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Mord



Ich sitze am Tisch und beginne eine Geschichte. Im ersten Satz kommt ein Mann aus dem Haus und wird von einem Ziegel erschlagen.
Jemand anderes sitzt zur gleichen Zeit am Tisch und schreibt eine Geschichte darüber, wie ein Mann, der aus dem Haus gehen will, seine Hose bügelt. Er beschreibt in allen Einzelheiten das Aussehen der Hose, wie der Stoff sich vor dem Bügeleisen wellt, wie der Dampf mit einem leisen Zischen entweicht. Er ergeht sich in die Bewegungen des Mannes, in das Hin und Herschwingen des Oberkörpers mit dem angewinkelten, aber steifgehalten Arm und daran dann das Bügeleisen. Auf dem Oberkörper der vorgeschobene Hals und darauf der Kopf, dessen Augen, die Falten vor dem Bügeleisen beobachten. Die Geschichte endet, als der Mann diese Hose anzieht, um aus dem Haus zu gehen.
Dort habe ich auf diesen Mann gewartet.


Gurt



Beim Fahren schnallte er sich nie an. Das war so eine Gewohnheit. Wenn er fuhr wollte er sich nicht beschränken in seiner Bewegungsfreiheit. Dann lernte er ein Mädchen kennen. Er fuhr sie nach Hause. Das Mädchen sagte, er solle sich anschnallen. Er sagte, das sei er nicht gewohnt. Sie sagte, es sei ihr wichtig, dass er sich anschnalle. Sie sagte, er soll sich wenigstens ihretwegen anschnallen. Er schnallte sich an. Bei ihr ging er kurz mit nach oben, sie tranken noch einen Tee. Dann ging er. Sie war ihm dankbar dafür.
Schon auf dem Heimweg vermisste er sie. Er dachte an den Gurt. Und wollte sich ihr zu liebe anschnallen. Er griff nach dem Gurt und passte einen Moment nicht auf. Das Auto landete an einem Baum. Als sie ihn fanden, schüttelten sie die Köpfe. Er ist selber schuld, sagten sie, wenn er sich nicht anschnallt.


Massenmörder




"Das Diktiergerät ja", sagt der Wärter, "der Kuli nicht.
Mit Kuli kommen Sie hier nicht rein."

Dann sitze ich vor ihm, seine grauen Augen fixieren einen Punkt über mir und er erzählt.
Von diesem Bild, das ihn verfolgte - der Kuli und ihr Abschiedsbrief und wie er mit diesem Kuli die 18 Frauen umbrachte.
Dann ist er fertig. Er erhebt sich.
"Das war´s", sagt er, "mehr sag´ ich nicht."
Ich kann ihm nicht ins Gesicht schauen. Auf dem Boden eine Spinne, ich hebe den Fuß.
"Nicht." sagt er.
"Sie mögen Spinnen?", frage ich.
"Nein", sagt er, "aber sie hat doch nichts getan."

Er leert seine Zigarettenschachtel und läßt sie hineinkriechen. Dann blickt er mich an. Dieser Blick, diese Augen, die 18 Frauen dazu brachten, neben ihm einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen.
"Nehmen Sie sie mit", sagt er, "bitte."
Dann geht er.
Ich nehme die Spinne mit nach draußen. und lasse sie auf einer Birke frei.


Nachts



Ich traf sie unter einer Laterne. Es war kurz vor halb 12.
"Hey Süßer", sagte sie, "wo geht´s zum Klub <Frivol>?"

"300 m geradeaus und dann links bis zur Kreuzung.", sagte ich.

"Nimmst mich mit", fragte sie, "auf der Stange?".
"Nee", sagte ich, "muß morgen früh raus."

Und ich fuhr weiter, ich Idiot.


