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Erika schlenderte durch den Stadtpark. Sie genoss die abendlichen Spaziergänge, bei denen sie sich von ihrem anstrengenden Alltag erholte. Blühende Sträucher dufteten verführerisch süß und munter zwitschernde Vögel belebten die Atmosphäre. Auf einer Bank hatte sich ein verliebtes Pärchen niedergelassen. Eng umschlungen küssten sie einander und achteten nicht auf die Umgebung. Erika konnte ihren Blick von den Beiden nicht abwenden. Ein brennender Stachel der Einsamkeit durchbohrte ihr Herz.
Die Welt lag ihr scheinbar zu Füßen, doch zu welchem Preis? Als Mitarbeiterin einer Züricher Rechtsanwaltskanzlei hatte sie alles erreicht, wovon sie immer träumte. Auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisiert, konnte sie einige Prozesse, bei es um Millionenbeträge ging, zur vollen Zufriedenheit der Klienten gewinnen. Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen wurde dementsprechend hoch honoriert.

Am Tag gefeierte Wirtschaftsanwältin, welche von Medien umschmeichelt und von ebenso vielen Neidern, wie Gönner umgeben war, musste sie oft genug erkennen, dass alle interessanten Männer, die sie gerne näher kennengelernt hätte, von ihren Erfolgen abgeschreckt wurden. Es traute sich niemand mehr an sie heranzutreten. Was hätte er ihr auch bieten können, dass sie nicht schon längst besaß?
Ihrer Mutter sagte immer, dass Männer von Frauen bewundert werden wollen und stolz über ihre Leistungen berichten. Umgekehrt habe es die Natur nicht vorgesehen.
Als junges Mädchen hatte sie diese Meinung für überholt gehalten, erst später erkannte sie deren Wahrheitsgehalt.
Weil sie dieses Vorurteil nicht akzeptieren wollte, hatte sich Erika für ihren Jahresurlaub etwas ganz besonderes ausgedacht.

Sie ging in mehrere Kaufhäuser und kleidete sie sich völlig neu ein. Mit dem Wechsel ihrer Garderobe, wurde aus der distanziert eleganten Dame eine junge Frau, die sich zwar keine teuren Designertextilien leiste konnte, aber dennoch geschmackvoll gekleidet war. Ihre Haare bändigte sie auch nicht mehr mit Spangen und Bändern, sondern ließ die Locken einfach auf ihre Schulten fallen. Ein paar Bürstenstriche genügten, den Rest der Frisur überließ sie dem Wind.
Mit sich und ihrem Spiegelbild zufrieden, mietete Erika einen Leihwagen. Ihr Sportcabriolet passte nicht mehr zu dem neuen Erscheinungsbild, es sah zu protzig aus.
Fröhlich startete Erika in den Urlaub und fühlte sich frei, wie ein Blatt im Winde.

Der Sommer war heiß und die Nächte schwül, Erika fuhr an Deutschlands Nordseeküste. Dort waren jedoch fast alle Hotels längst ausgebucht gewesen. Mit Hilfe der Touristeninformation konnte sie dennoch ein Zimmer ergattern. Aber auch nur deshalb, weil ein Gast seine Reservierung kurzfristig storniert hatte.
Erika war zufrieden mit dem Hotel, das wesentlich nobler war als ursprünglich von ihr geplant. Dafür bot es Annehmlichkeiten, auf die sie nur ungerne verzichtet hätte.

