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Ode an einen alten Freund

Ich bin Schriftsteller. Ich weiß, das ist ein Klischee, eine Geschichte so zu beginnen. Allein schon an sich selber zu denken und sich dann einen Schriftsteller zu nennen. Es zu sein wäre auch nicht weiter der Rede wert, wenn ich woanders lebte. Aber hier spielt es sehr wohl eine Rolle, hier ist Schriftsteller sein eine gefährliche Sache. Es gibt Leute in diesem Staat, denen gefallen Wörter nicht.

Nicht meine Wörter. Davon gibt es auch einige; also Leute, die meine Wörter nicht leiden können; und damit kann ich leben. Na ja, so gut wie jeder andere Schriftsteller vermutlich auch, also eher schlecht. Aber Menschen mit Macht haben ein krudes Verhältnis zu Wörtern im Allgemeinen, das ist hier wie dort so. Ein Freund von drüben sagte mir mal, ein Minister lese selten mehr als eine Seite. Also müsse man alles auf eine Seite schreiben, und er selbst vertrete die Ansicht, dass man alles wichtige auch auf eine Seite drucken könne.

"Von Können", antwortete ich, "kann hier auch nicht die Rede sein. Es geht um das Wollen."

Aber er lachte nur. Ich kenne keinen Minister von uns, jedenfalls nicht persönlich. Ich bin mir sicher, sie kennen mich, und sie wissen, was ich schreibe. Ich schätze, so ist das, wenn man prominent ist. Es gibt einen Haufen Leute, die kennen einen, aber man kennt sie nicht. Ein Luxus, wenn man es bedenkt.

Ich wuchs in einer Neubausiedlung in einem Reihenhaus auf. Die Siedlung war in U-Form angeordnet, Häuschen an Häuschen, und hinter diesem U hörte die Bebauung plötzlich auf. Dahinter kam erst etwas, das wir als Kinder "das Feld" bezeichneten. Es war Brachland, und in dessen Mitte stand ein alter Baum. Hinter diesem Brachland, das vielleicht hundert mal hundert Meter maß, verlief ein kleiner Bach, und dahinter fing ein Wald an. Für uns war das früher "der Wald", und dahinter kam nichts mehr.

Ich bin vor einiger Zeit weggezogen. Meine Eltern leben dort noch. Als ich sie neulich besuchte, ging ich auch auf dieses Feld. Es war leer. Gut, es war immer leer gewesen. Aber früher wucherte hier irgendein Kraut oder ein Gras, und es gab Sträucher, an denen Früchte wuchsen, die mein Bruder und ich und unsere Freunde immer pflückten, aber nie aßen, weil wir nicht durften. Es gab nur einen Trampelpfad, der diagonal durch das Feld führte. Der war voller Löcher, und im Sommer, wenn niemand das Gras gemäht hatte und es mannshoch stand, kam man nicht dort entlang, ohne ständig auszuschlagen. Für die Augen eines Erwachsenen und so ganz objektiv betrachtet war das Feld, zugegeben, leer. Aber für Kinder, für mich damals, war es mehr. Und jetzt war der Baum weg, und das Gras war weg, und die Sträucher waren weg, und ein Bagger stand wie ein schlafendes, gelbes Ungetüm in einer Ecke, und der Boden war umgeschlagen worden.

"Was ist eigentlich aus dem Feld geworden?", fragte ich meine Eltern am selben Abend.

"Da kommen jetzt Häuser hin", antwortete mir meine Mutter mit ihrer Gleichgültigkeit für alles, was in der Nachbarschaft geschah.

Später, als ich ging, traf ich einen Nachbar, den Vater eines Jugendfreunds, der hier wohnte. "Sagen Sie, was wird denn jetzt aus dem Feld?", fragte ich ihn.

"Dort kommt eine neue Siedlung hin. Oder ein paar Häuser."

"So", sagte ich.

"Haben wir erst gehört, als die Bagger schon standen. Da möchte man seinen Ruhestand gemütlich verbringen. Und jetzt haben wir die nächsten zwei Jahre hier diese Baustelle."

Ich nickte, und er fluchte noch ein paar Obszönitäten.

Ich ging erneut zu dem Feld. Ein dünner, unbewirtete Feldweg führte dorthin, und in Bauzaun sperrte das Gelände jetzt ab, aber der hielt niemanden wirklich davon ab, der auf das Gelände wollte. Ich schob ihn zur Seite und setzte einen Fuß auf die weiche Erde. Es war noch nicht dunkel, und ich lief dort entlang, wo der diagonale Weg langführte. Jedenfalls meinte ich es, denn man konnte davon nichts mehr erkennen.

