Cover

I

Groß und holzgerahmt stand der Spiegel vor mir, direkt neben meinem Fenster. Ich blickte mir darin entgegen, seit Wochen das erste Mal. Es war furchtbar.

Das Schwarz meines knielangen Kleides ließ meiner Haut noch blasser erscheinen als sie ohnehin schon war. Ich verspürte ein leichtes Zwicken an meinen Beinen und mir wurde wieder bewusst, wie sehr ich Strumpfhosen hasste. Mein Blick wanderte hinauf zu meinem Gesicht und heftete sich an meine Augen. Ganz klein waren meine Pupillen, das Grün der Iris heller und verwaschener als sonst. Der eigentlich weiße Teil war rötlich verfärbt und durchzogen von tausend feinen roten Linien. Doch sie waren trocken.

Meine Tränen waren für den Augenblick verebbt.

Durch den Spiegel sah ich an mir vorbei zu meinem Bett, wo Sam noch immer mit seiner Krawatte beschäftigt war. Sie war von dem gleichen Schwarz wie der Anzug den er trug. Ich erinnerte mich nicht, ihn je in einem gesehen zu haben. Sein Vater hatte ihn ihm geliehen, weshalb er Sam ein Stück zu groß war, doch das fiel nicht weiter auf. Er sah schrecklich gut darin aus, selten hatte ihm etwas so extrem gut gestanden. Doch mir wäre es lieber gewesen, er hätte ihn nie anziehen müssen.

Ich drehte mich um und tat die wenigen Schritte zu ihm. Er sah auf, noch bevor ich direkt vor ihm stand. Wortlos nahm ich die miserabel gebundene Krawatte und band sie ihm einigermaßen ordentlich. Dad hatte es mir mal gezeigt.

Als ich fertig war richtete ich den Kragen seines schneeweißen Hemdes und fuhr noch ein paar Mal über den seidigen Stoff bis Sam nach meiner Hand griff, sie ganz leicht drückte und mit seinem Daumen über meinen Handrücken strich.

Hier bei ihm zu sein war tröstlich. Ein unvergleichliches Gefühl der Sicherheit breitete sich in mir aus. Ich wusste, würden meine Beine in diesem Moment unter all der Last nachgeben, er würde mich auffangen und in seinen Armen halten.

Wisst ihr, auf die eine oder andere Weise hat Sam immer ein Auge auf mich gehabt.

“Danke“ hauchte er, erhob sich und gab mir einen Kuss auf mein nach hinten gebundenes Haar. Ich lehnte mich an ihn und ließ mich für einen Augenblick treiben, schloss die Augen und wünschte, es würde gut werden. Wünschte, das wäre alles nur ein böser Traum. Wünschte, es würde vorbei gehen. Doch als ich sie wieder öffnete und durch das Fenster den grauen Himmel und den gegen die Scheibe prasselnden Regen sah, war noch immer alles wie zuvor.

Ich hörte wie sich meine Zimmertür mit einem leisen Quietschen öffnete und vernahm dann Sallys sanfte Stimme.

“Es ist soweit.“ Hauchte sie.

“Bereit?“ flüsterte Sam kurz darauf.

Ich log als ich nickte und ich glaube, wir alle wussten das, doch das machte keinen Unterschied. Und so schritt ich mit Sam, der noch immer meine Hand hielt, auf Sally zu, die im Vorbeigehen nach meiner anderen griff, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg…

 

II

Vorsichtig öffnete ich die Augen und schloss sie sofort wieder. Gleißendes Sonnenlicht fiel auf mein Gesicht und blendete mich. Mein Schädel fühlte sich an, als würde ein Pferd dagegen treten.

Ich versuchte herauszufinden wo ich war, was geschehen war.

Davon wurden die Kopfschmerzen schlimmer, doch ich versuchte mich zusammenzureißen und rief mir die letzte Nacht in Erinnerung.

Ein Haufen Leute, daran konnte ich mich erinnern. Wir hatten einen Drauf gemacht, den letzten Ferientag gefeiert, genau.

Blöde Idee, ganz blöde Idee. Scheißidee, schrie mein Kopf, der zu explodieren drohte. Doch ich hoffte, es würde sich in den nächsten Stunden herausstellen, dass die Nacht den Kater heute wert gewesen war.

Ich kam wieder zurück zu meinem Orientierungsversuch.

Der Boden unter mir war hart, ganz sicher also kein Bett, doch damit war zu rechnen gewesen. Zu meiner Erleichterung spürte ich keinen Luftzug, ich befand mich also nicht irgendwo auf dem Gehsteig vor ’nem 7-Eleven, sondern in einem geschlossenem Raum.

Ich versuchte so leise wie möglich zu atmen und achtete auf jedes kleine Geräusch. Ich hörte ein anderes Ein- und Ausatmen. Ich war also nicht allein.

Ich beschloss, einen weiteren meiner Sinne einzusetzen um meine Umgebung zu erkunden. Mit noch immer geschlossenen Augen versuchte ich etwas zu ertasten. Bereits nach der ersten zaghaften Bewegung meiner rechten Hand und fühlte etwas Feuchtes, Klebriges. Blut?

Panik beschlich mich. Mit dem Schlimmsten rechnend, jedoch noch immer unfähig die Augen zu öffnen, ertastete ich mit meiner linken Hand etwas, das ich als Arm identifizierte.

Ich überwand mich und unternahm einen weiteren Versuch die Augen zu öffnen. Die Sonne war weg. Sie war weitergewandert in dem Raum in dem ich mich befand und schien nun in einem anderen Winkel durch das kleine Kellerfenster.

Ich setzte mich auf und sah mich um. Das alles ließ meinen Schädel fast platzen und zusätzlich schmerzte mein Rücken, der es die halbe Nacht mit dem harten Kellerboden zutun gehabt haben muss. Ich verdrängte das alles und schärfte meinen Blick.

Der Arm neben mir gehörte Sam, meinem besten Freund. Dem vielleicht wichtigsten Menschen für mich.

 

Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang, hatte alles mit ihm erlebt.

Er war immer da gewesen für mich. Spielte mit mir im Sand, brachte mir Fahrradfahren bei, hielt tagelang meine Hand nach dem Tod meines Vaters vor zwei Jahren. Er saß einfach nur dort und hielt sie, ließ mich weinen, hielt mich, wenn ich zu schreien begann. Er sagte nichts. Er sagte mir nicht, dass alles gut werden würde, denn wir beide wussten, dass das eine Lüge gewesen wäre. Stattdessen schwieg er. Nur ganz selten flüsterte er mir zu, dass er da sei, und bleiben würde, so lange ich ihn bräuchte.

Seine Eltern hatten sich getrennt als er gerade acht gewesen war, seine Mutter hattte seinen Dad betrogen. Jahrelang bereits als sie sich scheiden ließen.

Sie zog mit dem Kerl und Sams älterer Schwester Sophie rüber an die Ostküste, heiratete, bekam Zwillinge, scherte sich nicht weiter um ihren Sohn.

Sams Dad hat die Geschichte nie wirklich verwunden. Ich meine, er wurde nicht depressiv oder so – zumindest nicht so wie meine Mutter – aber er nahm danach Abstand von Gefühlen und stürzte sich in seine Arbeit.

Sam hatte also allein klar kommen müssen, sehr viel früher als ich. Doch er packte es ganz gut, denke ich. Er hielt nicht mehr viel von seiner Mutter, die ihn auf diese Art im Stich gelassen hat, und verstand seinen Dad. Doch Sophie, die ihn immer so verhätschelt hatte, fehlte ihm, das wusste ich.

 

Jeweils etwa eineinhalb Meter entfernt befanden sich links und rechts von mir zwei alte, abgewetzte Sofas. Auf ihnen lagen jene, die ich atmen gehört hatte. Sally auf der Couch links von mir trug ein weites graues Sweatshirt und Shorts aus dunklem Jeansstoff, beides übersäht von dunklen Flecken die wahrscheinlich durch verschüttetes Bier verursacht worden waren.

Ihr Rücken war mir zugewandt, ihr langes blondes Haar war zerzaust und fiel über den Rand des Sofas bis fast auf den Boden, einer ihrer nackten Füße baumelte an dessen hinteren Teil über der Lehne. Sie lag eng angeschmiegt an Josh, den ich nur aufgrund des zu sehenden schwarzen Haarbüschels und der Hand, die auf Sallys Hüfte ruhte erkennen konnte. Der Rest von ihm war von Sallys Körper verdeckt. Denn obwohl sie sehr dünn und zart war, beeinträchtigte meine niedrige Position meine Sicht auf ihn.

 

Sie und er waren nun seit mittlerweile fast drei Jahren zusammen. Nie zuvor hatte ich so etwas wie die das zwischen den beiden gesehen, so kitschig das alles auch klingen mag. Füreinander waren sie das schönste Geschenk auf Erden.

Die beiden waren wundervolle Menschen. Besonders Sally. Sie war großartig, ihr glaubt gar nicht wie sehr sie das war. Ihr Lächeln war das Schönste an ihr. Es war warm, herzlich, liebevoll, wie sie selbst. Immer wenn ich sie lächeln sah fühlte ich mich sicher und geborgen. Dann gab es mir, wenn auch nur für einen Moment, das Gefühl, alles käme in Ordnung, egal wie schlecht die Dinge standen.

Jeder Außenstehende hätte wahrscheinlich gedacht, sie wäre der glücklichste Mensch überhaupt, doch ich wusste es besser.

 

Ihr Vater war Politiker, dessen steile Karriere seinen Lauf nahm, als Sally gerade geboren worden war. Seitdem hatte das ihren Eltern einen Haufen Geld eingebracht, mit dem sie ihren versnobten Lebensstil finanzierten. Zum Beispiel das Haus, in dem die Prestons lebten. Ich weiß noch genau wie ich mich fühlte, an dem Tag, an dem ich es das erste Mal sah. Es war überwältigend.

Die schneeweiße Fassade, die riesigen Fenster, die Säulen, die akkurat getrimmte Hecke, die makellosen Pflanzen im Vorgarten. Mit meinen sieben Jahren hatte ich es damals für ein Schloss gehalten, und die schöne Sally für die Prinzessin, die darin lebte. Es war perfekt, so hatte ich zumindest geglaubt.

Sally hasste dieses Haus, sie verabscheute alles daran. Die Spießigkeit, den lächerlichen Schein von Perfektion, den es ausstrahlte. Denn perfekt war das letzte Wort, mit dem man diese Familie hätte beschreiben können.

George, ihr Vater, war so ziemlich das größte Arschloch auf Erden. Ich erinnere mich an die Situation, in der ich das das erste Mal miterleben musste.

Es war schon eine halbe Ewigkeit her, wir waren damals vielleicht zehn. Nach der Schule gingen wir zu ihr, lachten über irgendetwas, bevor sie die Tür aufschloss und ihren Vater in der Eingangshalle stehen sah. Bei seinem Anblick verstummte sie augenblicklich. Ich weiß noch wie verwirrt ich war, dass ihre Ausgelassenheit sich so schnell in diese Nervosität verwandelte, die ich zukünftig noch öfter vernehmen würde.

George würdigte mich nicht eines Blickes – alles in allem denke ich, er hatte nie wirklich viel von mir gehalten, was mich ehrlich gesagt nicht im Geringsten interessierte – schritt auf Sally zu, packte sie grob am Arm, gab ihr eine Ohrfeige und zerrte sie mit sich nach oben – wo sie eine Tracht Prügel erwartete, das weiß ich heute. Als sie gerade am Treppenabsatz ankamen und um die Ecke in den Flur einbogen trat Elaine, Sallys Mutter, aus der Küche heraus, warf einen bedauernden Blick hinauf zu ihrer Tochter, die von ihrem Mann davon geschleppt wurde und wandte sich dann an mich. Ihr Haar trug sie zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur drapiert, gekleidet war sie in ein dunkelgraues Kostüm, bestehend aus Jackett und knielangem Rock. Wirklich schick. Und so adrett.

