearbeitete ihre Schläfen mit den Fingerspitzen.
Sie lag ausgestreckt auf dem Sofa und beobachtete gebannt, die die kleinen hellen Punkte – Lichtreflektionen vielleicht, aber wen interessierte da schon? - die an der Decke tanzten.
Marie kniete neben dem dösenden Lenny auf dem Teppichboden und Lola marschierte mit klappernden Absätzen quer durchs Zimmer.
Kriegsrat.
Obwohl die Schlacht längst verloren war. Soviel stand fest.
"Ich will ihn gar nicht wieder sehen." sagte Emma leise.
Das Gezeter der beiden Streithähne verstummte augenblicklich.
"Wieso denn nicht?" wollte Marie wissen. "Ich hab mich schon darauf gefreut... du und Phil, ich und Tobi..."
"Du und Tobi? Lern ihn doch erstmal live kennen!" Lola lachte abfällig.
Emma richtete sich langsam auf. Ihre Ohren summten.
Sie hatte ausführlich darüber nachgedacht.
Und sich entschieden.
Eine durchheulte Nacht, ein verpatzter Tag im Labor, eine Blamage – es war genug.
Er hatte sich einen Spaß erlaubt, da hatte Lola recht. Er hatte sie eingeladen, um sie seinen Kollegen vorzuführen, wie eine exotische Errungenschaft.
Der coole Phil, der jede haben kann versucht sich diesmal an einer kleinen, langweiligen Laborantin.
Wie hatte sie nur so naiv sein können?
Sie, Emma, war doch eigentlich ein kluges Mädchen. Davon war sie immer überzeugt gewesen – genauso wie sie, ganz ohne es zu wissen, immer angenommen hatte, dass ihr niemals so etwas passieren konnte.
Und trotzdem war es passiert.
Aber, soviel stand fest: Es würde bei diesem einen Ausrutscher bleiben.
Sie hatte ihren Fehler gefunden, ihn genau untersucht und beschlossen, dass sie ihn nicht wiederholen würde.
Sie wollte wieder die sein, die sie noch vor ein paar Wochen gewesen war.
Emma, das nette Mädchen.
Keine unbekannten Schönlinge, kein Herzklopfen, keine Dates.
Einfach nur Emma.
Sie würde Phil einfach vergessen. Das war das beste.
"Ich will einfach nicht." sagte sie schlicht.
Marie war die Enttäuschung anzusehen.
"Ich dachte, du magst ihn?!"
Emma schwieg entschieden. Darüber wollte sie nicht nachdenken.
"Marie, du siehst doch, dass sie keine Lust mehr auf ihn hat." rief Lola und kam zum Sofa getrippelt.
Sie legte Emma eine warme, perfekt manikürte Hand auf die Schulter und lächelte. "Kein Typ auf der Welt ist es Wert, ihm hinterherlaufen. Vor allem nicht, nach so einer Aktion. Vergiss ihn einfach und such dir einen neuen."
Marie schüttelte missbillgend den Kopf.
Die kleinen Falten auf ihrer Stirn wurden immer tiefer.
"Das kann doch nicht wahr sein..." murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen.
Lola, zufrieden damit, dass die Sache endlich abgehakt war, beschloss, dass es Zeit für einen Themenwechsel war.
"So, Mädels. Was machen wir heute noch? Ich finde, Emma hat jetzt genug Trübsal geblasen." erklärte sie.
Emma winkte ab.
"Mir ist nicht nach feiern."
Lola schmollte. "Ach komm schon. Im "Miss Morton" ist Lady's Night! Das ist sicher lustig!"
Emma schüttelte nur den Kopf.
"Wir können doch nicht ins Miss Morton gehen!" wehrte auch Marie den Vorschlag bestimmt ab. "Außerdem, gegen Liebeskummer hilft Eis und ein guter Film."
"Ich dachte, du triffst dich heute mit diesem Tobi aus dem Internet?" warf Emma ein.
Marie winkte ab. "So ein Quatsch! Das versteht er sicher... ich glaube, er ist wirklich sensibel. Außerdem muss ich mich doch um dich und deinen Liebeskummer kümmern!"
"Liebeskummer wird überbewertet." stellte Lola fest. "Ich will tanzen gehen."
Maries Blick machte eindeutig klar, dass sie nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Lola diesem Wunsch jetzt gleich und sofort nachkam.
Emma sah von der einen zur anderen und beschloss dann, dass die Streitereien dringend ein Ende finden mussten.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und bemerkte, dass ihre Wangen noch immer brannten.
Tränen waren schon etwas Merkwürdiges.
"Es tut mir Leid, aber ich glaube, ich will lieber noch ein bisschen allein sein. Keine Party" sagte sie an Lola gewandt und fuhr mit Blick auf Marie fort "und keine Liebeskomödie."
Die beiden trauten sich nicht, zu wiedersprechen.
"Der Hund muss noch raus" fuhr Emma dann geschäftig fort und richtete sich gerade auf "und ich muss meine Mutter zurück rufen. Sie plant die Geburtstagsfeier von meinem Vater und... ihr wisst schon."
Damit waren die beiden Freundinnen entlassen.
Als die Tür endlich ins Schloss fiel seufzte Emma erleichtert auf.
Sie wusste, dass sie es sich nicht oft erlauben konnte, die beiden so zu enttäuschen – aber im Moment war es das einzige, was sie wollte.
Endlich Ruhe.
Emma wäre nicht Emma gewesen, hätte sie die Situation nicht auf ihre ganz eigene Art gemeistert.
Fest stand, dass sie Phil nicht wiedersehen wollte.
Allerdings fühlte sie sich außerstande ihm diese Entscheidung persönlich mitzuteilen – zumal er sie ja nun schon zum zweiten Mal einfach so um den Finger gewickelt hatte – also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm sorgfältig aus dem Weg zu gehen.
Das schlechte Wetter kam ihr dabei tatsächlich zu Gute.
Der Herbst hatte den Sommer endgültig vertrieben und mit stürmischen Regengüssen und einem unangenehmen, kalten Wind der durch die Straßen fegte, die Stadt erobert.
Es war ein leichtes für Emma, zwischen all den vermummten, hektischen Gestalten unterzutauchen.
Trotzdem ergriff sie weitere Vorsichtsmaßnahmen.
Sie tauschte ihre dunkelgrüne Regenjacke, die ihr nachdem Phil sie ja bereits zweimal darin erkannt hatte viel zu auffällig vorkam, gegen einen grauen Wollmantel und versteckte ihre Haare unter einer Mütze, die wahrscheinlich einmal ein Geschenk von Freya gewesen war.
Sie stieg eine Haltestelle später aus als gewöhnlich, machte einen kleinen Umweg durch den Stadtpark um der Ladenstraße, in der sich das "Flowers" befand, ausweichen zu können und betrat das Institut durch den Nebeneingang.
Sie besuchte brav ihre Eltern, versprach ihrer Mutter jede mögliche Unterstützung bei den Vorbereitungen der anstehenden Geburtstagsfeier, versprach Freya, sich auch einen Tag für einen gemeinsamen Stadtbummel freizuhalten, versprach ihrem Onkel, sich bei Gelegenheit nach einer etwas beduetsameren Arbeitsstelle umzusehen und versprach zu guter Letzt ihrer Tante, etwas gegen ihre langweilige Frisur zu unternehmen.
Das restliche Wochenende verbrachte sie mit Lenny im Wald oder zu Hause, auf dem Sofa.
Sie beendete die Leiden des jungen Werther und widmete sich anschließend dem Homo Faber.
Am Telefon erfuhr sie, dass auch Maries Date eine Enttäuschung gewesen war: Tobi, nett wie erwartet aber weder besonders hübsch, noch besonders wohlhabend, noch besonders charmant.
Eine Niete.
Am Dienstag, nachdem Emma in der S-Bahn gerade Max Frischs literarischen Flugzeugabsturz überlebt hatte, beglückwünschte sie sich dazu, wie selbstverständlich sie mittlerweile mit Allem umging.
Noch ein paar Wochen, nahm sie sich vor, dann wäre sie wieder ganz die Alte.
Mit Sicherheit.
Bis Weihnachten wäre die Welt wieder in Ordnung.
Am Donnerstag schließlich fühlte sie sich in der Lage, auch ihr Sozialleben wieder aufzufrischen.
Sie rief Marie und Lola an und erfuhr, dass es bereits Pläne für den Abend gab.
Julia, eines der Mädchen mit denen Lola und Emma früher zusammengewohnt hatten, lud zum Spieleabend in der WG.
"Na, sieht man dich auch mal wieder?" knurrte Lola unwillig, während sie nebeneinander die Treppen nach oben stiegen.
Marie folgte ihnen mit geröteten Wangen. "Wieso müssen die so weit oben wohnen?"
Emma klopfte an die Wohnungstür und lächelte.
Marie schnappte neben ihr geräuschvoll nach Luft. "Unglaublich."
"Ich hoffe, wir können schnell wieder abhauen." murmelte Lola.
Sie war nicht besonders gut auf ihre ehemaligen Mitbewohner zu sprechen – Emma einma lausgenommen.
"Sei nett, okay?" bat Emma. "Heute ist Donnerstag, so lange kann der Abend gar nicht werden."
Lola wirkte nur wenig überzeug. "Wenns sein muss."
Ein Mädchen mit großen, auffällig grünen Augen öffnete die Tür. "Da seid ihr ja!"
