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Herbert wankte mit diversen Papiertüten bepackt aus dem Supermarkt. Kurz vor dem Parkplatz blieb er stehen. Sein prüfender Blick glitt über mehrere Tonnen glitzernden Blechs, um bei einem besonders wohlgeformten Exemplar auszuruhen. Mit dem sicheren Gespür eines Mannes, dessen liebstes Kind in der Garage schlief, hatte er den Wagen unter all den anderen ausgemacht. Als er näher kam streichelte sein Blick liebevoll die elegant geformte Karosserie des Nobelschlittens. Diese Rundungen. Das dynamisch hochgezogene Heck. Die einladenden Kotflügel. Die verspielten Lüftungslöcher des Kühlergrills.
Herbert seufzte tief und legte eine Papiertüte vorsichtig auf die Motorhaube. Mit der freigewordenen Hand durchsuchte er alle erreichbaren Taschen, schien mit dem Erfolg der Aktion jedoch nicht zufrieden, wechselte also den Haltearm und unterzog die anderen Taschen der gleichen Operation. Auch bereits durchforstete Ecken der Jacke wurden noch einmal, nun etwas schneller, abgetastet. Doch je länger der Mann suchte, desto länger wurde sein Gesicht.
Herbert stieß einen kurzen Fluch aus, stellte die zweite Tüte unsanft ab und begann mit kreisenden, paarweise klopfenden Geräuschen eine Ganzkörperobservation. Es gab keine Stelle, die nicht durch zwei unabhängige Hände untersucht wurde, dann durch drei, dann vier und immer schneller...

Ein langgezogener Entsetzensschrei hallte über den Betonplatz und die Supermarktgäste, die aufblickten, erfaßten die Situation sofort. Jemand aus ihrer Mitte, einer den sie nicht kannten, einer, der gewiß ein guter Skatkumpel gewesen wäre oder ein stürmischer Liebhaber oder beides, hatte ein Problem. An vielen, die Herbert da sahen, schreiend und tobend, begann ein Gefühl der Unruhe zu nagen. Das Gefühl etwas zu verpassen.
Und so kamen sie denn näher, vergessend, daß sie soeben noch nach Hause wollten, um das Schokoladeneis in den Kühlschrank zu stellen...
"So ein verdammter Mist!", Herbert beendete eine schwungvolle Pirouette mit einem Ausfallschritt, der scheppernd an der Radkappe des Nachbarautos endete. "So was passiert immer nur mir! Immer! Verdammter Mist!"
Ein Kreis von mitfühlenden Menschen kam näher.
"Was ist denn los junger Mann? Wo brennt´s denn?"
"Ich hab' meine Autoschlüssel verloren." jammerte der Unglückliche und ließ den Frust diesmal an einer der vorderen Radkappen ab.
Das Auto nahm diesen Tritt demütig hin. Es litt mit ihm, das sah man sofort. Wie es dastand. Jämmerlich einsam, zwischen all den anderen Gefährten, die bald mit einem hämischen Hupen davonrollen würden. Jeglicher Möglichkeit beraubt, zu zeigen was alles unter der Motorhaube steckte und auf welch elegante Weise man Geschwindigkeiten erreichen konnte, die Uneingeweihte für Wahnsinn halten würden.
"Kann doch jedem passieren.", tröstete ein dicker LKW-Fahrer, der sich auf dem Parkplatz eine Frühstückspause gegönnt hatte.
Der Blick der Menge wanderte bewundernd zu ihm hinüber. Woher er so schnell den Mut genommen hatte, diesem verzweifelten Mann beizustehen?
"Sie können schlaue Tips geben!", Herbert fuhr mit vorwurfsvollem Blick herum. "Sie stehen ja nicht mit vollen Beuteln vor einem abgeschlossenen Auto."
Ein beiläufiges Murmeln erklang. Wie konnte der Dicke so herzlos sein? Da litt ein Mensch und er kam mit schwammigen Bemerkungen.
"Aber es gibt doch diverse Tricks.", rechtfertigte sich der Gescholtene.
Er spürte, daß hier sein Ansehen als LKW-Fahrer auf dem Spiel stand. Dutzende Augen ruhten gespannt auf ihm.
"Was Sie nicht sagen.", Herbert schniefte in sein Taschentuch und legte es dann wieder fein säuberlich zusammen. "Welche denn?"