Am Tag machte sie es sich am Swimmingpool bequem und abends ging sie in die hauseigene Diskothek, um sich dort zu amüsieren. Mit ihrer unbeschwerten Ausstrahlung und dem herzerfrischenden Lachen, blieb sie nie lange alleine. Doch wenn einer der Herren ihr zu nahe treten wollte, dann hielt sie ihn ganz schnell mit ein paar ernsten Worten auf die notwendige Distanz. Ein einziges Mal passierte es ihr, dass sich ein Mann nicht an die Regeln des Anstandes halten wollte und sie bedrängte. Er wurde freundlich, doch unmissverständlich vom Hotelmanager in seine Grenzen gewiesen.
Erika war erstaunt, woher dieser gut aussehende, autoritätsgewohnte Herr so plötzlich kam. Er hätte ihr auffallen müssen, denn so ein Prachtexemplar von Mann war eigentlich unübersehbar.
„Seitdem sie bei uns eingecheckt haben, standen sie unter meiner Beobachtung,“ sagte er gelassen.
„Warum denn das, ich habe doch nichts verbrochen?“, wollte Erika wissen.
„Verzeihen Sie bitte, zuerst dachte ich, Sie könnten sich unser Haus nicht leisten“, dabei sah er sie abschätzend von oben bis unten an. „Doch Ihre Bank scheint keine Einwände gegen unsere hohen Kosten zu haben.“
„Das ist ja allerhand! Sie schnüffeln also meinen finanziellen Möglichkeiten hinterher! Dürfen Sie das so einfach machen?“
„Dieses Hotel ist nicht gerade billig. Hier übernachten gewöhnlich keine Panda-Fahrer. Außerdem sind die Auskünfte, welche wir erhalten können so allgemein gehalten, dass Ihre Privatsphäre unangetastet bleibt.“, rechtfertigte er sich.
„Und, als Sie erfuhren, dass ich es mir leisten kann bei Ihnen ein Zimmer zu nehmen, waren Sie dann beruhigt?“
„Noch nicht ganz. Erst musste ich noch sicher sein, dass Sie keinem erotischen Gewerbe nachgehen. Solche Damen schaden dem guten Ruf unseres Hauses.“
„Das wird ja immer unverschämter!“, empörte sich Erika. „Was halten Sie eigentlich von mir?“
„Dass Sie ein ganz reizendes Geschöpf sind und es mir eine Ehre ist, Sie hier begrüßen zu dürfen.“
Durch dieses unerwartet galante Kompliment versöhnt, willigte Erika ein, zur Wiedergutmachung mit dem Hotelmanager ein Glas Champagner zu trinken.
Zuvor eilte sie auf ihr Zimmer, um sich dem Anlass entsprechend umzuziehen.
Das Cocktailkleid war zwar „von der Stange“, doch sie sah atemberaubend darin aus. Sanft umschmeichelte dunkelblaue Kunstseide ihre Hüften. Ein Bernsteincollier, dessen warmgoldene Farbe ihre Augen zum Funkeln brachten, schmückte den Ausschnitt.
Noch nie war Hendrik Sondorf eine Frau begegnet, die es verstand, sich mit einfachen Mitteln so vorteilhaft zur Geltung zu bringen.
„Sie sehen umwerfend aus“, sagte Hendrik bewundernd.
Erika lächelte erfreut.
„Darf ich Ihnen das Kompliment zurück geben?“, fragte sie geschmeichelt.
Wenige Minuten später bot Hendrik seinem Hotelgast das Du an. Die Welt um ihn herum schien zu verschwinden. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur noch dem entzückenden Wesen, das ihm gegenübersaß. Alles andere war unwichtig geworden. Weit nach Mitternacht begleitete Hendrik Erika auf ihr Zimmer. Vor der Tür gab er ihr den ersten Kuss, den sie hingabevoll erwiderte. Bis in die Fingerspitzen spürte sie das prickelnde Verlangen nach mehr, doch Hendrik wandte sich ab und stürmte die Treppe hinauf, in seine Privaträume.
In dieser Nacht konnte Erika nicht einschlafen. Immer wieder dachte sie an den Kuss, der ihre Sinne erbeben ließ. Sie war verliebt. Nie hatte sie an die Existenz der Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch nun war sie hilflos in ihren Netzen verstrickt. Wie eine verdurstende, unvernünftig und voller Leidenschaft, spürte sie ihr Herz in rasendem Tempo schlagen.
Hendrik erging es ähnlich. Auch er fand keinen Schlaf. Der Zauber dieser Frau hielt ihn gefangen und er hatte Angst, sie wieder aus den Augen zu verlieren. Ganz behutsam wollte er sich ihr nähern, denn er befürchtete, sonst ihr unbekümmertes Lachen zu vertreiben.

