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Als sie wegfuhr, war das traurig.
„Es ist doch nicht für lange", sagte sie. „Nur drei bis fünf Monate.“
„Drei bis fünf?“, fragte ich und schniefte.
„Ja“, sagte sie. „Kommt drauf an, wie‘s mir da gefällt.“
Da war ich mir plötzlich gar nicht mehr sicher, was ich ihr wünschen sollte. Wenn es ihr gut ging, dort bei ihrem Lehrgang, dann kam sie später zurück. Und wenn nicht, dann kehrte sie wohlmöglich eher, aber mies gelaunt, zurück. Aber ich hatte gar keine Zeit, einen Gedanken zu fassen, denn sie schaute sich noch einmal im Zimmer um und entdeckte ihn, den Affenbrotbaum. Ihren Affenbrotbaum.
„Ah“, sagte sie und holte ihn von seinem Podest. „Mein Schatz.“
Und ich wußte nicht, ob sie mich meinte oder die Pflanze.
„Du gießt ihn bitte alle drei Tage zweimal.“
„Warum?“, fragte ich und starrte gedankenverloren auf ihre riesige Sporttasche. Das reichte nie für drei Monate. Sie würde sich neu einkleiden müssen und kam bestimmt als völlig neuer Mensch wieder.
„Warum? Na weil er Wasser braucht, der Kleine.“
Ja, er war wirklich klein, ich wußte das damals noch nicht, aber wir hatten es hier mit einem besonders kleinen Exemplar zu tun. Affenbrotbäume konnten durchaus größer werden. Bloß dieser scheinbar nicht.
„Aber wie soll ich das machen?“, fragte ich. „Soll ich etwa an dem einen Tag nachts und dann frühmorgens und immer abwechselnd gießen?“
„Ja!“, sagte sie und griff nach der Sporttasche. „Er braucht viel Liebe. Also ich muß los. Lutz ist gleich da.“
Und während ich noch nachdachte, wer Lutz war, umarmten wir uns das letzte Mal für die nächsten Monate, und als wir uns lösten, hatte Lutz schon Beethovens Neunte auf der Klingel gespielt. Mir war hundeelend.
„Paß’ schön auf“, sagte sie zärtlich. „Er braucht regelmäßig Wasser und muß alle zwei Tage gedreht werden, damit er gleichmäßig wächst.“ Ich nickte stumm. „Wenn ihm was passiert, dann weiß ich nicht, was ich machen werde. Ich kenne ihn schon länger, als dich.“
„Und als Lutz?“ wollte ich fragen, aber sie war fort, um Lutz abzuhalten, auch noch den Bolero anzustimmen.
Eine Weile saßen wir da, der Affenbrotbaum und ich. Und schauten uns prüfend an. Ich beschloß, ihn Boso zu nennen.
Anfangs ging’s ganz gut. Wir telefonierten häufig. Gleich als sie angekommen war, rief sie an und beschwerte sich, daß Lutz ein Raser sei. Ich freute mich und goß Boso einen Doppelten ein. Zur Feier des Tages.
Auch in den nächsten Wochen rief sie an und erzählte dies und jenes und daß der Lehrgang langweilig sei und sie lieber zurückkäme. Sie fragte, wie’s mir ginge und sie erkundigte sich auch nach dem Baum. Uns ging’s wirklich gut. Ich begann, Bosos Blätter zu polieren.
Irgendwann wurden die Anrufe spärlicher. Sie erzählte nicht mehr so viel. Der eine Lehrer, sagte sie eines Tages, gefiele ihr ganz gut. Und eine Woche später, ich hatte Boso lange nicht gedreht, erklärte sie, sie hätten beide ihre Vorliebe für Squash entdeckt. Sie konnte doch Sport noch nie so richtig leiden. Boso auch nicht.
Als ich mehr wissen wollte, fragte sie nach dem Wetter. Manchmal rief sie tagelang nicht an. Und wenn ich es bei ihr versuchte, war entweder besetzt oder sie erzählte nur von ihm und wie toll seine Vorlesung sei. „Geschichte mittelalterlicher Hansestädte“. Irgendwann hörte auch das auf. Mein Telefon war tot und als ich anrief, ging niemand mehr ran. Boso verlor ein Blatt.
Auch mit mir ging’s bergab. Es war schlimm. Die Kumpels fragten, was Phase sei.
„Nicht der Rede wert“, ich winkte ab. „Neuronale Schwankungen. Geht vorbei. Geh’n wir einen drauf machen?“
Nach acht Wochen raffte es mich, ich fuhr hin. Wollte wissen, was los sei. Stieg in den Zug und als der Schaffner kam, hatte ich noch nicht mal eine Fahrkarte.