“Du solltest besser gehen, Kate.“ Sagte sie dann, und dabei lächelte sie genauso, wie sie mir die nächsten sieben Jahre zulächeln würde, immer dann wenn ich ihr begegnete. Sie war so ganz anders als George. Nett, lieb, höflich. Manchmal fragte ich mich, wie sie nur an so jemanden hatte geraten können. Ich wusste, dass sie Sally liebte, doch dass sie ihren Mann nie aufgehalten hatte, wenn er sie so behandelte, werde ich ihr immer ankreiden. Ich weiß nicht, was George für ’ne scheiß Kindheit gehabt haben muss, wie man ihn misshandelt haben mag, doch was immer es war, es gibt ihm nicht das Recht, Sally das  alles anzutun.

Doch auch Sally hatte ihn nie aufgehalten, sich nie gewehrt, hatte immer gehorcht, weil sie panische Angst davor gehabt hatte, ihren Eltern zu widersprechen. Sie hatte sich verzweifelt nach der Zuwendung gesehnt, die sie so sehr gebraucht hatte, dass sie alles getan hatte, um zu verhindern, dass ihr noch mehr davon entzogen wurde.

Und so hatte ich sie kennen gelernt, damals, im zarten Alter von sechs Jahren, als das kleine, zurückhaltende, gehorsame, bildhübsche Mädchen sich am ersten Schultag neben mich setzte, das einmal zu meiner besten Freundin werden sollte.

Viel später erst hatte sie mir erzählt, dass ich ihre erste Freundin gewesen war.

Die ersten Jahre unserer Freundschaft waren sehr prägend für jeden von uns gewesen. Nachdem ich nach und nach erfuhr wie ihre Lebensgeschichte aussah, von alledem erfuhr mit ihren Eltern, wurde mir auch bewusst, wie sehr sie das alles zerstört hatte. Der ständige Druck, das Beste geben zu müssen und dann zu spüren, dass das Beste noch immer nicht gut genug ist. Ich denke, die Freundschaft zu mir gab ihr Kraft, das alles zu verarbeiten und vor allem auch Ablenkung. Sie war glücklicher und zeigte immer öfter ihr wundervolles Lächeln.

Doch dann kam Josh und manchmal kam es mir so vor, als wären die Jahre der Freundschaft mit mir Hühnersscheiße gewesen, im Vergleich zu einer Woche Beziehung mit ihm.

Als ich die beiden das erste Mal zusammen sah, mein Gott, ich traute meinen Augen nicht. Die Aura die sie umgab strahlte unendliches Glück aus. Nie mehr verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, wenn er bei ihr war. Seine Nähe war der Urlaub, in den sich ihre Seele flüchten konnte.

In den vielen Wochen und Monaten ihrer Liebe gab Josh ihr jeden Tag das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Er wusste um Sallys Vergangenheit, und hatte sich zur Aufgabe gemacht, ihre Wunden zu heilen, und ihr zu zeigen, was für ein wundervoller Mensch sie war. Und allein dafür war er schwer in Ordnung. Natürlich konnte er Sallys Wunden nicht vollständig heilen, aber er konnte den Schmerz lindern.

 

 

Ich wandte meinen Blick zur anderen Seite und erkannte – zu meiner Erleichterung – dass jene Flüssigkeit, die ich zuvor ertastet hatte, kein Blut war, sondern Likör, der einmal der Inhalt der sich direkt daneben befindlichen Flasche gewesen sein musste. Knapp darüber baumelte eine Hand von dem anderen Sofa. Sie gehörte Josie, einer weiteren sehr gute Freundin von mir.

Ihr rotblonder Haarschopf war verklebt vom Likör, ihr schwarzes Top und die hautenge Jeans waren jedoch scheinbar verschont geblieben. Wie alle anderen schlief auch sie tief und fest.

 

 

Josie war, nun ja… Josie eben. Unberechenbar und brutal ehrlich. Zugleich jedoch besaß niemand den ich kannte so viel Humor und war so loyal wie sie. Wir lernten uns erst später auf der High School kennen.

Sie hatte eine ältere Schwester, Charlotte – das Goldkind, der ganze Stolz ihrer Eltern. Sie hatte übergute Noten, sprach drei Sprachen fließend, spielte Klavier und Geige, ach ihr wisst schon, der übliche Scheiß. Jedenfalls schenkten ihre Eltern ihr all ihre Aufmerksamkeit, hatten sie schon immer getan.

Josie hatte immer vorgehalten bekommen, was für eine großartige Schwester sie doch hätte, und wie schlecht sie doch wäre im Gegensatz zu ihr. Josie hatte das belastet, natürlich. Doch sie konnte damit umgehen, ließ sich nichts sagen, sich nicht unterkriegen, rebellierte so gut es ging, mied ihre gehassten Eltern. Aber die weitaus größere Bürde trug Charlie. Obwohl Josie immer in ihrem Schatten gestanden hatte, war das Verhältnis der beiden ein gutes. Und Josie wusste wie fertig Charlie war. Sie war am Ende, kaputt von dem Druck, unter dem sie stand. Weil sie schreckliche Angst hatte, ihre Eltern zu enttäuschen. Und das war ihr größtes Problem. Ich meine, sie hatte kein Leben, ihre Eltern ließen ihr keine Zeit dafür, und Charlie war nicht in der Lage, sie sich zu nehmen. Und die Liebe, der einzige Lichtblick den sie einst fand, zerriss sie nur noch mehr. Er nutzte ihre Schwäche und Verzweiflung aus, spielte mit ihr, sog sie aus und als sie kaum mehr als eine Silhouette war, ließ er sie fallen.

Und das hatte Josie geprägt, es war das erste Bild, das man ihr von der Liebe verschafft hatte, sie hatte mit angesehen, wie ihre Schwester daran zerbrach. Das war die Zeit gewesen, in der Josie entschieden hatte, sich von der Liebe fernzuhalten um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen.

Und so beschränkten sie ihre außerfreundschaftlichen Beziehungen auf Affären – viel Sex, unverbindlich und schmerzlos. Doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis das sich ändern würde…

 

Da ich niemand weiteres im Raum zu befinden schien, hob ich den Kopf ein Stück und sah zunächst an mir hinunter. Die Anstrengung ließ meinen Schädel beinahe bersten – so fühlte es sich zumindest an – doch ich versuchte mich ein paar Sekunden zusammenzureißen.

Der Ärmel meines Sweatshirts war zerfetzt, meine Jeans bis auf ein paar Flecken jedoch scheinbar heil geblieben.

Langsam gewann ich mein Erinnerungsvermögen zurück.

 

Wir waren uns Getränke besorgen gegangen bei McNeal. Der alte Freddy McNeal war meistens selbst so besoffen, dass er sogar Zwölfjährigen Hochprozentiges andrehte. Nicht dass wir es unbedingt gebraucht hätten, aber – na ja, eigentlich schon.

Dann waren wir weiter gezogen in den Wald wo wir in der Nähe des Flusses nördlich der Stadt die Zeit totschlugen. Irgendwann, ich wusste nicht mehr wieso, kamen wir dann nach einer endlosen Stolperei durch den stockfinsteren Wald, bei der ich mir wahrscheinlich auch mein Sweatshirt zerfetzt haben musste, hier bei Joshs Dad an. Scheinbar sind uns jedoch nicht alle gefolgt, denn ursprünglich waren auch noch Dean und Ben und ein paar weitere von Sams und Joshs Freunden bei uns gewesen. Da ich mit denen normalerweise nicht viel zutun hatte, machte ich mir keine großen Sorgen. Jedoch hoffte ich, dass David nichts zugestoßen war.

Mit ihm war ich zu diesem Zeitpunkt seit fast einem Jahr zusammen.

Ich machte mir keine große Gedanken, nach solchen Nächten geschah es oft dass wir morgens meilenweit voneinander entfernt erwachten und nicht wussten wo die anderen steckten, weil wir schlichtweg zu weggetreten waren um noch klar zu erfassen, wer wo hingeht. Wieder gefunden haben wir uns immer.

 

 

Ich unternahm einen Versuch aufzustehen, scheiterte jedoch kläglich. Die plötzlichen, schnellen Bewegungen verursachten ein Schwindelgefühl, sodass ich sofort zur Seite wegkippte. Das ließ mich über mich selbst schmunzeln.

Ich versuchte also, im Sitzen etwas zu erreichen. Einzig Sam befand sich im meiner Reichweite. Ich beugte mich zu ihm und pikste ihn in den Bauch, der halb frei lag, da das Shirt unter seinem Karohemd im Schlaf hochgerutscht sein musste.

Er blinzelte und ich erhaschte einen Blick auf seine tiefbraunen Augen. Sofort fuhr seine Hand an seine Schläfe.

“Heilige Scheiße.“ stöhnte er. Er musste dieselben Kopfschmerzen haben.

“Ich weiß.“ Ich strich im tröstend über den Arm. Ihm war anzusehen, dass er gerade denselben Kampf mit sich austrug wie ich zuvor. Nach einigen Minuten schaffte er es schließlich, die Augen offen zu halten und mich anzusehen.

“Hey.“ hauchte er mit rauer, verschlafener Stimme und strich mir mit seiner Hand leicht über die Wange.

“Morgen.“ Und ich wuschelte ihm durch sein weiches, schokobraunes Haar.

“Wie spät ist es?“ Ich sah mich in dem Keller nach einer Uhr um. Nichts. Erst jetzt fiel mir der miefige Geruch hier unten auf.

“Keine Ahnung.“

Er setzte sich auf und blickte sich um. In der Befürchtung, bei dem Versuch aufzustehen erneut zu scheitern, robbte ich über den Boden hinüber zu Sally.

Ich strich ihr über den Oberarm um sie zu wecken. “Sally’lein!“ trällerte ich einige Male, bis jemand anders das Wort ergriff.

“Sei ruhig, Kate. Mein Schädel explodiert gleich.“ Das war Josie. Sam und mir entfuhr ein Lachen, und auch Sally spürte ich unter meiner Hand kichern.

Sie strich behutsam über Joshs Wange, gab ihm einen Kuss und drehte sich dann zu mir um. Nachdem sie ein paar Mal geblinzelt hatte sah sie mich direkt aus ihren warmen, haselnussbraunen Augen an.

“Morgen ihr zwei.“ Hauchte sie, ihre Wangen noch gerötet vom Schlaf.

Langsam setzte sie sich auf und gähnte heftig.

“Und, gut geschlafen da unten?“ grinste sie. Ich boxte sie leicht gegen den Oberschenkel,  wovon ihr Grinsen nur noch breiter wurde.

Josh blinzelte ein wenig, und öffnete unmittelbar danach die Augen vollständig. Er setzte sich auf, umschloss Sally mit seinen Armen und küsste ihren Hals. Sie schloss genussvoll die Augen und legte eine Hand an seine Wange. Dann hauchte Josh etwas in ihr Ohr, das sie lächeln ließ, und wandte sich anschließend an uns alle.

“Sagt, wollten wir nicht irgendwie in die Schule?“

Verdammt, konnte der klar denken. Aber das hätte mir klar sein müssen. Josh blieb fast immer weitestgehend katerverschont, jedoch setzte bei ihm die unmittelbare Wirkung des Alkohols schneller und heftiger ein. Soll heißen, er tat ‘ne Menge Mist, wenn er betrunken war.

“Scheiße, stimmt.“ Sally fasste sich erschrocken an die Stirn.

“Jetzt nicht.“ Stöhnte Josie.

Josh griff in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor.

“Halb elf.“ Ließ er gelassen verlauten.

“Ach, was soll’s, die ersten Stunden quatschen die eh nur dummes Zeug. Die Miller erzählt uns von ihrem Urlaub in Mexiko, und der Sanders macht Belehrungsscheiß. Das wisst ihr doch.“ Damit hatte Sam wohl Recht.

“Ach, für mich lohnt sich’s eh nicht mehr, bis ich da bin, ist die Schule aus.“

Josh ging als einziger von uns nicht hier in der Stadt auf die Schule, sondern ein paar Orte weiter. Seine Eltern hatten sich getrennt, als er gerade vier gewesen war. Sein Vater zog danach hierher, Josh verbrachte den größten Teil seiner Kindheit in Salem bei seiner Mutter. Erst später, als er älter gewesen war, hatte er öfter bei seinem Dad abgehangen und so war er irgendwann zu uns gestoßen. Seit er fester Bestandteil unserer kleinen Gruppe war, hatte für ihn das tägliche  Pendeln zwischen der Schule, seiner Mutter, seinem Vater und uns begonnen. Doch ich weiß, dass er das gerne in Kauf nahm. Für sich, für uns, und ganz besonders für seine Sally.