Wo der Baum stand, wusste ich genau. Dort war noch ein großes Erdloch, denn die Wurzeln mussten tief gewesen sein und weit. Man hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, die Erde aufzuschütten, aber das würde sicher bald kommen. Oder man würde Keller bauen, und dann müsste ohnehin eine Menge Erde weg. Ich stand einfach nur da.

"Alter Freund", sagte ich, oder ich dachte es. "Wie geht es dir?"

Ich bekam natürlich keine Antwort. Der Baum war ja schließlich schon weg. Ich fragte mich, was man in diesem Land aus so einem Baum noch machte. Wird daraus mal ein Möbelstück? Oder Brennholz?

Ich stellte mir einfach vor, ich bekäme eine Antwort.

"Lange nicht gesehen", antwortete der Baum. Ich dachte, nach all der Zeit müsste ein Baum sicher eingeschnappt sein. Ich meinte, ein Baum hätte das Gedächtnis eines Elefanten, und er wäre nachtragend.

"Du weißt ja sicher, wie das ist. Irgendwann hat man sich so lange nicht mehr gemeldet, dass man sich nicht mehr traut, sich noch zu melden. Dann lässt man es lieber. Und man beginnt sich zu fragen, warum sich der andere nicht meldet."

Der Baum antwortete mir nicht.

"Du musst das doch kennen. Du bist ein Baum. Wie viele von deinen Freunden hast du in letzter Zeit mal besucht? Ich meine, bevor das hier passiert ist."

"Wie ist es dir ergangen?", fragte mich der Baum. Ich meinte, er wäre ein eitler Baum, der sich nur missmutig zu öffnen begann. Und jetzt wollte er nicht mehr davon reden.

"Ich ging in die Stadt, um zu studieren. Irgendwann wurde ich von der Universität gegangen. Sie müssen mich mit jemand falschem gesehen haben, und dann muss ich etwas falsches gesagt haben. Sie schienen keine Verwendung mehr für mich zu haben. Und dann dachte ich, gut, viel schlimmer kann es jetzt auch nicht mehr werden, also schreibst du Bücher. Es läuft mal so, mal so. Und dir, was ist mit dir passiert?"

Ich hatte ehrliche Neugier.

"Weißt du. Auch die anderen gingen. Deine Freunde. Danach ist es ruhiger geworden. Außer den Hunden, die ab und zu mal vorbeikommen, haben sich alle verpisst", antwortete der Baum. Ich fand, ein Baum hätte die Zeit in seinem Leben, um über gute Wortwitze nachzudenken. Das Problem war nur, dass es keine besonders guten gab.

"Sind alle gegangen?", fragte ich.

Früher in der Siedlung gab es eine Gruppe von Kindern. Mein Bruder und ich gehörten dazu, alle Kinder aus der Nachbarschaft. Wir waren alle im selben Alter, und früher, in den Sommerferien, verbrachten wir jeden Tag und den ganzen Tag draußen. Wir spielten Verstecken, Räuber und Gendarm, Fußball, wir malten mit Kreide auf das Pflaster und stellten uns vor, wir säßen in einem Raumschiff.

Einmal im Sommer stand das Gras wieder bis über unsere Köpfe. Die Halme waren dick und fest und gelb. Wir saßen auf dem Baum oder auf dem Boden am Baum. Und irgendwann dachten wir, es wäre doch eine gute Idee, ein Fort aus Gras zu bauen. Wir liehen uns eine Heckenschere von einem unserer Väter, immer einer hielt unten, ganz dicht am Boden, eine Hand voll Grashalmen, und der andere schnitt mit dieser überdimensionierten Schere das Büschel durch.

Es war beim dritten oder vierten dieser Schnitte, da traf es nicht nur ein Büschel Gras, sondern auch den Ringfinger meines Bruders. Ich erinnere mich genau an dieses Bild. Der Finger hing nur noch wie an einem Fetzen Haut, der Knochen war durch. Blut spritzte regelmäßig heraus.

Keiner von uns hatte Panik. Wir waren alle ruhig. Mein Bruder war der, der am entspanntesten war. Vielleicht war er auch einfach nur geschockt. Wir gingen auf die Straße, irgendjemand hatte uns gesehen und hatte meinem Bruder in das Auto gezerrt und zum Krankenhaus gefahren. Ich ging auf mein Zimmer, verdunkelte es und weinte.

"Erinnerst du dich?", wollte ich vom Baum wissen.