Das Wohnheim fand ich schnell. In ihrem Zimmer wohnten zwei Japaner. Da, wo ich unzählige Briefe hingeschickt hatte. Sie schauten mich an, die Japaner, als ich fragte, wo sie sei. Sie verstanden nicht, was ich wollte. Ich fragte im Wohnheim herum. Ein Mädchen gab mir eine Adresse. Das war außerhalb der Stadt. Ich fuhr trotzdem hin. Es war ein Reihenhaus mit Vorgarten. An der Tür stand nicht ihr Name, und ich traute mich nicht, zu klingeln. Also fuhr ich noch mal ins Wohnheim, rannte herum und fragte die Leute aus. Keiner wollte Genaueres wissen. Ich setzte mich in den Gang und dachte nach. Da kam sie zur Tür herein. Sah etwas blaß aus. Wir umarmten uns. Sie sagte, sie wohne jetzt Etage neun und sei froh, mich zu sehen. Von ihm - kein Wort. Sie erzählte, sie habe das Fach gewechselt. Ich fragte nach dem Lehrer, doch da begann sie zu weinen. Sagte, sie hasse Squash und mittelalterliche Hansestädte. Ich sagte, das täte ich auch.
Und dann fragte sie nach dem Affenbrotbaum. Mir fiel ein, daß ich ihn nicht gegossen hatte. Keine Ahnung wieviele Tage schon nicht.
„Gut“, murmelte ich. „Es geht ihm gut. Er wächst.“
Sie schaute überrascht auf.
„Quatsch“, sagte sie, „er ist noch nie gewachsen, er bleibt immer so klein und süß.“
Und sie fragte nach der Anzahl der Blätter und ob sie rote Ränder hatten. Es war alles gut. Ja, es waren Blätter dazugekommen. Ja, er wuchs gleichmäßig nach oben. Weiße Punkte auf den Blättern? Nein, hatte ich nicht gesehen. Wir verabschiedeten uns. Sie sagte, sie bliebe eventuell länger, wegen der Prüfung, aber so genau wisse sie es noch nicht und es könnte sein, daß sie gar keine Prüfung schreiben müsse. Ich sagte, daß ich sie sehr vermisse. Dann fuhr ich wieder. Hatte am Montag Schicht.
Der Anblick zu Hause war schlimm. Boso hatte nur noch die Hälfte der Blätter. Er ließ alles hängen. Ich goß ihn jede Stunde, doch es half nichts, er war geschwächt. Ich drehte ihn und stützte die Blätter. Umsonst. Sie rief an, wollte wissen, wie es uns geht.
„Uns geht es gut. Mach’ dir keine Sorgen.“
„Ich komme doch eher zurück“, sagte sie, „Die Prüfung brauche ich doch nicht mitzuschreiben. Freust du dich?“
„Ja sehr“, sagte ich und legte auf.
Ich schaute zu Boso und bekam Panik. Was würde sie sagen, wenn sie ihn so sah? Sie wurde ja immer gleich so emotional.
Und da fiel mir Oma Henna ein. Am nächsten Tag fuhr ich sie besuchen. Schließlich hatte ich sie drei Jahre nicht mehr gesehen.
Sie wohnte noch immer in der Plattenwohnung. Im dritten Stock, ohne Fahrstuhl. Allein. Großvater war vor Jahren an Krebs gestorben. Der Papagei war auch nicht mehr derselbe. Und sonst? Sie sagte, sie fühle sich einsam. Ich nickte stumm, ja einsam waren wir alle irgendwie. Dann wollte sie wissen, warum ich wirklich käme. Ich erzählte es ihr. Von meinem Affenbrotbaum, der im Sterben lag. Sie hörte aufmerksam zu.
„Du hast ihn allein gelassen“, sagte sie. „Hast ihn nicht gepflegt. Sie brauchen viel Liebe.“
Ich nickte. Ja, das hatte ich schon mal gehört.
„Und da kann man nix mehr machen?“, fragte ich ernüchtert.
Sie dachte nach und dann ging sie zum Schrank unter der Spüle und holte eine Pappschachtel heraus. Drumherum war noch eine Plastikfolie.
„Das ist ein Spezialdünger“, sagte sie. „Der ist sehr stark. Ich werde dir drei Löffel mitgeben. Damit könnte man es probieren. Jeden Tag eine Messerspitze.“
Sie bekam den Gummi von der Plastiktüte nicht auf. Und da war ich schnell.
„Laß nur Omi“, sagte ich. „Ich nehm’ die Tüte am besten gleich so mit und bring’ dir den Rest zurück.“
Sie war noch unsicher.
„Da kann ich dich mal wieder besuchen“, fügte ich hinzu.
Sie war einverstanden, aber ich sollte darauf achten, nicht zu viel zu nehmen. Ich nickte. Natürlich. Zu viel war auch nicht gut.
Zu Hause bekam Boso erst mal den Fensterplatz im Schlafzimmer und einen Löffel Spezialdünger. Ich goß auch reichlich. Am nächsten Morgen waren wieder vier Blätter abgefallen. Ich nahm zwei Löffel Dünger und baute eine Drehscheibe. Nachts stellte ich den Wecker, um ihn rechtzeitig zu gießen. Zu viel Wasser war auch nicht gut, hatte Oma Henna gesagt. Nach zwei Tagen sah ich fünf kleine Knospen. Sie lugten vorsichtig zwischen den herabhängenden Blättern hervor. Geradeso als schauten sie, ob es sich lohnen würde, hervorzukommen. Am Abend polierte ich seine Blätter, jedes einzelne von ihnen. Dabei legte ich klassische Musik auf. Es schien, als möge er Brahms.