 

Wir hörten Josie seufzen, dann drehte sie sich um, setzte sich auf und rieb sich ihre olivgrünen Augen bevor sie uns müde aus ihnen ansah.

“Ach, wird man doch schon wach, ja?“ Stichelte ich.

“Ihr lasst mir ja keine Wahl.“ gähnte sie dann.

“Kann ich kurz ins Bad?“ fragte sie an Josh gewandt.

“Sicher, wenn du’s noch findest.“ grinste er, und wir alle mit ihm.

“Mal sehen…“ Sie erhob sich und nachdem sie anfangs beinahe im Likör ausgerutscht wäre, taumelte sie auf die Wand zu, hinter der sich die Kellertreppe befand.

Als sie um die Ecke bog öffnete ich meinen Mund bereits um etwas zu sagen, bevor ich von einem spitzen Aufschrei dem ein Glucksen folgte unterbrochen wurde.

Wir schauten uns einen Moment argwöhnisch an, bevor Josie zurückkam.

“Kommt her, schaut euch das an.“ Bedächtig schlich sie voran.

Als wir sahen, was Josie zuvor so amüsiert hatte, konnten wir uns kaum noch halten vor Lachen.

Lou lag dort, mitten auf der Treppe. In der einen Hand hielt sie eine Bierflasche, deren Inhalt sich bereits auf die Stufen ergossen hatte, die andere lag unter ihrem Kopf vergraben. Ein leises Schnarchen drang aus ihrem halb geöffneten Mund, der umrahmt von ihren vollen roten Lippen war, hervor. Ihr schwarzes Haar war zerzaust, jedoch glücklicherweise zu kurz um in dem verschütteten Bier getränkt zu sein, das auf der Stufe direkt vor ihren Haarspitzen eine Pfütze gebildet hatte. Ihre Shorts wie auch ihr Top hatten mehrere kleine Löcher und auf ihren Beinen zeichneten sich viele dünne Kratzer ab.

Josie kitzelte sie ein wenig an den Füßen, bis sie schließlich ihre Augen öffnete. Sie erschrak bei dem Anblick von uns fünfen, was unser Lachen nur noch mehr schürte.

“Ja ja, lacht nur.“ Sie gähnte heftig und setzte sich auf eine der Stufen auf denen sie zuvor gelegen hatte.

Wir glucksten noch immer wie ein Haufen Bekloppter, als sie uns fragte, was wir nun vorhatten.

“Naja, ’ne Dusche wäre jetzt nicht schlecht wenn wir nachher wirklich noch in die Schule wollen.“

“Stimmt, das hatte ich total vergessen.“ Sagte Lou mit noch immer rauer, verschlafener Stimme und stellte ihre leere Bierflasche weg.

Josie seufzte. “Na dann komm erst mal mit ins Bad. Ich mach uns in der Zeit Kaffee.“

Lou stand auf und kippte – wahrscheinlich durch die Benommenheit des Katers - leicht nach hinten weg. Josie fing sie auf und stützte sie ein wenig als sie die Treppe nach oben gingen. Kurz vor der Tür nach der Treppe drehte sich noch einmal um.

“Dein Dad?“

“Längst weg.“ Antwortete Josh, der eigentlich bereits gestern Abend wieder zurück zu seiner Mutter hätte fahren sollen, weshalb ihm wahrscheinlich erst dort richtiger Ärger blühte. Doch er war abgehärtet was das betraf.

Nachdem Josie nun also die Kellertür hinter sich und Lou geschlossen hatte entstand eine peinlich berührte Stille in der niemand so recht wusste was er hätte tun oder sagen sollen.

Schließlich ergriff Josh wieder das Wort.

“Oben ist noch’n Bad, will einer von euch zuerst gehen?“

Das Haus, das Joshs Dad hier gekauft hatte besaß zwei Bäder, eines das an das Wohnzimmer grenzte und eines in der oberen Etage, direkt neben Joshs Zimmer.

Sam und ich sahen uns einen Moment an und blickten dann wieder zu Josh, dem wir mit einem Kopfschütteln signalisierten, dass wir ihm den Vortritt ließen.

“Na gut. Dann pennt noch zwanzig Minuten.“

Und mit einem Grinsen auf den Lippen führte er Sally, die er bereits die ganze Zeit über an der Hand gehalten hatte, nach oben.

Der Umstand, dass die beiden gemeinsam duschen gingen, barg für uns alle einen Vorteil. Einerseits war es ungemein zeitsparend, was die Dauer, die das Bad besetzt war insgesamt enorm verkürzte. Andererseits hatte es für die beiden selbst natürlich noch einen ganz besonderen persönlichen Vorteil, wenn ihr versteht.

Nachdem nun auch diese beiden den Keller verlassen hatten, gingen Sam und ich zurück und ließen uns auf dem etwas gemütlicher aussehenden Sofa nieder.

Er ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, und ich war mir nicht ganz sicher ob er die Decke betrachtete oder die Augen geschlossen hielt.

“Was ’ne Nacht.“ Hauchte er etwas später mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.

Wir trugen zusammen, was jedem von uns noch in Erinnerung geblieben war. Sam konnte sich im Nachhinein immer an fast alles erinnern, weshalb er es meist war, der uns von den Peinlichkeiten der vergangenen Nacht berichtete. Er war in der Hinsicht einfach viel robuster.

Er erzählte mir, dass Lou gestolpert und in ’nem Dornenbusch gelandet war. Bei dem Versuch, ihr auf die Beine zu helfen, hatte ich mich selbst hingepackt und mir dabei den Ärmel zerfetzt. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er daneben gestanden und sich schlapp gelacht haben musste über uns.

“Und mein anderer Schuh?“ fragte ich, auf meinen nackten Fuß deutend.

Sam prustete los. Ich boxte ihn spielerisch in die Seite.

“Das ist nicht witzig man. Die Furie rastet so schon aus. Ich glaub’, wenn ich da barfuß erscheine sorgt die dafür, dass ich noch am ersten Tag von der Schule flieg’.“

“Miss Sullivan, ich bitte sie.“ Ahmte er die alte Davis nach, die jeder von uns nur die Furie nannte. Und das war sie, das und nichts anderes. Ich denke, fünfundneunzig Prozent aller Einträge in Schülerakten waren von ihr veranlasst worden. Wenn man sie nur ließe, würde sie uns wahrscheinlich jede Stunde mit dem Rohrstock züchtigen.

 

Ich war gerade für ein paar Minuten an Sams Schulter eingedöst, als ich hörte wie sich die schwere Kellertür mit einem Knall schloss. Kurze Zeit später schaute Sallys Kopf hinter der Wand hervor.

“Beide Bäder sind frei und Kaffee ist fertig, kommt ihr hoch?“

Dankbar, dass sie so leise gesprochen hatte, was meinem Kopfweh zugutekam, nickte ich ihr lächelnd zu.

Ich erhob mich und nach einem anfänglichen Schwindelgefühl fing ich mich und blickte zu Sam der – mehr oder weniger – vollkommen weggetreten war.

Sally und ich grinsten uns einen Moment an, dann beugte ich mich hinunter zu Sam und pustete ihm leicht ins Ohr. Bereits nach dem Bruchteil einer Sekunde zuckte er zusammen und war sofort hellwach.

“Komm schon Schlafmütze, Kaffee ist fertig, Zeit für ’ne Dusche.“

Wir gingen gemeinsam mit Sally nach oben, wo ich direkt ins Bad ging und unter die Dusche sprang.

Anschließend suchte ich die anderen in der winzigen Küche auf. Lou, Sam und Josh saßen um den kleinen Tisch am Fenster herum, Josie lehnte an der Theke, jeder mit einer riesigen Kaffeetasse in der Hand. Währenddessen machte Sally sich an einem der Hängeschränke zu schaffen, scheinbar suchte sie etwas.

Ich setzte mich auf den verbliebenen freien Platz am Tisch wo bereits mein lang ersehnter Kaffee wartete. Ich nahm einen Schluck und verbrannte mir die Lippe, doch das Gefühl der heißen Flüssigkeit, die meinen Rachen hinab floss, tat unendlich gut.

Nach einigen Minuten schloss Sally den bearbeiteten Schrank wieder und warf eine kleine weiße Schachtel in den Papierkorb neben dem Kühlschrank. Danach drückte sie jedem von uns zwei Tabletten in die Hand – halbiert, so wirkten sie schneller. Sie warf sich selbst die gleiche Dosis Aspirin ein und ließ sich anschließend auf Joshs Schoß fallen.

Die Wirkung unserer Wunderwaffe hatte bereits eingesetzt, als Sally, Lou, Josie und ich uns wenig später wieder ins Bad begaben, und uns die Haare so weit zu trocknen, dass sie nicht mehr tropften.

Die Jungs standen bereits wartend auf dem Flur, als wir uns bereit fühlten, den ersten Schultag anzutreten.

So quetschten wir uns irgendwie zu viert auf den Rücksitz von Joshs Wagen. Während der Fahrt schlossen wir regelrechte Wetten ab, wer welche Strafe bekommen würde. Von Schulhofkehren über Nachsitzen bis zum Verweis rechneten wir mit allem.

Als wir gegen eins schließlich ankamen wurde uns bewusst, dass nicht nur die Verspätung uns Ärger einbringen würde.

Zerfetzte, bierbefleckte Klamotten, fehlende Schuhe, halbnasse Haare.

“Oh man, die werden ausflippen vor Freude.“ Raunte Lou voller Sarkasmus als wir ausgestiegen waren.

Sally und Josh umschlangen einander noch eine Weile und küssten sich schließlich ein letztes Mal bevor wir den seit Wochen ersten Schritt auf das Schulgelände taten.

Sam war genauso wie Josh ein Jahr älter und demnach eine Klassenstufe über mir und den Mädels. Wir brachten ihn zu seinem Raum und lauschten, was ihm blühte.

Unglücklicherweise schloss die Miller direkt die Tür nach ihrem ‘Guten Morgen, Mr. Haye‘

Aufgrund unterschiedlicher Kurse musste auch Lou sich allein durch die Moralpredigt quälen, die bereits ihren Anfang nahm, als ein älterer Herr mit Halbglatze ihr die Tür öffnete.

Sally, Josie und ich jedoch konnten – oder mussten - uns gemeinsam der Furie stellen.

Ihre Augen traten weit aus ihren Höhlen hervor, als sie den Kopf hinaus streckte und uns erblickte. Sie musterte uns von oben bis unten und öffnete dann die Tür gerade so weit, dass wir hindurch in den Klassenraum schlüpfen konnten.

“Sehen sie sich das an, die Damen haben es also letztlich doch noch für nötig gehalten, zum Unterricht zu erscheinen.“

Wir hatten uns gerade an unsere Platze ganz hinten in der letzten Reihe gesetzt, als sie in ihrem schnippischen Ton fortfuhr.

“Ihrem Aufzug nach zu urteilen, haben sie die Zeit scheinbar nicht damit verbracht, ein angemessenes Outfit zusammenzustellen.“

“Wieso, gefalle ich ihnen so etwa nicht?“ platzte Josie mit gespielt enttäuschtem Unterton hinein. Josie war clever, ungemein clever, und ebenso intelligent. Doch das hinderte sie nicht daran, zu rebellieren, provozieren und diskutieren wo und mit wem sie wollte. Das war auch der Grund, weshalb sie nicht mit den Bestnoten abschnitt, zu denen sie ohne Zweifel fähig gewesen wäre. Aber das war ihr herzlich egal, denke ich. Sie wollte nicht enden wie ihre Schwester. Niemals.

Die Furie schwieg darauf, und ich hätte schwören können, dass sie für einen Moment die Augen zusammen kniff bevor sie sich von der Klasse abwendete und das Tafelbild vervollständigte.

Wir lachten uns gerade halb schlapp, und die halbe Klasse stimmte mit in unser Kichern ein, als sie ihre Stimme erneut erhob, jedoch ohne sich von der Tafel abzuwenden.

