Nach all der Zeit überkam ihn immer noch Nervosität, wenn er sie an diesem Ort besuchte.
Der Stein war nackt, ohne Worte, ohne Verzierungen darauf. Er hob sich in keiner Weise von den anderen wenigen ab, die verstreut in jede Richtung aus dem Boden ragten und halb versteckt unter Büschen und hohem Grün hervorlugten.
Vor den Stein legte er bei jedem Besuch Wildblumen, die das leere Grab schmücken sollten. Hugo schaute stets zu Boden, wenn er mit ihr sprach. Er blickte generell nie nach oben gen Himmel.
„Es ist der 19. 09., dein Geburtstag. Ich weiß, wir hatten eine Vereinbarung, aber ich komme nicht umher dich außerhalb unseres Monatstages aufzusuchen. Bitte, sieh es mir nach.“
Hugo ging, während er das Gras mit den Lackschuhen beiseite drückte, um das Grab herum und fasste den kalten Stein an. Er versuchte nicht zu weinen, doch es gelang ihm nicht. Niemals.
„Weißt du noch damals, bevor alles den Bach runter ging? Es war so friedlich auf der Wiese.“
Der Mann sah sich um. Das Gras wucherte in die Höhe. Die Rinden der entlegenen Bäume waren mit Moos bedeckt und Unkraut wuchs unaufhaltsam aus jeder Lücke der nährreichen Erde.
„Schade, dass es niemanden mehr gibt, der sich darum kümmert, nicht?“
Es war ruhig. Kein Vogel war zu hören, kein Eichhörnchen zu sehen. Nur die Kriecher gab es noch. Die Spinnen, die Mistkäfer, die Ameisen und die Fliegen.
„Ein Jammer um die schönen Tiere. Ich habe den Anblick der majestätischen Hirsche und das Raunen im Wald außerhalb der Wiese genossen. Wir zählten immer die Vögel, wenn sie nach Süden unterwegs waren. Und wenn es spät wurde, konnten wir das Heulen der Wölfe hören, die zum Vollmond sprachen.“
Wie gern würde Hugo an diesem frühen Morgen einen Blick auf den Mond werfen, doch er konnte es nicht. Er wusste, dass er schien und sichtbar war, denn die Sonnenstrahlen versteckten sich noch hinter den Bergen.
„Wie lange habe ich ihn nicht mehr gesehen? Siebzehn, achtzehn Jahre?“
Hugo holte ein Foto heraus und lächelte traurig, als er es betrachtete. Damals, zu einer Zeit als die Technik auf ihrem Höhepunkt angelangt war und als die Menschen und alles andere noch in Harmonie zusammenleben konnten, entstand diese Aufnahme dank einer Drohne. Er hatte sie selbst gebaut, selbst konfiguriert und selbst vernetzt und mit einem Verstand ausgestattet.
„Erinnerst du dich an das Foto, das Heimchen von uns geschossen hatte? Ich war so stolz darauf.“ Er schien in sich zu versinken.
Hugo ließ seinen Arm hängen und das Foto fallen. Es wurde mit dem Wind ein Stück weggetragen und verfing sich im Moosmantel eines riesigen Baumes. Gut sichtbar für jede Kreatur, die mutig genug war aufzublicken.
Erschrocken starrte er auf seine Hände. Dann auf den Boden. Etwas bedrückt und verzweifelt schob er hastig, auf der suche nach dem Foto, die Halme beiseite und weinte auf die Erde.
„Ich hab `s verloren, Liebste! Ich hab `s fallen lassen!“, schrie er in die Leere. Wütend und kopflos lief er ein paar Bahnen ab. Dann ließ er sich geschlagen fallen und verschwand bis zu den Schultern im Gestrüpp. In diesem Augenblick schien Hugo alles egal zu werden. Sein hellblauer Anzug, der dreckig wurde, die Lackschuhe, die ein paar Zentimeter in den Boden sanken und sogar die Tatsache, dass er vielleicht der letzte seiner Art war, der noch lebte.
Hugo raufte sich sein grau meliertes Haar und strich es wieder glatt. Dann richtete er die rote Krawatte. Vorsichtig versuchte er sich zu orientieren. Durch die Halme, Stiele und Blüten hatte er nur eine wage Vermutung, in welcher Richtung nun ihr Grabstein lag. Schnell gab er die Hoffnung auf, das Foto wieder zu bekommen, aber zu ihr musste er heute noch einmal.
„Wo bist du? Loanne, wo bist du?“, rief er ihr zu, obwohl er wusste, dass eine Antwort ausbleiben würde.
Er entschied noch ein Weilchen dort zu warten. Jetzt kam die Nervosität zurück. Hugo brannte schon seit Längerem etwas auf der Seele, aber er schaffte es nie, die harten Worte zu formulieren, wenn er auf Sie herabblickte.
Nun, in der Einsamkeit, dennoch in Hörweite, kratzte er all seinen Mut zusammen.
„Vielleicht wusstest du es schon.“, brabbelte er dem Boden zu. Die Silben auszusprechen viel Hugo schwer. Man sah ihm an, dass sein Herz gebrochen war. Seit geraumer Zeit sogar. Er hauchte Luft aus und sog neue in sich hinein.
„Etwa ein Jahr, nachdem du verstorben warst, lag ich hellwach im Bett. Ich wälzte mich von Seite zu Seite und fand keinen Schlaf. Daran hat sich seitdem nicht viel geändert, aber in jener Nacht stand ich kurz davor wieder mit dir vereint zu sein.
Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, es fühlte sich aber keineswegs danach an. Ein Traum hatte mir einen Streich gespielt. Er gaukelte mir vor ich läge wach, die Augen aufgerissen bis zur Schmerzgrenze. Die Lider brannten und es war unmöglich zu blinzeln. Dann drehte sich mein Kopf wie von selbst von der Seite weg.
Alles in mir schrie es nicht zu tun. Sieh nicht nach oben! Es wäre dein Ende! Aber nein. Ich drehte den Kopf weiter. Und als ich durch die Decke sah, erschrak ich fürchterlich. Da waren sie. Voller Geduld und Zuversicht harrten sie aus, im Wissen, dass der alte Hugo nachgeben wird, mit der Zeit.
Die Fangarme rasten auf mich zu. Sie durchbrachen die Decke unseres Hauses und packten mich kräftig, sodass es mir unmöglich war, mich daraus zu befreien.
Erst jetzt wachte ich tatsächlich auf, aber meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn ich hatte mich im Schlaf auf den Rücken gedreht und starrte direkt nach oben.
Panisch schloss ich meine Augen und betete. Es war die pure Angst, die mich beten ließ. Ganz automatisch, denn du weißt ja, dass ich kein gläubiger Mensch bin.
In meiner Erstarrung wartete ich eigentlich nur noch darauf, dass mein Traumszenario Realität wurde. Mein ganzer Körper war durchgeschwitzt und ich fror und schluchzte.
Aber es passierte nichts.
Und dann, für einen ganz, ganz kurzen Moment, hatte ich die Hoffnung, das alles wäre nur in meiner Einbildung passiert. Alles, verstehst du? Ich sah herüber auf deine Seite des Bettes, sogar ein Grinsen brachte ich heraus, aber die Wahrheit ist eine andere und blieb sie bis heute.“
Na, Interesse geweckt? Hier ist die kostenlose Leseprobe leider vorbei. Wer wissen will wie es weiter geht schaut bitte auf den unzählgen Onlinebuchplattformen nach. Dort finden Sie auch meine anderen Werke.
Liebe Grüße
Julien Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2020
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