Ich begann Brahms auch zu mögen, denn Boso bekam immer mehr Blätter. Vielleicht lag es ja an der Musik oder an dem Löffel Dünger, den er jeden Tag bekam.
Sie rief mal wieder an. Ich war glücklich. Erzählte, wie er sich entwickelte.
„Er kann schon alleine stehen und bald lernt er sprechen und laufen“, sagte ich, und sie lachte und sagte, sie käme in drei Wochen heim. Sie sagte, sie freue sich auf mich. Ja, ich freute mich auch. Wir beide freuten uns schon auf sie.
Boso bekam noch immer eine Extraladung Dünger. Schließlich mußten wir eine gute Figur machen und wir machten eine gute Figur. Er wurde immer größer. Ich schoß drei Filme leer und schickte Oma Henna ein paar Abzüge. Es war erstaunlich, wie er sich entwickelte. Er war ein Prachtexemplar, ein richtiger Kämpfer. Und nicht nachtragend. Oma Henna rief an und sagte, sie wolle ein paar Absenker haben.
„Ja“, erwiderte ich stolz. „das läßt sich einrichten, aber ich muß erst nachfragen.“
Dann kam sie zurück. Es war ein sonniger Tag. Sie klingelte und ließ ihre Tasche fallen, um mich zu umarmen. Sie hatte ein neues Kleid an und es stand ihr phantastisch. Als sie ins Zimmer kam, drehte sie sich überrascht zu mir um.
„Wo ist er?“, fragte sie.
„Er ist umgezogen“, sagte ich geheimnisvoll und führte sie ins Schlafzimmer, wo ich ihn mit einem Tuch verhüllt hatte.
„Wo ist er denn nun?“, fragte sie wieder, diesmal mit ängstlicher Stimme.
In letzter Zeit hatte ich nicht mehr viel von Boso berichtet, um sie zu überraschen.
„Warte noch“, sagte ich und machte die Stereoanlage an. „Wenn er gute Laune hat, ist er viel schöner und die drei Uhr Sonne ist einfach gigantisch.“
Sie setzte sich stirnrunzelnd aufs Bett. Ich küßte ihren Nacken.
„Wir haben dich vermißt“, sagte ich.
„Wer ist wir?“, fragte sie.
„Na Boso und ich“, sagte ich und zog das Tuch weg.
Er war wunderschön. Die Nachmittagssonne spielte mit seinen Blättern. Er hatte viele davon. Große und kleine, die erst dabei waren, sich zu entfalten. Plätzchengroß bogen sie sich leicht dem Licht entgegen. Wenn man ihn regelmäßig drehte, dann reckten sich alle Blätter in Halbmonden nach oben, zur Sonne. Glücklich blickte ich zu ihr. Sie schaute ihn an. Nicht sehr lange.
„Was ist das?“, fragte sie tonlos.
Ich verstand nicht.
„Na unser Affenbrotbaum. Der kleine Boso.“
„Das ist nicht mein Affenbrotbäumchen“, sagte sie entschieden. „Der hier ist viel zu groß.“
Ich lachte.
„Natürlich ist er es. Nur hat er sich entwickelt. Gut entwickelt, nicht wahr?“
„Erzähl doch kein Mist“, sie begann zu schlucken. „Meiner hatte einen ganz anderen Topf.“
„Ich mußte ihn umsetzen", sagte ich, „damit die Wurzeln Platz finden. Er ist es wirklich. Es ging ihm eine Weile nicht so gut, aber jetzt hat er’s geschafft. Schau nur, wie schön er ist, unser Affenbrotbaum.“
Ich ging lächelnd auf sie zu.
„Laß mich in Ruhe!“, rief sie schluchzend. „Das da soll mein Affenbrotbäumchen sein? Mein kleines Bäumchen? Was du hier hast, ist ein Busch. Mein Kleiner war nicht mal die Hälfte so groß und du willst mir weismachen, daß es immer noch derselbe ist?“
„Ja“, ich verstand nicht richtig.
„Ich sag‘ dir, was du gemacht hast. Du hast meinen Kleinen verkommen lassen und dafür einen neuen gekauft, nur daß du zu blöd warst, die richtige Sorte zu nehmen. Und dann ziehst du hier eine Show ab mit Musik und Karussell und glaubst, ich fall´ drauf rein. Aber das kannst du vergessen! Diesmal bin ich nicht die Blöde. Ich geh´ gleich.“
Sie nahm ihre Tasche und knallte mit der Tür. Benommen ließ ich mich aufs Bett fallen und schaute zum Fenster. Im Hintergrund dudelte Brahms.
Eine Weile saßen wir da, Boso und ich. Und schauten uns prüfend an. Dann packte ich Bosos Topf in Geschenkpapier und besuchte Oma Henna.

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Tag der Veröffentlichung: 20.12.2008

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