"Hallo, Julia!" Emma umarmte das Mädchen herzlich und schob sich dann an ihr vorbei in den Flur.
Marie und Lola wiederholten die Begrüßung artig und folgten ihr.
Noch bevor sie ihre Mäntel aufgehängt hatten, begann Julia zu reden.
Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus ihr heraus. "Das ist so toll, dass ihr es geschafft habt! Ich hatte schon Angst, dass wir zu wenige sind, aber jetzt seid ihr ja da und Chrissi und Marc und... achso, kennt ihr eigentlich Manuel? Das ist der neue Freund von Amelie, ein ganz netter Kerl, wirklich. Zuckersüß die beiden! Aber jetzt kommt erstmal mit! Ihr seht ja ganz durchgefroren aus, ist es so kalt draußen? Ich mag ja den Winter nicht so gern..."
Ohne eine Pause manövrierte Julia ihre Gäste durch den Flur in die große Wohnküche.
Der Esstisch, ein bereits antikes Stück mit allerlei selbst gemalten Zeichnungen und Notizen, die seine vielen Besitzer hinterlassen hatten, war in die Mitte des Raum gerückt worden und um das gute Stück herum saßen die bereits beschriebenen Gäste.
Die Begrüßung fiel ebenso herzlich aus wie Julias.
Die einzige, die es sich nicht nehmen lies, ihren Unmut deutlich zur Schau zu stellen, war Lola.
Sie setzte sich demonstrativ so weit vom Tisch entfernt auf einen Hocker, dass es unmöglich für sie war, sich an einem der Spiele zu beteiligen.
Ungerührt davon zauberte Julia das erste Spiel aus dem Regal.
Scharade stand auf dem Programm.
"Na, Emma? Alles klar?" Marc, ebenfalls ein Mitbewohner der WG, zog seinen Stuhl näher an sie heran.
"Mir ging es nie besser." behauptete sie gut gelaunt.
Marc lachte. "Lola anscheinend schon!" flüsterte er und machte eine Kopfbewegung in ihre Richtung.
Als Lola bemerkte, dass sie von den beiden beobachtet wurde, erntete erst Marc und dann Emma einen vernichtenden Blick.
Sie zog sich die nietenbesetzte Lederweste enger um die Schultern und kramte in der Tasche nach ihrem Handy.
"Du kennst sie doch." sagte Emma.
Marc lachte erneut. "Ohja. Das kannst du laut sagen!"
Julia rief die Runde am Tisch zur Ruhe, damit das Spiel endlich beginnen konnte.
Marie war die erste, die sich bereit erklärte, ihr schauspielerisches Talent unter Beweis zu stellen.
Marc lies ein Seufzen vernehmen und stand auf. "Willst du was trinken, Emma?"
Sie nickte dankbar.
Er bückte sich, um den Dachschrägen auszuweichen und setzte sich langsam in Bewegung.
Marie präsentierte mit glühenden Wangen und angestrengt zusammengekniffenen Augen den ersten Begriff.
"Eine Ente?" schlug das Mädchen, dass Emma als Chrissi wiedererkannte vor.
"Ein Huhn? Ziege? Schaf? Marie! Was machst du denn!" Julia lachte.
"Ufo-Landung. Ganz klar." warf ein Emma unbekannter Gast ein. Das musste dann wohl Manuel sein.
Emma schmunzelte – es war nicht ihre Art, sich lautstark an diesen Spielen zu beteiligen.
Hinter Marie, die mittlerweile auf dem Boden kniete und angestrengt mit den Armen ruderte, hatte Marc sich mittlerweile seinen Weg zum Kühlschrank gebahnt.
Lola, die nur wenige Zentimeter neben ihm saß, starrte konzentriert auf ihr Handy.
Aus den Augenwinkeln konnte Emma sehen, wie Marc tonlos die Lippen bewegte.
Er sagte etwas – und weil sonst niemand in der Nähe war, musste es wohl an Lola gerichtet sein.
Dann, völlig unvermittelt und als wäre es eine rein zufällige Geste, legte Marc Lola eine Hand auf den Arm.
Die Berührung war so schnell vorbei, dass Emma sich für einen Moment selbst nicht sicher war, ob sie wirklich passiert war oder nicht.
Lola blickte auf, starrte Marc für ein paar Sekunden aus großen Augen an, dann sprang sie wortlos auf und stürzte mit klappernden Absätzen aus dem Raum.
Gerade, als die Tür hinter Lola ins Schloss fiel, kippte Marie vorneüber und landete mit dem Gesicht voraus auf dem Boden.
Im Allgemeinen Gelächter ging Lolas Abgang komplett unter.
Marc kehrte zu Emma zurück, als wäre nichts gewesen.
"Was wars denn nun?" wollte Julia wissen, als Marie sich wieder aufgerappelt hatte. "Ein Huhn? Oder ein Ufo?"
"Ein Schwan, verdammt." keuchte Marie. "Ein sterbender Schwan!"
Die Runde lachte erneut.
Amelie löste Marie ab und schnappte sich die Spielkarten.
"Dann mal los!" kommandierte Julia überglücklich.
Emma, noch etwas verwirrt über Lolas plötzliche Flucht, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
Marc hatte es sich bereits wieder neben ihr gemütlich gemacht und lehnte sich entspannt zurück.
"Ein Flugzeug?" schlug er fröhlich vor.
"Nein, eindeutig. Dieses Mal ist es eine Ente! Eine Ente!" rief Chrissi erneut.
Angesichts der Tatsache, dass sie plante, Tierärztin zu werden, war ihr Repertoire ziemlich eingeschränkt.
Als Marc sich erneut vorbeugte und "Vielleicht ein Skifahrer?" rief, hielt es Emma nicht länger auf ihrem Stuhl.
Nicht nur, dass sich niemand der anderen – nicht einmal Marie! - dafür interessierte, was mit Lola los war. Sogar Marc, der offensichtliche Auslöser für ihr Verschwinden, tat einfach so, als wäre nichts gewesen.
Emma schob ihren Stuhl zur Seite, schlüpfte an den Spielern vorbei und verlies die Küche.
Irgendjemand musste sich ja um Lola kümmern.
Sie sah sich im Flur um: Bad, Abstellkammer, Schlafzimmer.
Fünf Personen lebten insgesamt in der winzigen Wohnung.
Ihr Blick fiel auf die überfüllte Garderobe.
Lolas orangefarbene Steppjacke – ein echtes Unikat – war verschwunden.
Ebenso wie ihre Tasche, die neben der Tür auf dem Boden gestanden hatte.
Emma kam zu spät.
Was auch immer Marc gesagt hatte – es hatte Lola nicht nur aus dem Raum, sondern auch direkt aus der Wohnung vertrieben.
"He, Emma! Was ist denn los?" Marie erschien, mit vom Lachen geröteten Wangen, hinter ihr im Flur und rückte ihre Brille gerade. "Suchst du was?"
"Lola ist gegangen." teilte Emma ihr leise mit.
Aus der Küche drang Gelächter. Chrissi vermutete auch in dieser Runde die unvermeidliche Ente.
"Gegangen?" wiederholte Marie. "Wohin?"
"Keine Ahnung."
"Warum denn?"
"Keine Ahnung." Emma seufzte.
Marie schüttelte nur den Kopf. "Das ist ja mal wieder typisch. Wir hätten sie gar nicht erst mitbringen sollen!"
Emma schwieg. Sie dachte darüber nach, Lola anzurufen und sich zu erkundigen aber das Ergebnis dieses Telefonats konnte sie bereits erahnen: Aus Lola war nichts rauszukriegen und am Ende wäre sie sicherlich auch noch wütend auf Emma.
"Komm schon, Emma." meinte Marie und wandte sich wieder in Richtung der Küche.
Emma folgte ihr. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Als sie die Küche betraten, räumte Manuel gerade das Feld für den nächsten Kandidaten.
"Emma war noch gar nicht dran!" rief Chrissi augenblicklich.
Emma zuckte zusammen. "Oh, nein... ich muss wirklich nicht..." murmelte sie leise.
"Ach komm schon! Emma!" rief jetzt auch Julia.
Reihum wurde eingestimmt:"Emma! Emma!"
Marie stieß ihr in die Seite. "Jetzt stell dich nicht so an!"
Emma schluckte. "Wenns sein muss."
Julia drückte ihr die Karten in die Hand und schwenkte die bunte Sanduhr.
Emma riskierte einen letzten knappen Blick in Marcs Richtung um festzustellen, ob sie wenigstens den Hauch einer Regung erkennen konnte – dann war Lolas Abgang vergessen.
Der Begriff "Prüfungsangst" wollte schließlich erklärt werden.
Ein riesiger Strauß scharlachroter Rosen sorgte am nächsten Morgen für Aufsehen.
Emma hatte vorsichtshalber erneut ihre Route geändert und sich dabei so sehr verschätzt, dass sie mit einer satten Verspätung von acht Minuten aus dem Aufzug stolperte.
Auf dem Flur stand eine ganze Traube von Menschen in weißen Laborkitteln.
Ungewöhnlich.
Um diese Uhrzeit waren die wissenschaftlichen Angestellten bereits in ihren Laboren verschwunden.
Panisch fiel Emma ein, dass es sich ja vielleicht um eine Notfallübung handeln konnte. Und ausgerechnet heute war sie zu spät gekommen. Was schrieb das Protokoll wohl für diesen Fall vor? Erst stempeln gehen oder gleich evakuieren?
