Ich sitze mal wieder im Bus, wie jeden Donnerstag, der zum Glück hinter mir liegt. Im Unterschied zu den anderen Donnerstagen habe ich heute einen Sitzplatz.
Mit Blick auf die Straße.
Eine junge Frau steigt mit ihrer Tochter zu. Ein älterer Herr räumt freundlich seinen Sitz und sie nehmen mir gegenüber Platz. Das Kind klettert bei der Mutter auf den Schoß, die sich sofort ihrem spannenden Buch widmet. Es befaßt sich wohl mit dem Zusammenhang zwischen Nebennierenrinde von Süßwasserfischen und dem Ozonloch auf dem Mars. Das scheint jedenfalls aus dem Bild auf dem Umschlag hervorzugehen. Gewiß eine sehr anspruchsvolle Lektüre. Das etwa vierjährige Töchterchen ist anderer Meinung. Die Kleine würdigt den Schmöker keines Blickes, sondern beginnt sich interessiert im Fahrzeug umzuschauen.
Kleinkinder sind so neugierig. Ich finde das toll. Sollen sie ruhig die Welt in sich aufnehmen, solange sie noch so ist, wie sie ist.
Sie betrachtet jeden, der ihr unter die Augen kommt. Richtig so. Hast ja eine große Auswahl. Allerdings hat sie noch nicht einmal die Hälfte der Leute in ihrer Nähe observiert, als ihr Blick auf mich fällt. Es stört mich nicht. Im Gegenteil. Mal etwas Ablenkung. Ich blinzele sie an, wackele mit den Ohren und schneide Grimassen. Was man eben so macht, um ein Kleinkind zu unterhalten.
Doch sie verzieht keine Miene. Starrt mich nur ohne Unterlaß an. Und bleibt dabei so ernst, als wüsste sie, dass ich meine Jogurtbecher ungewaschen in die gelbe Tonne schmeiße. Einige werden jetzt eventuell annehmen, daß ich vielleicht attraktiv bin oder so. Das kann ich ohne Scheu verneinen. Bis auf meine abstehenden Ohren gibt´s nichts besonderes, was das andere Geschlecht interessieren könnte. Um ganz sicher zu gehen verstecke ich die Ohren mit dem Schal. Doch ihr Interesse bleibt wach, wie ein hungriger Wolf. Ihr Blick bohrt und bohrt. Ich werde das Gefühl nicht los, daß sie meine innersten Geheimnisse in sich aufsaugt. Die sind aber nix für Kleinkinder!
Verunsichert schaue ich aus dem Fenster. Sehr interessant. Drei Bäume, eine Kreuzung, zwei Bäume. Und dort! Noch eine Kreuzung mit Ampel! Ich schiele nach rechts. Alles wie gehabt. Zwei weitaufgerissene Kinderaugen. Schau doch aus dem Fenster, dort ein Ferrari, eine Baustelle und eine Blondine. Ich werde nun doch etwas unruhig. Irgend etwas stimmt nicht. Vielleicht leidet sie ja an akuter Lähmung der...
Ich hebe den Finger und führe ihn vor ihrer Nase von links nach rechts, das habe ich in einer Arzt-Serie gelernt. Die Mutter kommt für einen Moment vom Mars zurück, straft mich mit einem bösen Blick und nimmt dann Blickkontakt mit ihrer Tochter auf. Das geht ohne Probleme.
Soll mir recht sein. Ich fühlte, wie eine Last von meinen Schultern weicht. Ein tiefer Atemzug. Wunderbar frische Busluft durchströmte meine Lungen.
Doch da! Ein einer leisen Juckreiz in meiner Nase. Vielleicht durch ein Staubkörnchen oder ... was haben sie heute über das Biowetter gesagt? Aber es ist ja nichts. Eine Andeutung, die das Wohlbefinden nicht beeinträchtig. Iewo. Nur so eine klitzekleine...
Aber es stört doch ein wenig. Auf eine unterschwellige Weise, beschäftigt es mich. Schon will ich aus alter Gewohnheit mit dem Zeigefinger für Ordnung sorgen, da bemerke ich diese neugierigen Kinderaugen, die wieder auf mir haften, nachdem Mami wieder in fremde Welten aufgebrochen ist. Ich ziehe den Zeigefinger zurück. Natürlich bin ich mir meiner Vorbildfunktion bewußt. Ich beherrsche mich. Für mich gar kein Thema. Beherrschung ist mein zweiter Name. Und noch dazu bei so einem eigentlich gar nicht fühlbaren ... naja aber da ist was!
Allerdings kenn´ ich mich aus. Mit Autosuggestion und anderen religiösen Dingen. Das verschwindet von selbst. Man muß nur fest dran glauben. Oder nicht dran denken, sich ablenken. Und im Bus ist ja so viel Abwechslung möglich... Man muß ja bloß aus Fenster schauen.
Was man nicht alles sieht. Häuser und Bäume, ja da stehen sie, die Birkenpollenbäume, umgeben von diesen samenstrotzenden Gräsern...
Ich rümpfe die Nase so gut es geht. Etwas Gesichtsakrobatik zu Auflockerung. Wo ist eigentlich das Taschentuch? In der anderen Hose! Naja wo sonst, das Luder!
Dann doch etwas Medidation. Ich schließe die Augen und hebe ab.
