Jedes Mal, wenn ich über die kleine Brücke gehe, verfalle ich in alte Zeiten. Was brachte mir dieser Bereich, was durfte ich hier alles erleben. Schritte und Wege in die Vergangenheit, ohne die Gegenwart zu verlassen. Diese kleine Brücke, eine Brücke die für mich Geschichten bereithält, Verbundenheit, ein Stück Heimat. Wenn man sie überschreitet und somit den Schutz der Häuser verlässt und sogleich in die Natur hinaustritt.
Das Älteste, an das ich mich erinnern kann sind Fahrten mit einem blauen Paddelboot auf dem kleinen Fluss. Damals war das noch möglich, weil der kleine Fluss damals noch ungehindert eine Abzweigung vom großen Fluss bildete und man dadurch wunderbar in den ruhigen Teil des großen Flusses paddeln konnte. Dorthin, wo auch heute noch so manches Wochenendhaus steht, bzw. mancher Garten angelegt ist. Der Kapitän dieses Paddelbootes war mein Onkel und es machte Spaß, als kleiner Knirps den Fluss auch mal aus diesem Blickwinkel zu erleben. Bäume und Hecken von unten zu betrachten, tiefer noch, als jener Weg, der den kleinen Fluss ein Stück seines Weges begleitete.
Allerdings war es nicht nur auf dem Fluss interessant, sondern auch im Fluss. Irgendjemand kam auf die Idee unterhalb der kleinen Brücke nach verborgenen Schätzen zu tauchen. Tatsächlich tauchte er dann auch auf und hielt etwas in der Hand. Fingerlang und mit einer Spitze. Schnell war klar, das müssen Patronen sein. Versenkt und damit vergessen nach dem letzten Krieg. Vergessen bis zu jenem Zeitpunkt. Ach ich ergatterte eine davon und zeigte sie ganz stolz am nächsten Tag in der Schule herum. Nicht nur Schüler interessierten sich dafür, sondern auch mein Klassenlehrer. Er führte mich zum Rektor und dem musste ich genau erzählen, wo ich das Ding her hatte und wer alles dabei war. Woraufhin dann in so manchem Haus das Telefon klingelte und Eltern in Alarm versetzt wurden.
Die Bäume die hier stehen erzählen mir auch Geschichten aus der Vergangenheit. Die drei kleinen Weiden, deren handförmiger Stamm über den kleinen Fluss hingen, luden uns damals ein, sie zu „besetzen“. So hatte jeder von uns drei einen eigenen Platz. Die Äste der Weiden ragten wie Finger aus dem Stamm und reckten sich in die Luft. Einen noch größeren Reitz hatte die große Eiche, die an der kleinen Kurve des Weges stand. Ihr innerer Teil war hohl, aber nur etwas über einem Meter und in der Höhe von ca. 8 Metern. Um in diese Baumhöhle zu kommen mussten wir ihn immer besteigen. Das war das Problem nicht, sondern das wieder runter kommen. Dazu mussten wir von einem in ca. 2,50 Meter hohen Ast springen. Damit tat ich mich immer sehr schwer. Das Thema erledigte sich mit der letzten Besteigung, bzw. dem letzten Abstieg, denn bei der Landung auf dem Boden biss ich mir so sehr auf die Zunge, dass sie blutete.
Wenn man an der Eiche weiter geht, kommt man an die Abzweigung, an der der kleine Fluss entsteht. Der große Fluss macht eine Biegung und um ihn im Bett zu halten, wurden Jahre vor mir Betonwinkel an seinem Ufer eingelassen. Die Wiese zwischen Betonwand und Eiche liegt etwas höher und so ergab sich, an einem Tag, als Hochwasser war und wir uns ansehen wollten, wie schnell das Wasser wohl in diesem Bereich fließt, dass ich beinahe diesen Absatz überschritten hätte. Im letzten Augenblick schrie mein Freund STOP und ich stocherte mit meinem Stock, den ich mir extra deswegen zur Hand genommen hatte ins Leere. Einen Schritt weiter und ich wäre unten gewesen und vermutlich hätte mich die Strömung mitgerissen.
Apropos mitgerissen: Auf der großen Wiese, zwischen dem kleinen Fluss und dem großen Fluss war früher der Kirmesplatz. Dort wo Jahre später Heißluftballons im sommerlichen Abend zu klassischer Musik erleuchteten. Dazu aber später mehr. Auf dieser Wiese war natürlich sehr viel Platz und so kam es, dass einmal eine Go-Kart Rennbahn aufgebaut wurde. Dann kam das große Unglück. Hochwasser riss die Bahn mit. Teile dieser Bahn wurden dann später an der Mündung des großen Flusses ins Meer gefunden. Das war die letzte Kirmes, die hier stattfand.
Zurück zu den Heißluftballons: Viele Jahre wurde auf der großen Wiese ein wunderbares Fest gefeiert. Heißluftballone starteten von ihr und nahmen neugierige Neufahrer mit. In der Zwischenzeit gab es für die am Boden gebliebenen reichlich zu trinken und zu essen. Wenn es dann dunkel wurde, stellten sich die zurückgekehrten Ballons in eine Reihe und klassische Musik wurde laut abgespielt. Im Wechsel und im Takt der Musik wurden dann die Brenner der Ballons gezündet. Ein wunderbares Augenspiel ergab sich. Auch hier wurde das Fest durch ein Zwischenfall zum Scheitern verurteilt. Vor und nach dem Ballonglühen gab es, wie schon beschrieben, reichlich zum Glühen für den Menschen. Es gab zwar Dixi Häuschen, die wurden aber ungerne benutzt und so kam es, dass ein Mann sich am Ufer des kleinen Flusses erleichtern wollte. ER rutschte ab und ertrank im Fluss. Ob der Veranstalter eine Mitschuld traf, oder nicht, war egal. Das Fest wurde abgesetzt.
Die Straße, die dem kleinen Fluss einen Teil folgt, bis sie dann an der großen Eiche sich leicht links anhebt und zur großen Brücke folgt wurde auch ab und zu für erste Fahrten mit dem Auto genutzt. Einem jungen Pärchen erging es einmal nicht so gut bei einer solchen Probefahrt. Kurz hinter der kleinen Brücke, vor der großen Wiese befindet sich ein Parkplatz. Dort stieg er von der Fahrerposition und sie übernahm das Steuer. Er erklärte ihr, wie man den Rückwärtsgang einlegt, die Kupplung langsam kommen lässt und dann das Auto langsam rückwärts rollt. Gesagt, getan. Sie startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Die Kupplung ließ sie kommen und gab Gas. Der Wagen schoss über die Straße und landete im kleinen Fluss. Die Feuerwehr musste das junge Paar retten. Das Auto war Schrott.
All diese Geschichten fallen mir ein, wenn ich die kleine Brücke überquere. Gehe ich in die andere Richtung, komme ich in den Ort, in dem ich groß wurde. Kein Ort wie jeder andere. Viele Geschichten verbergen sich hinter jeder Mauer. Diese werden, wenn überhaupt an einem anderen Ort erzählt. Dies ist der Ort der kleinen Brücke.
Texte: Alexander Markus
Bildmaterialien: Alexander Markus
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Den beiden Freunden, Robert +Dirk ,die ich vor Jahren aus den Augen verloren habe und all jene, die sich auch an jenem Ort zu Hause fühlen