“Das bedeutet Nachsitzen für sie und ihre Freundinnen, Miss Minelli. Und jeder, von dem ich in den nächsten dreißig Minuten unaufgefordert den kleinsten Mucks höre, wird den drei Damen dabei Gesellschaft leisten, das schwöre ich ihnen.“

Alle verstummten schlagartig. Alle, bis auf uns. Wir lachten weiter.

Sie hasste uns und uns war bewusst welche Konsequenzen unser Handeln nach sich ziehen könnte, doch es war uns egal. Alles war uns egal gewesen. Wir genossen einfach diesen einen Augenblick, in dem wir realisierten, dass das alles verdammt noch mal den ganzen Ärger wert gewesen war.

Letztlich war es doch beim Nachsitzen geblieben. Nach etwa zehn Minuten, in denen uns von der Furie diverses angedroht worden war, beschlossen wir, den Rest der Stunde als brave Schüler zu begehen, denn keiner von uns war besonders scharf darauf, den Rest des Sommers in stickigen Klassenräumen zu verbringen.

III

Punkt drei war Schulschluss. Wir alle trafen uns am üblichen Platz.

Direkt gegenüber der Schule war ein kleiner Park. Nichts Besonderes. Ein paar Wiesen, durchsetzt von winzigen Blumenbeeten, ein Spielplatz, wenige Bänke. Durch das alles schlängelte sich ein schmaler Kiesweg, den ich nur allzu gut kannte. Früher, als ich etwa fünf oder sechs war, als noch alles gut war, waren meine Eltern oft mit mir hierher gegangen. Und ich hatte mich mehr als einmal auf diesem Weg hingepackt.

Nun, jedenfalls gab es dort, etwas verborgen von Büschen, einen kleinen Teich. Zwei riesige alte Eichen befanden sich direkt daneben. Hier war es schön, friedlich. Vor ein paar Jahren war ein kleines Mädchen in den Teich gefallen und fast ertrunken, seitdem verboten Eltern ihren Sprösslingen, sich in dessen Nähe aufzuhalten, weshalb man abgeschirmt war von Kindergeschrei und sämtlichen anderen menschlichen Geräuschen. Es gab nur uns.

 Als Lou und ich ankamen – wir hatten die letzte Stunde gemeinsam gehabt – waren schon einige dort.

Josie saß oben in den Ästen einer der Eichen, Sally und Josh, der nachdem er bei seiner Mutter gewesen war sofort wieder hierher gefahren sein musste, hatten sich im Schatten des Baumes ins Gras gelegt.

Meine Augen ruhten noch auf ihnen als ich eine Bewegung innerhalb meines Blickfeldes wahrnahm. Jemand hatte sich von dem kleinen Steg am Ufer des Teiches erhoben und schritt auf uns zu.

“Hey.“ Rief er noch.

Ich grinste und fiel Dave in die Arme.

“Wo warst du nur heute Nacht?“ flüsterte ich ihm zu. Er sah aus wie ein Halbgott, mit dem blonden Haar, den strahlend blauen Augen und seinen eins neunzig. Ein typischer Volleyballspieler eigentlich, was ein Witz war.

Er war unendlich faul, das könnt ihr mir glauben. Trotzdem hatte er hier und da ein paar Muskeln – Gott weiß woher.

“Dean und ich sind bei Ben abgestiegen. Du gingst mit Sam und…“ murmelte er, ließ den Satz in der Luft hängen und sah zu Boden.

Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen. “Hör auf.“ Dann küsste ich ihn.

Eigentlich ist die Sache es nicht wert, erwähnt zu werden. Der Vollständigkeit halber und zum besseren Verständnis jedoch, bitte.

 

Es ist jetzt etwa ein Jahr her, es war der Tag, an dem Dave und ich unsere Beziehung begannen. Eigentlich lief zu diesem Zeitpunkt schon was zwischen uns. Doch an jenem Abend wurde es ernster, wir gehörten danach zueinander, genau wie Sally und Josh.

Damals war David noch Sams bester Freund gewesen.

Ich holte Sally ab. Wir trafen uns mit den anderen bei Sam. Es gab keinen besonderen Anlass, wir hingen einfach zusammen rum, wie immer eigentlich.

Irgendwann – es war später Abend geworden – verließ ich das Zimmer in Richtung Klo. Zuvor waren alle beschäftigt gewesen. Sally und Lou saßen aneinander gelehnt am offenen Fenster und starrten hinaus in den nachtblauen Himmel. Josie lag auf Sams Bett und lauschte der Musik die leise aus der Stereoanlage drang. Die Jungs pokerten um Vierteldollars und philosophierten über alles Mögliche. 

Ich ging also hinaus auf den Flur und tapste ins Bad.

Als ich auf dem Rückweg zu Sams Zimmer an der kleinen Küche vorbeikam griff eine Hand nach meinem Arm und zog mich hinein. Als nächstes sah ich Dave vor mir stehen. Er beugte sich zu mir hinunter bis sein Gesicht nur noch wenige Millimeter von dem meinen entfernt war. Dann nahm er meine Hände in seine.

“Ich liebe dich.“ hauchte er und küsste mich zaghaft auf die Lippen. Dann sah er mich einen Moment an, bevor ich mich zu ihm hinauf streckte und sein Gesicht in meine Hände nahm. “Und ich liebe dich.“ Während ich ihm anschließend einen Kuss aufdrückte hob er mich ein wenig hoch und trug mich hinüber auf die Kückentheke. Noch immer in diesem einen Kuss vertieft, der die Welt stehen bleiben zu lassen schien, hielt er mich fest an sich gepresst und ich schlang meine Beine um seine Mitte. Ich bekam Gänsehaut, weil er mir so verdammt nah war und wünschte mir, dieser Moment würde nie enden.

Alles was danach geschah gehört für mich lange zu den unerklärlichsten Dingen meines Lebens.

Die Küchentür schwang auf und das Letzte was ich sah war, wie Sam mit großen Schritten auf uns zukam. Dann ging alles sehr schnell. Zu schnell.

Er riss David von mir, warf ihn gegen die Wand und begann auf ihn einzuprügeln – und Dave prügelte zurück.

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Anschließend sprang ich von der Theke.

Und ich schrie.

Ich schrie, sie sollten aufhören. Und als ich all das Blut sah schrie ich lauter. Ich verstand nicht was vor sich ging. Ich verstand nicht, was gerade vor meinen Augen geschah, aber vor allem verstand ich nicht, wieso es geschah.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit ließen sie voneinander ab. Und statt der Schreie entglitten mir nun Tränen.

David lehnte am Kühlschrank, dessen weiße Front nun von einigen Blutspritzern geschmückt wurde. Seine Wangen hatten ein paar Schrammen abbekommen, seine Lippe war aufgeplatzt, sein Hemd zerrissen.

Sam hatte es schlimmer getroffen. Er war an der Wand zusammen gesackt, Blut lief unaufhörlich aus seiner Nase und der riesigen Platzwunde an seiner Stirn über sein Gesicht und tropfte auf sein Shirt.

Ich wollte zu ihm gehen, wollte ihm helfen, die Blutung stoppen, doch ich konnte nicht.

Ich stand einfach nur dort und blickte auf ihn hinab während Tränen über mein Gesicht rannen. Und ich verharrte und sah Sam an und schwieg. Und er schwieg auch, jedoch mied er meinen Blick.

Unendlich lange herrschte Stille, so kam es mir zumindest vor. Die anderen waren hinzugekommen, das spürte ich, doch auch von ihnen sprach niemand ein Wort.

Es dauerte noch eine Weile, bis ich meinen Blick von Sam abwenden konnte. Dann ging ich zu Dave, er öffnete seine Arme und ich ließ mich hineinfallen. Während er mich hielt, hörte ich Schritte. Ich drehte meinen Kopf soweit, dass ich Sam im Blick hatte.

Josh kniete neben ihm, strich seine Haare nach hinten und begutachtete die Wunde an seinem Kopf. Er nickte kurz, legte Sams Arm um seine Schulter und half ihm auf. Währenddessen verzog er keine Miene, schaute einfach nur ernst drein. Sally eilte an Sams andere Seite und gemeinsam stützten sie ihn und führten ihn hinaus.

Einige Minuten blieb ich reglos dort in Daves Armen während er mir sanft über den Rücken strich. Und ich wartete.

Wartete darauf, aufzuwachen. Wartete auf eine Erklärung für das, was geschehen war. Wartete, dass jemand das hier rückgängig machte.

Doch ich wartete vergeblich. 

Ich weinte noch immer, als Dave mich langsam aus der Küche begleitete. Josie und Lou kamen mit uns. Sie gingen voraus zurück in Sams Zimmer. Vor der Türschwelle blieb ich abrupt stehen. Ich wollte nicht dort hinein. Ich löste mich von Daves Arm, der auf meiner Schulter geruht hatte, und ging hinüber zum Badezimmer.

Die Tür war angelehnt, drinnen war es ruhig. Ich zögerte kurz, öffnete dann jedoch die Tür komplett.

Sam saß auf dem grauen Läufer vor der Badewanne, Sally neben ihm. Mit einem feuchten Handtuch säuberte sie die Wunde an seiner Stirn. Einst weiß gewesen, war das Tuch nun blutgetränkt. Josh suchte im Spiegelschrank über dem Waschbecken nach Medikamenten.

Sie alle sahen auf, als die Tür gegen den kleinen Schrank neben der Waschmaschine schlug, jeder mit einer anderen Miene.

Sams Gesicht war schmerzverzehrt. Er sah mir nicht in die Augen, schaute nur auf meine zitternden Hände.

Josh blickte noch immer so ernst wie zuvor.

Sallys Miene jedoch war gezeichnet von einer Mischung aus tiefer Trauer, Enttäuschung und Entsetzen.

Sie widmete sich wieder Sams Wunde. Josh schloss den Schrank, ging hinüber zu ihr und hockte sich neben sie.

“Pack die Kompresse drauf wenn die Wunde desinfiziert ist damit die Blutung aufhört und gib ihm dann eine von denen. Die sollte den Schmerz für ’ne Weile lindern.“ Er packte ihr eine Schachtel Tabletten in den Schoß, legte seine Hand unter ihr Kinn und neigte ihren Kopf in seine Richtung.

“Ich bin gleich wieder da.“ Dann küsste er sie ganz zärtlich, erhob sich und kam zu mir. Ich trat einen Schritt zurück während er die Badezimmertür hinter sich schloss.

Und so standen wir dort auf dem Flur, er blickte einfach nur ernst auf mich hinab, ich zitterte. Und ich weinte noch immer.

“Wir kriegen ihn schon wieder hin.“ Flüsterte er, lächelte sanft und wischte mir die Tränen weg. Ich nickte schwach.

Noch nie zuvor hatte ich Sam so gesehen, mein Leben lang nicht.

Und an jenem Abend glaubte ich, ich hätte ihn verloren.

Ich spürte das Gefühl von unendlicher Erschöpfung,

Verzweiflung und Hilflosigkeit, das sich langsam in mir ausbreitete und mir die letzten Kräfte raubte.

Plötzlich kippte ich nach hinten weg und wurde von der Wand abgefangen. Josh packte mich an den Armen um zu verhindern, dass ich auf den Boden hinunter glitt.

“Hey, hey, Kleine. Alles klar?“

Ich wehrte mich nicht als er mich anschließend behutsam hochnahm.

“Es wird schon wieder, hörst du? Alles kommt in Ordnung.“ Flüsterte er, während er mich in Sams Zimmer trug.

Dort legte er mich auf sein Bett, drückte einen Moment meine Hand und ging wieder hinaus.

Und das war Josh, genau das war er. Einfach da, unbemerkt, leise still und heimlich. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Dave kam zu mir und streichelte mein Haar. Nach ein paar Sekunden schlief ich schließlich ein.

 

Einige Wochen vergingen, in denen Sam mir aus dem Weg ging. Er mied unseren Platz im Park, kam nie vorbei, rief nie an.

Bis zu jenem Freitagnachmittag.

Ich kam gerade von der Schule, da sah ich seinen Wagen in der Auffahrt stehen. Der anthrazitfarbene Shelby war ein Geschenk seines Vaters zu seinem Sechzehnten gewesen.

