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Es ist ein lauter Schuss. Es hallt durch den Wald, gegen Baumrinde, durch die Büsche, am kleinen Bach entlang. Es mischt sich mit dem leisen Plätschern und dem Rascheln der Blätter, mit dem lauten Aufschrei, der alles andere so plötzlich erstummen lässt, der einem Angst machen kann, wenn man ihn nicht selbst verschuldet, weil er so fremd klingt. Und dann kommt das Echo zurück, und damit die Gewissheit, dass der Schuss gesessen hat, dass das hier alles auch wirklich echt ist.
Der Hochsitz ragt aus dem Wald wie ein Thron, von hier oben sieht man alles, die Baumkronen sind zwar dicht, aber sobald sich was regt, sieht er es. Da vorne laufen ein paar Hasen, sie rennen im Zickzackkurs weg, auch sie hat der Schuss aufgeschreckt, aber heute wird es sie nicht treffen, die Füchse haben gute Arbeit geleistet. Er zieht den Lauf der Waffe aus dem kleinen Viereck Luft, das fast ein Fenster sein könnte, dafür aber zu billig ist, aber es muss auch kein Fenster sein. Es reicht, wenn man den Lauf der Waffe hier durchstecken kann. Dann nimmt er sein Leinentuch, zieht sich seine Jacke wieder über und öffnet das kleine Türchen, er muss sich bücken, um überhaupt rauszukommen. Frische Luft umzieht ihn hier oben in vielleicht drei, vier Metern, er wagt einen kurzen Ausblick, und dann geht er die wackligen Barren der Holzleiter hinab.
Der Boden ist weich, es ist warm. Die Augustsonne heizt die Luft auf, es ist schwül. Er geht zu dem Reh, es ist tot. Der Schuss hat die Lunge getroffen, ein guter Durchschuss. Vorne rein, hinten wieder raus. Das Blut fließt nicht mehr, das Herz hat schon lange aufgehört zu schlagen. Das Reh hier, das ist kein Bambi, kein kleines, verletzliches Kitz, es ist alt, sicher hat es einige Junge geworfen, und jetzt ist seine Zeit gekommen. Seine Zeit ist gekommen, was für eine blöde Redensart, denkt er sich. Es sieht falsch aus, einfach falsch. Die schwarzen Augen, die so aussehen, als würden sie in die Leere starren, ins Nichts, und das ist auch so. Und das Blut, das so gar nicht rot sein will, mehr schwarz, es sieht nicht aus wie Blut, ist sieht aus wie der flüssige Tod. Und das Fell, das dünne und weiche Fell, das vom Blut überflossen wird. Es sieht widerlich aus, einfach widerlich. Aber seine Zeit ist gekommen.
Er bindet die Beine aneinander, mit einem Stück Seil, es sieht unnatürlich aus, aber es vereinfacht ihm seine Arbeit. Mit einem Tuch wischt er das gröbste vom Blut ab, dann umhüllt er den Körper in den Sack. Es ist schwer, und anstrengend, das alte Reh ist ein großes Exemplar und es wird ihm viel einbringen. Danke, alte Freundin, dachte er. Und dann packte er den Sack, schwang ihn sich über die Schulter. Er macht es nicht zum ersten Mal, deswegen wirkt es gekonnt. Er nimmt den Sack, und dann geht er. Um die Schulter den Riemen seines Gewehrs und den toten Leichnam eines Rehs.
Als er zuhause ist, legt er den Sack und das tote Reh ab, stellt das Gewehr in den Schrank. Er ruft einen Kollegen an, und der ruft einen anderen Kollegen an, und dann kommt das Fleisch des toten Rehs, vielleicht mit Bratkartoffeln in einer schönen Jägersauce auf dem Teller eines Luxusgastes. Einmal, erinnert er sich, soll sogar mal ein Minister im Hotel Schlosspark gewesen sein, er hatte nie erfahren, welcher, nicht mal, ob es auch stimmte, aber er hofft, dass ein wirklich wichtiger Mensch das Fleisch des Rehs essen würde, das hoffte er immer für seine Tiere, und dann findet er den Gedanken wieder so lächerlich und dumm und er schämt sich. Er legt den Kadaver in den Kühlraum, er öffnet seinen Verwaltungsordner, trägt den Schuss ein, alles nach Vorschrift. Dann schließt er den Ordner wieder, und legt sich hin. Es ist gerade mal vier Uhr, aber ein Reh zu schießen macht müde.
