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Meine Finger strichen alle sechs Saiten meiner Gitarre entlang. Ich atmete tief durch die Nase ein. Es roch so gut! Ich roch weiter an meinen Haaren. Dort hatte sich sein schöner Duft also abgesetzt und im ersten Moment überlegte ich ernsthaft, nie wieder duschen zu gehen. Wieder spielte ich alle Saiten der Gitarre und bemerkte, dass da etwas schief klingt. Bevor ich es korrigieren konnte, ertönte schon die helle, freundliche Stimme meiner Mutter. „Assal Schatz, komm runter, das Essen ist fertig!“ „Ja, Mutter!“, erwiderte ich nur und machte mich auf dem Weg. Ein paar Strähnchen in der Hand, die ich an meine Nase presste um weiter in seinem herrlichen Duft zu versinken, schlenderte ich die Treppen runter. Je näher ich der Küche kam, desto komischer wurde dieser süße, sexy Duft, den ich dauernd roch. Plötzlich vermischte es sich mit dem Duft vom geschmolzenem Käse und Tomatensoße und einige andere Düfte, die ich nicht identifizieren konnte. ‚Nein, hey stopp! Duft, verdufte dich doch nicht!‘, dachte ich mir, doch es war schon längst zu spät. Eine riesen Auflaufform mit, ehrlich gesagt, vorzüglicher Lasagne á la Mama, stand plötzlich direkt vor mir. Ich hatte lange nichts mehr gegessen, zu viel Stress. Schulstress, Stress unter Freunden und Stress um die Zukunft. Denn ich bin im Moment schlecht in der Schule. Meine Mutter sagt mir dauernd, ich sollte anfangen, mir Gedanken darüber zu machen, was ich werden will, wenn es mit der Krankenschwester nicht klappt. Aber ich kann es einfach nicht, ich sehe mich nirgendswo anders, als im Krankenhaus, als Krankenschwester. Ich legte meine ‚Haarpracht‘, wie meine Mutter immer zusagen pflegte, auf eine Seite meines Halses um ungestört essen zu können. Ich verändere mich kaum. Ich traue mich nicht. In der 5. Klasse habe ich mir einmal die Haare kinnlang schneiden lassen, grässlich. Einfach nur grässlich und seitdem habe ich mir nur noch die Haare langwachsen lassen. Schokobraune, lange, etwas gewellte Haare habe ich. Ein etwas rundes Gesicht und sowieso bin ich nicht die dünnste. Während ich so an meine Figur dachte, verlor ich den Appetit auf Mamas wunderbare Lasagne. Ich aß noch ein paar Bissen und begab mich dann wieder in Richtung Zimmer. Ich hatte das Bedürfnis meine beste Freundin anzurufen, Tessa. Tessa und ich kennen uns schon sehr lange. Seit der Kindergartenzeit. Oh ja, Kindergartenzeit. Das hört sich gut an. Man hat keine Sorgen und du weißt noch nicht mal, dass deine Zukunft in deinen Händen liegt und du niemanden die Schuld dafür geben kannst, wenn du es später einmal zu nichts bringst. Ja, die Kindergartenzeit. Man hat sich in Dreck und Schlamm gewühlt, kam nach Hause, sprang unter die Dusche und die Welt war wieder in Ordnung. Wir spielten mit Bayblades, damals gab es keine Welt aus Playstation oder XboX. Das Leben war schön, man hat es genossen ein Kind zu sein. Auch jetzt bin ich noch ein Kind, aber älter. So alt, dass ich mir Gedanken über mein Morgen machen muss. Früher machte ich mir Gedanken, mit wem ich an dem Frühstückstisch sitzen soll. Mein größtest Problem war es, wenn keiner mit mir rutschen wollte, weil ich mich allein nicht traute. Wenn Lehrer dich anmeckerten, dann nur weil du über die Spielgrenze gegangen bist, weil sie nicht wollten, dass dir etwas zustößt. Jetzt musst du mit Tadel rechnen, einem Gespräch beim Rektor