7.
Auch Linda hatte sich ein Taxi zum Hotel genommen. Im Club hatte sie Judy nicht mehr entdecken können. Deshalb hatte sie keinen Grund mehr gesehen, noch länger zu bleiben. Sie war vollkommen fertig. Die ganze Zeit über hatte sie Tränen vergossen und sich innerlich schon von ihrem besten Freund verabschiedet. Sie hatte beschlossen früher nach Hause zu fliegen. Sie würde diese Nacht noch packen und am nächsten Tag den ersten Flug nach Hause nehmen. Inzwischen war sie schon beim Hotel angekommen. Sie fühlte sich schrecklich. Sehr langsam stieg sie, mit ihrem Zimmerschlüssel in der Hand, die Treppen in den 3. Stock hoch. Sie glaubte bei jedem Schritt vor lauter Traurigkeit zusammenbrechen zu müssen. Sie sah wirklich bedauernswert aus. In ihrem Zimmer angekommen, ging sie gleich zu ihrem Kasten, riss alle Sachen, die sie hineingelegt hatte, wieder heraus und schmiss sie auf ihr Bett. Ihre Gefühle waren in diesem Moment ziemlich schwer zu beschreiben. Wut mischte sich mit tiefer Traurigkeit und Angst. Sie wusste nicht wie es Piet jetzt ging, aber sie beschloss, dass es das Beste für ihn wäre, wenn sie jetzt gehen würde. Obwohl sie dachte, dass er eigentlich etwas von seinen Gefühlen für Judy erzählen hätte können. Egal. Die Freundschaft war in furchtbarer Gefahr und Linda musste jetzt alles tun um sie zu retten, auch wenn das einzige das sie retten könnte, ein Pause war. Sie holte ihren Koffer, räumte die Sachen, die sie aufs Bett geworfen hatte, hinein und begann auch die Sachen aus dem Bad zu holen. Zum Schluss vergewisserte sie sich noch einmal, ob sie wohl alles eingepackt und nichts vergessen hatte und schmiss sich dann aufs Bett um die paar Stunden, die noch von der Nacht übrig waren, zu schlafen. Es gelang ihr aber nicht sehr gut. Immer wieder wachte sie auf und wenn sie dann wieder umständlich eingeschlafen war, wälzte sie sich unruhig hin und her.
Auch Piet schlief in dieser Nacht nicht besonders gut. Auch er wachte immer wieder auf und musste über die Geschehnisse dieser Nacht nachdenken. Wieso hatte Linda ihm nichts erzählt? Seine Gefühle waren ähnlich denen von Linda, auch wenn hier momentan noch die Wut Überhand hatte. Er war sich ebenfalls bewusst, dass die Freundschaft an einer gefährlichen hohen Klippe hin und her wanderte und sann darüber nach, was noch zu retten war. Das ein, erst so kurzer Urlaub schon eine Freundschaft zerstören konnte? Nein, das konnte nicht sein. Er schaffte es sein innere Wut zu besiegen und nahm sich vor, beim Frühstück mit ihr zu reden. Schließlich lag ihm auch noch etwas an dieser sehr guten und vor allem langen Freundschaft, die nun zu zerbrechen drohte.
Am nächsten Morgen, stand Linda, obwohl sie nur zwei Stunden geschlafen hatte, sehr früh auf. Sie sah sehr bemitleidenswert aus: Tränensäcke unter den Augen, verquollenes Gesicht, zerzauste Haare. Ein Bild des Jammers. Sie wollte unbedingt alles erledigen bevor Piet aufstand. Kurz bevor sie das Zimmer verließ , schrieb sie noch eine Nachricht auf ein kleines Zettelchen. Als sie an Piets Zimmer vorbeiging, schob sie die Nachricht unter der Tür durch. So schnell sie konnte, hastete sie dann mit dem schweren Koffer nach unten zur Rezeption um zu bezahlen.
Wiedereinmal musste sie Tränen vergießen, als sie sich draußen noch einmal nach dem Hotel umdrehte und zu Piets Fenster blickte. Hoffentlich sah er sie nicht. Nicht in ihrem jetzigen Zustand. Schnell winkte sie sich ein Taxi heran, stieg ein und entfernte sich langsam vom Hotelgelände. Immer wieder warf sie einen hoffnungsvollen Blick zurück. Irgendwie wünschte sie sich nun doch, dass er sie gesehen hätte. Vielleicht wäre er ja herausgekommen um sie aufzuhalten. Sie schlug sich den Gedanken so schnell aus dem Kopf wie er ihr gekommen war. Das hätte Piet doch in hundert Jahren nicht getan. Sie konnte nichts anderes tun, als in Geheule auszubrechen. Es war alles so schrecklich! Wieso hatte es so kommen müssen?! Gut, dass sie sich nicht geschminkt hatte, denn sonst wäre alles auf den zerschlissenen Bezug der Rückbank, des Taxis, getropft. Die ganze Fahrt zum Flughafen über, weinte sie. Sie konnte sich gegen die Tränen nicht wehren, sie kamen einfach. Sogar das Herz des Taxifahrers hatte Lindas trauriger Anblick erweicht. Besorgt sah er ihr nach, als sie ausstieg und zur großen Halle des Flughafens stöckelte.