"Sicher", antwortete er. "Wie könnte ich das vergessen. Ich wollte euch noch warnen. Aber auf einen Baum hört natürlich keiner. Wenn ich eine Eiche wäre, dann vielleicht, auf diese Eichen hört immer jemand. Aber auf mich? Nein." Mir war nicht klar, dass Bäume neidisch auf andere Bäume sein konnten.

Ein anderes Mal waren wir den ganzen Tag am Bolzplatz Fußball spielen. Es gab diese Kinder aus der anderen Siedlung, die so etwas wie unsere Erzfeinde war. Es gab keinen ersichtlichen Grund dafür; wann gibt es den schon. Sie waren einfach die anderen. Wir spielten Fußball gegen sie, und wir mussten einfach gewinnen. Wir mussten. An diesem Tag schauerte es ständig, und der Kiesplatz wurde schlammig, und dann spielten wir besonders gut. Wir grätschten um jeden Ball, und unsere Hosen wurden dreckig, und am Ende gewannen wir.

"Es hatte eine Abkürzung gegeben, erinnerst du dich? Auf dem Weg nach Hause."

"Natürlich."

Wir gingen durch dieses kleine Loch im Gitter und durch ein paar Sträucher, und dann waren wir auf dem Trampelpfad, der an dir vorbeiführte. Irgendwann trat plötzlich jemand in ein Erdloch, das sich als Bienennest herausstellte. Dieses Mal brach Panik aus, und was für welche.

"Ihr seid wie von der Biene gestochen an mir vorbeigerannt", erinnerte sich der Baum und kicherte.

Wir blieben erst auf der Straße wieder stehen, jeder sah sich wild um und fuchtelte mit den Armen, ob noch irgendwo eine Biene sei. Wir stellten uns damals vor, Bienen würden einen bei so etwas bis auf den Tod verfolgen. Letztlich stellte sich heraus, dass gar keiner gestochen wurde.

"Nicht?", fragte der Baum, und ich schüttelte den Kopf.

"Diese Bienen wollten erst bei mir siedeln, aber ich hab gesagt: 'Oh nee, José!' Ich habe gleich gemerkt, das waren Ausländer. Denen kann man nicht vertrauen."

Der Baum ist rassistisch?, fragte ich mich, aber dann dachte ich, ach, in seiner Jugend war das noch so, da konnte man so etwas sagen. Ich nickte den Kommentar einfach ab.

Ein paar Jahre später, wieder im Sommer, kamen wir zu dem Baum und erwischten ein paar der anderen Jungs dabei, wie sie mit ihren Taschenmesser feinsäuberlich die Rinde abkratzten. Als sie uns sahen, sprangen sie herunter und rannten weg. Wir hätten hinterher rennen sollen, aber so schnell schalteten wir nicht. Wir schauten uns den Schaden an. Der Stamm war glatt. An den frischen Stellen, wo sie zuletzt gewerkt hatten, war er weich und grünlich, ein bisschen feucht. An den Stellen, wo sie schon vor ein paar Stunden dran waren, wurde der Stamm trockener, härter und blasser.

"Tat das weh?", fragte ich, antwortete mir aber selber. "Bestimmt."

Wir hielten einen regelrechten Kriegsrat ab im Schatten des Baumes und entschieden uns, dass wir die Jungs verprügeln würden. Sie hatten es verdient.

"Haben wir sie verprügelt?", wollte ich wissen. "Ich erinnere mich nicht."

Ich glaube, wir taten es nicht.

"Weißt du das noch, Baum?", fragte ich, aber ich erhielt keine Antwort.

Ich begriff plötzlich, wie viel Erinnerung an diesem Baum hing, und fuhr nach Hause. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nachdem ich mir einen Kaffee aufgebrüht hatte, und schrieb die ganze Nacht. Ich schrieb die Erinnerungen auf, die mir einfielen, als ich dort am Baum stand. Als es wieder hell wurde, hörte ich auf zu schreiben. Ich hatte einen ganzen Wulst an Papier produziert - oder verbraucht, je nachdem, wie man es sieht. Aber ich wollte nicht schlafen gehen, deswegen fasste ich das Beste von allem, was ich aufgeschrieben hatten, auf einer Seite zusammen, und schrieb weiter. Ich nannte es "Ode an einen alten Freund" und schrieb es groß oben drüber.

Ich nahm das Blatt Papier noch am selben Tag und ging zurück zu der Stelle, wo der Baum mal gestanden hatte. Ich legte es in das Erdloch, so, dass es jeder sehen könne. Es lag da, im Dreck, als hätte es jemand gesät. Und dann ging ich wieder. Ich dachte, wenn ich Glück habe, kommt jemand wie ich vorbei, und liest es. Wahrscheinlich würde ein Bauarbeiter es finden und für Müll halten, und vielleicht war es das auch.

