Mein Zuhause war nicht weit von der Grundschule, in die ich damals ging, entfernt. Nur der Sportplatz lag zwischen Pausenhof und unserer Wohnung. Schaute ich vom Balkon herab, sah ich auf eine große Wiese mit mehreren Ostbäumen, die zum greifen nahe standen. Ein mit Kieselsteinen bedeckter Feldweg führte zu angrenzenden Gärten, die sorgsam eingezäunt waren.
Ich lebte auf dem Land mit seinen eigenen Gesetzen.
Jeder kannte Jeden und wusste von den Fehltritten des Anderen zu berichten. Was mir wie eine unerträgliche Beobachtung vorkam, schätzten die Dorfbewohner als Gemeindeleben, das sie vor unliebsamen Überraschungen schütze. Wie sinnvoll ihre Einstellung war wurde mir erst später bewusst. Vandalismus war im Ort so gut wie unbekannt und auch Wohnungseinbrüche geschahen selten. Außerdem musste sich kein Kind davor fürchten alleine in den Wald zu gehen. Niemand wagte sich, es in irgendeiner Weise zu belästigen.
Sehr angesehen war der Pfarrer. Als moralische Instanz hatte er fast mehr zu sagen als Lehrer und Bürgermeister gemeinsam. Er nutzte seinen Einfluss und mischte sich gelegentlich auch in Entscheidungen ein, die ihm nicht zustanden. So kam es vor dass er von der Kanzel predigte, jeder gute Christ wisse welcher Partei er bei den gerade stattfindenden Wahlen seine Stimme zu geben habe. Wer wollte ihm widersprechen?
Es war Herbst, die Früchte der Bäume hingen reif und schwer an den Ästen. Verlockend schienen sie durchs dichte Laub hindurch. Einen der vielen Äpfel wollte ich mir pflücken und zusammen mit dem Pausenbrot genießen. Da die Wiese, wie auch meine Schule in Sichtweite lagen, musste ich noch nicht einmal früher das Haus verlassen um mein Vorhaben zu verwirklichen. Niemand würde meinen kleinen Abstecher vom regulären Weg bemerken. Frohen Mutes ging ich auf einen der Obstbäume zu, sprang in die Höhe und griff nach der begehrten Frucht. Es war so einfach, prall und saftig lag ein Apfel in meiner Hand. Doch, welch ein Schreck, von Seiten der Gärten hörte ich Schritte. Jetzt, um diese Zeit? Normaler Weise war sonst niemand vor Schulbeginn bei den Bäumen anzutreffen. Was ich gerade getan habe war so offensichtlich, da konnte ich mich nicht mehr herausreden. Dieser Apfel, den ich hielt war gestohlen, meldete sich mein erzkatholisch geprägtes Gewissen und ich lief vor Scham rot an. Zwar hatte ich keinen großen Schaden angerichtet, doch das änderte nichts an der Tatsache. Diebstahl bleibt Diebstahl und ich habe ihn begangen. Mundraub konnte man dazu auch sagen, doch das machte ihn nicht ungeschehen, es klang nur etwas weniger schlimm.
Wie ein Häufchen Elend starrte ich auf den Kiesweg, um zu wissen, wer mich erwischt hatte.
Mein Lehrer, bei dem ich die nächste Unterrichtsstunde haben sollte, erschien.
Er erfasste auf den ersten Blick wie schuldbewusst ich mich fühlte, griff in die Manteltasche und holte seinen Apfel hervor.
„Frisch vom Baum schmecken sie immer noch am besten“, sagte er breit lächelnd.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Keine Vorwürfe musste ich erdulden und auch keine Ermahnungen über mich ergehen lassen, all meine Befürchtungen waren umsonst gewesen. Nicht ganz umsonst, denn seit diesem Tag habe ich kein Obst mehr unberechtigt gepflückt.
Wer jetzt denkt mein Lehrer hätte auch einen Apfel gemobst, der irrt. Er ging nur etwas früher zu seinen Garten, um sich von dort aus mit erntefrischem Obst zu versorgen.
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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2012
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