Die Uhr.
In einer Nebenstraße, hinter dem größten Kaufhaus der Stadt, hatte Bernhard Schwarzer ein kleines Uhren-Geschäft eröffnet. Hinter dem Verkaufsraum befand sich eine Werkstadt, in der er Reparaturen durchführte. Nicht viele Menschen kamen zu ihm. Die wenigsten wussten, dass sich ein Uhrmacher nahe der lärmenden Hauptstraße niedergelassen hatte. Wer jedoch seinen Laden betrat, den empfing eine seltsam beruhigende Atmosphäre. Alle Hektik fiel von der Welt ab, die Vergänglichkeit des Lebens wurde hörbar.
Die meisten Leute genossen die ruhige Ausstrahlung, wenn sie etwas zum reparieren bei Bernhard abgaben. Obwohl alle im Laden erwerbbaren Uhren höchsten Qualitätsansprüchen entsprachen, verkaufte er nur ganz selten seine, oft aus eigener Hand gefertigten Meisterwerke. Sie waren einfach zu teuer.
Eines Tages kam ein etwa zehn jähriges Mädchen in sein Geschäft, deutete auf eine der Wanduhren, die er im Schaufenster ausgestellt hatte und sagte mit tränenerstickter Stimme:
„So eine Uhr hat meine Omi auch. Genau die Gleiche.“
„Dann kann Deine Oma sehr stolz darauf sein, denn gerade diese ist etwas ganz Besonderes.“, antwortete Bernhard mit freundlichem Lächeln.
Kurz darauf begann das Kind zu schluchzen.
Ich kann sie nicht mehr sehen, denn sie liegt im Sterben und ich darf nicht zu ihr.“
„Ich nehme an, Du würdest gerne von Deiner Oma Abschied nehmen, oder?“
„Oh ja. Aber meine Eltern glauben mich vor irgendetwas schützen zu müssen. Dabei weiß ich doch ganz genau was los ist.
„Wie alt bist Du?“
„Im nächsten Monat werde ich zehn.“
„Dafür scheinst Du außergewöhnlich verständig zu sein. Verrätst Du mir auch Deinen Namen?“
„Ich bin die Andrea. Papa und Mama sagen das auch immer. Doch jetzt behandeln sie mich wieder wie ein Kleinkind. Die Erwachsenen sind ja so gemein. Sie ändern ihre Meinung, wie es ihnen gerade in den Kram passt und ich kann nichts dagegen tun.“
„Dir will doch niemand etwas Böses. Du sollst Deine Oma nur so in Erinnerung behalten, wie sie früher war. Der letzte Anblick eines geliebten Menschen prägt sich für immer in das Gedächtnis ein. Deshalb wollen Deine Eltern Dir ersparen, Deine Großmutter auf dem Sterbebett liegen zu sehen.“
„Aber ich hab sie doch so lieb.“
„Das weiß sie.“
„Meinst Du – ähm, meinen Sie?“
„Da bin ich mir ganz sicher. Was hältst Du davon, wenn wir gemeinsam für Deine Oma beten? Kannst Du schon das Vater Unser aufsagen?“
„Ja.“
„Dann beten wir es jetzt zusammen. Wenn wir damit fertig sind, dann schließe einfach Deine Augen und denke ganz feste an sie. Das ist dann so, als ob Du tatsächlich bei ihr wärst.“
Beide waren noch in ihrer Andacht versunken, als das eingebaute Glockenwerk der Standuhr erklang, die das Mädchen in seinen Laden gezogen hatte. Bernhard wunderte sich, denn er hatte seine Uhren stumm geschaltet, damit es nicht in allen Ecken bimmelte, wenn eine neue Stunde anbrach.
Das Mädchen schaute auf und fiel dem Uhrmacher stürmisch um den Hals.