Traumfrau



Abends nach einer Theatervorstellung saßen wir noch zusammen. Reiner, der den Macbeth gab, sagte plötzlich: „Wenn ich drei Orte wählen müsste, an denen ich meine Traumfrau treffen dürfte, würde ich sagen: In der Bibliothek vor dem Salinger-Regal; im Chinaladen vor dem Tofu-Regal und im Wald beim Joggen.“
Wir schauten uns bedeutungsvoll an. Dann herrschte Schweigen. Wir dachten jeder an unsere Orte.
„Obwohl im Theater würde ich sie auch gern treffen.“, begann Reiner erneut. „Ich könnte mich jetzt gar nicht entscheiden, ob Tofu-Regal oder Theater.“
„Und Züge.“, sagte Ben. „In Zügen könnte ich mich sofort verlieben. Man hat nur seinen Rucksack dabei und alles ist so klar und einfach.“
Da sagte Thorsten:“ Also für meine Traumfrau bräuchte ich nur einen Ort.“ Er trank noch einen Schluck, um die Spannung zu steigern.
“ Natürlich in der Sauna.“
Wir lachten. Reiner lachte nicht.


In der Bahn



Struppi springt in die Bahn und hinterher sein Herrchen, na gut, der springt nicht, läßt sich ziehen, von seinem jungen Vierbeiner. Verheddert sich mit der Leine. Dann setzen sie sich. Struppi unten Herrchen oben. Er hat mindestens 9 Ohrringe am Ohr. Am rechten Ohr, das linke kann ich nicht sehen. Die Bahn fährt. Struppi schaut sich um, fühlt sich unwohl, springt an Herrchen hoch, jault. Der versucht Blickkontakt zum Hund herzustellen. Hypnose. Doch Struppis Blick jagt durch die Bahn. Therapieverweigerung. Sitzstreik. Dann wieder Sprungfeder. Er will lieber hochspringen. Auf Herrchens Schoß, will sich an das Bein schmiegen, will ganz nah ran, ganz tief rein, ins HundeHalterHerz. Doch der zerrt stumm an der Hundeleine. Bloß kein Aufsehen.
Und ich weiß nicht, wen ich bemitleiden soll. Struppi, der so viel Liebe verschenken will oder sein Herrchen, der nun eine dreckige Jeanshose hat. Struppi jault, jetzt will er raus. Alles bewegt sich, der Boden, die Leute, sein schimpfendes Herrchen. Ihm ist schlecht. Er sitzt rückwärts zur Fahrrichtung. Außerdem ist der Schwanz eingeklemmt zwischen den Beinen. Er heult, jault, tanzt. Das Herrchen erhebt die Stimme.. Sitz, Platz und Aus! Aus! Sitz! Platz! Alles auf einmal, nee so wird das nix.


Popcorn




Eines Abends, als gerade Werbung kam, spürte sie einen leichten Druck an der Hüfte. Sie griff hinter sich und hielt eine seiner Socken in der Hand. Sie erinnerte sich nicht mehr wie sie sich kennen gelernt hatten, sie erinnerte sich nicht mehr an das erste gemeinsame Mal, sie wusste nicht mehr, worüber sie gestritten hatten. Sie erinnerte sich aber noch genau, dass seine Füße manchmal nach Popcorn gerochen hatten.


Gerhard


Als Gerhard einstieg, wollte die Bahn eigentlich losfahren. Aber nicht ohne Gerhard. Er trudelte in die Bahn, alle dachten er würde fallen, doch er hielt sich aufrecht. Er umarmte eine der Stangen inniglich und flüsterte ihr etwas zärtliches zu. Nein küssen war nicht sein Fall, dafür kannte er sie zu wenig. Jemand lachte und Gerhard fuhr herum und einem jungen Mann auf den Schoß. „Lachst Du etwa?“, fragte er den Mann. Doch dieser lachte nicht. Alle lachten, doch dieser lachte nicht. Er lachte solange nicht, bis Gerhard ausgestiegen war.


Französischer Hut



Er kommt in die Kneipe und trägt einen französischen Hut. Er trägt den französischen Hut bis einige Schritte in die Kneipe hinein, dann nimmt er ihn ab in einer schnellen Bewegung ab und wirft ihn ohne hinzusehen nach links. Der Hut segelt direkt auf einen freien Haken. Dann geht er zur Theke, wo sein Glas steht. Nach zwei Schlucken dreht er sich um und schaut erwartungsvoll in die Runde. Das macht er jeden Abend so und manchmal klappt es.