Emma kam näher und stellte erleichtert fest, dass die Gruppe weit entfernt von einer Panik war.
Stattdessen sah sie amüsierte Gesichter und neugierige Blicke.
Im Zentrum des Tumults standen Katja und Nicole.
Die eine mit hochrotem Gesicht, die andere mit den leuchtend roten Blumen.
"Jeder hier weiß, dass die für mich sind!" kreischte Katja gerade.
Emma dämmerte, was passiert war.
Nicole hielt den Strauß fest umklammert und versuchte, Katja auszuweichen. "Es ist keine Karte dabei, also kannst du es nicht beweisen."
"Die sind von Kevin! Von meinem Kevin! Das ist doch ganz klar!" rief Katja.
"Ich kenne keinen Kevin. Und da steht auch nichts von einem." triumphierte Nicole. "Die Blumen bleiben bei mir."
"Als ob dir jemand Blumen ins Büro schickt!" schrie Katja. Ihre Haare wackelten aufgebracht.
"Für wen sollten sie denn sonst sein?"
Der Gedanke, der Emma durch den Kopf huschte war so schnell wieder verbannt, wie er aufgetaucht war.
Nein.
Daran durfte sie gar nicht denken.
"Du bist ja nur neidisch!" keifte Katja.
Nicole lachte. "Auf dich oder was?"
"Gib sie jetzt her! Sofort!" Katjas Stimme überschlug sich fast.
Hinter Emma war Gepolter zu hören, dann flog eine Tür auf. Dr. Schumacher stand im Flur und mit einem Mal waren die interessierten Gesichter verschwunden.
Emma fühlte sich, als hätte man sie mit den Fingern in der sprichwörtlichen Keksdose erwischt.
Ihren Kollegen ging es augenscheinlich nicht besser.
Ein paar versuchten in das schützende Labor zu entkommen, die meisten begnügten sich damit, angespannt auf den Boden zu starren.
Dr. Schumacher bahnte sich seinen Weg zu Katja und Nicole. "Darf ich fragen, welchen Anlass die Damen haben, auf meinem Flur so ein Theater zu veranstalten?" wollte er wissen.
Nicole lies den Blumenstrauß sinken und Katja die Schultern.
"Die Blumen gehören mir." sagte Katja trotzig.
Dr. Schumacher hob eine Augenbraue. "Darf ich fragen, weshalb sie Blumen mit ins Institut bringen? Und dann auch noch in die Bakterien-Forschung? Ich bin mir sicher, die Kollegen im zweiten Stock könnten mehr mit diesen... Subjekten anfangen."
"Ich wollte sie ja in meinem Büro aufstellen. Da schaden sie niemanden." Nicole lächelte zufrieden.
Katja warf ihr einen wütenden Blick zu. "Die sind aber nicht für dich!" zischte sie.
"Das kannst du nicht beweisen." gab Katja zurück.
"Wem gehören die Blumen denn nun?" Dr. Schumacher sah von der einen zur anderen.
"Die wurden anonym hierher geschickt." erklärte Nicole.
"Genau. Von meinem Freund!"
"Nein. Anonym."
"Du hast die Karte sicher abgerissen."
Dr. Schumacher hatte genug gehört. "Nicole, ich bitte Sie. Bringen sie die Blumen nach unten in die Cafeteria. Dort wird sich sicher ein hübscher Platz finden."
Jetzt machten beide Frauen enttäuschte Gesichter.
"Und Sie, liebe Kollegen" wandte Dr. Schumacher sich an die Umstehenden "werden meines Wissens nach nicht dafür bezahlt, hier herum zu stehen. An die Arbeit, wenn ich bitten darf!"
Emma hatte es während seiner kleinen Ansprache geschafft, sich nahe genug an der Tür ihres Büros zu postieren, dass sie jetzt einfach hineinschlüpfen konnte ohne bemerkt zu werden.
Wie verrückt, dachte sie. So ein Chaos, nur wegen ein paar Blumen.
Sie schnappte sich einen Kittel und holte die neuen Mappen vom Schreibtisch. Eilig machte sie sich wieder auf den Weg zum Labor.
Der kleine, zweimal gefaltete Zettel zwischen den Mappen glitt unbemerkt heraus und landete unbeachtet auf dem Boden neben den Mülleimern.
Lola verschwand einfach.
Das war nichts neues für Emma – es kam durchaus öfter vor, dass sie sich für ein paar Tage zurück zog um dann, ebenso plötzlich, wieder aufzutauchen.
Trotzdem.
Nach dem was Emma zwischen Lola und Marc beobachtet hatte und nach Lolas fast schon dramatischen Abgang: Etwas stimmte nicht.
Das flaue Gefühl in ihrem Magen wollte einfach nicht aufhören.
Marie war ebenfalls keine große Hilfe.
"Emma, mein Leben ist vorbei. Definitiv." klagte sie mit theatralischer Miene, als sie sich am Samstag Vormittag zum gemeinsamen Frühstück in ihrem Lieblingscafé setzten.
Es war einer der letzten angenehmen Tage in diesem Herbst, da waren sich die Meteorologen einig und Emma und Marie waren nicht die einzigen, die diese vermeintlich letzte Chance auf einen Stadtbummel nutzten.
Das kleine Café war überfüllt, genau wie die komplette Innenstadt.
Emma schlug die Speisekarte auf und schenkte Marie ein aufmerksames Lächeln. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich irrst."
"Nein. Ganz ehrlich. Ich kann mich jetzt sofort einäschern lassen. Glaub mir." erklärte Marie.
"Okay."
"Emma!"
"Was denn? Möchtest du Rosen oder Lilien für die Trauerfeier?"
Marie war empört. "Du bist gemein."
"Wer redet denn hier von seinem eigenen Tod?" konterte Emma.
Marie schüttelte den Kopf.
"Über sowas macht man keine Scherze! Ich leide hier wirklich!"
Emma kicherte.
Ein Kellner kam an den Tisch und warf ihnen einen argwöhnischen Blick zu.
Emma konnte sich denken, was ihm gerade durch den Kopf ging.
"Grüner Tee, ein Glas Orangensaft und die Nummer vier bitte." orderte Emma.
"Haben Sie auch Schnaps?" wollte Marie wissen. Ihr Blick war voller gespieltem Seelenschmerz.
Der Kellner schüttelte hilflos den Kopf. "Tut mir Leid..."
"Dann einen großen Kaffee und das Frühstück mit den Waffeln." Marie seufzte.
Der junge Mann trottete davon und Marie konnte endlich fortfahren.
"Also."
"Also?"
"Also."
"Weshalb planst du denn jetzt, uns so plötzlich zu verlassen?" fragte Emma freundlich.
"Tobi."
"Der aus dem Internet? Ich dachte, du hättest ihn... naja. Von deiner Liste gestrichen?"
"Hab ich ja auch!" rief Marie so laut, dass das Pärchen am Nachbartisch sich erschrocken zu ihnen umdrehte.
Marie kicherte. "Hab ich ja auch." wiederholte sie leiser. "Ich hab mich doch mit diesem Ralf getroffen. Gestern. Ich meine, sein Bild war nett und so und ich dachte, ein Kaffee kann nicht schaden. Aber ich sag's dir. Das war eine Katastrophe."
"Also ist Ralf auch raus." fasste Emma zusammen.
Marie nickte eifrig.
"Und was hat das mit Tobi zu tun?"
"Er hört einfach nicht auf, mir Nachrichten zu schicken!" klagte Marie.
"Das ist natürlich dramatisch." Emma schüttelte den Kopf.
"Luxusprobleme" wäre wohl der Fachbegriff.
"Ja! Dabei ist er wirklich langweilig."
"Was schreibt er dir denn?"
"Ach, das Übliche."
"Soso."
Der Kellner kam zurück und platzierte ein ganzes Tablett voller Tellerchen, Tassen, Gläser und Schalen.
Marie schnappte sich den Teller mit den Waffeln, Emma angelte sich ein Vollkornbrötchen.
Für einen Moment herrschte Ruhe am Tisch.
Gefräßige Stille, wie Emmas Vater gerne sagte.
"Ich muss noch ein Geschenk für meinen Vater abholten." murmelte sie in Gedanken.
Marie zog die Augenbraue hoch.
"Emma, ich hab hier ernste Schwierigkeiten!"
"Mit den Waffeln?"
"Nein! Die Sache mit Tobi! Mensch!"
Emma lachte. Manchmal machte es wirklich Spaß, Marie so zu ärgern. Zumal es wirklich einfach war.
"Ich hab dein Problem immer noch nicht ganz verstanden. Was ist falsch daran, wenn er dir Nachrichten schickt?"
"Er will, dass wir Freunde sind! Ich meine... Freunde! Ich such doch keinen Kumpel, Mensch." schimpfte Marie.
"Hast du ihm das gesagt?"
"Naja..."
"Naja?"
"Naja. Du verstehst das einfach nicht." klagte Marie.
Emma nickte. "Ganz eindeutig."
Sie wischte ein paar verirrte Krümel vom Tisch und warf einen Blick aus dem Fenster. "Wenn wir noch in die Altstadt wollen, sollten wir uns ein bisschen beeilen."
Marie sah sie verwundert an. "Wieso? Es ist doch noch früh."
Emma nickte. "Aber du willst ja auch noch ins Einkaufszentrum und ich muss zum Buchladen in der Wagnerstraße."