Australien - das Land der Wüsten und Steppen. Karge Vegetation. Keine Bäume... Obwohl Eukalyptusbäume gibt es da schon, da kann man nix machen. Aber die sind harmlos, per Definition und außerdem klettern darauf diese putzigen Bären herum. Ja die Koalabären, die kleinen, knuddeligen Teddys mit den... Aber sind die nicht verwandt mit den Nasenbären? Verdammt!
Ich wische geschwind mit dem Ärmel darüber. Eine reine Routinebewegung. Völlig natürlich und unverfänglich. Noch mal. Doch es verstärkt mein Verlangen nach mehr Ordnung in der Nase. Da stimmt doch etwas nicht! Ich spüre, wie das Staubkorn vor lauter Aufmerksamkeit zu wachsen beginnt, wie es sich ausdehnt nach allen Seiten, wo es schon jetzt sowenig Platz hat. Es kribbelt und krabbelt. Instinktiv richtet sich mein rechter Zeigefinger auf. Doch meine linke Hand ist schnell genug, um Schlimmeres zu verhindern. Mein flackernder Blick huscht umher. Nirgends kann er sich ausruhen. Er wird getrieben. Und diese Treibkraft ist eine Sprengladung in der Nase. Ein Hauch von Panik. Ich muß handeln ich, ich muß was tun, ich muß jetzt diesen Finger.... ich höre schon ihre Stimme: "Mami, Mami. Der Junge da bohrt in der Nase."
Und Mami würde eine Bruchlandung hinlegen, ihr Buch schnappen und demonstrativ den Platz verlassen. Und die anderen Fahrgäste würden mich verachtend anschauen, die Nase rümpfen und ausspucken.
„Pfui. Die Jugend von heute. Keinerlei Werte. Hat einen Sitzplatz im Bus und wird nicht mal mit einem kleinen Juckreiz fertig. Pfui, pfui, dreimal pfui.“
Ja die Jugend! Verdammt! Der Jugend beginnt die Nase zu brennen. Ich beiße mir auf die Zunge. Tränen steigen mir in die Augen.
Das Mädchen betrachtet mich mit zunehmendem Interesse. Sie weiß es, das kleine Biest. Sie weiß, wie es in mir kocht. Sie amüsiert sich. Ich ... mmh....Wenn doch diese Nase. Ahhh. Es ist, als ob ein Rudel Ameisen eine Disco veranstalten würde. Diese Disco steht kurz vor der Explosion. Ich beginne zu zittern. Mein ganzer Körper zuckt auf dem Platz herum. Mit beiden Fäusten drücke ich auf der Nase herum. Einige Umstehende treten vorsichtig zurück, andere kommen interessiert näher. Mir egal. Ich springe hoch, dann in die Hocke. Zwei, drei Liegestütze. Es hilft nichts. Die Ursache liegt tiefer und erfordert einen sofortigen chirurgischen Eingriff meinerseits.
Ich bin entschlossen. Alles egal! Ich hebe die Hand. Die können mich alle mal! Was interessiert mich die öffentliche Meinung. Der Zeigefinger nährt sich dem Ziel. Die linke Hand blockiert von meinem Verlangen. Es gilt! Ein letzter Blick in diese ... großen, anklagenden Kinderaugen und....Nein dann wäre alles umsonst gewesen!
Ich springe zur Tür. Wo ist die Haltestelle? Irgendeine Haltestelle muß doch hier sein! Warum hält der Bus nicht? Egal! Nicht halten! Bloß die Tür auf! Na los! Ihr Säcke! Macht die Tür auf, das ist ein freies Land. Ich hämmere wie wild auf den Knopf. Nichts! Gegen die Tür. Die Nase löst sich bereits vom Rest, sie fliegt weg, sie springt davon. Ich springe auch, ich will nicht! Nein! Ohhh. Einige Beherzte halten mich fest. Ich schüttle mich, ich strample, ich beiße. Ahh. Laßt mich krabbeln! Ihr Schweine! Ihr verdammten... Ich will meine Hand! Frei! Mir ist es so egal! Laßt los!
Ein Ruck! Das Zischen der Tür! Luft! Jemand gibt mir einen Tritt.. Ein Flug! Ein Landung, das linke Knie geht zu Bruch. Ein Griff. Der ganze Finger. Egal, alles egal. Ah! Freiheit! Ah! Diese Befriedigung. Ich bin eins mit meiner Nase. Ich dreh´ mich auf den Rücken und blicke hinauf in den Himmel. Der ist schööön. Der Bus fährt mit meinem Rucksack davon. Egal. Ich spüre wie die Anspannung abfließt. Und der Wind spielt mit meinen Haaren. Ich habe große Lust auf eine Zigarette.
Vor mir steht ein kleiner Junge. Er betrachtet mich aufmerksam mit seinen großen, runden Kinderaugen. Dann dreht er sich um und geht wortlos in Richtung seiner Mutti. Jetzt wird er gleich petzen.
Ich höre es schon:" Mami, Mami. Der Junge bohrt in der Nase!"
Na warte! Ich werde ihm zuvorkommen! Diese Genugtuung will ich auch noch.
"Na und!", brülle ich die Frau an. "Wenn´s krabbelt, kann man sich auch mal kratzen! Nicht jeder Finger in der Nase will popeln."
Ihr Blick drückt tiefste Verachtung aus.
„Was interessiert mich das?".
Dann greift sie sich die beiden Einkaufstaschen und geht davon. Ohne das grinsende Kind.
Ich will nach Hause.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2008
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