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„Nein...nein....neiiiiiiiiiiin!!!“ Keuchend und schwitzend erwachte Elly aus ihrem Alptraum. Sie saß kerzengerade im Bett, das T-shirt, das sie trug, klebte an ihrem zierlichen Körper. Sie zitterte. Ängstlich sah sie sich in ihrem Zimmer um, als ob sie sich vergewissern wollte, dass sie wirklich aufgewacht war. Langsam stieg sie aus dem Bett, knipste dabei die Nachttischlampe an und ging zum Fenster. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, so schwül war es in dem kleinen Zimmer. Mit einer raschen, routinierten Handbewegung zog sie die schweren Vorhänge bei Seite und öffnete das hohe Fenster. Ein Schwall von kalter Luft schlug ihr entgegen. Mit einem Mal war das bedrückende Gefühl verschwunden. Sie konnte wieder atmen. Einen kleinen Moment lang, schloss sie die Augen und genoss die frische Brise. Als sie sie wieder öffnete, gewahrte sie den Mond, der nun hell in ihr Zimmer schien. Es war Vollmond. Elly lehnte sich ein Stück aus dem Fenster, schaute in die Nacht und dachte dabei über ihren Traum nach. Wiedereinmal hatte sie einen schrecklichen Alptraum geträumt. Wie sollte es auch anders sein? Seit zwei Jahren schon wurde sie ständig von solchen nächtlichen „Attacken“, wie sie es nannte, heimgesucht. Ihre Mutter hatte sie deswegen schon zu zahlreichen Spezialisten geschleppt, aber alles was die gesagt, getan oder verschrieben hatten, hatte keine Wirkung gezeigt. In Elly´s Träumen, ging es immer um große, Furcht erregende Gestalten, die sie fesselten und mitnahmen. Diese Gestalten brachten sie dann an einen Ort, den Elly als Friedhof betitelt hätte, aber nie klar erkennen konnte. Dort fragten sie jedes Mal dieselbe Frage: „Wo ist dein Vater, Elly?“ „Er ist tot.“ „Nein, ist er nicht. Wir wissen, dass er es nicht ist.“ „Aber ich lüge nicht.“ „Elly, wenn du uns nicht gleich die Wahrheit sagst, werden wir deiner Mutter die Kehle durchschneiden!“ Bei diesen Worten tauchte dann immer aus dem Nichts Elly´s Mutter auf, die von einer Kreatur ein Messer an den Hals gehalten bekam. „Aber er ist wirklich tot!“, schrie Elly dann verzweifelt. „Gut, dann wirst du jetzt den Kopf deiner hübschen Mutter rollen sehen!“, sagte das Biest, das die ganze Zeit mit ihr geredet hatte, zornig. An dieser Stelle kam immer Elly´s bekannter Schrei, mit dem sie schon so oft ihre Mutter aufgeweckt hatte: „Nein....nein.....neiiiiiiin!“ Und bevor die Kreaturen ihre Mutter töteten, wachte Elly auf. Dieser Traum wiederholte sich jetzt schon zwei Jahre lang. Man glaubte, dass Elly sich schon daran gewöhnt hatte, aber es war jedes Mal der gleiche, lähmende Schreck, der sie beim Aufwachen durchfuhr. Und jedes Mal war es der gleiche süße, traumlose Schlaf in den sie anfangs entglitt und sich dann in einen grässlichen, tiefen, mit ekelhaften Bildern übersäten, wandelte. Elly war sich im Klaren darüber, dass der Traum etwas zu bedeuten hatte, wenn sie ihn ständig träumte. Immer ging es um ihren tot geglaubten Erzeuger. Sie hatte sich schon oft gefragt, was zum Teufel diese Kreaturen von ihrem Vater wollten, hatte sich aber nie eine befriedigende Antwort zusammenreimen können. Kopfschüttelnd schloss sie das Fenster wieder, schlich zu ihrem Bett, kroch hinein und schaltete die Lampe aus.

