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Primavera.



Die Frühlingsfee schwebte mit ihrem Zauberstab übers Land. Verbliebenen Frost klopfte sie aus den Böden heraus, kahle Bäume, Büsche und Sträucher umarmte sie, um in deren Stämmen neue Lebenssäfte einfließen zu lassen. Wo immer die Primavera auftauchte, wurde sie freudig begrüßt. Da angenehm warme Luftströme ihre Wege begleiteten, wussten alle Tiere und Pflanzen, dass die Zeit des Mangels und der Kälte sich dem Ende zuneigte. Vögel besserten ihre Nester aus und zwitscherten eifrig, um eine Partnerin zu freien.
Durchdrungen von Gesang und Sonnenlicht, lockte der April viele Menschen aus ihren Häusern heraus.
„Welch herrliches Wetter“, sagten sie erleichtert lächelnd.
Dieser heiteren Stimmung schaute Wolkensammler Grauschimmer besorgt zu.
„Für sonnenwarme Tage ist es doch noch viel zu früh, die Natur kann sie um diese Zeit nicht gut vertragen“, grummelte er Primavera an. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Jedermann sagt der April sei wankelmütig, weil er zwischen den Jahreszeiten steht. Seine Aufgabe ist, den Winter in warmes Frühlingswetter umzuwandeln und um das zu erreichen, muss er gegen frostige Winde kämpfen. Kaum treffen die ersten, wärmenden Sonnenstrahlen auf die Erde, fängt es gleich wieder an zu regnen. Nicht ohne Grund wird er von Menschen verlacht als ein Monat, der nicht weiß, was er will. Dieses Jahr möchte ich, dass sich die Umstellung ohne wechselhaftes Treiben der Naturgewalten vollzieht. Der April soll gemocht werden, wie sein nachfolgender Bruder Mai. Etwas mehr Anerkennung hat es sich nach all den Jahrzehnten redlich verdient.“, verteidigte sie sich.
„Das klingt ja alles ganz gut und ist bestimmt auch in gewisser Weise berechtigt, doch was hältst du davon?“
Unterstützt vom kalten Nordwind, zog Grauschimmer ein dunkles Wolkengebirge vor die Sonne. Sogleich wurde es bitterkalt und die Menschen eilten in ihre beheizten Stuben zurück. Kurz darauf fielen eisige Körner vom Himmel, bis die Erde unter ihnen völlig bedeckt war.
„Haltet ein!“, stemmte sich die Frühlingsbotin den wütenden Mächten entgegen, konnte deren Kräften aber nichts entgegensetzen.
„Warum hast du das getan?“, fauchte sie Grauschimmer zornig an.
„Weil es sich nicht vermeiden ließ. Der Winter hat bei mir noch so viel Kälte hinterlassen, die musste ich irgendwie los werden.“
„War es unbedingt nötig, die ersten Triebe mit solchen harten Brocken zu bewerfen? Sie sind doch noch ganz zart und verletzbar! Du zerstörst sie.“
Primavera streichelte sanft ihre Schützlinge.
„Vertraue mir, die halten noch viel mehr aus, wenn es darauf ankommt. Oder wäre es dir etwa lieber gewesen ich würde bis zur Kirschblüte warten, um zarte Blüten von den Ästen herunterzuschlagen?“
„Um Himmels Willen nein, was fällt dir ein?“
Grauschimmer grinste breit.
„Ein kleiner Dankeskuss von so einer hübschen Maid wie dir, weil ich die Pflanzen vor größere Schäden bewahrt habe, könnte mir gefallen.“
„Unverschämter Kerl. Geh mir aus den Augen. Den ganzen April über will ich deine Wasserschleier nicht mehr sehen. Meine Aufgabe ist, helles Grün junger Triebe und schüchtern blühende erste Blümchen hervorzulocken. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie sie in deinen Wassern ertrinken.“
„Von mir aus kannst du bestimmen welches Wetter du haben möchtest, doch übertreib es nicht. Ohne Regen aus meinen gesammelten Wolken, wird jede hervorsprießende Pflanze vertrocknen. Gerade weil die meisten noch so klein sind und ihre Wurzeln nicht tief genug in die Erde reichen, um zum Grundwasser zu gelangen.“
„Überall wohin ich schwebe ist die Erde noch vom geschmolzenen Eis feucht, wie ein nasser Schwamm und kein dürres Pflänzchen säumt den Weg. Auf deine Tropfen kann ich gut verzichten.“
Grauschimmer versuchte vernünftig mit ihr zu reden.