und dem ewigen Hass, den dein Lehrer auf dich hat. Früher ging es um Spielzeuge, um die man sich gestritten. Heute um deine ‚Ehre‘, ‚dein Mädchen‘, oder einfach nur aus Langeweile. Damals kam keiner der Kids auf die Idee, einfach ein Opfer zu suchen. Alle spielten fröhlich miteinander. Doch jetzt schließen sich die Schüler in Gruppen ein, bei denen sie denken, sie würden dazu gehören. Doch im Grunde weiß doch keiner von uns pubertärenden Monster, wer wir sind? Ich dachte, in dieser Zeit ist man auf der Suche nach sich selbst. Doch jeder sucht nach jemandem, damit er nicht allein da steht. Hauptsache man ist kein Loser und hat viele Freunde. Hauptsache, man fühlt sich nicht wie die Loser, die keine Freunde haben. „Ach du meine Güte, ich versinke wieder zu tief in meine Gedanken.“ 95… 632… Die Nummer wird gewählt, es tutet einen kleinen Augenblick, bis meine beste Freundin mit ihrer hohen, liebevollen Stimme ein hastiges „Hallo“ ins Telefon schreit. „Huch, wo warst du denn, dass du jetzt so aus der Puste bist?“, fragte ich sie. „Du, ich war unten und dann bin ich kurz hoch gegangen um was zu holen und gerade als ich oben war, hast du angerufen und dann…“, „… musstest du deine total steilen und gefährlichen Treppenstufen erst einmal runterklettern!“, führte ich für sie fort. „Nicht nur das, ich musste sogar noch das Telefon suchen!“. „Wie konnte ich das nur vergessen, Telefon suchen… natürlich.“ Wir kennen uns so gut, wir wissen, welche Schritte der andere macht um ans Telefon zu gehen und können unsere Sätze vervollständigen. „Na gut, was gibt’s denn so zu erzählen?“, fragte sie mich voller Neugierde. „Ach, keine Ahnung. Ich ruf mal wieder einfach so an. Hast du denn nichts zu erzählen?“ „Nein, tut mir Leid.“ „Hm… Lass uns doch einfach mal in einer halben Stunde vor der Eiscortina treffen. Mit einem Eis und die schönen Sonnenstrahlen, finden wir bestimmt ein Thema“, schlug ich vor und wir verabschiedeten uns. Ich musste mich nicht noch extra fertig machen, ich zog nur etwas leichtes an, denn das Wetter ist dermaßen gut. Ich achtete kaum auf die Uhr und verließ die Wohnung. Langsam machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Unsere Innenstadt ist einfach: sie besteht aus ein paar Klamottenläden, zwei Schuhläden, eine Eisbar, zwei Dönerläden, viele Frisöre in jeder Ecke und Nische und Türken, die dort rumlaufen. Ja, Pierdorf ist wahrhaftig ein kleines Dorf, aber ganz süß. Eigentlich kannst du da nichts machen, aber mit den richtigen Freunden macht das Abhängen dort Spaß. Richtige Freunde, das ist auch wieder ein sehr heikles Thema. Das ist doch einfach Schwachsinn, es gibt doch keine richtigen Freunde! Vielleicht eine, und zwar meine Tessa. Meine Tessa ist eine richtige Freundin. „Hey, Assal!“, dröhnte es voll in meine Ohren und ich sprang aus meinen Gedanken. Ich sah mich um, wer hat mich denn gerufen? „Assal! Hay!“ Das war Alper. Der kleine Bruder von Kadir. Er ist ein süßer Junge, wäre er nur drei Jahre älter… „Hey, Assal. Wie geht’s dir?“ „Na, kleiner Boss. Ganz gut, bin auf dem Weg in die Stadt. Und dir?“ Plötzlich dachte ich über meinen und seinen Namen nach. Assal und Alper, wie Mütter auf solche Namen kommen können. Mein Name bedeutet im persischen genau übersetzt, Honig. Aber ich glaube, es hat noch etwas anderes zu bedeuten. Aber Alper, dabei denke ich nur an Alpen, und dann an die Schokolade, haha. „Mir ganz gut, auf dem Weg in die Stadt? Uh, wen triffst du dort. Deinen Lover? Haha!