Am nächsten Abend fuhr ich erneut dort hin, weil ich mir ein wenig Inspiration erhoffte. Das Blatt Papier, das ich dort hingelegt hatte, war weg. Ich dachte mir, gut, das war der Bauarbeiter; und machte mir nicht weiter etwas draus.

Eine Woche später besuchte ich meine Eltern wieder. Noch bevor wir aßen, zeigte mir meine Mutter einen Zettel. Sie war so nervös, wie ich sie nie gesehen hatte, und ich wusste bis heute nicht warum. Es war eine Kopie von dem Text, den ich geschrieben hatte.

"Hat jeder hier in der Nachbarschaft bekommen", erzählte sie mir. "Im Briefkasten."

Ich las den Text. Nicht, weil ich ihn nicht kannte. Es ist nur gut, eigene Text nach ein wenig Abstand zu lesen, dann bekommt man ein besseres Verhältnis dazu. Ich kann mein Geschreibe dann besser beurteilen. Es gab ein paar Dinge, die ich anders formuliert hätte. Aber ich war selten mit einem Text so zufrieden.

"Und?", fragte ich scheinheilig. Es war eine dumme Frage, die mich als Autor entlarvt hätte. Wer sonst hätte so wenig dazu zu sagen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter das sowieso schon wusste.

"Den Herrn Nachbar hat es irgendwie getroffen. Er möchte sich beim Bauamt beschweren gehen. Er findet es nicht richtig. Seine Frau sagt, er ist ganz aufgeregt. So habe sie ihn noch nie erlebt."

"Viel Erfolg wird er nicht haben", sagte ich nüchtern und überzeugt.

Ein paar weitere Wochen später hatte ich den Text auch in meinem Postfach. Er war nicht versendet worden, sondern viel mehr geknüllt und reingesteckt worden, als hätte es jemand in Eile getan. Ich las den Text erneut, fand wieder ein paar Dinge, die ich gern geändert hätte, aber ich wusste, dafür war es jetzt zu spät. Dieses Mal stand auch etwas auf der Rückseite. Oben hatte jemand beschrieben, was es mit meinem Text auf sich hatte. Weiter unten stand eine reißerische Agitation.

"Wieder einmal hat die Zentralmacht gegen den Willen des Volkes entschieden!!", stand dort. Darunter war ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem man nichts erkennen konnte. "Hier sollen für die Bonzen der Partei neue Villen entstehen!! Auf Kosten des Volkes!!"

Ich vermutete, jemand aus meiner Kindheit hatte den Text auf der Rückseite geschrieben, weil niemand sonst die Geschichten verstehen würde, diesen nostalgischen Mist, wenn man es objektiv betrachtete. Ganz unten hatte jemand einen Satz geschrieben, den ich ein gutes halbes Jahr auf dem Rohbau eines Hauses wieder sah.

Mittlerweile konnte man den Bauzaun nicht einfach umgehen. Zwei Wachen der Volkspolizei standen davor und es war ratsam, nicht zu lange auf die Baustelle zu blicken. In der Vergangenheit gab es hier Ausschreitungen, und die Wachen wirkten nervös, als sie mich sahen. Der Bau, ohne dass er irgendeine Besonderheit an sich hätte, war zum nationalen Ereignis geworden, und jeder kannte die Geschichte.

Es war nicht verboten, so wie im Grunde nichts verboten war, aber sich mit meinem Text sehen zu lassen, war keine gute Idee. Ständig hatte jemand immer mehr Kopien in größeren Umkreisen in Nacht-und-Nebel-Aktionen verteilt und die Polizisten waren immer schneller darin, sie wieder einzusammeln. Irgendwann tauchten sogar Kopien in der Hauptstadt auf und die Regierung bemühte sich, es totzuschweigen.

Ich war nur hier und wollte einen Blick auf das werfen, was meine Mutter mir berichtet hatte. Auf eine der Wände hatte jemand geschmiert: "Wer Wind säht, wird Sturm ernten!" Jetzt waren zwei Männer in blauen Overalls darum bemüht, den Schriftzug wegzuwischen.

Der Künstler in mir fand den Satz pathetisch. Ich dachte, wer schreibt so einen Satz? Aber der Künstler in mir ist ein Idiot, und dann gab ich ihm meine ganz eigene Bedeutung, und mit der konnte ich ganz gut leben.

 

Impressum

Texte: Patrick Clasen
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

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