"Genau!", riefen einige. "Welche denn?"
Der LKW-Fahrer merkte, wie er an Anhängern gewann und neuer Mut durchströmte ihn.
"Na man kann mit nem Draht die Verriegelung von innen öffnen. Hab' ich auch mal gemacht, als ich die Schlüssel stecken lassen hatte unten in Lissabon. Verdammt heiße Kiste und ich mußte mit ner Ladung Ananas ins Kühllager."
Die Leute schauten bewundernd auf den Dicken. Der hatte es drauf.
"Tolle Idee", meckerte Herbert, der erstaunlich schnell begriff. "Das geht aber auch nur, wenn die Scheibe ein wenig unten ist."
Viele, deren Geist nicht an so hohe Geschwindigkeiten gewöhnt war, deren Spezialität jedoch darin bestand, fremdes Gedankengut mit absoluter Präzision auszubeuten, nickten finster. Blöde Ideen ausspucken, das konnte jeder, aber die Konsequenzen zu sehen, das war nicht so leicht.
Ein untersetzter Herr mit Hund drängelte sich nach vorn.
"Mit Draht braucht man ja bloß einen winzig-kleinen Spalt, durch den er ins Innere des Autos eingeführt wird. Hab' ich mal in der Zeitung gelesen."
Der Trucker konnte nicht verhindern, wie ein Teil der Sympathie zu dem Herrn mit Hund wanderte Doch er hatte ja noch einen Trumpf im Ärmel.
"Da könnten sie recht haben, mein Herr. Aber ich muß sie darauf hinweisen, daß das aber bloß mit bestimmten Drähten geht."
Die Augen des Hundebesitzers verengten sich zu Schlitzen.
"Ajaaa?! Welche denn, wenn ich fragen darf?"
"Insbesondere kommen hier Drähte zur Anwendung, denen man eine indische Seide eingewoben hat. Zur Stabilität... Wartet kurz, ich hole meinen."
Angetrieben durch eine warme Woge der Zuneigung, setzte sich der Dicke in Bewegung.
>>Wartet ich hole meinen<< so eine selbstlose, aufopfernde Tat. Wer hätte gedacht, daß Trucker so ein großes Herz hatten? Und diese Umsicht. Wenn man einmal den Schlüssel stecken ließ und die Tür verschlossen war, gab es ja immer noch den Draht mit indischer Spezialseide...
Die Leute wandten sich dem geknickten Autobesitzer zu, der seine Umgebung nur verschwommen wahrnahm. Einige boten an, ihn zu nächsten Bushaltestelle zu bringen, andere wollten die Frau mit dem Handy anrufen. Doch Herbert schüttelte nur niedergeschlagen den Kopf. Er war zu keiner Entscheidung fähig.
Zum Glück kam der Fahrer wieder und wedelte mit dem Draht. Dieser beschwingte Schritt, diese Körperspannung unter der Latzhose. Die Menge schöpfte Hoffnung. Auch Herbert drehte sich dem Geschehen zu, wurde jedoch erneut unruhig, als der Dicke den Draht achtlos vor dem Außenspiegel hin- und herbaumeln ließ.
"Passen sie um Gotteswillen auf, das dem Auto ja nichts passiert! Wie Sie sehen können, ist es das Teuerste im ganzen Umkreis. Sehen Sie denn nicht diese anmutige Form, diese geschwungenen Linien und das Emblem auf der Motorhaube?! Da sieht man noch die deutsche Maßarbeit die drinsteckt."
Viele der Umstehenden sahen das Auto nun mit anderen Augen. Andere behaupteten, daß sie schon vorher diese Eleganz, das Farbenspiel des Lacks und die teure Stereoanlage bemerkt hätten. Aber alle wußten, daß eine Menge auf dem Spiel stand, als der Dicke begann, sich die Hände an der Latzhose abzuwischen.
"Wir schieben jetzt die Scheibe ein wenig herunter.", erklärte er die Sache den Uneingeweihten. "Da muß mir aber jemand helfen, weil's sonst nicht klappt."
Herbert taumelte wie vom Schlag getroffen zurück. Er begann am ganzen Körper zu zittern.
"Ich kann nicht.", hauchte er. "Mein Auto, mein armes, liebes..."
Einige suchten beschämt das Weite, andere mußten plötzlich ihr Wechselgeld überprüfen. Nur wenige hatten Erfahrung mit solchen Sachen und die Versicherung zahlt ja so schlecht, falls wirklich was passierte.