„Ich war bei ihr, ich hab gesehen wie sie stirbt. Aber das war gar nicht schlimm gewesen. Wie hast Du das gemacht?“
„Ich habe gar nichts gemacht, wir haben doch nur gebetet. Wenn Du in Gedanken bei Deiner Oma gewesen bist, dann hast Du es ganz alleine geschafft.“
„Glaubst Du mir?“
„Warum sollte ich daran zweifeln?“
„Danke, Du bist der liebste Mensch, den ich kenne.“
Andrea war nun richtig fröhlich geworden. Bevor der Uhrmacher etwas dazu sagen konnte, wurde die Ladentür heftig aufgestoßen.
„Hier steckst du also, ich habe die halbe Stadt nach dir abgesucht. Mach so was nie wieder!“
Eine elegant gekleidete Dame trat ein und ging zornig auf Andrea zu. Sie hob ihre Hand, um dem Mädchen eine Ohrfeige zu geben, hielt jedoch in der Bewegung inne und drückte stattdessen das Kind fest an ihre Brust.
„Ich hab mir so große Sorgen um dich gemacht. Heute ist ein ganz furchtbarer Tag.“
Die Wut der Dame war verraucht, sie fand zu ihrem normalen Verhalten zurück. Verwundert sah sie sich in Bernhards Uhrenladen um.
„Was tust du hier, warum bist Du in das Geschäft reingegangen? Es gehört sich nicht, die Leute von ihrer Arbeit abzuhalten.“
Bernhard wollte gerade erklären, dass eine ausgestellte Wanduhr das Mädchen magisch angezogen hatte, als ein Klingelton vom Handy ihn unterbrach.
„Ja…, ist gut…, ich sag es ihr…, wir fahren gleich los. In einer Viertelstunde sind wir zu Hause
Mit zitternder Stimme sprach die vornehme Frau zu der Kleinen.
„Andrea, du muss jetzt ganz tapfer sein.“
„Ich weiß, die Omi ist tot. Bevor du hier reingestürzt bist, habe ich mit… - mitten im Satz drehte das Mädchen ihren Oberkörper zu dem Uhrmacher und fragte ihn: „Wie heißt du eigentlich?“
„Bernhard.“
Ihrer Mutter erneut zugewandt begann das Kind den Satz von vorne.
„Also. Bevor Du mich gefunden hast, habe ich mit Bernhard für Omi gebetet und genau zu diesem Zeitpunkt ist sie auch gestorben. Ich habe das ganz stark gefühlt.“
Verlegen richtete sich die Frau gerade auf.
„Das haben Sie wirklich getan? Aber warum eigentlich? Sie kennen uns doch gar nicht. Was hat Ihnen Andrea erzählt?“
Beschämt und leicht verwirrt, sah die Dame den fremden Mann an. In ihren Augen glänzten angesammelte Tränen.
Nun bekam Bernhard endlich die Gelegenheit zu erklären, weshalb Andrea seinen Laden betrat und wie er dazu kam, mit dem unglücklichen Kind für dessen geliebte Großmutter zu beten.
„War das etwa falsch gewesen?“
„Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.
Mein Mann sagte gerade am Telefon, dass seine Mutter zuletzt an ihr Enkelkind gedacht habe.
„Andrea meine Liebe, schön, dass du da bist“, sollen ihre letzten Worte gewesen sein. Er dachte seine Mutter würde im Delirium sprechen, aber nun, wo Sie sagen, dass Sie mit der Kleinen zur gleichen Zeit gebetet haben, könnte es auch sein, dass…
Andreas Mutter sprach diesen Satz nicht zu Ende. In Gedanken versunken lauschte sie dem Mahnen der Uhren. Auch ihre Zeit würde ablaufen. - Unerbittlich. Mit energischem Kopfschütteln brachte sie sich zur Besinnung.
„Andrea, komm jetzt, wir werden zu Hause erwartet.“
Bei dem Uhrmacher entschuldigte sie sich für die Umstände, die ihm entstanden waren. Sie bedankte sich höflich und versprach, in nächster Zeit noch mal vorbei zu schauen.
Als beide das Geschäft verließen, warf Bernhard seiner neuen Vertrauten einen aufmunternden Blick zu.
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2011
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