Sam saß auf der Verandatreppe, eine halb aufgerauchte Marlboro im Mundwinkel.

Ich trat näher und blieb einen halben Meter vor ihm stehen. Er blickte zu mir auf, drückte die Zigarette auf dem Kies aus, erhob sich und kam zu mir.

Für einen Moment nahm er mein Gesicht in seine Hände und strich mir mit den Daumen über die Wangen während er ganz leicht lächelte. Und beinahe hätte ich auch gelächelt, doch da sah ich die halb verheilte Wunde an seiner Stirn und bekam ein flaues Gefühl im Magen.

Dann ging er hinüber zum Shelby und öffnete die Fahrertür.

“Kommst du?“ fragte er und setzte sich ans Steuer. Ohne ein weiteres Wort stieg ich ein und er fuhr los.

Während der gesamten Fahrt herrschte Stille. Er sagte mir nicht wo wir hinfuhren, und ich fragte nicht nach. Ich vertraute ihm einfach.

Wir hatten die Stadt und die Vororte lange hinter uns gelassen und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt als Sam in einen kleinen Weg einbog. Zu beiden Seiten war alles überwuchert von Gebüsch und Gestrüpp. Vereinzelt ragte ein Baum hervor und hüllte alles um sich in Schatten.

Am Ende des Weges war ein kleiner Kiesplatz wo Sam den Wagen zum Stehen brachte. Wir stiegen aus und ich folgte ihm durch den kleinen Spalt im Unterholz.

Was ich dahinter erblickte war überwältigend.

Ein riesiger See tat sich dort auf. Links und rechts standen ein paar dieser riesigen Weiden. Das Wasser war glasklar und die Spätsommersonne spiegelte sich in seiner glatten Oberfläche. Wir ließen uns am Ufer nieder und schwiegen einige weitere Minuten bis Sam begann zu sprechen.

“Kate, es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Scheiße, ich dachte…“

Er vergrub einen Moment das Gesicht in den Händen bevor er fortfuhr.

“An dem Tag, als dein Dad starb, da hab ich mir geschworen, auf dich aufzupassen. Und als ich euch da sah. Verdammt, ich dachte er tut dir was an. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich meine… man, es tut mir so leid.“

Ich dachte einen Moment über seine Worte nach. Dann griff ich zu ihm hinüber und nahm seine Hand. Ich strich leicht darüber und verschränkte schließlich meine Finger mit seinen.

“Ich hab dich vermisst, Sam.“ Und das war vielleicht das Aufrichtigste, was je über meine Lippen gekommen war.

Er sah mich an und wisperte mir zu “Ich dich auch, Süße.“

Dann rutschte ich hinüber zu ihm und lehnte mich an ihn während er – noch immer meine Hand in seiner linken – den rechten Arm um mich legte und mir einen Kuss auf mein Haar gab.

“Sam, ich...” begann ich und versuchte in Worte zu fassen, wie viel er mir bedeutete.

“Ich kann nicht sagen, was ich ohne dich tun sollte.“

Und das meinte ich so. Der Tod meines Vaters lag kaum ein Jahr zurück, ich hatte mich noch immer nicht damit abgefunden, dass meine Mutter sich nicht wieder aus ihrer trauernden, depressiven Schockphase lösen würde. Sam gab mir den Halt, den ich so dringend brauchte.

 

Sam und David hatten diese Sache nie geklärt. Dave war zu enttäuscht gewesen, Sam zu aufgewühlt und beide zu stolz.

Ich meine, sie benahmen sich nicht wie Kinder, zickten sich nicht an. Aber sie mieden einander, sprachen nur das nötigste miteinander. Ließen ihre Freundschaft hinter sich.

 

Nachdem seine Lippen sich von meinen gelöst hatten, blickte er auf meine Füße.

“Fehlt dir denn nicht etwas?“ Grinste er.

“Du hast ihn?“ und sein Grinsen wurde noch breiter.

Das mag verrückt klingen, aber ich hing an diesen Schuhen. Ich hatte sie mir kurz vor dem Tod meines Vaters gekauft. Mittlerweile waren einige kleine Löcher im Stoff, das Gummi an manchen Stellen eingerissen, die Schnürsenkel ausgefranst. Doch das machte nichts. Ich würde sie tragen bis sie auseinander fielen, und selbst dann wahrscheinlich noch.

“Er liegt in meinem Wagen. Du hast ihn letzte Nacht im Wald verloren. Ich fand ihn, glaube ich. Jedenfalls bin ich heute Morgen drüber gestolpert.“

Er blickte noch immer auf meine Füße als ich sein Gesicht in meine Hände nahm und ihm sagte, dass ich ihn liebte. Seine Haut war unendlich weich, jeder Ansatz der hin und wieder bei ihm erscheinenden blonden Bartstoppeln fein säuberlich wegrasiert. Er begann zu lächeln und die Wärme in seinem Blick gab mir das Gefühl von Glückseligkeit. Es war wie warme Milch mit Honig.

Wenig später stieß Sam zu uns und wir alle verbrachten ein paar entspannte Stunden an diesem wundervollen Ort.

Gegen acht trennten wir uns. Dave und ich holten meinen Schuh aus seinem Pick-Up, der noch immer vor der Schule geparkt war, dann verabschiedeten wir uns und er fuhr nach Hause.

Sally und Josie wurden von Josh mitgenommen und Sam, Lou und ich blieben noch eine Weile, bis auch wir uns schließlich auf den Weg machten.

Wir liefen mit Lou zum Bahnhof, von wo aus sie nur einige Blocks weiter wohnte. Sam und ich nahmen den Bus. Er musste eine Haltestelle vor mir raus und gegen neun kam ich schließlich an und betrat das Haus, in dem ich lebte.

 

Mein Zuhause war es schon lange nicht mehr gewesen.

Meine Eltern hatten das Haus gekauft als ich drei gewesen war. Nichts Besonderes, ein Haus wie viele andere, in einem Vorort, nicht anders als die meisten anderen in der Gegend.

Die weiß getünchte Verkleidung war leicht vergilbt, das Schwarz der Dachschindeln ergraut. Auf der Vorderveranda, neben der hinter der Fliegentür verborgenen Haustür, stand eine alte Holzbank, deren Farbe bereits abzublättern begann.

Die Hortensien im Vorgarten waren überflüssig, unnötig. Sie versuchten etwas zu beschönigen, was nicht zu beschönigen war, etwa wie Klopapier mit Kamillegeruch.

Der Platz unter dem Carport vor der Garage war leer. Meine Mutter war nicht daheim – wie zu erwarten. Vor Mitternacht würde sie nicht hier sein. Das tat sie nie.

 

Mein Vater war bei einem Autounfall gestorben. Meine Mutter hatte ihn verursacht. Sie hatte den von rechts kommenden Laster übersehen. Dad lag ein paar Monate im Koma bevor er schließlich starb.

Nach seinem Tod schloss sich meine Mutter tagelang in ihrem Schlafzimmer ein. Sie sprach weder mit mir noch mit sonst jemandem. Eines Nachts dann hörte ich, wie sie über den Flur lief. Ich hörte Schlüssel klappern, die Haustür die sich öffnete und wieder schloss. Durch mein Fenster sah ich sie wegfahren. Nach einer halben Stunde kam sie wieder – drei Flaschen Whiskey in den Händen – und ging zurück in ihr Zimmer.

So ging es weiter, für Wochen. Sie trauerte, das verstand ich. Wir beide trauerten, jeder auf seine Weise. Leise, still und heimlich.

Sally, Lou und die anderen waren bei mir in dieser Zeit. Am Tag und in der Nacht, immer.

Besonders Sam wich damals selten von meiner Seite. Und sie alle sorgten dafür, dass ich nicht einsam, allein und verbittert wurde. Dad hätte das nicht gewollt.

Doch meine Mutter wurde all das. Einsam. Allein. Verbittert.

Sie stieß mich weg, bei jedem Schritt den ich auf sie zuzugehen versuchte.

Wenn ich an ihre Zimmertür klopfte, nach ihr rief – nach meiner Mutter rief, die ich so sehr gebraucht hätte – schickte sie mich fort. Wenn ich sie auf dem Flur antraf, als sie losfahren wollte, um sich die nächsten Flaschen zu besorgen, sagte ich ihr, ich hätte sie lieb. Sie murmelte dann etwas vor sich hin und ging.

Irgendwann hörte sie auf sich in ihrem Zimmer zu verschanzen, ging wieder zur Arbeit, aß wieder. Doch sie nahm mich nie in den Arm, sprach nie mit mir, lächelte niemals, mied meine Gegenwart.

Das Trinken wurde schlimmer. Und sie schlief mit ihrem Chef. Manchmal kam er nachts mit ihr hierher. Ich hörte dann wie sie kichernd, sturzbetrunken über den Flur stolperten während ich wach lag. Sie gingen in ihr Zimmer und ich hörte durch die dünne Wand zwischen meinem und ihrem Zimmer, wie sie es trieben. Er war verheiratet, blieb deshalb nicht lange, noch vor der Morgendämmerung verließ er das Haus.

Danach hörte ich meine Mutter oft weinen. Und ich weinte dann auch.

In diesen Momenten fühlte mich ihr seltsam verbunden.

Alleingelassen waren wir, wie wir dort lagen. Wir beide und die Tränen.

 

Ich ging die drei Stufen der Eingangstreppe hinauf, zog meinen Schlüssel hervor und ging hinein. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss während ich den kurzen Flur bis zum Ende hinunterlief, an dessen Ende sich meine Zimmertür befand. Der Boden war ausgelegt mit hellem Linoleum, wie das in Turnhallen, die Wände in einem ätzenden Mintgrün gestrichen. Hier und da befanden sich darauf etwas hellere Rechtecke. Dort hatten einst gerahmte Bilder gehangen. Es waren Hochzeitsfotos und so‘was gewesen.

Meine Mutter hatte sie eines Tages abgehangen, anscheinend weil sie die Erinnerungen an glücklichere Tage nicht verkraftete.

Meine Zimmertür aus hellem Buchenholz stand halb offen, genauso, wie ich sie am Abend zuvor verlassen hatte. Ich ging hinein und schaltete die Stehlampe direkt neben der Tür ein. Sie verbreitete ein warmes, gedämmtes Licht im Raum. Mein Messingbett in der hinteren linken Ecke des Zimmers war behangen mit Lichterketten, der einst weiß gewesene Flauschteppich – nun übersäht mit zahlreichen gräulichen und bräunlichen Flecken – war hier und da bedeckt von Klamotten, die Wände voll mit Fotos, die wahllos mit Reißzwecken befestigt worden waren.

Auf ihnen waren mein Dad, Sam, Lou und all die anderen zu sehen.

Auf einem sieht man Sally und mich, wie wir auf einer Schaukel sitzen. Da waren wir vielleicht acht oder neun. Die Sonne scheint uns ins Gesicht während wir unser Lieblingseis genießen – ich Schoko und sie Erdbeer. Wir lächeln.

Auf einem anderen sind Lou und Sam zu sehen, sie sitzen bei Sam daheim, jeder einige CD‘s in der Hand. Ich erinnere mich, dieses Foto geschossen zu haben. Sie hatten sich darüber gestritten, welches das beste je veröffentlichte Album war. Sie schrien sich schon an, bis wir anderen, die um sie herum gesessen hatten, losprusteten, und sie mit uns. Sie lachen.

Ein weiteres zeigt mich mit Dad. Es war am Weihnachtsmorgen, ich war gerade zwei. Er sitzt mit mir vor unserem Weihnachtsbaum und hilft mir, mein monströses Bobbycar auszupacken. Er grinst.

Jedes dieser Fotos hält einen Glücksmoment fest. Immer dann, wenn alles trostlos erschien sah ich sie mir an und rief mir diese Momente in Erinnerung, denn anders als meine Mutter mied ich diese nicht, sondern hielt daran fest – mit aller Kraft.

 

Ich schmiss meine Tasche aufs Bett, stellte die Stereoanlage an und machte mich auf in Richtung Küche.

Dort holte ich mir eine Schüssel aus dem Schrank, warf ein paar Flakes und Milch rein, schnappte mir das Geld auf dem Küchentisch, das dort jeden Montag von meiner Mutter platziert wurde, und ging wieder zurück in mein Zimmer.