“ „Ach, quatsch Alper. Sei bloß still!“, sagte ich, aber mit einem Grinsen im Gesicht. „Ich habe doch keinen Lover, du Trottel!“ „Kann doch sein. Bestimmt triffst du dich immer heimlich mit Kadir, das wäre doch voll cool!“ Kadir. Dieser Name brannte immer auf meinen Lippen, ich wollte ihn nie mehr aussprechen oder gar hören. „Ich… Ich und Kadir? Du träumst wohl!“, erwiderte ich. Ich glaube, es kam patzig rüber, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen. „Hahaha, das war nur ein Spaß, man!“ Wir waren fast angekommen, noch gefühlte 10 Meter. Sie stand wie immer nicht da, weil sie sich verspätet. Aber das ist nicht schlimm, ich schweife weiter in meinen Gedanken. „Naja, ich fände es cool, wenn du und Kadir…“, „Kadir und ich, nichts. Nichts mit mir und Kadir, merk dir das ok! Dein Bruder ist ein…“, aber ich sprach nicht weiter, denn es war sein Bruder. Ich wollte keinen Streit mit Alper. „Was, was ist mein Bruder?“, antwortete er mir wütend. Na klasse, so wie ich es erwartete. „Ach Alper, tut mir Leid. Du weißt doch, ich habe Stress mit Kadir. Seit drei Monaten reden wir nicht mehr miteinander… Irgendwie passt es mir nicht, wenn du immer sagst ‚Kadir und du. Du und Kadir‘. Tut mir doch Leid.“ „Jaja, schon gut. Aber vertragt euch doch mal, was bringt es euch?“, und da fuhr er davon mit seinem Fahrrad. „Nein.“, sagte ich ganz leise. Aber er konnte mich ja sowieso nicht hören. „Assaaaaaaaaal!“ Ich hörte es und binnen Sekunden hatte ich Tessa am Hals hängen. „Tessa! Du bist meine Rettung, sonst wäre ich heute vor Langeweile gestorben!“ „Quatsch, komm lass ein Eis holen und dann erzählst du mir alles!“. Alles? Was meinte sie mit ‚Alles‘? Ich ging ihr nur still hinterher. Sie drückte mir mein Lieblingseis in meine Hand, schon wieder hat sie mir was ausgegeben. Es wird Zeit, dass ich mich bei ihr revangiere. Aber nur wie? „Also, Assal. Schieß los!“ Wir setzten uns. „Los schießen? Mit was denn überhaupt?“ „Na, mit gestern. Wie war es gestern bei ihm?“ „Hä?“ Ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Ich schwieg. „Ach Assal, komm schon. Du willst mir doch nicht sagen, dass es gestern nicht schön war? Du warst die ganze Zeit bei einem Jungen, der auch Perser ist und ein Jahr älter. Du sagst er ist total nett und nimmt dich gerne mit zu seinen Freunden. Das muss doch wohl was bedeuten, nicht jeder Junge macht so etwas? Also erzähl mir jetzt, wie es war!“ und diesmal hörte es sich schon fast wütend an. Also fing ich an zu erzählen, bevor sie noch durchdrehte. „Nun ja, eh… Ich war halt gestern dort und dann haben wir geredet. Mehr nicht, wir haben nur miteinander geredet.“, wir hatten wirklich nicht mehr als das gemacht. „Aha, so so. Nur geredet, wer soll dir das denn jetzt glauben?“ „Es war wirklich so, Mensch!“ „Mehr nicht? Ok, und über was habt ihr geredet?“, stocherte sie weiter. „Na… Halt über Gott und die Welt, oderso.“ „Über Gott und die Welt?“, sagte sie mit einem kleinen Lacher. „Na denn. Wie sah er denn aus? Gut? Wie habt ihr euch begrüßt?“ „Was soll das, wieso fragst du mich dauernd?“ „Süße, du bist 15. Du hattest noch nie einen Freund. Du bist jung, hübsch und mit dir hat man immer was zu lachen. Und dann gibt es da den Sohn von der besten Freundin deiner Mutter. Zufällig ist er ein Jahr älter und auch Perser. Also, wieso solltest du dich dort nicht ranmachen?