"Ich mach's.", ein stämmiger Typ im Holzfällerhemd trat aus der Menge. "So ne Scheibe ist für mich kein Problem."
Ja das war einer. Ein richtiger Mann eben. So ein Urwaldtyp, einer, dem man zutraute, daß er bei Regenwetter allen Naturgewalten trotzend, lieber im tiefsten Schlamm auf den Bus wartete, statt sich im Wartehäuschen um trockene Plätze zu drängeln.
"Aber vorsichtig.", Herbert schien die Sache nicht ganz geheuer.
Der Holzfällertyp zog sich das Hemd aus. Einige weibliche Zaungäste, die mit dem Motorsport nichts zu tun haben wollten und sich abgewandt hatten, um eventuell nach dem Schokoladeneis zu schauen, das da aus der Einkaufstüte tropfte, sahen plötzlich ganz neue Perspektiven, als der Adonis seine Muskeln prüfte. Dann legte er seine Pranken auf die glänzende Scheibe und begann zu drücken. Nichts rührte sich.
"Oha", japste der Trucker. "Automatische Fensterheber."
"Was haben Sie denn erwartet?" entrüstete sich Herbert und registrierte, wie der Holzfäller in die Hände spuckte.
"Alles klar.“, schnaufte er. „Jetzt bin ich warm."
Sein Bizeps ließ bei den Anwesenden Atem- und Pulsfrequenz steigen. Jetzt ging es um alles, oder nichts.
"Zugleich" war das Kommando und alles schaute mit angehaltenem Atem, wie der Trucker am Hals des Holzfällers hing und vergeblich versuchte den Draht in den winzigen Spalt einzuführen.
"Je teurer ein Auto, desto schwerer gehen die Scheiben runter.", behauptete ein Typ mit hängendem Schnauzer. "Das hab ich in ner Illustrierten gelesen."
"Und ich sag', es liegt an der Hitze.", ereiferte sich ein junger Mann, der sich als Physiker zu erkennen gab. "Je wärmer es ist, desto mehr dehnt sich der Gummi und dann ist der Auflagedruck höher, so das man eine höhere Haftreibung..."
"Auflagedruck. Papperlapapp. Es alles eine Frage der Atmung. Man muß einfach durchs Zwerchfell atmen, um das Karma in Einklang mit dem..."
"Karma! Lächerlich! Es ist ohne Zweifel die Reibung."
"Bei elektrischen Fensterhebern muß man doch einfach, die Batterie..."
"Alles Quark. Man muß eine Beziehung zum Fenster aufbauen."
Die Meinungen flogen hin und her.
Plötzlich teilte sich die Menge und ein Polizist kam herangeschlendert, um in der Mitte stehenzubleiben. Eine Weile sonnte er sich in der Bewunderung, die seine Uniform hervorrief. Er hatte die Lage voll unter seiner Kontrolle.
"Was ist hier los!", donnerte er und stemmte selbstbewußt beide Hände in die Seiten. "Ich muß sie bitten sofort damit aufzuhören!"
Der Dicke, der die ganze Zeit schwer beschäftigt war, drehte sich erstaunt herum. Als er des Beamten ansichtig wurde, blies er beide Backen auf und ließ einen kurzen Pfiff ertönen.
"Was ist hier los. Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung, was diese...“,
„Also Herr Oberwachtmeister. Die Sache ist die...“, Herbert hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen, denn schließlich war durch sein Mißgeschick die Sache ins Rollen geraten.
„Das sehen Sie doch Herr Polizist“, eine Frau mit Kind nutzte die Möglichkeit, sich mal einzubringen, „Wir bringen das Auto von diesem Mann wieder in Gang, weil er doch seinen Schlüssel verloren hat.“
„Aha“, der Ordnungsbeamte begriff schnell. „Wurde schon alles veranlaßt? Ich meine. Sie müssen den Schlüssel ja im Supermarkt verloren haben. Das kann man ja ausrufen und ich kenn´ da noch jemanden, der beim Schlüsseldienst...“
"Ach was, ich hab´s gleich geschafft“, meldete sich der Trucker, der hinten schon wieder eifrig am werkeln war. „Ich muß nur noch die Schlaufe um diesen verflixten Knopf legen."
