Gernot Sommerwein wohnte mit seiner Familie auf einem Gehöft, das etwas abgelegen von der nächsten Ansiedlung, am Fuße des Drachenfelsens lag. Er war Biologe und sehr Naturverbunden. Seine Frau Iris teilte mit ihm die gleiche Leidenschaft für heimische Pflanzen und Tiere. Beide waren froh gewesen, dieses große und für ihre finanziellen Verhältnisse bezahlbare Anwesen gefunden zu haben. Ihr Sohn David störte es nicht, dass er den weiten Weg zur Schule mit dem Fahrrad zurücklegen musste. Jeden Morgen genoss er den frischen Wind, der ihm dabei um die Nase wehte. Im Winter aber und bei Regenwetter, spielte seine Mutter lieber Familientaxi, als dass ihr Sohn krank wurde, oder unnötiger Weise in Gefahr geriet.
David streifte liebend gerne in der Gegend umher. Bei einem seiner Spaziergänge entdeckte er zerbrochene Eischalen in deren Mitte ein merkwürdiges Wesen saß. Es hatte keinen Flaum, wie andere Kücken, die gerade geschlüpft waren, sondern goldgelbe Schuppen bedeckten seinen Körper. Auch besaß es keinen Schnabel. Stattdessen endete sein keilförmiger Kopf mit einer weichen Schnauze, aus der ein spitzes Horn ragte. An den Füßen waren ihm Schwimmflossen gewachsen, welche gar nicht zu den fledermausähnlichen Flügeln passen wollten. Mit seinem langen, fingerdicken Schwanz wedelte es aufgeregt hin und her.
Noch nie hatte David etwas Ähnliches gesehen und wagte auch nicht zu bestimmen, was für ein Tier es sein könne. Zwar kam ein wager Verdacht in ihm auf, doch den schob er ganz schnell wieder bei Seite. So etwas ganz und gar Unmögliches erlaubte er sich nicht einmal zu denken.
Langsam beugte sich David zu dem Wesen nieder, um es aufzuheben. Jeden Moment rechnete er damit gebissen zu werden, doch nichts geschah. Dem Kleinen schien die Wärme seiner menschlichen Hand zu gefallen. Vertrauensvoll schmiegte es sich eng in die geformte Mulde hinein. Zutiefst gerührt nannte David das Findelkind „kleiner Herzensdieb“ und eilte mit ihm nach Hause.
Iris wollte ihren Sohn ausschimpfen, weil er trotz aller Ermahnungen ein aus dem Nest gefallenes Kücken angefasst hatte. Erst auf dem zweiten Blick erkannte sie, dass David gar kein Kücken in Händen hielt. Das gefundene Drachenbaby entzückte sie so sehr, dass sie keinen Zweifel über seine Art aufkommen ließ. Wer wolle behaupten es gäbe keine Drachen, wenn sie ihn direkt vor Augen hatte? Außerdem wohnten sie am Drachenfelsen, was der Briefträger jeder Zeit bestätigen konnte. Warum wohl wurde diese Steinformation so bezeichnet? War das etwa kein Hinweis, dass vor langer Zeit Drachen diesen Felsen umkreisten?
Klägliches Krächzen riss Iris aus ihren Gedanken heraus. Das Baby hatte Hunger. Fragend sah Iris ihren Sohn an. Womit fütterte man Drachen? Ein kurzer Blick ins Internet konnte ihr auch keine zufriedenstellende Auskunft geben. Alles Mögliche erschien durch die Hilfe von Google auf dem Monitor, wenn man den Suchbegriff Drachenbaby eingab, nur keine Ernährungshinweise. David vermutete, dass es Würmer oder Maden fressen würde, was sie natürlich nicht im Haus vorrätig hatten. Eilig radelte er ins Dorf, um in einem Anglergeschäft Mehlwürmer zu kaufen. Während ihr Sohn unterwegs war, dachte Iris darüber nach, womit sie dem Kleinen einen Platz, bereiten könne, auf dem es sicher und bequem lag. Die Schublade eines alten Schranks, der seine besten Zeiten längst hinter sich gelassen hatte, war ihrer Meinung nach eine geeignete Unterlage. Ausgelegt mit alten Zeitungen würde es eine Weile mit diesem Notbehelf gehen, bis eine andere Lösung gefunden wurde.
Zu Hause angekommen bestand David darauf, die ersten Fütterungsversuche zu machen, doch das Drachenbaby spuckte alles sofort wieder aus. Die Enttäuschung war riesengroß. Ratlos überließ er seiner Mutter die Ernährung.
Iris dachte sich ganz unprofessionell, womit sie ihren Sohn großgezogen hatte, das könne auch dem kleinen Drachen nicht schaden. Ohne sich gegenüber ihrem Mann rechtfertigen zu müssen kochte sie Griesbrei, fügte extra viel Zucker hinzu, rührt ihn im Wasserbad kalt und hob dann noch ein rohes Ei unter. Mit dieser Kalorienbombe bewaffnet trat sie an den hungrigen Schreihals heran. Siehe da, der Brei schmeckte ihm. Er fraß, bis sein kleiner Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Müde sank danach der schlangenartige Kopf auf das frisch gemachte Lager und kurz danach schlief der fremde Gast ein.
Die Ruhepause kam David und Iris sehr gelegen, sie konnten die Zeit nutzen um sich zu überlegen wie es nun weitergehen sollte. Iris wollte, dass ihr Mann ein Wörtchen mitzureden habe, denn schließlich sei er als Biologe gewissermaßen vom Fach und könne wertvolle Ratschläge geben. David protestierte heftig und meinte weil er das Tier gefunden habe, würde es ihm auch gehören. Seine Mutter hielt dagegen, es wäre falsch ein Lebewesen als Eigentum anzusehen, es sei doch kein Gegenstand. Sie stritten über die sich ergebene Verantwortung und Kosten, die bei der Aufzucht anfallen würden. Nicht immer waren die Worte so böse gemeint, wie sie klangen.
Als Gernot Sommerwein nach Hause kam, waren die Gemüter von Mutter und Sohn immer noch stark erhitzt. Verwundert fragte er nach, was den Stein des Anstoßes gegeben haben mochte. Ohne zu antworten zog Iris ihren Mann in die Ecke, wo das Drachenbaby ruhte.
Wenn es jemals etwas gab, das Gernot die Sprache verschlagen hatte, dann war es dieser Anblick. Fasziniert kniete er nieder und berührte sanft das schlafende Tier. Es erwachte und schmiegte sich sogleich an Gernots Hand an. Dies nutzte er als gute Gelegenheit um zu betasten, was er mit eigenen Augen sah. In Gedanken erschien er schon auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen, die ihn als Entdecker einer Fleischgewordenen Sagengestalt feierten. Ruhm, ein Ehrendoktortitel und viel Geld wären ihm gewiss. Doch dann stellte sich Gernot vor, was Forscher und solche die sich dafür hielten, mit dem kleinen Kerl anstellen würden. Im Dienste der Wissenschaft müsste das Drachenkind viele Qualen erleiden, bis es endlich sterben würde. So etwas wollte er keinesfalls zulassen. Tief seufzend verabschiedet er sich von seinen Träumen, stand auf und sagte, dass sie die Anwesenheit des jungen Drachen unbedingt Geheim halten müssen. Niemand dürfe erfahren, welches Tier sie im Haus aufziehen würden, das Leben des Kleinen hinge von ihrer Verschwiegenheit ab.
An Eindringlichkeit ließ es Gernot nicht mangeln, zur Unterstützung seiner Rede malte er seiner Familie vor Augen, welche wissenschaftlich begründete Folter dem Drachen sonst bevorstehen würde.
Erschrocken versprachen Iris und David sofort, niemanden etwas zu sagen und auch keine Fotos im Internet zu veröffentlichen. Der Mutter fiel das Versprechen leicht, doch David bedauerte es im Nachhinein.
Musste sein Vater immer gleich so schwarz sehen? Woher wollte er eigentlich wissen, was geschehen würde? Er hatte sich schon so darauf gefreut mit seiner Webcam ein Video bei You tube ins Netz zu stellen und mehrere tausend Hits zu bekommen. Damit wäre er bestimmt ein Star in seiner Schule geworden. Doch mit diesen Schreckensbildern im Kopf hatte sein Vater ihm jede Freude wieder versaut.
Gernot stellte mit Iris gemeinsam den Speiseplan des Drachenbabys um. Anstatt Griesbrei würde ihr Zögling in Zukunft rohes Ei, Hackfleisch, oder auch zerkleinerten Fisch zu fressen bekommen. Auch einen Namen bekam er. Draco war die lateinische Bezeichnung für Drachen. Gernot fand es ganz passend, das Tierchen so zu nennen. Weil Draco leicht zu merken war, hatten weder Iris, noch David etwas dagegen.
Jeder der Sommerweins tat sein Möglichstes, um den kleinen Drachen großzuziehen und dieser dankte es ihnen immer wieder mit bewegendem Zeigen seiner Zuneigung. Niemand in der Familie mochte sich noch vorstellen, ohne ihn zu sein.
Doch Drachen wachsen schnell heran und lernen begierig. Die Sprache seiner Pflegeeltern beherrschte er schon nach sechs Monaten und das Fliegen schaute er sich von den Vögeln ab. Fehlte nur noch, dass er Davids Computer in Beschlag nahm, aber soweit kam es nicht mehr.
Gernot begann seine Familie schonend darauf vorzubereiten, dass Draco nicht mehr lange bei ihnen bleiben könne. Mittlerweile war der Drache so groß geworden, dass trotz aller Vorsicht, seine Anwesenheit kaum noch verheimlicht werden konnte. Auch ihm war das intelligente Wesen aus der Sagenwelt ans Herz gewachsen, deshalb schob er den notwendigen Abschied immer weiter hinaus. Wer sollte es Draco sagen? Jeder in der Familie drückte sich davor.
An einem herrlich warmen Sommerabend, sie saßen alle mit bleiernem Schweigen beisammen, erhob sich plötzlich der Drache und sprach mit krächzender Stimme, er müsse endlich zu den Seinen. Schon lange habe er sie nach ihm rufen gehört. Es dränge ihm zu ihnen zu fliegen, doch er wollte nicht undankbar sein, nur deshalb sei er noch da.
Erleichtert sprangen Iris, Gernot und David auf. Ein Kilo schwerer Stein hatte auf ihrer Brust gelegen, doch nun waren sie von dieser Last befreit worden. Sie fielen dem erstaunten Redner um den Hals und erzählten ihm von dem Problem, das sie seit einigen Tagen quälte. Draco war auch froh, hatte er doch erwartet, mit heißen Tränen und unerfüllbaren Bitten zurückgehalten zu werden. So war ihm seine Familie viel lieber. Sie unterhielten sich und scherzten ein letztes Mal miteinander, dann breitete Draco seine Schwingen aus und erhob sich in den Himmel.
Dreizehn Jahre lang hatte die Familie Sommerwein von Draco weder etwas gesehen, noch gehört. Sie beruhigten sich damit, dass dies ein gutes Zeichen sein müsse, trotzdem waren sie von ihm enttäuscht. All ihre Liebe und Fürsorge hatte er jahrelang genossen und nun sollten sie ihm noch nicht einmal den kleinsten Gruß wert sein? Kurzes Winken im Vorbeifliegen hätte ihnen schon genügt, aber auch darauf warteten sie vergebens.
Es war im Vorfrühling, kurz nach der Tagesschau, als Draco vor ihrer Haustür stand. Seine Zieheltern freuten sich riesig ihn zu sehen. Bevor sie ihn mit Fragen überhäufen konnten bat Drago seinen Ziehvater, mit ihm einen Ausflug zu machen und Licht mitzunehmen. Gernot erklärte sich hocherfreut dazu bereit, die Taschenlampe steckte er gleich in einer seitlichen Hosentasche. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen die Frage wörtlich zu nehmen. Erst als Draco seinen Kopf flach auf den Boden legte, wurde ihm mulmig zumute. Als ob ihm Schuppen von den Augen fiel, wurde ihm schlagartig klar, worauf er sich eingelassen hatte. Doch er brachte es nicht fertig, im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen. Bisher hatte er immer Wort gehalten, so wollte er es auch dieses Mal nicht brechen. Todesmutig hob er sein rechtes Bein über den dargebotenen Hals. Draco erhob sich ganz vorsichtig, immer darauf immer darauf bedacht, dass sein Vater nicht von den Schultern glitt. Nach den ersten Minuten gewann Gernot seine Sicherheit zurück. Mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelnd rief er Iris euphorisch zu, er sei nun ein Drachenreiter und wie wundervoll sich das anfühlen würde. Diesem Glücksgefühl bereitete Draco ein schnelles Ende. Er fragte kurz „fertig?“, Gernot bestätigte die Frage und danach erhob sich der Drache in die Luft. Höher und höher stieg er mit seinem menschlichen Vater auf.
Als sie auf einem Vorsprung des Drachenfelsens landeten, zitterten Gernots Knie vor Aufregung. Die Erde lag so weit unter ihnen, dass es Mühe machte Häuser und Landschaften auszumachen. Verwundert sah er, wie Draco mit seinen kraftvollen Hinterbeinen einen Felsbrocken zur Seite drückte. Dahinter wurde eine Höhle sichtbar. Gernot dachte erst dort würden sich die anderen Drachen verstecken, doch beim Nähertreten sah er, dass der Raum mit Goldgegenständen angefüllt war. Im Schein der Taschenlampe glänzten Ringe, Becher, Ketten, Münzen und Statuen über- und nebeneinander. Dies alles wollte Draco ihm schenken. Seine Verwandten hatten den Schatz über viele Jahrhunderte hinweg zusammengetragen. Kriege wurden deswegen geführt und Königreiche gestürzt. Nur einem weisen Mann wie er es war, könne er so großen Reichtum anvertrauen.
Gernot fühlte sich geehrt doch lehnte es ab diesen Schatz zu besitzen. Blut klebte an ihm und damit wollte er nichts zu tun haben. Sein Schatz wartete zu Hause auf ihn und hatte bestimmt ein leckeres Essen zubereitet. Er bat Draco den Eingang wieder gewissenhaft zu verschließen, damit kein Bergsteiger ihn durch Zufall entdecken könne.
Draco war ein bisschen enttäuscht, weil sein Geschenk nicht angenommen wurde. Doch als er seinen Ziehvater nach Hause gebracht hatte und die tiefe Liebe des Ehepaares spürte, fing er an zu verstehen.
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2012
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