Er wacht auf, weil ein Wagen vorfährt. Er ist schwer, das hört man auf dem Schotterweg, er hört es jedenfalls. Vielleicht bildet er es sich auch nur ein, weil er ohnehin weiß, wer da vorfährt. Aber er hört oder meint zu hören, dass es ein schwerer Laster ist, und er ist alt, man hört das Getriebe. Bei alten Autos hört man das Getriebe, bei den Autos von heute, so meint er, da könne man nicht mal mehr mit Bestimmtheit wissen, dass sie ein Getriebe hätten. Der alte Laster aber, das weiß er, hat ein Getriebe, ein altes, in dem Räder nur noch hakend ineinander greifen, aber sie tuten das, was sie tun mussten, auch wenn es hakte, und plötzlich gefällt ihm der alte Laster, der die Welt verpestet mit Feinstaub und ungefiltertem Ruß, aber es gefällt ihm, und er fühlt sich jetzt wie der alte Laster, weil auch er alles tut, was er muss, auch wenn es hakt.
„Grüß dich, Thomas!“, sagt der Mann, als er aus dem alten Laster aussteigt. „Du hast heute wieder zugeschlagen?“
„Ja“, sagt er. „Gutes Tier. 18 Kilo.“
„Is‘ ja ein Mordsbrummer. Schöne Sache!“
Dann führt er ihn zu dem Kühlraum, zeigt ihm den Sack mit dem Reh, das für den Mann nur ein Stück Fleisch ist, der sich wohl schon vorstellt, wie er es zerschneiden würde, erst alles unverzehrliche abtrennen, dann das gute Fleisch rausschneiden, und dann das nächste Reh, und dann so fort.
„Wie sieht’s denn in nächster Zeit aus? Was macht der Bestand?“, fragt der Mann.
„Das werden immer mehr. Ich schätze, in den nächsten vier Wochen werde ich noch zehn Mal raus müssen, die fressen die ganzen Bodengewächse Weg. Im Winter muss man dann mal sehen, wie sich der Bestand entwickelt, kann man nicht sicher sagen. Je nachdem, wie der Winter wird.“
„Gut. Schöne Sache. Dann mach ich mich mal auf den Weg. Wollen das schöne Fleisch ja nicht schlecht werden lassen.“
„Sicher“, sagt er.
Er lässt den Mann einsteigen, der Wagen wendet schwerfällig, und dann fährt er und das Stück Fleisch oder das tote Reh oder was auch das jetzt noch ist oder was davon übrig geblieben ist, ist für immer weg.
Der Tag ist noch jung, denkt er sich. Er schaut auf die Uhr, und es ist tatsächlich erst Viertel vor Fünf, der Mann kam schnell, denkt er. Was er noch machen könnte, in die Stadt fahren vielleicht, in ein gutes Restaurant, ein gutes Filet essen, in diesem Steakrestaurant mit den argentinischen Rindern, das wäre jetzt gar nicht schlecht, oder zu dem Chinesen, Pekingente, oder einfach ein wenig bummeln. Er könnte auch noch in die Schwimmhalle gehen, ein paar Bahnen ziehen. Er geht all die Möglichkeiten durch, die er so noch machen kann, die einer wie er heute noch machen kann. Letzte Woche lief dieser neue Film an, mit Moritz Bleibtreu, den wolle er doch sehen, denkt er. In Gedanken zählt er all die Möglichkeiten auf, aber er weiß genau, er würde nichts davon machen. An Tagen wie heute, da wären seine Hände, die selben Hände, an denen vor ein paar Stunden noch Blut klebte, das Blut eines fälligen Rehs, nur noch gut um eine Flasche Wodka zu öffnen, oder einen Whiskey, wenn es gut ging, auch mal etwas feineres, aber heute ist kein solcher Tag. Heute fühlt er sich nicht gut genug, den guten Alkohol darf man nur an guten Tagen trinken, an schlechten ist er verschwendet. Stattdessen nimmt er den billigen Wodka vom Discounter, auf ein Glas verzichtet er direkt, und dann setzt er sich auf seinen ausgeranzten Ledersessel und macht den Fernseher an.