“ Gute Frage, aber ich wollte einfach nicht. Ich konnte nicht. „Ich will einfach nicht!“, schoss es aus mir raus und ich stand plötzlich vor ihr, im Café und alle schauten zu mir rüber. „Assal! Setz dich wieder hin!“, befahl sie mir. Ich setzte mich. Ich hatte kein Appetit mehr auf mein Eis. „Was ist denn bloß los mit dir?“ Nichts war mit mir los. Ich hatte kein Problem, oderso. Nein. Ach, ich sollte aufhören mir etwas reinzureden. Ich… „Ist es wegen Kadir?“ Wie macht sie das bloß? Sie liest meine Gedanken. Nein! Sie beendet meine Gedanken, einfach so. Sie kennt mich zu gut. Trotzdem log ich. „Nein, ich habe kein Problem.“ „Das hatte ich dich doch gar nicht gefragt, süße. Sag, was ist los…“ Mist. „Ach, ich habe schon seit drei Monaten nicht mehr mit Kadir gesprochen. In der Schulzeit laufen wir uns dauernd überm Weg, als wenn es ein Zeichen wäre. Und weißt du noch was?“ „Nein, was denn?“ Ich fuhr fort. „Alper, sein kleiner Bruder, den kennst du doch oder? Er sagte, ich solle mich mit ihm vertragen, es wäre unnötig. Er sagte, wäre ich mit Kadir zusammen, wäre das voll cool. Was soll das denn, wie soll ich ihn so denn vergessen?“ „Naja, vielleicht hat Alper einfach nur Recht. Vielleicht solltest du es doch mal versuchen mit ihm zu reden. Also mit Kadir.“ Vielleicht war das doch keine schlechte Idee, aber… „Aber du weißt doch, wie Türken in solchen Situationen reagieren. Immer das gleiche. Immer müssen sie recht haben!“ „Naja, du weißt sowieso was ich von Kadir halte und immer gehalten habe.“ Und damit war das Thema Kadir abgeschlossen. Tessa mochte ihn nie besonders, da hingegen mochte ich ihn sehr besonders. Ich liebte ihn, seit der sechsten Klasse. Er hasste mich. Dann mochte er mich, bis er mich so gern hatte, dass er bis Mitternacht bei mir war. Und dann, eines Abend haben wir uns tief in die Augen geschaut und er offenbarte mir seine Liebe. Wir küssten uns. Am nächsten Morgen holte er mich zu Hause ab, wir fuhren gemeinsam zur Schule und liefen Hand in Hand auf dem Schulhof rum. Ha! Schön wär‘s. Einen letzten Abend haben wir gemeinsam mit Freunden verbracht. Dann trennten sich Thore und Lisa auf blöde Art und Weise. Er stand hinter Lisa und ich stand hinter Thore. Funkstille, gefolgt von einer heftigen Auseinandersetzung und jetzt sind wir hier. Reden nicht miteinander und ich könnte sogar davon ausgehen, dass er mich hasst. Vom tiefsten Herzen. „Hey, süßi. Lass uns doch etwas Schönes für dich kaufen gehen.“ „Ach und was?“ „Wir finden schon was!“, nach diesem Satz folgte ein Gezerre zum nächsten Bus, der zu nächsten Großstadt fuhr. Dort gingen wir in ein W&M, mein Lieblingsladen. Tausende von Oberteile hatte ich mit in die Kabine genommen, doch nur eins war kurz davor, mein Budget von 10 Euro zu sprengen. Ich gab mich damit zu frieden. Danach enterten wir Starblucks und schlenderten zurück zur Bushaltestelle. Es war schon viertel nach Acht und zum Glück war es ein Freitag. „Danke, du bist die Beste.“ Sie sagte nichts, sie drehte sich nicht mal zu mir, als wir im Bus saßen. Aber durch das Glas des Busses konnte ich erkennen, dass sie ein wenig lächelt. Kurz vor ihrer Haltestelle, die vor meiner kam, bat ich ihr an bei mir zu übernachten und sie war damit einverstanden. Wir stiegen gemeinsam aus und gingen zu ihr nach Hause. Schnell ihre Sachen packen, ihre Mama anrufen und den nächsten zu mir nach Hause nehmen.