Ungern ging er am nächsten Tag seiner Arbeit nach. Viel lieber hätte er seine Zeit mit Erika verbracht. Umso mehr erstaunt es ihn, dass sie volles Verständnis für die Erfüllung seiner Pflichten aufbrachte.
Während der Tage unternahm Erika Ausflüge, die vom Touristenbüro aus angeboten wurden, doch jeden Abend verbrachte sie mit Hendrik. Hand in Hand gingen sie durch die warme Sommernacht und suchten leuchtende Sternenschnuppen am Firmament. Später dann versanken sie bei inniger Umarmung in ein Meer von Glückseeligkeit.

Erikas Urlaub ging zu Ende und Hendrik wollte sie unbedingt überreden bei ihm zu bleiben und im Hotel eine Arbeit anzunehmen.
„Du kennst mich nicht. Wie du, kann ich nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Dazu trage ich eine viel zu große Verantwortung“, lehnte sie ab.
„Welche Verantwortung sollte das sein?“, fragte Hendrik verständnislos. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er so gut wie nichts von Erika wusste.
„Lass es mich dir erklären.“
Doch Hendrik hörte nicht zu. Mit einem Kuss wollte er ihre Lippe verschließen, da wandte sich Erika entschlossen ab. Kurz danach legte sie die neueste Ausgabe des Magazins „Der Markt“ auf den Tisch. Die erste Seite zeigte ein großes Porträt von ihr und darunter stand, dass sie als beste Wirtschaftsanwältin des Jahres ausgezeichnet worden war.
„Was soll das? Was willst du mit diesem Magazin?“
„Schau dir doch mal das Titelblatt genau an. Fällt dir gar nichts auf?“
Erst auf dem zweiten Blick erkannte er seine Liebste. Schmerzhaft krampfte sich sein Herz zusammen. Zornesröte stieg in ihm auf.
„Du hast mich reingelegt,“ schrie er innerlich aufgewühlt. „Alle Achtung Frau Anwältin. Wie einem kleinen Jungen haben Sie mir eine Lektion in Sachen Liebe erteilt. Das war bestimmt sehr amüsant. Aber mit Gefühlen spielt man nicht. Pfui Teufel kann ich dazu nur sagen!“
„Bitte glaube mir, ich habe dir nichts vorgemacht.“ Erika nahm Henriks Geicht in beide Hände und küsste die Falten des Wutausbruchs weg.
„Aber ich kann nicht bleiben. Ohne meine Mitarbeit in der Kanzlei würde ich todunglücklich werden. Das ist ein anderer Teil von mir, doch er gehört dazu. Von dir verlange ich ja auch nicht, dass du deinen Beruf aufgibst.“
Hendrik verabschiedete sich frühzeitig. Was er soeben erfahren hatte, musste er erst einmal in Ruhe verarbeiten.

Am darauffolgenden Morgen lud Erika ihre Koffer in den Panda ein.
Wie aus dem Nichts stand Hendrik plötzlich hinter ihr und nahm sie ganz fest in den Arm. Tränen rannen über seine Wangen. Leise flüsterte er ihr die Abwandlung eines Kinderlieds ins Ohr:
„Wir sind zwei Königskinder, die haben einander so lieb. Wir können zusammen nicht kommen, der Graben ist viel zu tief. - Leb wohl mein Herz, unsere Liebe war nur ein Traum.“
„Aber ein Traum, der mich immer begleiten wird“, fügte Erika hinzu. Sie küsste ihn ein letztes Mal mit aller Intensität, deren sie fähig war. Dann stieg sie in den Wagen ein und fuhr davon.

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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2012

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