„Liebste Primavera. Was hältst du davon, mit mir ein Abkommen zu schließen, das uns beiden den nötigen Raum zum Handeln gibt?“
„Nichts.“
„Findest du nicht es wäre besser, wenn wir uns einigen?“
„Wozu? Du willst mich nur auf Kosten des Aprils überreden, den Mai zu bevorzugen. Das ist ihm gegenüber ungerecht, er hat es wirklich nicht leicht. Mir sind beide Monate gleich lieb. Tut mir leid, aber meine Zeit wird knapp und es warten noch viele unerledigte Dinge auf mich. Lass mich jetzt bitte in Ruhe arbeiten.“
Leicht seufzend zog sich der Angesprochene zurück. Er wusste aus Erfahrung, dass sie ihn noch brauchen werde.

Primavera sah sich zufrieden um. Wohin sie schaute, strebten Blüten und junge Blätter der strahlenden Sonne entgegen.
Es war eine wunderschöne Zeit, doch leider dauerte sie nicht lange an. Bald musste die Frühlingsfee erkennen, dem Wolkensammler Unrecht getan zu haben. Was sie nicht für möglich hielt, trat ein. Dort, wo die Pflanzen noch spärlich wuchsen, trockneten stetig blasende, warme Lüfte die Böden aus. Auf Feldern, die von Menschen zur Aussaat vorbereitet wurden, war es am schlimmsten. Kein einziger Halm konnte die Erde festhalten, weil sie noch nicht gewachsen waren. Ungehindert wirbelten aufkommende Winde die Erde auf. Leute, die im Freien arbeiten mussten, hielten sich Tücher vor Mund und Nase. Ihre Sicht war stark eingeschränkt.
Hilflos schaute Primavera ihnen zu und sehnte sich nach Regen. Doch wo sollte der herkommen, wenn Grauschimmer keine Wolken mehr schickte? Nun bereute sie, den Wert der Gaben des Wolkensammlers verkannt zu haben. Sie musste ihn um Verzeihung bitten, einen anderen Ausweg gab es nicht. Die Zeit drängte, bald würden auch tief im Erdreich steckende Wurzeln vertrocknet sein.
Schweren Herzens flog die Frühlingsfee über Berge und Täler, doch Grauschimmer konnte sie nicht entdecken. Immer wieder rief sie seinen Namen, und war am verzweifeln. Sogar die Sonne bekam Mitleid mit Primavera und fragte nach, ob sie helfen könne.
„Weißt du, wie ich Grauschimmer erreichen kann? Ihr mögt euch zwar nicht besonders, doch ich brauche ihn dringend.“
Da fing die Saonne an besonders strahlend zu lachen.
„Ich und Grauschimmer, wir könnten uns nicht leiden? Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Bisher arbeiteten wir prima zusammen. Zu mir ist er ein richtig netter Bursche.“
„Aber ich dachte…, weil er dir doch immer die Sicht verdeckt…“, stammelte Primavera verstört.
„Na und? Ewig kann er mir seine Wolken nicht vor Augen halten. Spätestens wenn sie abgeregnet sind, muss er sich neue holen. Dann ist er eine Weile unterwegs und hinterlässt mir lauter Pfützen und Rinnsale, die ich genüsslich auflecke. Wenn ich das nicht tun kann, wird mir für diese Jahreszeit, zu heiß. Was in so einem Fall passiert, kannst du gerade da unten beobachten. Wo bleibt der Wolkensammler eigentlich? Warum verrichtet er nicht seine Arbeit wie immer? Ich habe Durst!“
„Er kommt nicht, weil ich ihn vertrieben habe.“, gab Primavera schuldbewusst zu.
„Du hast was getan?“
„Es war ein schlimmer Fehler gewesen, das weiß ich jetzt auch. Doch um mich bei ihm zu entschuldigen, muss ich ihn erst einmal finden. Alle Berge und Täler habe ich nach ihm abgesucht und so laut, wie ich konnte seinen Namen gerufen. – Doch er hat mir nicht geantwortet. Hast du eine Ahnung, wo er sich versteckt?“
„Dummerchen“, schmunzelte die Sonne. „Wo sollte er wohl sein? Für Wolkenbildung braucht er Feuchtigkeit und die findet er hier nicht mehr. Flieg hinaus aufs Meer, dort wird er sich irgendwo herumtreiben.“
„Meinst du? Ich war noch nie auf dem Meer und fürchte mich davor.“
„Wieso? Dir kann doch nichts passieren. Bestimmt wartet Grauschimmer schon auf dich.“

Primavera unterdrückte ihre Angst vor dem Unbekannten und flog in Richtung Küste.
