„Das war nicht so vereinbart!“ Empört schlug Mrs Grey mit der Faust auf die dunkle Teak-Holzplatte, die sie und die schwarz gekleidete Sprechstundenhilfe voneinander trennte. „Es war nicht so vereinbart, dass sie in einen Park fahren um dort Elly´s Therapie durchzuführen.“ Zornig funkelte Elly´s Mutter ihr Gegenüber an. „Sie......sie wussten nichts davon?“, stammelte die verwirrte Frau. „Nein, ich wusste nichts davon!“ Mrs. Grey wurde immer wütender. Sie hatte die Fäuste geballt, als ob sie jeden Moment zum Schlag ausholen wollte und die Stirn in gefährliche Falten gelegt. Simpel ausgedrückt: Sie war dabei, vollends die Fassung zu verlieren. Drohend beugte sie sich noch ein Stück weiter vor, sodass sie nur mehr wenige Zentimeter vom Gesicht der Sprechstundenhilfe entfernt war und wartete auf eine Erklärung.Eine beängstigende Stille breitete sich in den dunkel eingerichteten Räumlichkeiten aus. Für eine Weile war nur das Ticken der großen Wanduhr zu hören, die neben dem Fenster angebracht war. Als die Frau hinter dem Thresen ihre Worte wieder gefunden hatte, erklärte sie, oder besser gesagt versuchte sie Mrs. Grey die missliche Lage, zumindest aus ihrer Sicht, zu erklären: „Nun...ja.....der Chef sagte mir...er würde sie...darüber in Kenntnis setzen.“ Mrs Grey war mit einem Dampfross zu vergleichen. Man meinte, es müsste jeden Moment ein schrilles Pfeifen zu hören sein. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Wut und Angst stauten sich auf und lieferten sich nun in Mrs Greys Innerem einen erbitterten Kampf. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie nun in Panik ausbrechen oder der Wut die Oberhand lassen sollte. Ihr Gemütszustand war momentan eine Mischung aus beiden Komponenten, da sich nicht wirklich eines der beiden Gefühle, gegen das andere durchsetzen konnte. Die Sprechstundenhilfe hatte bereits auf dem großen Tastentelefon die Handynummer des Doktors eingetippt, aber am anderen Ende der Leitung war nur die Mailbox zu hören. „I..i..ich kann den Doktor leider nicht erreichen!“, stotterte sie Mrs Grey vor. In deren Inneren eskalierte das Duell der Gefühle bei dieser Schreckensnachricht. „Sagen Sie mir sofort in welchem Park meine Tochter sein könnte! Sofort!“, schrie sie. Die Sprechstundenhilfe war so verängstigt, dass sie vor Schreck in ihren Sessel fiel, der hinter dem Tresen stand. Anscheinend war sie noch nie mit solch unbändiger Wut konfrontiert worden. Das einzige Wort, das aus ihrem Munde kam, war : Stadtzentrum. Das genügte Mrs Grey schon. Sie warf der verstörten Frau, die eigentlich nichts für das Ganze konnte, einen bitterbösen Blick zu, nahm ihre Tasche, stürmte hinaus und schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu, sodass in der Praxis ein Bild von der Wand fiel. Die Frau hinter dem Tresen aber, atmete erleichtert aus, als Mrs Grey gegangen war.
Energisch winkte Mrs Grey ein Taxi zu sich heran. Sie stieg ein und schrie den Lenker an: „Park im Stadtzentrum, schnell, beeilen Sie sich.“ Der Angesprochene, oder besser gesagt Angeschriene, drehte sich zu seiner Kundin um und wollte sie eines besseren Tons belehren, aber kaum hatte er den Mund aufgemacht, entgegnete diese wieder in sehr scharfem und drohenden Ton: „Soll ich Sie fürs Reden oder fürs Fahren bezahlen? Na los, machen Sie schon, fahren Sie, schnell!“ Sofort war der Taxifahrer eingeschüchtert und tat wie ihm geheißen wurde. Er trat aufs Gaspedal, dass die Reifen quietschten. Mrs. Grey durchlief während der ganzen, nicht enden wollenden Fahrt,
höchst qualvolle Horrorvisionen. Sie malte sich allerhand schreckliche Dinge aus, die ihrer Tochter in der Zwischenzeit schon hätten passieren können. Dass sie übertrieb, glaubte Mrs Grey auf keinen Fall. Man hörte ja in den Medien auch immer wieder von Entführung und Menschenhandel. Nervös saß sie auf der Rückbank des kleinen Autos und kaute auf ihren Nägeln. Tausende von Fragen gingen ihr durch den Kopf. „Was, wenn...? Warum...?“ Ja sie fragte sich in ihrer Hysterie sogar: „Lebt sie noch?“ Diese Gedanken brannten sich in ihr Gehirn und fraßen sie förmlich von innen auf. Solche Qualen hatte sie noch nie erlebt, zumindest kam es ihr so vor. Sie konnte sich nicht helfen und brach in Tränen aus. Der Taxifahrer bemerkte das und wollte sie freundlicherweise beruhigen, aber leider war sein Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt, denn Mrs Grey wurde nur noch hysterischer und fuhr ihn an, was ihn das eigentlich alles anginge. Er atmete tief durch, denn es waren Gott sei Dank nur mehr zwei Kilometer bis zur Innenstadt, dann würde er dieses aufgelöste Weib endlich los sein.