Ich öffnete das Fenster, lehnte mich an seinen Rahmen und starrte hinaus in die Nacht. Außer dem leisen Säuseln der Musik war nichts zu hören. Hin und wieder kitzelte eine kühle Brise mich an der Nase. Ich genoss diesen Moment und fühlte mich für einen kurzen Augenblick wohl.

Das hier war nicht mein Zuhause. Es war das Haus, in dem ich aufgewachsen war, in dem ich so viel Zeit verbracht hatte mit meinem Dad, der mir unendlich fehlte, und meiner Mutter, von der ich mir so sehr wünschte, sie wäre wieder meine Mom.

Doch mein Zuhause war an einem anderen Ort. Einem Ort an dem ich mich sicher, geborgen und geliebt fühlte.

Zuhause war ich dort, wo immer ich mit Sally, Sam, Lou, Josh, Josie und Dave zusammen war. Sie waren, was ich brauchte. Sie waren, was ich liebte.

IV

Die Wochen vergingen. Der September verging. Der Sommer verging. Meine Lieblingsjahreszeit brach an. Der Herbst kam.

Ich liebte es, wenn die Blätter sich langsam verfärbten, und in den Abendstunden die Sonne die Wälder in den schönsten Farben glühen ließ.

David wusste das.

Eines Abends Anfang Oktober holte er mich ab. Es war warm, einer dieser letzten Tage, an denen man den vorbeigegangenen Sommer noch ein letztes Mal spüren kann, bevor die Kälte kommt.

Er begrüßte mich mit einem stürmischen Kuss und zog mich hinter sich her in seinen Pick-Up. Die ganze Fahrt über grinste er, wohl wissend, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wohin er mich entführte.

Wir saßen nicht lang im Auto, zumindest kam es mir nicht so vor. Er fuhr irgendwo am Rande eines Feldes mitten im nirgendwo rechts ran, stieg aus und deutete mir, ihm zu folgen. Nun, was blieb mir anderes übrig?

Ich lief ihm nach, geradewegs hinein in das Feld. Wir kämpften uns durch die zwei Meter hohen Maispflanzen.

Nachdem ich das erste Mal gestolpert war drehte er sich besorgt zu mir um, nahm meine Hand und lief um einiges langsamer. Er gab immer auf mich Acht, und das genoss ich.

Plötzlich blieb er stehen und ich wäre beinahe in ihn hineingelaufen.

Er drehte sich ein wenig in meine Richtung und schob dann ein paar der riesigen Maispflanzen zur Seite. Ich trat einen Schritt nach vorn, um sehen zu können, was sich dahinter verbarg.

Dort war ein kleines Stück freie Fläche, eine Decke lag ausgebreitet auf dem Feldboden, darauf ein paar Teelichter.

Er legte von hinten seine Arme um meine Taille und flüsterte mir leise ins Ohr.

“Gefällt’s dir?“

Da musste ich lächeln.

“Und wie.“

Es war wundervoll, das war es wirklich. Das warme Licht der am Horizont hinunter gleitenden Sonne verlieh diesem Ort, dieser Situation, etwas Magisches.

Wir ließen uns nieder, lagen eine Weile einfach nur dort, aneinandergeschmiegt und voll und ganz zufrieden.

“Du liebst mich doch, oder?“ fragte er, während er noch immer zärtlich über mein Haar strich und gedankenverloren zum rötlich gefärbten Himmel hinauf blickte. Statt zu antworten hob ich meinen Kopf, stützte mich auf meinem Ellenbogen ab, lächelte ich ihn sanft an und gab ihm einen Kuss. Und in diesem Augenblick glaubte – und hoffte – ich, dass es so sein sollte. Dass ich das hier wirklich verdient hatte, dass es so bleiben würde, für alle Zeit.

Während ich ihn küsste knöpfte ich langsam sein Hemd auf, seine Hände begaben sich auf Erkundungstour unter mein Shirt, schoben es nach oben und streiften es mir schließlich vom Körper. Ich spürte seine weiche Haut auf der meinen als er sich über mich legte und seine Lippen erst an meinem Hals, hinunter über mein Dekollete bis zu meinem Bauch jeden Quadratzentimeter liebkosten. Die Endorphine sprangen wie wild durch meinen Körper und ich begann leicht zu zittern vor Erregung.

Nicht viel später waren wir beide komplett entkleidet und gaben uns einander vollkommen hin, kamen uns so nah, wie man einander nur kommen konnte, verschmolzen miteinander.

Das alles mitten im Feld zu tun bedeutete einerseits einen gewissen Nervenkitzel, andererseits gab es uns das Gefühl, es gäbe nur uns. Uns und den sich weiter verfärbenden Himmel mit der Sonne, die immer schwächer wurde bis sie verschwunden war und später vom Mond und den Sternen ersetzt wurde, die tapfer die dunkle Nacht erleuchteten.

 

Stundenlang lagen wir anschließend einfach nur beieinander und genossen die Zweisamkeit, bis wir schließlich zu frösteln begannen, uns widerwillig anzogen und zurück zum Wagen trotteten.

Ich schlief auf dem Beifahrersitz des Pick-Ups an Daves Seite ein, noch bevor wir die Vororte erreichten.

Als ich wieder aufwachte, erblickte ich sein Gesicht über mir.

“Ich fahre jetzt. Schlaf gut, mein Schatz.“ Hauchte er und küsste mich.

Noch immer im Halbschlaf konnte ich seinen Kuss nicht richtig erwidern, brachte aber ein gesäuseltes ‘Danke‘ zustande, bevor er sich abwendete, hinausging und meine Zimmertür leise hinter sich schloss.

Ich weiß noch, wie sehr ich mir wünschte, er wäre bei mir geblieben, hätte sich zu mir gelegt, sodass ich am Morgen nicht allein hätte aufwachen müssen. Doch ich war in dieser Nacht zu erschöpft von diesem wundervollen Tag, dass ich nicht groß darüber nachdenken konnte, bevor ich wieder in das süße Schlummerland verschwand, in dem ich nicht hatte hören müssen, wie meine Mutter ihren Chef abschleppte, oder ihr Weinen danach, oder wie Dave mein Zimmer verließ anstatt bei mir zu bleiben. Und dafür war ich dankbar gewesen.

V

Am nächsten Morgen fühlte ich mich so ausgeschlafen wie lange nicht mehr.

Ich denke, es war halb elf, als ich aufstand und ins Bad tapste.

Als ich dort in den Spiegel sah, fielen mir zwei dunkelrot verfärbte Flecken an meinem Hals auf. Ein ganzes Weilchen stand ich dort, betrachtete sie, fuhr mit der Hand darüber, dachte über ihre Bedeutung nach.

Sie waren stille Zeugen meiner Liebe und der von David.

Zeugen der Liebe, die ich noch immer kaum in Worte fassen konnte. Der Liebe, die ich so sehr brauchte wie die Luft zum Atmen. Der Liebe, die mir so viel Kraft gab.

Da ich mich nicht dazu überwinden konnte, mich anzuziehen, verließ ich das Bad noch immer im Schlafshirt.

Die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter direkt gegenüber vom Bad stand offen. Meine Mutter war nicht zu Hause. Natürlich nicht.

Obwohl ich mich an diesen immerwährenden Umstand längst gewöhnt hatte, schmerzte es noch immer. Die Einsamkeit, die dieses Haus vermittelte, in dem ich mich normalerweise wohl hätte fühlen müssen. Ich versuchte es zu verdrängen, doch war ich mir irgendwo tief drinnen in jeder Sekunde dessen bewusst, dass meine Mutter mich zurückgelassen hatte, und mich zurückließ, jeden Tag aufs Neue.

Ich trottete in die Küche und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Im Kühlschrank fand ich außer etwas Salami und einer Dose Thunfisch nur gähnende Leere vor. In allen anderen Schränken sah es nicht besser viel aus.

Ich beschloss also, auswärts zu essen und später noch etwas einkaufen zu gehen.

Zurück in meinem Zimmer schlüpfte ich in Jeans und Sweatshirt, schnappte mir meine Umhängetasche, die in etwa genauso abgetragen wie meine Schuhe war, und zupfte meine Haare etwas zurecht.

Die Einsamkeit hatte mir an diesem Morgen ungewöhnlich stark zugesetzt. Ich wollte den Tag deshalb nicht allein verbringen.

So verließ ich also das Haus und holte Sam ab.

 

Sam wohnte nur wenige Blocks entfernt. Als wir noch jünger gewesen waren, vielleicht elf oder zwölf, hatten wir uns oft nachts rausgeschlichen und den jeweils anderen besucht. Manchmal hatten wir uns sogar in der Mitte getroffen, weil wir in einer Nacht beide die gleiche Idee gehabt hatten.

Hin und wieder besuchten wir uns nachts noch immer, nur musste sich nun keiner mehr rausschleichen.

Die Wohnung lag im zweiten Stock des Hauses, das, wie ich fand, wirklich schön anzusehen war.

Gebaut aus rotem Backstein stand es an einer Straßenecke. Es stach ein wenig heraus, da es im Gegensatz zu den anderen Häusern in diesem Vorort einen eher städtischen Charakter besaß, doch mir gefiel es trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb.

Normalerweise war die Tür zum Treppenhaus immer offen, heute jedoch nicht. Ich denke, es musste daran gelegen haben, dass Sonntag war. Ein träger Sonntagmorgen, an dem die Betriebsamkeit der meisten Menschen enorm nachlässt, weshalb man nicht ständig ein und ausgeht, weshalb wiederum auch kein Anlass zu einer geöffneten Tür besteht.

Jedenfalls klingelte ich, genau vier Mal – so wie wir es zu tun pflegten – und nach einer halben Ewigkeit hörte ich Sams verschlafene Stimme aus der Freisprechanlage ein halbherziges “Wer da?“ raunen.

“Ich bin’s, Kate“

“Oh äh, okay.“

Nichts geschah.

Du musst auf den verfluchten Knopf drücken!“ rief ich, als er nach ein paar Minuten noch immer weder ein Wort verloren, noch die Tür geöffnet hatte.

“Äh, achso, ja.“ Murmelte er, ein monotones Summen erklang und ich drückte kräftig gegen die Tür um sie zu öffnen.

Im Treppenhaus brachte der Geruch von frischen Pancakes und Sirup meinen Magen zum Knurren. Oh man.

Ich spurtete die Stufen aus Stein hinauf und kam schließlich im zweiten Stock an. Sam stand – nur in Boxershorts – bereits in der Tür. Er machte einen Schritt zur Seite damit ich eintreten konnte.

“Morgen, Großer.“ Begrüßte ich ihn, und gab ihm einen Kuss auf die Stelle direkt neben seinen Lippen.

“Hmmmh.“ Murmelte er, genauso verschlafen wie gerade eben. Ich nahm seine Hand und tänzelte durch den schmalen Flur in sein Zimmer. Die Einsamkeit hinter mir gelassen zu haben beflügelte mich ziemlich.

Im Licht der durch die Ritzen der heruntergelassenen Jalousie fallenden Sonnenstrahlen konnte ich das Chaos in seinem Zimmer erkennen. Leere Bierflaschen lagen überall rum, der neben dem kleinen Couchtisch stehende Aschenbecher quoll über, Klamotten waren im ganzen Zimmer verteilt. Es roch nach Zigarettenqualm und Alkohol.

Während ich das Rollo hochzog und das Fenster öffnete, um mich hinauszulehnen und der miefigen Luft im Raum zu entfliehen, ließ sich Sam wieder aufs Bett fallen.

“Ach Sam.“ Seufzte ich und kniete mich neben das Kopfende.

“Steh schon auf.“ Flüsterte ich ihm ins Ohr während ich mit einer Strähne seiner Haare spielte.

Er drehte langsam seinen Kopf zu mir und öffnete leicht die Augen.

“Warum zum Teufel?“

“Weil ich gleich verhungere.“

“Vielfraß“ grinste er, schloss ein letztes Mal die Augen, seufzte tief und erhob sich dann gemächlich. Herzhaft gähnend suchte er ein paar Sachen zusammen und begab sich ins Bad.