"Wagnerstraße? Das ist der totale Umweg."
Emma nickte.
Aber es war der einzige Weg, der nicht am "Flowers" vorbeiführte.
Am Sonntag, als die Blätter im Wald bereits die Farbe wechselten und Lenny anfing, den munter gewordenen Igeln hinterher zu schnüffeln, beschloss Emma, dass es an der Zeit war, ihren Kleiderschrank für den Winter umzurüsten.
Sorgfältig zog sie alles heraus, was sich nicht wenigstens mit einer dicken Strickweste oder Wollstrumpfhosen kombinieren lass und verstaute die Sachen ordentlich in einer Kiste.
Im Keller wartete bereits eine Kollektion sagenhaft farbloser Winterpullover und Stoffhosen.
Zu Guter Letzt, als alle Kleidungsstücke ordentlich auf den Bügeln hingen, stieß Emma auf das rote Kleid.
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.
Das hatte sie ja ganz vergessen.
Es war wirklich an der Zeit, dass sie es verschwinden lies.
Am besten, beschloss Emma, war es, wenn sie es Freya einfach zurück gab. Ihre Schwester würde am besten wissen, was damit anzufangen war.
Zufrieden mit ihrem Einfall holte Emma eine kleine Reisetasche aus der Schublade und legte das Kleid ordentlich hinein.
Bis zum Geburtstag ihres Vaters waren es nicht mehr lang und sie hatte versprochen, ein paar Tage zu bleiben um auch bei den Vorbereitungen helfen zu können.
Dafür würde sie die Tasche ohnehin packen müssen.
Emma zog den Reisverschluss der Tasche zu, platzierte sie ordentlich auf dem Boden neben dem Schrank und wollte sich gerade im Wohnzimmer mit den "Hundert Jahren Einsamkeit" beschäftigen, als ihr Handy klingelte.
"Ja bitte?"
Innerlich stellte sie sich bereits auf Maries anklagende Stimme ein, die ihr – zum achten Mal an diesem Nachmittag – von einer neuen Nachricht des ominösen Tobis berichtete.
Überrascht stellte sie fest, dass es sich um eine andere Anruferin handelte.
"Ich bin's!" sagte Lola.
"Oh! Hallo! Wie geht's dir? Wo bist du?" rief Emma aufgeregt.
Lola lachte. "Keine Panik, Kleine. Alles gut."
"Ich dachte... weil du neulich..."
Ja, was denn eigentlich?
Emma wollte nicht zugeben, dass sie Marc beobachtet hatte. Und auch nicht, dass sie sich tatsächlich Sorgen gemacht hatte.
"Ich war bei meiner Mum." berichtete Lola gut gelaunt. "Sie hat nen neuen Job, als Nageldesignerin..."
"Doch kein Café auf Mallorca?"
"Nee..." sagte Lola gedehnt. "Die hat doch nicht mal nen gültigen Reisepass."
"Okay."
"Naja, ich dachte, vielleicht springt ja was für mich ab ,wenn sie jetzt wieder arbeitet und so..."
Emma konnte Lolas gequälten Gesichtsausdruck bildlich vor sich sehen.
Im Gegensatz zu Lolas Mum war Clara Maler geradezu eine Koryphäe in Sachen Fürsorge und Mutterliebe.
"Naja. Ich bin jetzt wieder da."
"Schön zu hören." sagte Emma aufrichtig.
"Allerdings."
Die beiden schwiegen für einen Moment.
Dann sagte Lola ganz leise, so dass Emma es kaum verstehen konnte: "Sag Marie nichts davon, okay? Muss ja nicht jeder wissen."
Das lange Wochenende, dass dank Feiertag und Dr. Schumachers Beschluss, einen Tag Sonderurlaub für seine Abteilung zu gewähren, ganze vier Tage zählte, rückte näher und veranlasste vor allem Katja zum Pläneschmieden.
"Ich bin so gespannt, wohin er mich dieses Mal entführt!" mit einem Knall landete ihr Tablett auf dem Tisch, direkt neben Emmas Mittagessen und ihrer Lektüre.
"Kevin?" Sie kannte die Antwort auf die Frage bereits.
Katja nickte eifrig. "Natürlich! Letzte Woche konnte er nicht... Geschäftsreise oder so. Aber diese Woche! Ich wette, wir machen was ganz tolles!"
Emma nickte. "Wird sicher schön."
Ihre Pläne für das Wochenende standen bereits fest. Sie würde heute Abend, direkt nach der Arbeit, zu ihren Eltern fahren und erst am Sonntag, nach der Geburtstagsfeier, zurückkehren.
Es gab Probleme mit dem Caterer und der Gästeliste und Clara hatte ihr bereits am Telefon erklärt, dass man unbedingt mit einem plötzlichen Wetterbruch rechnen musste, der die Gäste vom Kommen abhalten könnte.
Eine Katastrophe.
"Ich hoffe, das Hotel hat dieses Mal einen Pool." überlegte Katja laut. "Das war so unangenehm letztes Mal!"
"Habt ihr euch auch schon mal..." Emma überlegte "Wo anders getroffen?"
"Was meinst du?" wollte Katja wissen.
"Naja. Nicht im Hotel?"
"Sondern?"
"Bei ihm zu Hause!"
Erst lachte Katja, dann wurde sie nachdenklich. "Hmm."
Emma schwieg.
Nicole und ein paar Damen aus der Verwaltung marschierten an ihnen vorbei und für einen Moment war Katja ganz damit beschäftigt, die Assistentin aus ganzem Herzen zu hassen.
Der dubiose Rosenstrauß war längst verblüht – noch bevor die eigentliche Empfängerin, ein schüchternes Mädchen aus der Medizintechnik im sechsten Stock, ermittelt werden konnte.
"So eine Ziege." knurrte Katja hörbar.
"Irgendwann kriegst du noch Ärger mit Dr. Schumacher." prophezeite Emma leise.
"Na und? Dann geh ich halt." erklärte Katja ungerührt.
"Ich wette, Kevin macht mir noch vor Weihnachten einen Heiratsantrag. Und dann ist das ganze hier eh vergessen!"
Darauf wusste auch Emma keine Antwort mehr.
"Du hast den Hund schon wieder mitgebracht?" lautete Claras Begrüßung.
Emma blieb nichts anderes übrig als zu nicken.
Lenny hatte es sich bereits auf dem warmen Teppichboden am Kamin gemütlich gemacht.
"Ich kann ihn nicht das ganze Wochenende alleine lassen."
"Was ist denn mit deinen Nachbarn? Da ist er doch sonst immer!"
"Die sind selbst im Urlaub." Emma lächelte standhaft. "Er wird schon niemanden stören."
Claras Blick verriet, dass sie ganz anderer Meinung war.
"Hallo Papa!" Emma beschloss, das Thema zu beenden und begrüßte stattdessen ihren Vater.
Sie drückte ihm ein Küsschen auf die Wange und nahm neben ihm auf dem großen Ledersofa Platz.
"Ach, du bist ja schon da, mein Kind!"
Durchaus.
Seit stolzen fünf Minuten.
Er legte mit einem Seufzen sein Buch zur Seite und richtete sich auf. "Also Emma."
"Ja?"
"Geht es dir gut?"
"Natürlich." sie lächelte.
Sehr schön.
Damit war sein Beitrag zur Konversation geleistet.
Clara kam aus der Küche zurück und verkündete, dass das Abendessen noch einen Moment auf sich warten lassen würde.
"Wie wäre es, wenn du nach oben gehst und Freya Bescheid gibst?" schlug sie an ihre Tochter gewandt vor.
Emma, die nicht erwarten konnte, dass die Unterhaltungen im Wohnzimmer noch viel erfreulicher wurden, schnappte sich ihre Tasche und machte sich, gefolgt von Lenny, auf den Weg ins obere Stockwerk.
Das Zimmer, dass früher ihres gewesen war, hatte Clara mittlerweile zu einem Atelier für Freya umgebaut: Staffeleien, ein Klavier und jede Menge Bücherregale, alles von einer dicken Staubschicht bedeckt.
Die Ware Begeisterung für die Kunst war in Freya trotz aller Bemühungen nicht aufgekommen.
Emma fand ihre Schwester stattdessen an deren Lieblingsort: Dem großen Badezimmer am Ende des Flurs.
"Emma! Was machst du denn hier?!" mit gespreizten Fingern um den frisch aufgetragenen Nagellack nicht zu beschädigen schloss Freya sie in die Arme.
"Unsere Mutter schickt mich."
"Ach."
"Ja."
"Ist es schon so spät? Ach Emma, ich hab die Zeit ja ganz vergessen!"
Emma lächelte.
Freya trug bereits ein wirklich hübsches Kleidchen aus dunkler Seide und eine großzügige Portion Make-Up.
Ihr linkes Auge war dunkel geschminkt während das rechte noch jungfräulich zwinkerte.
Die Kunst, sich selbst zu verschönern beherrschte Freya auf jeden Fall.
Sie ging zurück ins Bad und Emma blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
"Und, was gibts Neues in der Stadt?" fragte die Schwester fröhlich und wandte sich wieder dem Spiegel zu.
Emma nahm auf dem Rand der Badewanne platz und beobachtete, wie Lenny die beheizten Fließen beschnüffelte. So einen Luxus gab es ihrer Wohnung nicht.