Tatsächlich. Durch die Anwesenheit der Ordnungsmacht, hatte der Dicke seine Anstrengungen forciert und war dem Ziel schon ziemlich nahe. Sofort glitt die Aufmerksamkeit von der strahlenden Polizistenuniform zum Handlungsort. Der Innenseite einer Autotür. Der Beamte glich diesen Publizitätsverlust raffiniert aus, indem er sich ans gegenüberliegende Fenster drängelte und Anweisungen bezüglich der Richtung der Schlaufe gab, damit diese sich auch wirklich um den Hals des kleinen Verriegelungsknopfs legen konnte...
„Nach links.. nein hinter, etwas hoch... nana...ja...jetzt...ja... es kommt jaaaaa!“
Endlich war es so weit.
"Ah" seufzten alle Anwesenden gemeinsam auf, als der Knopf nach mehreren Versuchen hochsprang. Das es so schwer war, hatten die meisten gar nicht gedacht.
Sofort hatte Herbert die Tür aufgerissen. Ein durchdringendes Piepen ertönte. Doch der Autobesitzer duckte sich gewandt unter die Konsole und riß mit geübtem Griff einige Drähte heraus.
"Was machen Sie da?" fragte der Polizist.
„Das war die Alarmanlage.“, meldete sich der Physiker, um wenigstens einige Felle zu retten. „Sie kann nur durch einen persönlichen Code zum Schweigen gebracht werden.
„Genau.“, Herbert klopfte dem Mann anerkennend auf die Schultern. „Bloß das meine Frau ihn immer verstellt.“
„Jaja, die Frauen“, der Schnauzer nickte wissend, „in der Zeitung steht, daß bei 80 Prozent der Auffahrunfälle am Wochenende durch Frauen...“
„Wer will das wissen?“, eine Dame mit Zwergpudel fühlte sich verpflichtet, das Ansehen der am Verkehr teilnehmenden Frauen hochzuhalten.
„Na ich will das wissen.“, der Mann drehte sich zu seinem neuen Angriffsziel um. „Wenn ich nämlich am Wochenende unterwegs bin und bremse.“
„Na dann sind Sie doch Schuld, wenn Sie bremsen!“
„Na hören Sie mal, ich darf doch wohl noch bremsen!!“
„Ruhe!“, ging der Ordnungshüter mit seiner ganzen Autorität dazwischen, während im Hintergrund ein Auto kurzgeschlossen wurde. „Bei einem Auffahrunfall haben immer zwei Schuld.“
„Nicht bei Frauen!“
Ich muß sie bitten, den Lärmpegel zu reduzieren.“, donnerte der Polizist, doch die Leute achteten nicht auf ihn.
Ein PS-starker Motor wurde auf Touren gebracht und Jubel erhob sich, als Herbert eine Ehrenrunde auf dem Parkplatz drehte, um mit einem Hupen den Ort des Geschehens zu verlassen. Die Leute winkten zum Abschied, bevor jeder seinen Geschäften nachging. Einige eilten noch einmal in den Supermarkt, um das geschmolzene Schokoladeneis zu reklamieren. Was war das für eine Eisqualität, wenn man nicht mal einem Mitbürger aus der Patsche helfen konnte?
Zurück blieben der Polizist und der Trucker. Jener verstaute gerade den Draht wieder, als der Polizist einen Überraschungsruf ausstieß.
„Er hat seine Einkaufstüten vergessen.“, der Beamte war erschüttert. „Alles umsonst. Ob ich eine Suchmeldung...“
„Ach was, ich bringe sie ihm!“, entschied der Dicke spontan, schnappte sich die Tüten und knallte sie ins Wageninnere, um mit Elan hinterherzusteigen. Die Tomaten kullerten in alle Richtungen und gaben den Blick auf das Darunterliegende frei. Es waren einige Zeitungsknäuel.
„Woher wissen Sie denn...“
„Kein Problem. Ich weiß wo er lang muß. Ich hab´ mir nämlich das Nummernschild gemerkt.“
„Ich nicht.“, wunderte sich der Polizist.
„M Strich Vierzwodrei Strich Null Zwo.“, der Trucker nannte vorsichtshalber eine falsche Nummer.
„Vielen Dank.“, der Beamte tippte an seinen Hut und winkte dem davonrollenden Sattelschlepper. „Die Bürger sind heutzutage so aufmerksam.“

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Tag der Veröffentlichung: 02.01.2009

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