Ich ging wieder zurück zum Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße.

Eine ältere Dame führte ihren Hund spazieren, ein Mann kaufte an dem Kiosk auf der anderen Seite eine Zeitung, hin und wieder fuhr ein Auto vorüber. Ein paar Kinder – vielleicht sieben oder acht – spielten mit Jojos. Sie trugen solche Turnschuhe, die blinken, wenn man damit läuft. Als ich kleiner war, hatte ich auch solche Schuhe gehabt, doch ich war immer unfähig gewesen, mit Jojos umzugehen.

Ich beobachte Leute gern. Manchmal denke ich mir dann Geschichten zu ihnen aus, frage mich, wie sie wohl leben, wo sie wohl herkommen, wer wohl daheim auf sie wartet, ob ihre Familie wohl ebenso kaputt ist, wie die meine, oder die derer, die mir das Liebste sind.

Ich hoffe für sie, dass es nicht so ist.

Einige Minuten später trat Sam vollständig bekleidet, mit noch immer ziemlich zerzaustem Haar an meine Seite und blickte mit mir hinaus.

“Wie war dein Abend?“ fragte ich ihn schließlich.

“Amüsant.“

“Genau so sieht’s hier aus. Waren Ben und Dean da?“

Er nickte gedankenverloren.

“Ronnie war hier.“ Sagte er und zog anschließend kräftig an seiner Zigarette.

Ronnie war seine Geliebte, so sagte er es immer. Seine Geliebte. Nicht mehr und nicht weniger.

Sie kam und ging wann sie wollte und war zuletzt Monate lang nicht bei Sam aufgetaucht. Ich wusste, dass er sie nicht wirklich liebte, doch trotzdem bedeutete sie ihm etwas und die ständige Ungewissheit tat ihm weh. Mich ließ das Gefühl, sie würde ihn nur benutzen, nicht los. Ich war deshalb nicht gerade ihr größter Fan, aber Sam hing irgendwie an ihr, weshalb ich damit leben musste.

“Hattet ihr Sex?“ fragte ich völlig unverfroren. Wir verheimlichten nichts voreinander, als Kinder bereits nicht, und wir hatten nicht vor, das irgendwann zu ändern. Deshalb hatten wir auch kaum Schamgefühle dem anderen gegenüber.

Wieder nickte er.

“Was ging bei dir?“

“Dave.“

“Hattet ihr Sex?“

Auch ich nickte.

Als wir uns dann ansahen, trug jeder von uns ein Grinsen auf den Lippen, das zu einem einstimmigen Gelächter wurde.

Wir lachten so sehr, dass uns die Bäuche noch immer wehtaten, als wir in der Innenstadt ankamen. Sam hatte keine Lust gehabt zu fahren und so waren wir in den nächsten Bus gestiegen.

 

Nachdem wir im Diner gegessen hatten beschlossen wir Lou abzuholen, die nur einige Schritte entfernt wohnte.

Schon im schäbigen Treppenhaus des Gebäudes konnte man zerberstendes Geschirr und Schreie hören. Je näher wir der Wohnung kamen, desto intensiver wurden diese grauenvollen Geräusche.

Ihr müsst wissen, dass Lous Eltern nicht gerade viel Geld hatten. Ich meine, nicht dass das etwas an unserem Verhältnis zu ihr änderte, keineswegs. Aber ihre Eltern stritten deshalb beinahe täglich. Schon seit Jahren.

Ich griff nach Sams Hand bevor ich die Tür öffnete, die von Lous Eltern nie abgeschlossen wurde. Wahre Christen lassen ihre Tür für jeden offen stehen, sagten sie immer. Nun, aber scheinbar schrien sie auch sehr viel.

Joanne und Peter Sutherland waren links vom Eingang in der Küche und schienen scheinbar nichts von uns mitbekommen zu haben, denn sie unterbrachen ihren lautstarken Streit nicht.

Sam schloss die Wohnungstür und ich lief nach rechts den Flur entlang, an dessen Ende Lous Zimmer lag, doch soweit brauchte ich nicht zu gehen.

Lou saß vor ihrer Zimmertür auf dem mit hässlichem, kotzefarbenem Teppich ausgelegten Boden, ihre jüngere Schwester im Arm. Die Kleine weinte bitterlich und zuckte bei jedem Klirren, das von zerberstendem Geschirr verursacht wurde, zusammen. Lou strich ihr sanft über den Rücken und schaukelte sie sachte hin und her wie ein Kleinkind.

Sie sah auf als ich mich vor ihnen niederkniete, Amy schluchzte weiter an der Brust ihrer großen Schwester.

“Hey Süße, sieh mal.“ Wisperte Lou ihr zu.

Die Neunjährige hob ein wenig den Kopf und blickt mich aus ihren verweinten, hellblauen Augen an.

Ich versuchte ihr zuzulächeln.

“Hey Amy.“ Flüsterte ich. Ihre Miene hellte sich unwesentlich auf. Sam hockte sich zu uns. Als sie ihn sah, lächelte sie schon beinahe.

Er öffnete die Arme, sie robbte zu ihm und Sam hielt sie ein Weilchen.

Lou erhob sich, schlich in ihr Zimmer und ließ die Tür hinter sich zufallen. Amy begann erneut zu schluchzen.

“Hey Kleine, soll ich dir mal was zeigen?“ Flüsterte Sam ihr zu, und nachdem sie argwöhnisch genickt hatte stand er auf, nahm sie an die Hand und führte sie fort. Er warf mir noch einen letzten Blick zu bevor er die Wohnung mit ihr verließ.

Ich folgte Lou in ihr Zimmer. Selbst als ich ihre Tür hinter mir geschlossen hatte war noch das Gebrüll ihrer Eltern zu vernehmen.

Lou saß auf dem Bett, gedankenverloren aus dem Fenster starrend. Ich setzte mich zu ihr. Einige Minuten war es still, bis ich ihr sagte, dass Sam Amy mit hinausgenommen hatte. Daraufhin nahm sie die Schachtel Zigaretten aus ihrem Nachtschränkchen und steckte sich eine an.

Sie rauchte, trank und fluchte niemals, wenn Amy in der Nähe war. Sie wollte ihr ein gutes Vorbild sein und wir anderen versuchten es ihr gleichzutun.

“Er ist ihr Held.“ Lächelte ich. Mein Held war er auch immer gewesen.

“Matt fehlt ihr.“ Hauchte sie und für einen winzigen Moment glaubte ich, eine Träne in ihrem Augenwinkel glitzern zu sehen.

Alles in allem war Lou die Reifste von uns allen. Die Verantwortungsvollste und Disziplinierteste. Doch es hatte eine Zeit gegeben, in der das anders gewesen war.

Matt war ihr älterer Bruder. Er hatte immer auf Amy und Lou Acht gegeben, sie beschützt vor den Eltern, versucht, sie von ihren Streitigkeiten fern zu halten.

Vor einem halben Jahr ging er. Es war sein neunzehnter Geburtstag gewesen. Er hatte Lou einen Brief hinterlassen, hatte geschrieben, es tue ihm leid, dass er sie verlassen müsse, und dass er sie und Amy so sehr liebe, wie ein Bruder seine Schwestern nur lieben könne. Doch er hielte es hier nicht mehr aus. Und er hatte geschrieben, dass er wisse, dass Lou sich gut um Amy kümmern würde. Er hatte Recht gehabt.

Lou war stark, einer der stärksten Menschen die ich kannte. Ich hatte sie seit Matts Abgang nicht ein einziges Mal weinen sehen. Und doch wusste ich, wie sehr er auch ihr fehlte. Denn genau wie ihre Tränen, war auch ihr Lächeln seltener geworden. Und die Herzlichkeit, mit der sie anderen immer gegenüber getreten war, verwandelte sich in Misstrauen und Kälte.

Aber sie war stark. Für Amy. Sie war der einzige Grund für Lou, noch hier zu bleiben. Sie konnte die Kleine nicht auch noch im Stich lassen.

“Danke, dass ihr da seid.“ Sagte sie, lächelte mir halbherzig zu und erhob sich vom Bett. Sie drückte die halbaufgerauchte Zigarette aus, zog sich ihren dunkelgrauen Pulli über und ging voraus aus dem Zimmer.

Ihre Hand lag bereits auf dem Knauf der Wohnungstür, als die Küchentür sich öffnete und Joanne, ihre Mutter, heraus kam. Sie hielt sich die Wange, die, wie ich durch ihre Finger sehen konnte, feuerrot leuchtete. Sie blieb wie angewurzelt stehen als sie uns erblickte.

Einen Moment sagte niemand etwas. Dann fasste Joanne sich und begann.

“Mary, wo wollt ihr hin?“

Mary. Das war Lous richtiger Name. Mary Louise. Das ist noch so eine Sache, die ihr wissen solltet. Lous Vater war Pastor, beide Elternteile streng gläubig. Und genauso gläubig wurden die Kinder auch erzogen. Drei Mal die Woche Kirche, Bibelunterricht, jeden Morgen und Abend beten, all das halt. Klar, dass ihre Tochter dann auch den Namen der heiligen Mutter Jesu bekommt. Doch irgendwann begriff Lou, was für ‘ne Heuchelei das alles war. Ich meine, sie kamen aus der Kirche, wo ihr Vater predigte und die Heiligkeit der Ehe pries und das alles, und dann zuhause schlug er ihre Mutter und brüllte sie an und sie brüllte auch und so. Nach und nach entwickelte sie eine Antihaltung gegen all das. Das war auch der Grund, warum niemand von uns sie je Mary nannte, höchstens Louise, meistens jedoch Lou.

“Raus hier.“ War Lous knappe, gemurmelte Antwort.

Ihre Mutter nickte schwach und lief an uns vorbei. Wir waren schon fast draußen als sie sich noch einmal an uns wandte.

“Wo ist Amy?“

“Zum Glück nicht mehr da drinnen.“ Und ich war mir nicht ganz sicher ob ihre Mutter es verstanden hatte, doch wir gingen einfach. Wir gingen und ließen diesen Ort hinter uns.

Im Treppenhaus nahm ich für einen Moment Lous Hand und ich spürte wie sie die meine drückte bevor wir das Haus verließen.

Sam und Amy warteten bereits. Ihre Tränen waren getrocknet, Sam sichtlich erleichtert. Er hatte ihr am Kiosk ein Eis gekauft, das sie nun gierig verschlang.

“Och nein, Amy.“ raunte Lou, als wir näher kamen und sie bemerkte, dass Amy ihr hellblaues Kleid mit Schokoladeneis bekleckert hatte.

Das Kleid hatte einst Lou gehört.

Als sie noch klein gewesen war hatte ihre Mutter sie immer sehr hübsch angezogen. Sie hat eine Ewigkeit gespart damit sie Lou eines der Kleider kaufen konnte, die sie in der Stadt in den Schaufenstern gesehen hatte.

Wenn sie das Geld dann für die Kleider zusammen hatte, kaufte sie sie am Samstag, bügelte sie am Abend noch einmal feinsäuberlich und zog sie Lou sonntags zu den Gottesdiensten an. Sie machte ihr dann auch immer solche geflochtenen Zöpfe mit Schleifchen an den Enden, die die gleiche Farbe hatten, wie das Kleid, das sie gerade trug. Ihr hättet Lou sehen sollen, wie sie dann – an der einen Hand ihre Mutter, an der anderen Matt – in die Kirche trottete. Süßer als Zucker, das kann ich euch sagen.

 

Amy erschrak etwas, als auch sie den Schokofleck bemerkte. Ihre Schwester beugte sich hinab zu ihr und versuchte, ihn mit etwas Spucke zu beseitigen.

“Tut mir leid, Lou.“ entschuldigte Amy sich und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Ich glaube, sie befürchtete echt Ärger zu bekommen.

Als Lou das merkte, zwang sie sie sich zu lächeln, tätschelte Amy leicht den Kopf und fuhr mit viel sanfterer Stimme als zuvor fort.

“Schon gut, das bekommen wir wieder hin.“ Dann lächelte auch Amy wieder und tänzelte voraus.

Wir liefen gemeinsam die Straßen und Gassen entlang, lachten, alberten herum, verdrängten für eine Zeit lang alles, was uns bedrückte, genossen ein Stück Unbeschwertheit.