"Ach, alles beim Alten." sagte Emma schlicht.
Keine der kleinen Geschichten aus ihrem Leben wären spannend genug gewesen, um Freya auch nur eine Sekunde von ihrem Spiegelbild wegzulocken.
Außerdem war Emma auch nicht nach Erzählen zumute.
"Wie schade."
"Naja. Wenigstens gibt es keine schlechten Neuigkeiten."
Freya lachte.
"Ach Emma! Sowas kannst auch nur du sagen!"
Phil – oder besser gesagt Pauls Geschichte über ihn – hatte Freya wohl schon längst wieder aus ihren Gedanken gestrichen.
Wenigstens das.
"Emma, du musst am Freitag unbedingt mit uns mitkommen." sagte Freya während sie sich goldenen Perlenstecker in die Ohren steckte.
"Wohin denn?"
Der Freitag war der geschenkte Brückentag – der Tag vor der großen Feier! - und Emma war sich ziemlich sicher, dass Clara nicht unbedingt erfreut über die Abwesenheit ihrer kostenlosen Helferin sein würde.
"Im Dorf gibt es diese super schicke neue Boutique! Lisa und ich wollen da hin!"
Lisa Neumann war ein Mädchen aus der Nachbarschaft und eine der wenigen Freundinnen, die Freya verzeichnen konnte. Emma vermutete, dass das auch damit zusammenhing dass Lisa eine der Arzthelferinnen aus der Praxis ihres Vaters war und sich deshalb aus der Freundschaft zu Freya einen gewissen Vorteil erhoffte.
Natürlich hätte sie diesen Verdacht nie ausgesprochen.
"Komm schon, Emma du musst einfach mitkommen! Wir kaufen dir auch was Hübsches, okay?"
Emma lächelte.
"Wenn unsere Mutter nichts dagegen hat."
"Ach Emma!"
Ein Abendessen und ein langer, verregneter Tag im Haus ihrer Eltern reichten um Emma von den Plänen ihrer Schwester zu überzeugen.
Sie war vielleicht kein großer Fan von Ausflügen an der Seite ihrer hinreisenden Schwester, aber noch weniger konnte sie sich mit dem Gedanken anfreunden, alleine mit Clara im Haus zu bleiben und noch einmal über die richtige Höhe der Kerzen auf der Torte diskutieren zu müssen.
Bewaffnet mit Schirm, Mantel und dem Hund machten Emma und Freya sich auf den Weg.
Lisa, die Emma selbst noch aus ihrer Schulzeit kannte, wartete bereits vor dem kleinen Laden.
Sie war ein großes, nicht unbedingt als schlank zu bezeichnendes Mädchen, dass versuchte, die roten Flecken die sich auf Hals und Stirn abzeichneten, sobald sie nervös wurde, mit langen ungleichmäßig blonden Haaren zu verdecken.
Egal wie wohlwollend man Lisa gegenüber trat: Sie war einfach kein besonders hübsches Mädchen.
Ihre schmalen, grauen Augen blitzten, als sie Freya kommen sah.
"Süße! Da bist du ja endlich!"
Lisas Stimme erinnerte entfernt an ein heißeres Schaf und trug nicht unbedingt dazu bei, sie attraktiver zu finden.
Emma sah zu, wie Freya und Lisa sich umarmten. Ohne Umschweife fing Lisa an, ihrer Freundin von allem zu berichten, was in den letzten zehn Minuten geschehen war und legte dabei eine ähnliche Liebe zum Detail an den Tag wie Freya.
"Wir sind wohl erstmal abgeschrieben." sagte jemand neben Emma.
Sie drehte sich um.
Ein ebenfalls ziemlich großer junger Mann, der eben noch neben Lisa gestanden und ein unbeteiligtes Gesicht gemacht hatte, kam auf sie zu.
Emma erinnerte sich entfernt daran, dass Lisa einen Bruder hatte.
"Jakob?" riet sie.
Er grinste. "Erraten! Hallo Emma!"
Sie lächelte erleichtert.
"Du bist sicher auch hier wegen dem großen Ereignis!" meinte Jakob freundlich.
Freya und Lisa unterbrachen ihren Redeschwall für einen Moment, um endlich den Laden zu betreten.
Emma und Jakob folgten ihnen.
"Wenn du den Geburtstag von meinem Vater meinst, ja. Kommt ihr auch?"
"Tatsächlich. Deine Mutter hatte wohl einen Ausfall auf ihrer Gästeliste und jetzt ist Platz für uns."
Emma nickte.
Dieses Mal handelte es sich nicht um eine "offene Runde", wie auf den Partys im Sommer.
Weil man drinnen feiern musste und es ein gesetztes Essen geben sollte, war die Zahl der Gäste begrenzt.
Für Emma war das besonders beruhigend, weil alle Namen der Anwesenden bereits vorher feststanden.
Abgesehen von ein paar Anhängseln, die noch nicht namentlich bekannt waren würde es dieses Mal also keine Überraschungen geben.
Zum Glück.
Freya und Lisa hatten bereits eine stattliche Auswahl an Kleidungsstücken von den Bügeln gezerrt und machten sich, immer noch plappernd auf den Weg zu den Umkleidekabinen.
"Meine Schwester ist schon total aufgeregt." berichtete Jakob.
Emma nickte. "Merkt man."
"Sie tut grade so, als wäre es das erste Mal, dass sie unter Leute darf!" er lachte.
Emma fiel keine höfliche Antwort darauf ein, deswegen wechselte sie das Thema.
"Bist du nicht schon vor ein paar Jahren weggezogen? Ich dachte, du wohnst gar nicht mehr hier."
Jakob nickte.
"Stimmt. Ich wohnte schon lange in München, aber... naja. DU weißt ja, wie das ist. Wenn man nicht ab und zu nach Hause kommt werden die lieben Eltern irgendwann unangenehm."
Emma nickte. "Allerdings."
"Abgesehen davon wollte ich mir unbedingt den neuen Freund meiner kleinen Schwester mal näher angucken." er grinste verstohlen.
Die Vorhänge der Umkleidekabinen wurden aufgerissen und im nächsten Moment standen Freya und Lisa in ihrer ganzen Pracht vor Emma und Jakob.
Freya trug ein Kleid, dass durchaus den Titel atemberaubend verdiente, Lisas Outfit erinnerte eher an moderne Kunst.
"Wie findest du mich?!" rief Freya und streckte die Arme aus.
Emma lächelte.
Wie eine Puppe drehte ihre Schwester sich um die eigene Achse und präsentierte die Pracht.
"Wirklich schön." erklärte Emma.
Jakob grinste noch immer frech.
"Und ich? Meinst du, das steht mir?" rief Lisa.
Freya strahlte. "Ach Süße! Dir steht doch alles!"
Lisa war überglücklich und Freya, stolz auf ihre gute Tat, ebenfalls.
"Jetzt bist du dran, Emma. Komm schon! Da drüben, dieses Seidentop, das steht dir bestimmt toll!" sie schnappte sich den Arm ihrer Schwester.
Emma hatte gerade noch Zeit um Jakob die Hundeleine in die Hand zu drücken, dann wurde sie von Freya quer durch den Raum gezerrt.
"Das musst du anprobieren!" Freya schnappte sich erst ein hellbraunes Kleid und anschließend einen ziemlich knappen Wildlederrock.
Emma lies es geschehen.
Sie warf Jakob, der es sich mit seinem breiten Grinsen in einem Sessel gemütlich gemacht hatte und Lenny die Ohren kraulte, einen kurzen, hilfesuchenden Blick zu.
Freya dagegen war voll in ihrem Element.
"Emma, schau doch mal! Guck mal!" Eine Hose und ein weiteres Oberteil landeten auf Freyas Arm. "Komm schon!"
Im nächsten Moment fand Emma sich in einer Umkleidekabine wieder.
Freya drapierte ihre Errungenschaften unordentlich auf einem kleinen Hocker und strahlte.
Als sie den Vorhang hinter sich zu zog flüsterte sie mit einem vielsagenden Lächeln: "Mit dem richtigen Outfit wickelst du Jakob morgen auf jeden Fall um den Finger!"
Emma wollte niemanden um den Finger wickeln.
Ganz und gar nicht.
Alles, was sie wollte, war eine Tasse Pfefferminztee und die Ruhe ihrer kleinen Wohnung in der Stadt.
Leider war im Moment beides unerreichbar.
Sie stand im Eingangsbereich der elterlichen Villa, zupfte mutlos an ihrem neuen Kleid – cremefarbene Seide, ein echter Hingucker!, wie Freya ihr mehrfach versichert hatte – und überprüfte, bereits zum zweiten Mal heute, ob die kleinen Scheinwerfer im Vorgarten auch alle funktioninsfähig waren.
Nicht, dass sich Claras Angst doch noch bewahrheitete und einer der sorgfältig ausgewählten Gäste sich noch vor der Party den Fuß brach!
Emma betätigte mehrmals den Schalter und zählte.
Tatsache.
Zwölf kleine Lampen beleuchteten den Kiesweg.
Dann konnte ja fast nichts mehr schief gehen.
"Was machst du denn hier?" Freya kam die Treppe herunter geschwebt.
"Ich überwache die Lichttechnik."
"Was?"
"Unsere Mutter hat Angst, dass die Lampen ihren Dienst aufgeben und sich jemand den Hals bricht."
"Oh. Das wäre natürlich blöd." Freya warf ebenfalls einen besorgten Blick in den Vorgarten.