Der Wind wurde rauer und es roch nach Meer. Unter sich sah sie zum ersten Mal in ihrer Existenz feinkörnigen Sand, der sich zu Dünen auftürmte, die umherwandern konnten. Dass diese mit Reet und störrischen Kräutern bewachsen waren, wunderte sie sehr. Ungeheuere Mengen von Wasser drückten dagegen und zogen sich gleich wieder zurück. Alles war in Bewegung, Stillstand schien es an diesem Ort nicht zu geben. Primavera ließ sich nieder und kostete einen Tropfen, den sie gleich wieder ausspuckte. Welch grässlicher Geschmack! So weit ihr Auge reichte, war das ganze Wasser versalzen gewesen. Nein, Primavera mochte das Meer nicht.
Hier sollte sich Grauschimmer versteckt haben, doch wozu? Mit diesem Zeug, über das sie schwebte, konnte er ihre Pflanzen höchstes vergiften und nicht bewässern.
Unschlüssig, was zu tun sei, suchte sie den Himmel ab. Waren da hinten, ganz in der Ferne, nicht hauchdünne Wolken zu sehen? Freudig flog die Frühlingsfee ihnen entgegen. Je näher Primavera kam, desto dicker wurden die Fädchen, bis sie dunkel und schwer am Himmel hingen.
„Grauschimmer, Grauschimmer, bist du da? Es tut mir ja so unendlich leid dir Unrecht getan zu haben. Bitte verzeihe mir und rette meine Gegend vor der Dürre. Nur du kannst noch helfen!“, rief sie in die Weite hinaus.
Ein sanfter Regenschauer fiel die Schultern der Fee herab. Es fühlte sich so an, als würde sie zärtlich von den Wassertropfen gestreichelt. Ein Vorhang aus Süßwasserperlen erschien vor ihr. In ihm wurde die Gestalt des Wolkensammlers sichtbar. Primavera fiel ihm um den Hals und überdeckte ihn mit Küssen.
„Na, na, warum denn gleich so stürmisch. So einen Empfang habe ich, nach unserem letzten Zusammentreffen, nicht erwartet. Ist es wirklich so schlimm in deinem Land geworden? In so kurzer Zeit?“
Schlimmer, als du ahnst. Eine Staubhexe hat sich bei mir niedergelassen und ich weiß nicht, wie ich sie loswerden kann. Sie nimmt uns allen die Luft zum atmen.“
Grauschimmer, der sich heimlich in Primavera verliebt hatte, ließ sich nicht lange bitten. Hand in Hand flogen sie zu der Region, der Frühlingsfee anvertraut worden war. – So ein schönes Paar, war in der Natur noch nicht gesehen worden.
Staubhexe Dörrte, die eine günstige Gelegenheit sah, das Land für sich in Besitz zu nehmen, fand das gar nicht. Mit der Frühlingsfee würde sie leicht fertig werden. Gegen ihre Staubstürme war so ein schmächtiges Wesen machtlos. Mit Erschrecken sah Dörrte, dass Primavera in Begleitung von Grauschimmer zurückkam. Hatte sie ihm nicht klar zu verstehen gegeben, dass seine Anwesenheit bei ihr unerwünscht war?
„Auf die jungen Dinger ist heutzutage aber auch kein Verlass mehr“, meinte die Hexe kopfschüttelnd.
Mutig plusterte sie sich auf und drohte:
„Halt, nicht weiter, dies ist nun mein Revier. Primavera hat es alleine gelassen und ich werde es nicht freiwillig wieder aufgeben.“
Den Ankömmlingen blies die Staubhexe eine Wolke heißer Erde entgegen.
Von solcher Unverschämtheit wütend geworden, schimpfte der Wolkensammler so laut, dass der Boden unter ihm bebte. Blitze schlugen in Dörrtes pergamentartigen Körper ein und streckten ihn hernieder. Einsetzender Regen wusch jeden Krümel ihrer Existenz von Häusern, Straßen und den wenigen vorhandenen Pflanzen ab. Es duftete nach nasser Erde, so ungewöhnlich erfrischend rein.
Vögel schüttelten ihr Gefieder von anhaftendem Schmutz frei und erhoben sich mit freudigem Gesang in die Lüfte, sie waren glücklich. Glücklich waren auch Primavera und Grauschimmer, die sich ihre tiefe Liebe zueinander gestanden. Von diesem Tag an waren sie unzertrennlich und sollten es für immer bleiben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch schrieb ich für Kinder, die gerne träumen und allen Leuten, die trotz des nüchternen Alltags, sich in das Märchenland entführen lassen.

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