Am nächsten Morgen erschrak ich über den Anblick meines Zimmers. „War hier eine zwei Mann-Pary? Ich kann mich nicht an andere erinnern und trotzdem sieht es hier so verwüstet aus!“ „Oh man, was soll das. Du weckst mich, wegen deinem Zimmer?“ Ich hörte gar nicht auf ihr Gemecker, ich fing an aufzuräumen. Ja, seit wir umgezogen sind und mein Zimmer in der zweiten Etage ist und meine Mutter keine Lust hat hochzukommen, räume ich regelmäßig auf. Es ist schon fast zu einem Tick geworden. Was nicht dort steht, wo es stehen soll, wird sofort umgestellt! Ich ging runter um unser Frühstück vorzubereiten. „Huch, ein Zettel…“ ‚Herzchen, ich musste doch noch arbeiten gehen. Hab viel Spaß mit Tessa. Hier liegen Zwanzig Euro und frische Brötchen. Ihr könnt euch zum Mittagessen was bestellen. Ich hab dich Lieb und Kuss‘ Man, meine Mutter muss ganz schön oft arbeiten gehen. Teilweise ist sie auch ziemlich lange bei der Arbeit und trotzdem sind wir immer knapp bei Kasse. Aber was soll’s, es gibt Familien die haben es viel schwerer als wir, also Assal, hör auf dauernd rumzumeckern. „Was gibt’s zum Frühstück?“ „Man, musst du mich so erschrecken?“ „Chill, ich nehm‘ mir was aus dem Kühlschrank.“ Das macht sie immer. Hier ist ihr zweites zu Hause. Und das ist auch gut so, sie fühlt sich hier wohl. Das soll sie auch, sie ist meine beste Freundin. „Boah, du hast gestern so ein Mist gelabert im Schlaf, haha!“ Mist gelabert? Im Schlaf??? „Hä, wie jetzt? Was habe ich denn gesagt?“, fragte ich erstaunt. „Na, irgendwie sowas wie: Oh Kadir!“, sie lachte. Waaaas? Ich hörte ihr erstaunt und neugierig weiter zu. „Ich liebe dich so so so so sehr, Kadir“, äffte sie einem naiven, kleinen, dummen Mädchen nach. Mir. „Oh Kadir!“, sie lachte erneut, diesmal lauter. „Man, du dumme Kuh! So etwas habe ich doch nie gesagt? Als wenn ich je so etwas sagen würde. Man, ey.“ Ich bin sauer. Stocksauer. Das habe ich gar nicht gesagt, ich wette es. Ich stand auf und ging hoch in mein Zimmer. Jetzt sitzt sie allein in der Küche, hat sie davon. Ich höre sie die Treppen raufkommen. Dabei sagte sie etwas wie: „Ach komm schon, das war nur ein Spaß.“ Oderso, ich habe ihr nicht genau zugehört, im Gedanken bin ich grade wieder ganz woanders. Ich habe so etwas niemals gesagt. Ok, ich kann das gar nicht beurteilen, ich habe ja geschlafen. Naja, aber… Naja, trotzdem gibt es ihr nicht das Recht, so etwas zu behaupten. Oder zu erzählen. Plötzlich merke ich, wie sie vor mir auf dem Bett sitzt. „Wie lange war ich denn mit den Gedanken woanders?“ „Lang genug, dass ich mich ran schleichen konnte.“ Sie lächelte. Ich auch. „Sei nicht sauer, aber du hast wirklich… Also du hast mit Kadir geredet. Ich weiß doch nicht mehr genau was, Mensch. Ich habe ja auch halb geschlafen. Kannst du dich denn nicht an deinen Traum erinnern?“ „Nein“, erwiderte ich. Sollte ich so etwas wirklich gesagt haben, wäre es doch total peinlich. Jetzt muss ich mir natürlich ausmalen, wie es gewesen wäre, wenn Kadir auch hier geschlafen hätte. Aber zum Glück würde das nie im Leben so sein können. Einfach aus dem Grund, dass er ein Junge ist und ich ein Mädchen, wir kein Paar sind und unsere Eltern sowieso nie im Leben uns unter einem Dach hätten schlafen lassen. Der Rest des Tages verging wie jeder Tag mit Tessa. Zum Abend hin haben wir uns zwei Pizzen bestellt. „Rück mal die Fernbedienung rüber, Tessi.“ ‚YOU GOTTA MESSAGE, YOU GOTTA MESSAGE!