Ironie war nicht gerade ihre Stärke.
Die erste Gruppe Gäste kam durch das Lichtermeer gewandert.
"Kannst du erkennen, wer das ist?" fragte Freya aufgeregt. "Ich hoffe, Alex kommt bald. Ich fühle mich immer so... so, na du weißt schon. Es ist doof wenn er nicht da ist."
Emma nickte.
"Ich glaube, das sind die Hofmanns." sagte sie dann aber zu Freyas Enttäuschung.
In Gedanken hakte Emma dreimal Hofmann plus einmal Anhang ab.
Höflich traten die Mädchen zur Seite und begrüßten die ersten Gäste.
Während Freya den Neuzugang ins Wohnzimmer, wo Clara und ihr Mann bereits mit Champagnergläsern in der Hand warteten, geleitete, blieb Emma an der Tür stehen und atmete noch einmal die kalte Luft von draußen ein.
Lange würde sie die Stille der Eingangshalle wohl nicht mehr genießen können.
Die nächsten, die eintrudelten waren Christiane und Klaus Gebauer, die Nachbarn, dicht gefolgt von Familie Markward nebst Anhang: Herr und Frau Markward, Alex, Paul und die ziemlich aufgedonnerte Sophie.
Langsam füllte sich das Wohnzimmer.
Emma wanderte zwischen Eingangsbereich und Esszimmer hin und her.
Endlich.
Um halb sieben tauchten zwei Gestalten im Vorgarten auf, die sie als Dr. Lehner und seine Frau erkannte.
Zwei Gestalten.
Keine dritte.
Kein unerwarteter Gast.
Emma entglitt ein leises Seufzen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie ins Wohnzimmer.
"Emma, da bist du ja! Hast du dich versteckt?!" Clara war sofort zur Stelle und drückte ihr ein Glas in die Hand.
Der Caterer, ein Spezialist in Sachen Molekularküche, träufelte kleine orangefarbene Likörkügelchen in ihr Glas.
"Ich war vorne..." sagte Emma leise.
"Emma, die Leute finden schon selber herein. Unterhalte dich lieber!"
Emma nickte ergeben.
Was immer Clara wünschte.
Da die meisten Gäste im Raum bereits bestens unterhalten waren, gesellte Emma sich zu ihrer Schwester.
Freya und Alex standen Arm in Arm am Geschenketisch und tauschten sich mit Paul und Sophie – ihrerseits händchenhaltend – über die Farbe des Geschenkpapiers aus.
"Ich finde, wenn man etwas Grünes verschenkt, dann sollte es zumindest eine Blüte haben." erklärte Freya gerade.
Sophie nickte eifrig. "Unbedingt. Ich finde sowieso, grün ist eine ganz schlimme Farbe."
Emma stellte sich neben die beiden glücklichen Pärchen und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass die vier auch ohne sie nicht gerade gelangweilt wirkten.
Sie wusste noch nicht, ob sie sich wirklich an dieser Unterhaltung beteiligen wollte.
"Na Emma? Wie geht's dir so?" fragte Alex, der trotz der hitzigen Farbendebatte nicht ganz unglücklich über einen Themenwechsel schien.
"Mir geht's wunderbar." erklärte Emma, wieder einmal. "Und du? Was macht das Examen?"
"Ohje. Das darfst du mich nach Weihnachten noch einmal fragen, wenn ich es tatsächlich schreiben muss!" Alex lachte. "Manchmal beneide ich deine Schwester wirklich. Im dritten Semester muss man sich um so etwas noch keine Gedanken machen."
Freya kicherte. "Ach..."
"Wir leiden alle sehr mit meinem Bruder." schaltete sich jetzt auch Paul ein.
Etwas in seinem Blick, mit dem er Emma eher beiläufig bedachte, beunruhigte sie.
"Ich wäre ja wirklich froh, wenn ich das ganze endlich hinter mir hätte." erklärte Sophie. Die vielen Armreifen, die sie um die zierlichen Handgelenke klimperten zustimmend. "Ich meine, da soll man den ganzen Vormittag in der Universität sitzen und nachmittags, wenn man eigentlich frei haben sollte, wollen sie, das man noch mehr Bücher liest! Und dann die ganzen Hausübungen!" sie schüttelte den Kopf.
"Ehrlich, Emma. Du hast es gut. Du hast deinen Job und abends kannst du machen, was du willst."
Emma nickte.
Natürlich. Wenn sie nach neun Stunden monotoner Arbeit im Institut noch Energie übrig hatte stand ihr definitiv die ganze Welt offen. Leider war das sehr viel seltener der Fall, als Sophie es sich gerade erträumte.
"Ehrlich Emma. Du hast es gut." stimmte auch Freya großzügig mit ein.
"Arbeitest du denn noch in diesem Institut? In der Wilhelmstraße?" wollte Paul anschließend wissen.
Da war er wieder dieser Blick.
Emma zögerte einen Moment – das mulmige Gefühl in ihrem Bauch machte sich wieder breit – dann rang sie sich zu einem erneuten Nicken durch. "Natürlich."
"Welchen Grund sollte Emma auch haben, den Job zu wechseln?" lachte Alex. "Du hast Ideen, Paulchen."
Paul lächelte. "Man weiß ja nie..."
Freya ging dazu über, die Anzahl der Paare im Raum zu zählen – ganz sechzehn Paare und nur drei Gäste, die alleine herumstanden, Emma einmal nicht mitgezählt – und Emma bemühte sich, den passenden, unbeschwerten Gesichtsausdruck dazu zustande zu bringen.
Noch immer spürte sie, wie Pauls Blicke sie ein ums andere Mal streiften.
An den möglichen Grund dafür wollte sie lieber gar nicht denken.
"Seht mal, da ist Rosa Wolfer, da drüben." sagte Freya kichernd und zeigte auf eine junge Frau, deren Kleid etwas zu gut zu ihrem Namen passte.
"Das ist Rosa? Hast du nicht gesagt, sie wäre... naja... hübsch?" Sophie schüttelte fast schon angewidert den Kopf. "Ist das da ihr Freund?"
"Achwas. Das ist ihr Cousin glaube ich." flüsterte Freya.
Sophie kicherte amüsiert.
"Oh, schau mal..." Freya hatte ein neues Gesicht entdeckt. "Da drüben, das ist die von der ich dir erzählt habe."
"Die mit der..." Sophie legte den Kopf schief und die Stirn in Falten. "... ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, als was diese Frisur zu bezeichnen ist!"
"Du bist gemein!" Freya lachte. "Das ist Lisa, die Arzthelferin. Ich hab dir von ihr erzählt. Ein nettes Ding..."
"Was man von ihrer Frisur nicht gerade behaupten kann." Sophie kicherte ebenfalls.
Emma fiel es immer schwerer, unbeschwert zu lächeln.
Wer konnte schon sagen, wie die beiden Tratschtanten sich über sie ausließen, sobald sie ihnen den Rücken zudrehte?
"Oh, sie kommt rüber!" stellte Sophie fest. Das Kichern wurde gegen ein höfliches Grinsen eingetauscht.
"Ist das... ist das ihr Freund?" Freya bekam mit einem Mal große Augen.
Sophie folgte ihrem Blick.
"Nein. Das ist..." sie wurde ganz blass und zupfte aufgeregt an Pauls Ärmel. "Paul, sieh doch mal, wer da ist!"
"Das kann doch nicht ihr Freund sein!" stellte Freya noch einmal fest.
Emma, die der ganzen Szene den Rücken zugewandt hatte, sah von ihrer Schwester zu Sophie und dann zu Paul.
Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, dann erkannte Emma, dass er sie noch immer beobachtete.
Und das nicht grundlos.
"Phil! Da bist du ja!" mit einem letzten Augenzwinkern schob Paul sich an Emma vorbei und umarmte jemanden, der hinter ihr stand.
"Wie ich versprochen habe!"
Emma musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, wer da neben ihr stand.
Das Gewirr aus Stimmen, dass augenblicklich einsetzte drang wie durch Watte zu ihr.
"Hallo Alex! Lange nicht mehr gesehen!"
"Lisa, ist das... ist das...?" das war Freyas Stimme.
"Was machst du denn hier?" Sophie und der klimpernde Armschmuck.
"Hi... ich bin übrigens Lisa."
"Was für eine Überraschung, Phil! Warum hast du denn nichts gesagt?" schon wieder Sophie.
Eine andere Stimme erlöste Emma schließlich.
Clara sorgte lautstark für Ruhe, damit ihr Mann seine Gäste auch angemessen begrüßen konnte.
Die Gespräche um Emma herum verstummten und stattdessen war das leise Rascheln der Kleider zu hören, während sich die Gästeschar zu ihrem Gastgeber umdrehte.
Emma versuchte, ruhig zu atmen.
Phil hatte sich direkt neben ihr postiert.
Sie sah nur die edlen, frisch polierten Schuhe direkt neben ihren verblassten Ballerinas, aber das allein reichte schon, um die Gedanken in ihrem Kopf wieder einmal zum rotieren zu bringen.
Was hatte das zu bedeuten?
Was wollte er hier?
Er ist wegen Lisa hier, redete sie sich ein. Wegen Lisa.
Warum auch nicht?
Sie war, unter den ungepflegten Haaren und ihrem ewigen, nichtssagenden Geplapper, sicherlich ein tolles Mädchen.