So tut man es. Man verdrängt. Man verdrängt um zu lächeln. Man verdrängt um zu atmen. Man verdrängt um zu leben.

Irgendwo in der Innenstadt gingen wir in einen Supermarkt und ich kaufte das Nötigste ein um über die Woche zu kommen. Meine Mutter war schon lange nicht mehr Einkaufen gegangen, deshalb legte sie mir auch jede Woche Geld auf den Tisch – damit ich nicht verhungerte. Wirklich fürsorglich.

Am späten Nachmittag begann es zu regnen wie blöde. Bereits triefend nass erreichten wir einen Busstand, an dem wir uns unterzustellen entschlossen, bis der Regen so weit nachgelassen hatte, dass wir weiterziehen konnten.

Nach einer Stunde des Wartens, in der wir Grimassen geschnitten, lauthals gesungen und gelacht hatten – ich denke, wäre die kleine Amy nicht bei uns gewesen, um unser kindisches Verhalten einigermaßen erklärlich zu machen, die vorbeilaufenden Passanten hätten die Bullen gerufen – wurde der Regen schließlich schwächer und wir brachten Lou und Amy wieder heim.

Sam und ich kauften uns in der Stadt noch einen Schokoshake – die verputzten wir das ganze Jahr über – und stiegen dann in den Bus. Die Fahrt verging schnell mit ihm an meiner Seite und ich entschied mit ihm zusammen auszusteigen und den Rest des Weges nach Hause zu laufen.

Als wir den beheizten Bus verlassen hatten, begann ich zu frösteln. Es war bereits dunkel und die Luft hatte sich weiter abgekühlt.

“War schön.“ sagte Sam, als wir vor der Tür zum Treppenhaus standen. Ich nickte zustimmend.

“Soll ich dich nicht noch nach Hause bringen?“ fragte er und blickte besorgt auf mich hinab.

“Ach quatsch, ist doch nicht weit.“

Er sah mich noch einen Augenblick nachdenklich an.

“Na gut.“ Er gab mir einen Kuss auf die Stirn bevor er fortfuhr. “Pass auf dich auf ja? Immer.“

Wie umarmten uns für einen wunderbar langen Moment und lächelten einander ein letztes Mal entgegen bevor er die Stufen des Portals hinauf schritt und ich mich auf den Weg machte.

VI

Ich hatte mich entschlossen, noch einmal bei Sally vorbeizuschauen. Nach Hause zu gehen erschien mir sinnlos, da mich dort ohnehin nichts als Einsamkeit erwarten würde – und die ich mied so gut es ging.

Sam hatte ich nichts davon gesagt, weil ich nicht wollte, dass er sich unsinnig Sorgen machte.

Auf dem Weg genoss ich den feinen Geruch, der der Luft von dem vorbeigegangenen Regen verliehen worden war.

Das Haus, in dem Sally wohnte, lag mehrere Blocks entfernt, so dass ich ein Weilchen zu gehen hatte.

Die Straßen waren relativ verlassen als ich die Innenstadt hinter mir gelassen hatte und in den Vororten ankam. Nur hier und da sah ich ein paar Passanten die schnellen Schrittes an mir vorbei liefen, womöglich nach einem langen Arbeitstag auf dem Weg in ihr warmes, wohliges Zuhause.

Es muss gegen neun gewesen sein, als ich mein Ziel schließlich erreichte. Ich ging die Eingangstreppe hinauf und drückte auf die Klingel, neben der in kunstvoller Schrift darauf hingewiesen wurde, wem dieser Palast gehörte.

Alice öffnete mir wenige Sekunden später. Sie war die Haushälterin der Prestons. Sie hatte hier schon gearbeitet, als ich Sally kennen gelernt hatte. Ihr dünnes Haar war bereits ergraut, ihr Gesicht verziert mit Fältchen. Ihre weisen Augen musterten mich einen Moment ernst, dann setzte sie ihr künstliches Lächeln auf und bat mich hinein.

“Guten Abend, Miss Sullivan.“ Ich hasste sie, diese Spießigkeit.

“Alice.“ Murmelte ich nur, durchquerte mit schnellen Schritten die Eingangshalle mit dem Marmorboden und den Blumenbouquets, vorbei an den absurden Familienfotos, auf denen jeder gezwungen worden war, zu lächeln, und die Treppe hinauf. Oben lief ich den langen, getäfelten Flur entlang, an dessen Wänden uralte, mordsmäßig überteuerte Gemälde hingen, die ich nicht mal wirklich unterscheiden konnte, bis zum Ende wo sich Sallys Zimmertür befand.

Sie stand einen Spalt breit offen.

Ich ging ohne zu klopfen direkt hinein. Wir klopften niemals an. Das wäre, angesichts unseres Vertrauens zueinander, lächerlich, geradezu absurd gewesen, genau wie die Familienfotos der Prestons unten in der Halle.

Ich ging also in dieses Zimmer und das erste was ich erblickte waren die Trümmer einer Vase die den Boden zierten.

Das Wasser, das einst ihr Inhalt gewesen war, säumte nun den grauen Teppich und färbte ihn pechschwarz, die weißen Lilien lagen auf dem gesamten Boden verstreut und bildeten einen wunderbaren Kontrast dazu. Die Scheibe des großen Spiegels in der Ecke des Zimmers war zerschmettert worden. Aus dem Lautsprecher der Anlage raunte Kurt Cobain leise sein Something In The Way.

Und dann sah ich sie. Dort, ganz hinten saß sie zusammengekauert auf der Fensterbank - mir den Rücken zugewandt - und schaute hinaus. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Zigarette die neben ihr bereits einen ansehnlichen Aschehaufen hinterlassen hatte.

Ich trat ein Stück näher und sah über ihre Schulter hinweg ihre andere Hand. Sie war voller Blut und klammerte sich um die halbvolle Wodkaflasche in ihrem Schoß.

“Als ich gerade acht war fand ich ein Kätzchen auf der Straße.“

Ich erschrak ein wenig, als ich sie nach einigen Augenblicken, die ich gebraucht hatte, um die Situation zu erfassen, mitten in die Stille hinein wispern hörte.

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch das wäre auch nicht nötig gewesen. Ihre Stimme allein bestätigte mich. Sie war brüchig und so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Sally hatte geweint. Und ich glaubte, sie weinte noch immer.

Sie sprach weiter.

“Es war so klein und hilflos. Ich nahm es mit nach Hause. Wochenlang hielt ich es versteckt. Es war das Liebste, das ich hatte.“ Sie machte eine kurze Pause und schluchzte kaum vernehmlich. Ich sah das Blut ihrer Hand weiter über die Wodkaflasche rinnen.

“Dann entwischte es mir. Meine Eltern fanden das Kätzchen und nahmen es mir. Einfach so.“

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass etwas geschehen sein musste. Etwas Grauenvolles, das nichts mit Sallys verlorenem Kätzchen zu tun hatte.

Ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu und begann.

“Sally, was, wie…“

Sie unterbrach mich.

Die Worte die sie anschließend aussprach waren nicht mehr als ein Flüstern und doch so voller Kälte und durchsetzt von unendlichem Schmerz wie Worte es nur sein konnten.

Er hat sie gefickt.“

Mir stockte der Atem. Ein Schaudern durchfloss meinen Körper. Es fühlte sich für eine Sekunde so an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen.

Josh.

Sie begann nun unaufhörlich zu Schluchzen und zitterte am ganzen Leib.

Ich ging zu ihr, nahm ihr vorsichtig die Flasche aus der blutüberströmten Hand und drückte Sally an mich, versuchte dieses untröstliche Wesen zu beruhigen, und sie ließ es zu.

Eine endlos lange Zeit verharrten wir einfach in dieser Umarmung, während sie an meiner Schulter schluchzte und ich ihr über ihr weiches Haar strich und ihr zuflüsterte, wie sehr es mir leid tue.

Ich versuchte zu verstehen, was nicht zu verstehen war.

Sally liebt Josh und Josh liebt Sally. So war es gewesen, und so würde es bleiben. Wie ein ethnisches Gesetz schwirrte dies in unseren Köpfen herum. Was nun geschehen sein musste war nicht Teil dieser Gleichung, nicht einmal Teil meiner Vorstellungskraft gewesen. Nun zu hören, dass er sie betrogen hatte, zu sehen was er ihr angetan hatte, fühlte sich an, wie ein Stein der einem direkt in die Fresse geschleudert worden war; Unerwartet und verdammt schmerzhaft.

Wisst ihr, Josh entsprach rein vom Äußerlichen her dem gängigen Klischee des Rumtreibers. Mit den grünen Augen die wie zwei Smaragde in seinem Gesicht mit den markanten Zügen, lagen, das umrahmt war von seinem schwarzen Wuschelhaar. Mit ihm würde jede Zweite an meiner Schule was anfangen wollen. Man könnte ihn für den größten Machoarsch halten, einen der jede knallt. Doch so war er nicht. Nicht mal annähernd. Nicht mehr. Seit Sally nicht mehr – so hatte ich zumindest geglaubt.

Schließlich wurde das Schluchzen schwächer, sie hob ihren Kopf ein wenig und blickte mich aus ihren verweinten, haselnussbraunen Augen an.

Ich fühlte mich unendlich hilflos in diesem Moment. Es gab nichts, dass ich hätte tun oder sagen können, das ihren Schmerz lindern oder die Tränen trocknen konnte. Ich wünschte dass jemand kommen und alles wieder gutmachen würde. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, alles wäre gut. Doch das wäre eine Lüge gewesen.

Mein Blick fiel in ihren Schoß. Ganz vorsichtig nahm ich ihre Hand in meine und betrachtete sie. Sie musste damit den Spiegel zerschmettert haben, die Wunden waren echt tief.

“Sieht übel aus. Wir sollten uns darum kümmern.“ Meine Worte kamen mir leer und unangebracht vor.

Sallys Blick ruhte ebenfalls auf ihrer Hand. Sie nickte nur stumm. Ich brachte sie ins nebenan liegende Badezimmer und platzierte sie auf dem Hocker neben dem Waschbecken. Ich hatte Angst, sie würde zusammenklappen, müsste sie auch nur einige Sekunden selbstständig stehen.

Ich wusch die Wunden aus und tupfte ihre Hand anschließend trocken. Obwohl ich sehr vorsichtig vorging, musste es ziemlich schmerzhaft für sie gewesen sein, doch sie verzog keine Miene, sondern starrte einfach hinaus aus dem Fenster.

Als ich ihre Hand versorgt hatte nahm ich ihr Gesicht in meine Hände und zwang sie so mich anzusehen.

“Sally, ich bin da, okay?“

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen und ihre Lippen formten ein lautloses ‘Danke‘. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

“Immer, das weißt du.“

Wir gingen zurück in ihr Zimmer und ließen uns auf der Fensterbank, auf der sie bereits zuvor gesessen hatte, nieder.

Dann lehnten wir uns aneinander und hielten uns an den Händen.

“Ich liebe ihn doch.“ Hauchte sie.

“Ich weiß, Sally, ich weiß.“

Die ganze Nacht saßen wir dort, redeten über Josh, über ihre Eltern, über meine Eltern, über uns, weinten, schwiegen, schwelgten in Erinnerungen, hofften, träumten zusammen. Und als die Sonne vor dem großen Fenster langsam aufging saßen wir noch immer dort, froh, einander zu haben.

Wir würden nicht in die Schule gehen, das wussten wir beide ohne ein Wort darüber verloren zu haben.

Zu oft hatte es solche Tage schon gegeben, an denen wir einfach nur hier saßen, und keinen Gedanken an die Schule verschwendeten, da uns andere Dinge beschäftigt hatten, als dass nun so etwas in Frage gekommen wäre.

Und so verbrachten wir diesen Tag dort in ihrem Zimmer, redeten, weinten, schwiegen, schwelgten, hofften, träumten miteinander, einzig unterbrochen von Alice, die hin und wieder einen Blick in das Zimmer warf, um sicher zu gehen, das wir noch lebten, doch sie sprach kein Wort mit uns. Sie mag nicht die Netteste gewesen sein, doch eine der Taktvollsten, und dafür waren wir dankbar gewesen. 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /