Nachholbedarf
Ich erwachte mit dem Gefühl, dass dies ein guter Tag werden wird.
Ein Blick aus dem Fenster bestätigte meinen Eindruck. Der Himmel sah in seinen sanften Pastelltönen wunderschön aus. Am Horizont leuchtete kräftiges Rosa, das ganz langsam in Blau überging. Ich erfreute mich am Anblick der Farben. Hellwach geworden trieb es mich aus dem Bett und ich freute mich auf ein gutes Frühstück.
Meine morgendliche Toilette erledigte ich mit routinierter Eile. Danach machte ich mich auf den Weg zum Bäcker. Beim Öffnen der Haustür strömte mir angenehm erfrischende Luft entgegen. Von den Bäumen abgestoßene Blätter, die gelb, rot, braun und manchmal auch noch leicht grüngefärbt waren, schwebten noch eine Weile in der Luft, bis sie niedersanken. Aufmerksam beobachtete ich das Naturschauspiel. Es erinnerten daran, wie gerne ich früher Drachen steigen ließ
„Einen wunderschönen guten Morgen Frau Lange“, begrüßte ich die Verkäuferin hinter der Ladentheke. Der Duft frischer Backwaren stieg in meine Nase und machte noch mehr Appetit auf Kaffee mit Stückchen.
„Guten Morgen Frau Roth“, entgegnet sie mir mit einem Lächeln. Da ich regelmäßig in das Geschäft ging, wurde es zur Gewohnheit ein kleines Schwätzchen zu halten, selbst wenn noch ein anderer Kunde anwesend war.
„Wissen sie welcher Tag heute ist?“, fragte ich aufs Geratewohl.
„Na klar, wir haben Samstag. Heute kommen mehr Leute, als üblich. Sie kaufen wenigstens für zwei Tage ein und um vier Uhr habe ich Feierabend.“
An der Tür klingelte leise die dort angebrachte Glocke. Sie verriet, dass ein weiterer Kunde hereingekommen war.
Dessen ungeachtet setzten wir unsere Unterhaltung fort.
„Das meine ich nicht. Heute ist ein besonderer Tag. In der Nacht vom neunten November 1989 auf den zehnten, so gegen 22,30 Uhr, fiel in Berlin die Mauer. Heute haben wir wieder einen zehnten November. Meiner Meinung nach sollte das der eigentliche Nationalfeiertag sein.“
„Das ist jetzt schon so lange her, an das genaue Datum erinnere ich mich gar nicht mehr.“
„Hätte ich auch vergessen, wenn nicht vor Kurzem im ZDF ein Bericht gesendet worden wäre, der in mir wieder aufleben ließ, was sich damals an der Mauer abgespielt hatte.“
„Ich erinnere mich auch noch gut daran. Tränen stiegen in mir auf, als ich im Fernsehen sah, wie immer mehr Trabbis über die Grenze fuhren und die Menschen stürmisch im Westen empfangen wurden.“
„Ja, das war einer jener Momente an denen man körperlich fühlen konnte, dass er in die Geschichtsbücher eingehen wird. Zu gerne wäre ich in Berlin gewesen und hätte einige Mitbürger aus dem Osten in die Arme genommen.
Wo waren Sie eigentlich, als es los ging?“, fragte ich unbefangen den fremden Mann, der neben mir stand.
„Zu Hause,“ antwortete er und ließ sein Blick gedankenvoll in die Ferne schweifen. „Beinahe hätte ich den ganzen Rummel verschlafen. Ich kam gerade von der Schicht und bin todmüde ins Bett gefallen, als meine Frau mich aufrüttelte. Kein Wort wollte ich von dem glauben, was sie vor Aufregung nur stammelnd von sich gab.“
Sein Dialekt ließ erkennen, dieser Herr kam aus Berlin.
„Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, aber, kommen sie vielleicht aus dem Ostteil der Stadt?“
Lächelnd bestätigte er die Frage.
„Ich bin sogar einer, der gar nicht weit weg von dem antifaschistischen Schutzwall wohnte.“
Einer inneren Eingebung folgend umarmte ich den Mann herzlich und drückte ihn ganz feste. Er war genauso überrascht wie die Verkäuferin, doch machte keinen Versuch sich zu wehren.
Als ich ihn wieder los ließ, entschuldigte ich mich für mein emotional übertriebenes Verhalten und versicherte ihm, dass ich lange schon den Wunsch hegte das nachzuholen, was mir damals entgangen war.
Nachdem ich noch ein paar nette Worte mit dem fremden Herrn gewechselt hatte griff ich nach der Tüte auf der Theke, bezahlte und verließ die Bäckerei.
Gut gelaunt ging ich nach Hause.
Dort angekommen stellte ich zuerst die Kaffeemaschine an und deckte dann den Frühstückstisch. Bis ins Schlafzimmer strömte das verlockende Aroma.
„Guten Morgen. Das ist aber lieb von dir, mich auf diese Art zu wecken,“ gegrüßte mich mein Mann verschlafen und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Wir setzten uns gegenüber und währenddessen er genussvoll in sein Puddingstückchen biss, erzählte ich ihm, wie ich einen wildfremden Herrn umarmte, nur weil er aus Ostberlin stammt.
„Du hast was getan?“
Verständnislos sah mich mein Mann an. „Das klingt ja ganz schön irre. So was kannst du doch nicht machen. Wie hat er denn reagiert? Ich meine, du kennst ihn doch gar nicht.“
„Ach, er hat es genau so aufgefasst, wie ich es gemeint habe. Als eine verspätete Begrüßung in den Westen. Mehr war nicht und ich kann sagen, er hat sich sehr darüber gefreut. Vor allem deshalb, weil es so überraschend für ihn war.“
„Dich kann man aber auch keinen Augenblick unbeobachtet lassen. Fällst so mir nichts, dir nichts, wildfremden Leuten um den Hals. Du bist und bleibst ein verrücktes Huhn, wenn deine Emotionen mit dir durchgehen.“
„Darf ich darauf aufmerksam machen, dass du dich gerade deshalb in mich verliebt hast?“
Widerstrebend gab er es zu.
„Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Vormittag?“, fragte er, um das Thema zu wechseln.
„Ich weiß, was wir heute unternehmen könnten“, triumphierte ich. „Der Wind hat aufgefrischt. Für mein Leben gern würde ich mit dir einen Drachen steigen lassen. Die Wetterbedingungen sind dafür genau richtig. Als Kind habe ich es oft mit meinem Vater getan. Schau mal, es ist so herrlich draußen, da möchte ich nicht den ganzen Tag im Haus rumsitzen“
Da war er wieder, der Gesichtsausdruck meines Mannes, den ich an ihm so liebte. Es war eine Mischung aus Erstaunen, Zustimmung, Bewunderung und Liebe, die aus seinen Augen strahlte. Nur er hatte mich jemals so angesehen.
„Kindskopf! - Aber wenn es dir Spaß macht, worauf warten wir dann noch?“
Wie ich beim Aufwachen schon ahnte, es wird ein guter Tag werden.
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2011
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