Fisch



Er wollte einen Lachs haben. Sie sagte, sie hätte nur noch diesen großen. 3 Kilo schwer.
"Der ist gut, den nehm ich.", sagte er.
"Was wollen Sie denn mit so einem großen Fisch?", fragte sie, vielleicht etwas zu neugierig.
"Mann kann dazu einen französischen Weißwein trinken. Natürlich nicht allein."
"Mit wem denn?", fragte sie, vielleicht etwas zu schnell.
"Mit Ihnen.", sagte er.
"Oh", sagte sie langsam und blickte beschämt nach unten. "Aber meine Hände riechen so nach Fisch."


Freispruch



"Das haben wir doch prima hinbekommen.", sagte der Verteidiger, als sie sich vor dem Gericht gegenüber- standen.
"Ja.", murmelte er mit schwacher Stimme, wahrscheinlich schon in Gedanken dabei, was er mit dem Tag anfangen solle, der so eine überraschende Wendung genommen hatte.
"Diesmal haben Sie es uns aber nicht leicht gemacht.", tadelte der Verteidiger, "Aber wir haben es ja wieder geschafft." Und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Juristen, bei der Erinnerung an seine Brillanz, die emotionale Rede, die lückenlose Kette und beim Gedanken an die Kollegen in der Kanzlei, von denen einige nun Wettschulden bei ihm hatten.
Der Täter sagte nichts mehr, sondern schaute mit mäßigem Interesse zu den Leuten, die am Gericht vorbeiströmten, einem Ziel entgegen, dass er nicht hatte.
"Na dann", sagte der Verteidiger und wahrscheinlich meinte er es auch so, "auf Wiedersehen."


Schönheit



Da sitzt man nun früh morgens in der Bahn und die Dame auf der anderen Seite des Ganges liest eine Zeitung mit großen Buchstaben in der Überschrift und man erspäht eine Überschrift so ähnlich wie „Vorbei, er muss ...“. Um herauszubekommen, was wer muss, schaut man etwas länger als verstollen hin und schon hat die Dame den Blick gespürt. Den gierigen Blick auf ihre unbedeckten Beine und ihr eng anliegendes Oberteil.
Und wenn sie schlechte Laune hat denkt sie:“ Warum müssen mich immer nur die unattraktiven Kerle anstarren?“
Oder aber sie denkt:“ Oh endlich beachtet mich mal wieder jemand.“
Hoffen wir letzteres, dann hat sie mehr vom Tag.


Endstation



Ein Junge erschoss einen anderen jungen Mann in der Bahn. Es stand ganz groß in den Zeitungen. Es war an der Endstation der Linie 3. Eine Weile suchte die Polizei nach einem Motiv und fand es auch. Scheinbar hatte seine Freundin ein Verhältnis mit dem Opfer. So genau erfuhr es die Öffentlichkeit nicht.
Was mich erstaunte, war die Tatsache, dass der Junge ganze 15 Haltestellen hinter seinem späteren Opfer gesessen hatte, bevor er ihn an der Endhaltestelle erschoss. Vor den Augen der beiden verbliebenen Fahrgäste. Er schoss ihm einfach von hinten in den Rücken. Dann stand er auf, stellte sich in den Gang, nahm die Pistole in den Mund und drückte noch einmal ab.
Mich beschäftigte die Frage, warum er so lange mitgefahren war. Er hätte es auch gleich hinter sich bringen können. Einsteigen, abdrücken und vielleicht im Chaos aus der Bahn springen. Denn es gab ja keine offensichtliche Verbindung zwischen den beiden. Möglicherweise hatte das spätere Opfer den Täter nie gesehen. Genauso, wie er ihn vielleicht auch bei seiner letzten Fahrt nicht gesehen hatte.
Warum also setzte er sich mit der geladenen Pistole und fuhr hinter dem anderen her? Ich nehme an, es war das Gefühl der Macht. Der Macht zu wissen, wie lange der andere noch leben würde.
Die Macht, die er nicht mehr hatte über die Gefühle seiner Freundin.

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Tag der Veröffentlichung: 14.12.2008

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