Inzwischen war Piet schon lange aufgestanden. Gerade hatte er das kleine Zettelchen bemerkt, das vor seiner Zimmertür lag. Er bekam Panik, als er die Nachricht Lindas las: „Hallo Piet! Ich wollte lediglich noch einmal sagen, dass es mir leid tut und dass ich abreisen werde! Glaub mir, es wird besser sein. Entschuldige die Störung! Deine Linda.“ Er sah von dem Schreiben auf. Was hatte er da bloß angerichtet?! Er hätte nicht so ausflippen dürfen, dass wurde ihm nun bewusst. Er hätte ja von Anfang an schon sagen können, dass er für Judy mehr empfand. „Mann, vielleicht hatte sie einfach nur Angst, es mir zu sagen, dass sie anders tickt!“, redete er wütend mit sich selber. Er musste etwas tun, das war klar. Sie konnte nicht einfach so abreisen! Wie von der Tarantel gestochen stürmte er (ohne Schuhe, nur mit Socken und noch im Pyjama!!) aus dem Hotel. Das war vielleicht ein komisches Bild: Ein Junge mit zerzausten und in alle Richtungen abstehenden Dreadlocks, einem Chè Guevara T-Shirt und nur einer Boxershort an. Doch Piet war es egal, was die Leute von ihm dachten, denn es ging darum eine Freundschaft zu retten! Energisch winkte er ein Taxi zu sich, stieg hastig ein, sodass er sich den Kopf stieß und sagte dem Fahrer wohin. Während er sich den Kopf rieb, hetzte er den Taxifahrer: „Verdammt noch mal, fahren sie doch schneller, ich muss meine beste Freundin vor einem großen Fehler bewahren!“ Doch da fiel ihm ein, dass der Lenker des Fahrzeugs vielleicht gar kein Deutsch verstand und drückte es, wenn auch um einiges kürzer, in Englisch aus: „Damn, drive faster!!“ Er hatte diese Worte in einem sehr drohenden Ton ausgesprochen, sodass der Fahrer verängstigt die Geschwindigkeit des Fahrzeugs erhöhte. Nervös rutschte Piet während der ganzen Fahrt auf der Rückbank hin und her. „Hoffentlich erwische ich sie noch!“, dachte er bei sich. Er macht sich aber auch die größten Vorwürfe. „Wenn ich nicht so ausgeflippt wäre, wäre das alles nicht passiert! Und das schlimmste ist, dass sie wahrscheinlich denkt, sie wäre an allem schuld!“ Als das Taxi endlich vor der großen Halle des Flughafens zu stehen kam, vergaß Piet in aller Eile zu zahlen und ließ einen verdutzten Fahrer zurück. Verdammt er hatte keine Zeit für solche Kleinigkeiten, es ging um seine beste Freundin. Er stürmte in die Halle. Währenddessen zog er alle Blicke auf sich. Wäre ja auch zu seltsam gewesen wenn sein Aussehen kein Aufsehen erregt hätte. Verzweifelt begann er Linda zu rufen, denn in dem Gewimmel von Leuten konnte man ja nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennen; „Linda? Linda, wo bist du?“ Er rief es noch ein paar mal so laut er konnte. Als sich niemand meldete, was auch irgendwie zu erahnen gewesen war, bei so einer Menge Leute, begann er einzelne Personen zu fragen, ob sie ein Mädchen mit schwarzen, langen Locken gesehen hatten. Die meisten konnten ihm jedoch keine Auskunft geben. Verzweifelt setzte er sich auf eine Bank. Er stützte die Hände auf die Knie und legte das Gesicht in die Hände. Er glaubte, dass es schon zu spät und Lindas Maschine schon gegangen sei. „Toll gemacht Piet! Wie konntest du nur?“, warf er sich selbst vor. Er starrte dabei die vorbeigehenden Passanten an und hoffte unter ihnen doch noch Linda zu erkennen, dabei glaubte er zu wissen, dass es hoffnungslos war. Er war schon den Tränen nahe, als er plötzlich durch eine Hand auf seiner Schulter erschreckt wurde. Er fuhr herum und wen sah er? Linda! „Linda!“, rief er voller Freude und schloss sie in die Arme. Er musste heulen, aber nicht etwa aus Trauer sondern aus purer Freude! Wahrlich, es waren Freudentränen! Linda hatte mit so viel Zuwendung anscheinend nicht gerechnet, denn sie erwiderte nur ganz verdattert seine Umarmung. Trotzdem genoss sie es ihrem besten Freund nach langer Zeit wiedereinmal so nahe zu sein und so hauchte sie: „Piet!“ Als er sie losließ musterte Linda ihren besten Freund erst einmal genau: „Wie siehst du denn aus?“ „Ach, das ist nicht wichtig, Hauptsache ich habe dich noch erwischt!“ Mit einem Lächeln umarmte er sie wieder. Er hatte nie gedacht, dass ihm Linda einmal so viel bedeuten könnte.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Anna, die mich eigentlich aufs Schreiben gebracht hat!!