Huch, was ist denn das?
Ich erfasse meine Umwelt viel intensiver, als es Eisberge eigentlich können. Mir wird ganz schummrig zumute und ich weiß nicht, ob es mir gefällt.
Wann wird das wieder Aufhören? Ich kann mit Empfindungen doch nichts anfangen.
Gütige Kälte, lass mich unter diesen Umständen meine Bestimmung nicht verlieren.
Sich im Eismeer treiben zu lassen ist mein Wunsch und nichts Anderes. Danach möchte ich mit dem Meer zu einer Einheit verschmelzen, meine feste Existenz überwinden und zu geschmeidigem Wasser werden. Etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen.
Hilfe, da ist schon wieder so etwas Merkwürdiges, das ganz und gar nicht geht. Seit wann können sich Eisberge etwas vorstellen? Die neuen Wahrnehmungen sind mir zu unheimlich, ich will sie nicht haben.
Haut endlich ab und lasst mich in Ruhe. Dies ist meine letzte Warnung, Folgt ihr, oder ich lasse Euch zu einem unbeweglichen Klotz einfrieren.
Eisige Kälte steh’ mir bei, sie lassen sich nicht einschüchtern und belästigen mich immer weiter.
Wenn ich aber die Wahrnehmungen schon nicht abschütteln kann, dann möchte ich sie wenigstens zu meinem Vorteil nutzen.
Es klappt, mit ihrer Hilfe bemerke ich das erste Mal, wie angenehm mich die Wellen wiegen. Richtig gemütlich ist es geworden. Zufrieden schaue ich mich um und entdecke am Horizont einen schwarzen Fleck, der schnell größer wird. Was das wohl sein wird? Ein Tier ist es jedenfalls nicht, denn Tiere leben unter Wasser und nicht darüber. Täglich kann ich mit meinem Kiel beobachten, wie die größten Lebewesen von ihnen das Wasser durchsieben. Manche werden sehr groß, fast wie richtige Berge.
Schon wieder bemerke ich etwas, das mich vorher kalt gelassen hat. - Freude.
Ich freue mich darauf, dass sie sich ankündigen. Ihre Wellen, die sie in unterschiedlichen Längen ausstoßen, lassen meine empfindlichen Kristalle vibrieren. Das ist sehr angenehm. Wenn ich da an mein kurzes Knirschen denke (?), das ich nur hervorbringe, dann bekomme ich eine Ahnung von dem, was Schön bedeutet.
Ja ich weiß, so etwas gibt es bei Eisberge nicht. Meinetwegen, dann bin ich halt etwas Besonderes. Schließlich habe ich es mir nicht ausgesucht mit Wahrnehmungen geplagt zu werden. Sie sind einfach da und nun muss ich zusehen, wie ich damit zu Recht komme. Wer weiß, vielleicht werde ich noch berühmt damit. Zu irgendetwas müssen sie ja gut sein.
Jetzt war ich die ganze Zeit mit mir beschäftigt und habe den dunklen Punkt vergessen, der offensichtlich auf mich zusteuert. Mittlerweile ist er zu einem schlanken Berg hochgewachsen, der eine ungute Ausstrahlung auf mich hat.
Während ich mich genüsslich von der Meeresströmung treiben lasse, hetzt dieses Monstrum über die Wellen und kreuzt dabei meinen Weg.
Wenn das nur gut geht.
Sicher ist es stark, aber meine Kräfte sind auch nicht zu verachten.
Stopp, nicht näher kommen. Du musst mir ausweichen, sonst rennen wir zusammen. Bitte, bitte weiche doch aus. Du kannst Deine Richtung ändern, ich aber nicht. Ich bin doch nur ein dummer Eisberg, der friedlich im Meer treibt.
Dieses Ding scheint mich nicht wahrzunehmen, denn es kommt immer näher. Zu nahe, um genau zu sein.
Schöpferische Kälte, jetzt ist es zu spät um einen Aufprall zu verhindern. Mit enormer Wucht reißt es mir meinen Kiel auseinander und beschädigt sich dabei selbst sehr stark.
Das hast Du nun davon. Niemand kann sich so stur und rücksichtslos auf dem Meer bewegen, wie Du es gerade getan hast. Du musst immer darauf achten niemanden in die Quere zu kommen.
Jetzt benehme ich mich schon wie ein Lebewesen. Widerlich ist das. Diese neuen Empfindungen machen aus mir ein…, ja was eigentlich?
Mein Kontrahent konnte bestimmt auch nichts wahrnehmen, wie ich noch vor Kurzem. Weshalb führe ich mich auf, als müsste er die gleichen Veränderungen ertragen? Entschuldige, es tut mir leid und war nicht böse gemeint.
Eigentlich ist mir kaum etwas passiert, aber wenn ich Dich ansehe, dann hast Du eine beachtliche Schieflage. Du bist doch so schnell, sehe bitte zu, dass Du möglichst bald zu Deinem Schöpfer kommst. Ich wünsche Dir alles Gute.
Während sich das Ungetüm entfernt, vereinige ich meinen Kiel mit Wassertropen, die bei meiner Berührung sofort einfrieren. So gelange ich unmittelbar an Informationen, die den Unfallgegner betreffen, auch wenn er sich schon weit entfernt hat. Eis und Wasser halten eben eng zusammen.
Er hat es zu seinem Schöpfer nicht mehr rechtzeitig geschafft und ist gesunken.
Das tut mir ja so leid.
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2012
Alle Rechte vorbehalten