‘ Plötzlich sprangen wir beide auf. Ich weiß nicht wieso, aber ich griff hastig nach meinem Handy. Als ob ich eine wichtige SMS erwarten würde. ‚Kadir – Ruf mich mal an‘. Oh Gott, oh Gott, oh du mein lieber Gott! Mein Herz raste, aber wieso nur? Wieso? Ich frage mich ernsthaft, wieso mein Herz rast, wenn Kadir mir eine SMS schickt, in der klipp und klar steht, dass ich ihn anrufen soll? „Tessa, da…“ „Steht, dass du ihn anrufen sollst? Mach doch einfach. Kann ja eh nicht schlimmer werden mit dem Bergtürken“, beendete sie meinen Satz. Auch wenn ich ihn nicht so beendet hätte. Bergtürke, haha. Ich musste lächeln. „Aber ich trau mich doch nicht. Ich weiß doch nicht, was mich erwartet. Vielleicht will er mich nur beleidigen und mir sagen, wie sehr er mich hasst…“ „Dann beleidigst du zurück und sagst ihn, dass du ihn mehr hasst, als ein zwickender Tanga zwischen den Pobacken. Mensch jetzt stell dich nicht so an, süßi. Ruf ihn an und wenn es nicht so positiv ausgehen sollte, wäre das die beste Methode, um ihn deine Meinung klipp und klar zu verklickern.“ Ich dachte nach. „Hab ich recht, oder was?“ „Jaja, schon gut.“ Ich wähle grade wirklich seine Nummer. Nach drei langen Monaten Funkstille, wähle ich wieder seine Nummer. Oh mein Gott, bin ich aufgeregt. Meine Hände zittern. Wieso geht keiner ran? Was soll das, er hat mir doch eben… Es sei denn, er war es gar nicht und da versucht mich grad einer richtig reinzulegen. Oh Gott, das wäre doch voll peinlich! Dann ruf ich da an und er wollte es doch gar nicht. Ich leg jetzt sofort auf. „Ich muss jetzt sofort auflegen, Tessa!“ „Nein, stopp wieso?“, hörte ich sie antworten, bis der Klang seiner schönen, tiefen Stimme im Hörer ertönte. „Wieso denn sofort auflegen? Hast doch grad erst angerufen.“ Ich bleib still. „Hallo? Jemand dran?“ Er ist es. Er redet mit mir, weil er es so wollte. Er hat mir die SMS tatsächlich geschickt. Er… „Hallo???“ „Oh, hey. Hay, Kadir. Ich… eh, Ich. SMS, also Handy. Also du hast und ich sollte ja halt und so. Deswegen rufe ich grade an.“ „Ja, ich weiß. Assal, ich wollte deine Stimme hören.“ Meine Stimme hören? Er wollte meine Stimme hören, haha. Träume ich? Tessa, weck mich bitte auf. „Meine… Meine Stimme hören? Wieso denn… das?“ „Na, ich vermisse dich Assal. Ich weiß auch nicht, blöder Streit oder? Lass uns das vergessen, lass uns ein Eis essen gehen?“ Ich kann darauf doch nichts erwidern. Was soll denn das, wieso passieren mir auf einmal schöne Dinge. Er will meine Stimme hören, er vermisst mich, er will sich mit mir vertragen, er will mit mir ein Eis essen gehen. Oh Gott, das kann doch nur ein Traum sein! „Assal… Assal! Assal! Assal…“ Seine Stimme wird leiser, heller, dünner. Hört sich an, als würde er von weit weg meinen Namen rufen. Ich spüre ein schütteln. Was ist denn jetzt los, ein Erdbeben? „ASSAL, WACH AUF!“ Ich reiße meine Augen auf und sehe Tessa vor mir stehen. „Endlich, man!“ Was? Es war also doch ein Traum. Ich habe all diese schönen Sachen, nach denen ich mich schon die ganze Zeit sehne nur geträumt. Wenigstens hatte ich einen schönen Traum. Aber das zeigt mir wieder, dass man im Leben kein Happy End haben kann. Denn das wäre auch somit das Ende unseres Lebens. Du kannst nur einen glücklichen Moment haben, der für dich eine Ewigkeit andauert. Doch danach kommt immer wieder etwas schlechtes, was dich in die Tiefe zerrt aus der du sehr lange versuchst, dich hinaus zu zerren. Happy Ends gibt es nur in Filmen. Das ist das wahre Leben. Es geht auf und ab. Dazu sind wir geschaffen. Das bringen uns unsere Eltern bei. In guten wie in schlechten Zeiten nie aufzugeben. Und irgendwann, wenn wir alt sind und die ganze Welt mit unseren eigenen Augen betrachten konnten, unser Leben ausgelebt haben und uns nichts mehr im Wege steht, denken wir an die Zeit zurück, wie schön es war jung zu sein. Und dann schließen wir unsere Augen für immer. Und das war unser Happy End.

Es krachte laut, Tessa hat ihr Glas fallen lassen.
Ich reiß meine Augen auf, guck zur rechten Seite und schau direkt in seine Augen. „Hey, Sonnenschein. Du hast aber lang geschlafen.“ Er lächelt. Es ist sein Lächeln. Kadirs Lächeln.

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Tag der Veröffentlichung: 27.03.2011

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