„Elly!“, flüsterte Mrs. Brown, die Klassenlehrerin. Jeder andere Lehrer hätte Elly unsanfter und tadelnder geweckt. Mrs. Brown wusste jedoch von jenem schrecklichen Traum, der sie jede Nacht plagte. Verschlafen blinzelte das Mädchen sie an. „Entschuldigung Mrs. Brown.“, gähnte sie. Besorgt musterte diese Elly. Etwas leiser fügte sie noch hinzu: „Bitte komm nach der Stunde, in der Pause zu mir.“ Die Angesprochene nickte etwas beschämt, da sie wie immer, wenn Mrs. Brown sie weckte, die Blicke aller Mitschüler auf sich zog. Die ganze restliche Stunde über, versuchte Elly krampfhaft, sich zu konzentrieren. Es funktionierte nicht. Wie immer.
Als die Stunde vorüber war und alle anderen Schüler ihre Sachen zusammenpackten, um zum Biologiesaal zu gehen, packte auch Elly ihre Sachen, ging aber statt in Richtung Biologiesaal, zum Katheder, wo sie von einer besorgt dreinschauenden Mrs. Brown erwartet wurde. „Elly, setz dich bitte.“, sagte die Lehrerin ernst. Das Mädchen tat wie ihm geheißen wurde. „Hör zu Kind, du weißt, dass ich von deinen Alpträumen weiß.“, begann Mrs. Brown. „Ich habe dir auch schon öfter geraten......nun ja..... einen Privatlehrer zu nehmen.“ Man sah der Lehrerin richtig an, wie unbehaglich es für sie war, diese Worte auszusprechen. Sie wollte das zarte Mädchen nicht verletzen. „Elly, ich will dir wirklich nichts schlechtes. Aber du siehst selbst, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann. Dein Notendurchschnitt ist von 1,0 auf 3,1 gesunken. Ich bitte dich inständig um Deinetwillen, Kind! Du bist so klug und es wäre schade, wenn deine Noten kein Zeugnis dessen wären. Natürlich kann ich dich nicht zwingen, von der Schule zu gehen. Es wäre ja auch ein großer Schritt, keine Frage. Aber ich bin der Ansicht, dass es am Besten wäre. Bei einem Privatlehrer könntest DU die Uhrzeiten festlegen. Du wärst ausgeschlafen und könntest dich konzentrieren, wodurch deine Leistungen wieder besser würden. Das ist wirklich nicht böse gemeint! Im Gegenteil, es ist ein freundschaftlicher Rat. Es liegt an dir in anzunehmen, oder auch nicht.“ Eindringlich sah Mrs. Brown Elly an. Sie wartete auf eine Antwort. Dabei kannte sie sie schon. Schon so oft hatten die beiden dieses Gespräch geführt und auch dieses Mal würde die Antwort Elly´s nicht anders ausfallen, als sonst. „Danke für den Rat Mrs. Brown, aber ich bleibe an der Schule.“, sagte Elly monoton und mit starrem Blick. Sie stand auf, nahm ihre Sachen und entfernte sich, ohne die Lehrerin noch eines Blickes zu würdigen, zum Biologiesaal. Die zurückgelassene Mrs. Brown stützte den Kopf in die Hände. Warum ließ sich dieses Mädchen nicht helfen? Die Antwort auf diese Frage war mehr oder weniger simpel: Erstens hasste Elly Mitleid und wollte nicht, dass sie privilegierter als ihre Mitschüler war und Zweitens glaubte sie fest daran, dass sie die Alpträume besiegen konnte. Spätestens wenn sie herausgefunden hatte, was diese absurden Kreaturen mit ihrem Vater zu tun hatten.

„Elly, mein Schatz, wie du wieder aussiehst!“, begrüßte Mrs. Grey ihre Tochter, als diese zur Küchentür hereinkam. „Hey Ma. Danke für das Kompliment!“, gab sie sarkastisch zurück, obwohl Elly insgeheim wusste, dass sie wirklich nicht so berauschend gut aussah: Ringe unter den Augen, eingefallene Wangen, müder Blick....eben alles was man auf Schlaflosigkeit zurückführen würde. Wortlos setzte sie sich an den Küchentisch und begann das Mittagessen, das ihre Mutter schon fürsorglich hingestellt hatte, zu verzehren. Nach einer Weile setzte sich Mrs Grey ebenfalls an den Tisch. „Liebes, hör mir einmal zu.“, begann sie. „Ich habe einen neuen Spezialisten für deine Alpträume ausfindig machen können.“ Sie legte eine kleine Pause ein, um die Reaktion ihrer Tochter abzuwarten. Wie erwartet sagte sie nichts. Sie blickte nicht einmal von ihrem Teller auf. Mrs. Grey fuhr fort: „Der befindet sich allerdings im Ausland.Genauer gesagt in Island. Der Flug ist schon gebucht und die Schule ist auch schon informiert.“ Wieder wartete sie auf eine Reaktion ihrer Tochter. Doch auch diesmal: nichts. „Aber es wird toll werden. Erstens ist Island eine interessante und schöne Insel und zweitens hat dieser Psychologe sich dort einen Namen gemacht und ist bekannt für seine Heilerfolge.“, fügte Mrs. Grey noch aufmunternd hinzu, doch das löste in ihrem Kind auch keine Freude aus. Im Gegenteil. Elly war es leid, sich Monat für Monat einem neuen Seelenklempner bezüglich ihrer Alpträume anvertrauen zu müssen. Es brachte sowieso nichts. Sie war überzeugt davon, dass nur sie selbst sich heilen konnte. Das konnte sie natürlich niemandem sagen, denn jeder hätte sie für geisteskrank erklärt. Immer noch stumm, stand Elly schließlich auf, stellte den leeren Teller in die Spüle und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Mitten auf der Treppe blieb sie jedoch abrupt stehen. Das Bild von ihrem Vater, das immer hier gehangen hatte, war verschwunden. Für einen klitzekleinen Moment hatte Elly das Verschwinden des Bildes mit ihren Alpträumen in Verbindung gebracht, besann sich aber dann eines Besseren. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter das Bild abgenommen. Aber was hätte das für einen Sinn? Ganz schnell schlug sie sich diese Gedanken aus dem Kopf. Diese Alpträume waren wirklich schlimm. Jetzt machte sie sich schon um ein banales Bild Sorgen. Ganz schnell stieg sie die restlichen Stufen zum oberen Stockwerk des Hauses hinauf und ging in ihr Zimmer.