Mrs. Grey stieg aus und war verloren. Verloren in dieser großen Stadt, voll von Menschen, die sich großteils nicht mit ihr verständigen konnten. Sie konnte noch nicht einmal einen öffentlichen Stadtplan lesen. Nur anhand der aufgedruckten Bilder reimte sie sich zusammen, wo der Park ungefähr liegen könnte. So irrte sie in Reykyavik herum und gab dabei ein Bild des Jammers ab: Zerzauste Haare, blasses, mit Tränen und flüssig gewordener Schminke überflutetes Gesicht, ängstlicher und verwirrter Blick. Sie sah Menschen über Menschen aber nirgends einen Spur ihrer Tochter. „Warum? WARUM?!“, dachte sie und brach erneut in Tränen aus. Am liebsten hätte sie sich einfach vor ein Auto geworfen, um die ganzen Qualen in ihrem Inneren abzutöten, zu vernichten, zu beseitigen. Sie spielte auch eine Zeit lang mit diesem Gedanken bis ihr Blick auf eine Frau fiel, die in einem Hauseingang saß und einen Kaffeebecher in der Hand hielt, den sie jeder vorbeilaufenden Person entgegen streckte, in der Hoffnung auf ein wenig Kleingeld. Mrs. Grey stand wie angewurzelt auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und konnte ihren Blick nicht von der Frau abwenden. Sie konnte nicht sagen was es war, das sie festhielt, dennoch stand sie eine Weile lang da und fokussierte das Geschöpf, das so einen erbärmlichen Eindruck machte. „Wie gerne wäre ich jetzt sie.“, dachte die verzweifelte Mrs Grey. „Wie gerne würde ich mit ihr tauschen.“ Für diese paar Augenblicke war es ihr als ob die Welt stillstehen würde. Sie sah nur diese Frau. Alle anderen Passanten nahm sie als verschwommene Schatten war. Mrs Grey stand da und ihr Herz schrie der Frau zu: „Helfen sie mir doch!“
Als Elly aufwachte fand sie sich in einem Park wieder. Ihr Kopf lag im Schoße Dr. Vòerhogens, der immer noch das Pendel über ihr schwenkte. Das nächste, das sie zu ihrem Erschrecken feststellen musste, war, dass sie Nadeln im Gesicht hatte. Elly wollte sich schnell aufrichten um die Dinger aus ihrem Gesicht zu holen und sich aus Vòerhogens Schoß zu befreien, doch ihr Vorhaben wurde schon im Ansatz von dem Doktor gestoppt, indem er sie zurückhielt. „Elly, du musst liegen bleiben, sonst hat die ganze Therapie keinen Sinn!“, mahnte er. „Sagen Sie mir doch erst einmal wo wir sind!“, fuhr Elly ihn an. Sie drehte und wandte sich um sich irgendwie aus dem festen Griff des Doktors zu befreien, aber es gelang ihr nicht, er war einfach zu stark. „Elly du musst dich entspannen, sonst müssen wir von vorne anfangen!“, sagte er in schärferem Ton und umklammerte sie noch fester. „Wie soll ich mich bitteschön entspannen wenn ich Nadeln im Gesicht habe und Sie mich festhalten, als wäre ich eine Kriminelle?“ Es gelang ihr schließlich doch sich loszureißen. Sie richtete sich auf, strich ihre Hose und T-Shirt glatt und begann sich die Nadeln förmlich aus dem Gesicht zu reißen. Vóerhogen sah ihr kopfschüttelnd zu. „Elly, was glaubst du wie ich dich heilen soll, wenn du nicht meinen Anweisungen Folge leistest?“ „Ich sagte Ihnen bereits, dass ich erstens gerne wüsste wo wir uns hier befinden und zweitens mich nicht so festhalten lasse!“ Sie war außer sich. „Außerdem hat mir noch nie ein Spezialist helfen können. Das werden Sie auch nicht zustande bringen. Sie sind nur einer von vielen, der behauptet DIE effektive Therapie zu haben. Ich bin es Leid zu Leuten wie Ihnen zu gehen, die in Wirklichkeit absolut keine Ahnung von dem haben, was sie machen.“ „Du kannst mir, bzw. den anderen Kollegen nicht Inkompetenz vorwerfen, nur weil du ein Sonderfall bist.“, erwiderte Dr. Vòerhogen trocken. „Es ist in deinem besonderen Fall eben schwierig eine passende Therapie zu finden.“ Elly hatte so genug von all dem Gerede, dass sie ihm einfach einen eisigen Blick zuwarf, sich umdrehte und ging. Wohin war ihr egal. Einfach nur weg von diesem Mann. „Wo willst du hin?“, schrie er ihr nach, als sie schon einige Meter von ihm entfernt war. „Du weißt ja doch nicht wohin du gehen sollst.“, fügte er noch etwas leiser hinzu. Sie hatte geahnt, dass es so ausgehen würde. Na gut, vielleicht nicht mit so einer Auseinandersetzung, aber sie hatte gewusst, dass auch dieser Doktor ihr nicht zu helfen vermochte. Es hatte sie auch nicht sonderlich berührt, dass Vòerhogen sie einfach so hatte gehen lassen. Sie tat es einfach als einen weiteren Beweis für seine Inkompetenz ab. Als sie so durch den Park schlenderte, fiel ihr mit einem Mal die Ruhe auf die von gerade jenem ausging. Niemand schien es hier eilig zu haben. Die Welt stand hier still. Elly fühlte sich plötzlich richtig gut. Die ganzen Sorgen, die sonst immer auf ihr lasteten lösten sich in Luft auf. Sie dachte nicht an ihre schrecklichen Träume, an ihren Vater, oder an die Schule. Sie dachte an nichts und das war das Gute.
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die mich ermutigt haben weiterzumachen!