Wer wusste schon, welche außergewöhnlichen Talente für sie sprachen?
Es stand Emma nicht zu, über sie zu urteilen.
Vielleicht war sie ja genau Phils Typ.
Es mussten ja schließlich nicht immer die schönen und charmanten sein, die Glück hatten.
Immerhin hatte er auch mit ihr, der unscheinbaren kleinen Emma geflirtet!
Lisa war einfach nur diejenige gewesen, die ihre Chance auch genutzt hatte.
Ganz im Gegenteil zu ihr.
Emma zwang sich, geradeaus zu sehen.
Die Ansprache von Herrn Maler fiel, wie zu erwarten, eher kurz aus und es war schließlich an Clara, die Anwesenden an den Tisch zu rufen, damit das Menü serviert werden konnte.
Die kleine Gruppe am Geschenketisch setzte sich in Bewegung und auch Emma schaffte es irgendwie, den Weg zum Esstisch zurückzulegen.
Sie entdeckte ihren Namen am Kopfende. Gegenüber saßen Freya und Alex, neben ihr hatte Frau Markward Platz genommen.
Lisa und Phil saßen bei Lisas übriger Familie sehr viel weiter unten am Tisch.
Emma atmete tief durch.
Sie hatte das Wiedersehen überlegt.
Das schlimmste war vorbei.
Hoffentlich.
Das Abendessen zog sich wie Kaugummi.
Der Caterer mit dem Zauberkasten voller Pülverchen und Special-Effects zwang die Gäste, eine Basilikumpaste, die in kleine Plastikspritzen gefüllt war, in eine Art Tomatenwasser zu füllen und das ganze dann auch noch zu genießen.
Clara war begeistert von dieser Anspielung auf den Beruf ihres Mannes.
Emma fand, dass das Gemisch, nachdem die Paste im heißen Wasser auch noch begann, sich zu verdicken, stark an Dinge erinnerte, die sie lieber nicht essen wollte.
Zum Glück warteten noch sechs weitere Gänge und schließlich sogar etwas zu Essen.
Das Spektakel fand seinen Höhepunkt in einem Nachtischbuffet, dass in der Mitte des Raums aufgebaut wurde.
Mit großem "Ah" und "Oh" beobachteten die Anwesenden, wie eine Reihe Service-Kräfte mit dicken Schutzbrillen die Deckel der metallisch glänzenden Plastikbehälter öffnete und dichter Nebel herausströmte.
Applaus.
"Ist das nicht ganz wunderbar?" Clara war die erste, die der Einladung des Küchenchefs folgte und ein Pfefferminzblatt in der Flüssigkeit, die in den Behältern brodelte, versenkte. "Unglaublich!"
Emma rang sich ein nett gemeintes Lächeln ab – für sie war die Wirkweise von flüssigem Stickstoff nicht mehr ganz so faszinierend wie für ihre Mutter – und nutzte die Gelegenheit, sich aus dem Raum zu stehlen.
Lenny, der das Wohnzimmer während der Party nicht betreten durfte, lag im Arbeitszimmer auf dem historisch anmutenden Perser und kaute auf den traurigen Resten eines Gummi-Hühnchens herum.
Emma überprüfte den Wassernapf, den ihr Vater freundlicherweise neben seinem Schreibtisch duldete und setzte sich dann zu dem Hund auf den Boden.
Sie streifte die Schuhe von den Füßen und streckte ihre Beine.
Und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Das war es also, war das erste was ihr einfiel.
Ihre Pläne, die Ausweichtaktik, der tägliche Umweg – es hatte nichts genutzt.
Sie hatte ihn wieder getroffen.
Seine Haare waren ein bisschen länger geworden.
Hatte er schon immer so gut ausgesehen?
Emma wurde rot, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte.
Wo war die Enttäuschung hin?
Wo war ihre Entschlossenheit, ihn nie wieder sehen zu wollen?
Er hatte sie blamiert! Er hatte sie verletzt!
Sie sollte wütend sein. Oder wenigstens gleichgültig.
Aber das einzige, an dass sie denken konnte war das breite Lächeln, während er sich gut gelaunt mit allen am Tisch unterhielt. Als wäre er ein alter Freund.
Ein ehrliches Lächeln dass seinem Gesicht etwas junges, unschuldiges gab.
Emma spürte, wie der Kloß in ihrem Hals dicker wurde.
Ein Lächeln, dass jetzt Lisa galt.
Wie schön.
Mit zitternden Fingern fuhr Emma durch Lennys dichtes, warmes Fell.
So fühlte es sich also an. Eifersucht.
Mit einem Mal verstand Emma, weshalb Marie die Nächte vor dem Kühlschrank verbracht hatte, als Lars sie vor zwei Jahren betrogen hatte.
Und warum Julia, die so unsterblich in den netten Kerl aus dem zweiten Stock verliebt war, tagelang ihr Zimmer nicht verlassen wollte, wenn er wieder einmal eine seiner Wochenendbekanntschaften mit nach Hause brachte.
Lola, fiel ihr ein. Die hatte solche Probleme nicht. Jedenfalls nicht mit Männern.
Ein leises Geräusch holte Emma aus ihrem Gedankenchaos.
Durch die geöffnete Tür fiel eine handbreit Licht in den dunklen Raum. Ein Schatten trat hinter Emma.
Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und richtete sich auf.
"Ach, hier bist du!"
Sie blinzelte.
Der Schatten verwandelte sich in Jakob.
Emma war gleich noch mehr zum Heulen zumute.
Jakob. Natürlich.
Wer sonst?
Welchen Grund sollte Phil haben, nach ihr zu suchen? Der war doch mit seiner Lisa beschäftigt!
Jakob durchquerte den Raum und kniete sich neben Emma auf den Boden.
Eine unbestimmte Mischung aus Neugier und Besorgnis lag in seinen grauen Augen.
"Geht's dir nicht gut?"
Emma blinzelte eine weitere Träne weg. "Ich wollte nur nach dem Hund sehen. Alles wunderbar."
Jakob glaubte ihr kein Wort.
Sein Blick glitt über ihr gerötetes Gesicht zu ihren nackten Füßen auf dem Teppich.
"Bist du sicher?"
Emma nickte tapfer.
Schon wieder schossen ihr die Tränen in die Augen.
Was wollte er hier?
Konnte er nicht einfach gehen?
Sie alleine lassen?
Jakob, sichtlich verwirrt über ihr Verhalten, richtete sich langsam wieder auf. "Deine Mutter sucht nach dir. Beziehungsweise, sie lässt suchen. Sie will den Kuchen anschneiden." teilte er ihr mit, offensichtlich unschlüssig darüber, ob Emma dieses Information überhaupt interessierte.
Sie nickte.
"Ich komme gleich." sagte sie und hoffte, dass er endlich gehen würde.
Er dachte gar nicht daran.
Geduldig blieb Jakob in der Tür stehen und beobachtete sie.
Zögernd schlüpfte Emma wieder in die Schuhe und richtete sich auf.
Er streckte eine Hand aus, um ihr auf zu helfen.
Mit zitternden Knien steuerte sie auf die Tür zu, Jakobs Schatten im Rücken.
Im Eingangsbereich blieb sie stehen.
Durch die offene Tür drangen Stimmen, Gelächter.
Die Band spielte, es wurde getanzt.
Sie wollte etwas sagen.
Etwas, dass ihr Verhalten erklärte.
Er sollte nicht denken, dass... ja, was eigentlich?
Dass sie traurig war?
Dass sie unglücklich war?
Jakob musterte ihr Gesicht. "Ist was, Emma?"
"Ich..."
Er lächelte und kam näher.
Seine Hand berührte ihre.
Was sollte dass denn jetzt?
Was wollte er?
Emma wich zurück, erschrocken über die plötzliche Berührung, stolperte und landete rücklings auf dem kalten Fliesenboden.
Ihr Kopf schlug hart auf und für einen Moment wurde ihr schwindelig.
Als sie die Augen wieder öffnete sah sie eine ganze Reihe Gesichter vor sich.
"Hat sie sich verletzt?"
"Was ist denn passiert?"
"Sie ist einfach gestolpert!"
"Hast du sie geschubst?"
"Sie hat ja auch so wenig gegessen! Das ist sicher der Kreislauf!"
Emma blinzelte und die Gesichter nahmen Gestalt an.
Neben Jakob knieten Alex und Freya auf dem kalten Boden.
Sie wandte den Kopf.
Dort saß Phil und musterte sie besorgt.
"Soll ich Papa holen?" schlug Freya gerade vor.
Emma beeilte sich, sich aufzusetzen. "Nicht nötig." brachte sie geradeso hervor. Ihr Kopf dröhnte.
Mit zitternden Fingen befühlte sie ihren Hinterkopf.
"Das gibt sicher eine Beule." stellte Alex fest. Seiner guten Laune konnte der kleine Zwischenfall nichts anhaben.
Emma lächelte tapfer. "Es ist alles in Ordnung. Ich bin..." sie warf Jakob einen kurzen Blick zu "ich bin nur ausgerutscht."
"Oh, ich hab mir solche Sorgen gemacht!" rief Freya.
Alex und Phil halfen Emma langsam aufzustehen.
"Ich dachte schon, dir wär was passiert! Wir haben ja nur den Knall gehört und... ach Emma!" Freya umarmte sie stürmisch und Emma wurde sofort wieder schwindelig.