Es war ziemlich kühl als Mrs Grey und ihre Tochter den Flughafen erreichten. Elly fröstelte, wickelte den Schal enger um ihren Hals, ihre Mutter zog den Reißverschluss ihrer hellblauen Weste weiter zu. „Auf solche und kältere Temperaturen müssen wir gefasst sein, Elly!“, sagte Mrs Grey unternehmungslustig. Sie hatte schon die ganze Zeit vergeblich versucht ein Gespräch mit ihrer Tochter anzufangen. „Mhmmm...“, kam es desinteressiert von Elly. Sie hatte einfach keine Lust, sich die Umstände zu machen und nach Island zu fliegen, denn der Besuch bei diesem Psychologen würde genauso enden, wie jeder andere auch geendet hatte. Jeder Arzt war bisher von diesem Fall an die Grenzen seiner Macht gestoßen worden. Das würde auch diesmal nicht anders sein. „Mein Gott, Elly!“ Mrs Grey hatte sich inzwischen vor ihre Tochter gestellt und legte dem verdutzt dreinschauenden Mädchen die Hände auf die Schultern. „Bitte zeig doch wenigstens ETWAS Begeisterung für die kleine Reise. Ich meine nach Island kommt man schließlich nicht alle Tage.“ Nach einer kleinen Pause sagte sie noch: „Elly, ich weiß, dass du denkst, dass es wieder nichts bringen wird. Aber probieren geht über studieren. Begreife doch, dass ich nichts unversucht lassen will, dir zu helfen. Du bist meine Tochter und ich liebe dich!“ Mrs. Grey wollte ihr Mädchen in die Arme schließen, aber dieses stieß seine Mutter grob von sich. „Ma, kapierst du denn überhaupt nichts?“, tobte Elly. „Wir waren schon bei so vielen Ärzten und Spezialisten und was weiß der Teufel wo wir schon waren! Nichts hat geholfen, absolut gar nichts. Und du glaubst im Ernst dieser Heini aus Island könnte mich jetzt auf ein Mal von diesen Träumen befreien? Ma, entschuldige, dass ich das sage, aber du bist wirklich ziemlich naiv, was das anbelangt.“ Anstatt sich über das unflätige Benehmen ihrer Tochter aufzuregen versuchte Cicilia Grey Elly zu besänftigen: „Aber Schatz, ich habe dir gerade vorher gesagt, dass ich mir keine Chance entgehen lassen will, dir zu helfen. Ich bin nicht naiv. Ich sorge mich nur sehr um dich. Schließlich bist du mein einziges Kind und wenn du an diesen Alpträumen zu Grunde gingst, hätte ich gar keinen Lebensinhalt mehr....“ Traurig senkte Cicilia bei diesen Worten ihren Blick. Elly wusste, dass sie ihre Mutter sehr verletzt hatte. Mehr noch, als Mrs. Grey jemals zugeben würde, trotzdem brachte Elly kein Wort der Entschuldigung über die Lippen, weil sie auch wusste, dass es stimmte was sie selbst gesagt hatte. Niemand konnte sie heilen, außer sich selbst. Sie war davon überzeugt. Wortlos brachten die beiden ihr Gepäck zur Abgabe und warteten auf ihren Flug. Die Zeit schien nicht vorüber gehen zu wollen. „Was ist eigentlich damals genau mit Pa geschehen?“, fragte Elly auf einmal in die Stille hinein. Sie wollte wissen, was es mit dem Tod ihres Vaters wirklich auf sich hatte, denn die Gestalten in ihrem Traum glaubten es ihr ja nie, wenn sie sagte, dass er tot war. Mrs Grey war auf diese plötzliche Frage überhaupt nicht vorbereitet, antwortete aber nach einigem Zögern: „ Aber Elly, das weißt du doch!“ Es behagte ihr sichtlich nicht, dass ihre Tochter dieses Thema ansprach. Sie wurde etwas nervös, ihre Stirn legte sich in Falten. „Ich kann aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass ER sich umgebracht hat!“, sagte Elly. „Es war aber so. Er ist aus dem Fenster seines Büros gesprungen und das weißt du genauso gut wie ich.“, entgegnete Cicilia, die dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden wollte. Elly merkte das. Sie wusste, dass sie für den Moment, nichts mehr über dieses Thema von ihrer Mutter erfahren würde. So bohrte sie nicht weiter, obwohl ihr noch etliche Fragen durch den Kopf gingen. Als ihr Flug endlich aufgerufen wurde, hatte dies die Wirkung eines Schulgongs der die Schüler von einer ziemlich langweiligen Mathematikstunde befreit. So erlöst kamen sich auch Elly und ihre Mutter vor. Nun mussten sie -wenigsten für ganz kurze Zeit- nicht mehr schweigend nebeneinander sitzen und das bedrückende Gefühl haben, gleich platzen zu müssen.


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Texte: Alle Rechte bezüglich des Inhaltes liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2010

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