"Dann wollen wir mal nach dem Kuchen sehen, nicht?" schlug Alex vor und Freya stimmte fröhlich zu.
"Kommst du Emma?"
"Ich... ich glaube, ich..." Emma war nicht nach Kuchen zumute.
Jakob stand immer noch neben ihr und machte ebenfalls keine Anstalten, dem kulinarischen Spektakel beiwohnen zu wollen.
Auf der anderen Seite stand Phil, ebenfalls bewegungslos.
"Ich muss mich kurz hinsetzen." sagte Emma schließlich in die Stille hinein.
Sie machte einen unsicheren Schritt auf die Marmortreppe, die ins erste Stockwerk führte, zu. Eine Hand griff nach ihrem Arm um sie zu stützen.
Als sie aufsah, blickte sie direkt in Phils Augen.
Auf seinem Gesicht lag ein grimmiger, unwilliger Ausdruck. Kein Lächeln.
Sein Blick galt Jakob. "Du kannst gerne reingehen. Emma gehts gut." erklärte er.
Jakob blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls im Wohnzimmer zu verschwinden und Emma war erleichtert, als sie die Treppe erreichte.
Sie hatte erwartet dass Phil, der seinen Dienst ja nun getan hatte und ihr dabei sogar noch einen zweiten erwiesen hatte, in dem er Jakob wegschickte, jetzt ebenfalls gehen wollte.
Schließlich warteten im Wohnzimmer sowohl seine Freundin als auch eine riesige Sahnetorte.
Aber er setzte sich neben sie auf die Stufen und blickte sie unverwandt an.
Emma spürte, wie ihr Herz aufgeregt das Tempo erhöhte.
"Was wollte der denn von dir?" fragte Phil mit einem Mal unvermittelt.
"Wer?"
"Jakob."
Sie sah zu ihm hin, aber Phil wich ihrem Blick aus. Stattdessen begutachtete er konzentriert seine eigenen Schuhe.
"Er... er hat nach mir gesucht." erklärte sie dann. "Ich, ich glaube, ich hab mich nur erschreckt und bin dann hingefallen." sie lächelte schwach.
"Aha."
Erneutes Schweigen.
Während sie nebeneinander auf der Treppe saßen und Phil zur Abwechslung einmal nicht seine unendliche gute Laune zur Schau trug, nahm auch Emmas Gehirn ganz langsam die Arbeit wieder auf.
Was ging ihn das eigentlich an?
Schließlich war das ihr Haus, die Feier ihres Vaters und ganz allein ihre Sache, mit wem sie sich unterhielt und weshalb sie stolperte!
Ihr Name hatte auf der Gästeliste gestanden, sogar relativ weit oben.
Ganz im Gegensatz zu seinem.
"Und was machst du hier?" stellte sie schließlich die Frage, die sie schon den ganzen Abend beschäftigte.
Jetzt sah Phil doch auf.
Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht. "Ich war in der Nähe."
"In der Nähe?" wiederholte Emma ungläubig.
Sie wollte nach Lisa fragen, wollte wissen, wie lange das schon ging.
Aber, völlig ungeübt in diesen Themen, wusste Emma nicht, wie sie die Frage formulieren sollte.
Phil schien ihre Gedanken zu erraten.
"Hast du ein Problem damit, dass ich hier bin?" fragte er und fügte hinzu: "Oder mit meiner Begleitung?"
Emma fühlte sich ertappt.
"Quatsch." behauptete sie schnell.
Er zog eine Augenbraue nach oben.
"Weißt du Emma, nachdem du dich so vehement geweigert hast, mir mehr über deine Familie zu erzählen, dachte ich mir, ich komme her und schau mir das ganze nochmal live und exklusiv selber an."
Emma war sprachlos.
Was sollte das denn bitte schön heißen?
Machte er sich schon wieder über sie lustig?
Phil grinste.
"Ich habe mich nicht geweigert..." Emma hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
Sein Grinsen wurde noch etwas breiter.
Das Blitzen in seinen Augen kehrte zurück.
Ebenso wie Emmas Herzklopfen.
Sie dachte an den Abend im "Flowers". Sie war bereit gewesen, ihm alles zu erzählen! Er war es doch gewesen, der sie hinters Licht geführt hatte. Der sie vor seinen Kollegen vorgeführt hatte, wie eine Trophäe.
Emma wollte sich wehren oder ihm etwas gemeines an den Kopf werfen, aber ein Blick in sein Gesicht machte ihr Vorhaben unmöglich.
Dieses ehrliche, unverfälschte Lächeln, die Augen, die jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgten – wie war sie nur auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet Phil ihr etwas böses wollte?
Emma war mit einem Mal so überzeugt wie nie, dass es sich nur um ein Missverständnis gehandelt hatte.
Ein schreckliches Missverständnis, denn jetzt war es zu spät, die Sache wieder gut zu machen.
Sie hatte alles kaputt gemacht.
"Denkst du nicht, Lisa wartet schon auf dich?" fragte sie schließlich mutlos.
"Lisa?" Phil legte den Kopf schief, als müsste er sich sehr anstrengen, um sich an diesen Namen zu erinnern.
"Die ist ganz glücklich, glaube ich. Sie hat Sophie und Freya und..." er zuckte mit den Achseln "... und außerdem keine Gehirnerschütterung."
Das klang nicht gerade nach großer Sehnsucht.
Zum zweiten Mal an diesem Tag lernte Emma ein völlig neues Gefühl kennen. Genugtuung.
Vielleicht war das mit Lisa und Phil ja doch nichts ernstes?
"Ich habe auch keine Gehirnerschütterung." rutschte es Emma heraus.
"Willst du mich loswerden?" fragte er und straffte die Schultern. "Schon wieder?"
Emma spürte, wie sie rot wurde.
Sie entschied sich, zu schweigen.
"Weißt du Emma, du machst es einem nicht gerade leicht." stellte Phil schließlich fest.
"Oh."
"Immer, wenn wir uns sehen, komme ich mir vor wie ein Schwerverbrecher. Als hättest du Angst vor mir oder so." sagte er dann leiser.
Emma sah auf. Das hatte sie definitiv nicht beabsichtigt.
"Dabei meine ich es gar nicht böse." Das Grinsen war wieder verschwunden. Stattdessen suchte er mit ernsten Augen ihren Blick. "Ich wollte einfach nur das Mädchen kennen lernen, dass in einer Bar sitzt und ein Buch liest und dabei aussieht wie der glücklichste Mensch auf der Welt."
Sie wurde rot.
Schon wieder.
Warum sagte er das?
Was wollte er damit erreichen?
Wenn er ihr ein schlechtes Gewissen machen wollte – Mission erfüllt.
Aber Phil hörte nicht auf, zu reden.
"Ich weiß nicht, was du von mir denkst, Emma. Wirklich, ich verstehe dich nicht. Einmal denke ich, ich mache alles richtig und dass wir uns gut verstehen – das wir vielleicht sogar Freunde werden können! Und dann, dann bist du plötzlich wieder so unterkühlt und ignorierst du mich und verschwindest einfach. Dabei mag ich dich. Wirklich. So, wie du bist."
Er sagte es, ohne Vorwurf in der Stimme oder einen bösen Unterton.
Einfach nur, als würde er eine simple Tatsache schildern.
Versuch F64 abgeschlossen. Das Ergebnis ist negativ. Das Testobjekt weigert sich.
Emma wusste nicht, was sie sagen sollte.
Freunde werden – die Worte hallten ihrem Kopf wieder. Freunde werden.
Er mochte sie. Und er wollte einfach nur mit ihr befreundet sein.
"Freunde?" das Wort fiel einfach so, ohne Vorwarnung, aus ihrem Mund, landete unsanft auf dem Fließenboden vor ihnen und blieb, zertrümmert und hilflos liegen.
Das hatte sie nicht sagen wollen.
Sein Schweigen dauerte schon viel zu lange.
Emma wagte es nicht, aufzusehen.
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggelaufen.
Sie hörte, wie sein Jacket raschelte als er sich aufrichtete, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich seine Muskeln unter dem Hemd strafften.
Er war im Begriff zu gehen.
Sie hatte wieder einmal alles falsch gemacht.
Sie spürte, wie er aufstand, wie die Wärme die er ausgestrahlt hatte verschwand.
Seine Schuhe tauchten in ihrem Blickfeld auf, die dunkle Stoffhose darüber. Er stand direkt vor ihr und wartete.
Emma zwang sich, den Kopf zu heben.
Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hatte – mit einem Kopfschütteln vielleicht oder mit der ausdruckslosen Miene, die ihr mitteilte, dass er sie endgültig zu den Akten gelegt hatte.
Aber er lächelte.
Und er streckte ihr eine Hand hin, um sie hochzuziehen. "Freunde?" wiederholte er freundlich.
Emma ergriff die warme Hand und stand taumelnd auf.
Zum ersten Mal an diesem Abend musste sie sich nicht zu einem Lächeln zwingen.
Er grinste.
"Oh Emma."
Langsam gingen sie nebeneinander her durch die Eingangshalle auf das Wohnzimmer zu.
Die Kopfschmerzen waren vergessen, ihre zitternden Knie nicht.
"Du weißt, dass das heißt, dass du auch mit mir reden musst, wenn wir uns auf der Straße begegnen." sagte Phil mit einem Schmunzeln. "Und, dass du mir nicht mehr aus dem Weg gehen darfst!"
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2013
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