Er wacht um zwei Uhr nachts auf, im Fernseher flimmert irgendeine Trash-Sendung mit Sonja Kraus, die ihre Brüste in die Kamera hält und ihr tot geschminktes Gesicht. Er ist betrunken, das merkt er, als er versucht aufzustehen und dann doch lieber sitzen bleibt. Er kann das Gesicht nicht ertragen, das da im Fernsehen flimmert, und deswegen nimmt er all seine Kraft zusammen und steht doch auf. Er will jetzt nur noch raus hier, aus seinem Haus, hier wird es ihm zu eng, und er packt seine Jacke – vielmehr packte er erst daneben und erwischte sie beim zweiten Versuch – und geht raus zu dem Hochsitz.
In der Dunkelheit einer lauen Augustnacht wirkt der Hochsitz wie ein Thron. Er muss lachen, weil er die Idee so absurd findet, dann wäre er ja ein König, aber so fühlt er sich nicht. Er hat zwar sein eigenes kleines Reich, seine eigenen Untertanen, vor allem aber hat er auch sein eigenes Gesetz. Gut, denkt er. Vielleicht bin ich doch ein König, aber will ich das? Er will es nicht, jedenfalls nicht so einer. Dann denkt er sich doch, er sei kein König, eher ein Henker. Er macht keine Gesetze, er führt sie nur aus. Er darf nicht entscheiden, wann er tötet und wann nicht. Er beobachtet die Bestände der Tiere oder lässt sie beobachten, und wenn sie an einen gefährlichen Punkt kommen, wenn es zu viele Rehe gibt, die zu viel Gras fressen, oder wenn es zu viele Füchse gibt, die die Hasen jagen, dann musste er eingreifen. Vielleicht bin ich ein Richter, dachte er. Richter, ja das war er, aber auch Henker, das war ihm klar. Er war es, der die Waffe im Hochsitz anlegte und dann abdrückte. Was ist das nur für ein Irrsinn?, fragt er sich. Was ist das für eine seltsame Art zu denken, dass man das Gleichgewicht bewahren müsste – in einer Welt, in der es gar kein Gleichgewicht gibt.
Er klettert schwerfällig die Holzleiter hoch, schließt das kleine Türchen auf, geht gebückten Kopfes durch und schaut hinaus durch das kleine Viereck Luft, das gern ein Fenster wär, aber gar keins ist, auch gar keins sein muss. Es reicht, wenn man durchsehen kann in diese Augustnacht.
Es herrscht ein lauer Wind, die Baumkronen schaukeln ein wenig, kaum sehbar, aber man hört es. In den Büschen rascheln ein paar Hasen, vermutlich hat er sie aufgeschreckt. Es wird noch ein wenig dauern, bis es hell wird, denkt er, und dann schläft er ein.

Er wird wach, da blitzt gerade die Sonne dunkelrot am Horizont auf. Es ist der schönste Moment des Tages, und für einen Moment vergisst er seinen Frust. Der beste Moment des Tages ist immer der kurz nach dem Wachwerden. Und dann fällt der ganze Scheiß auf einen runter. Er hat auf dem harten Boden gesessen, die Holzplanken sind kein wirklicher Ersatz für ein gutes Bett, und sein Rücken rächt es ihm jetzt. Unter Schmerzen steht er auf, nüchtern geht anders, denkt er sich, und schaut aus dem kleinen Ausguck. Es ist noch dunkel im Wald, das Sonnenlicht hat dieses Stückchen Erde noch nicht erreicht, und er schaut einfach nur raus in die Dunkelheit, die sich aufzulösen beginnt. Ein paar Vögel zwitschern, der Wind hat mittlerweile aufgehört, es ist still. Er bleibt eine Weile stehen, sieht sich seinen Wald an, so, als wäre er auf der Jagd, hätte ein Gewehr im Anschlag und würde nach seinem Opfer für den Tag sehen. Aber heute schaut er nur über die Bäume, sieht ein paar Hasen in den Morgenstunden auf dem Tau der Gräser hüpfen. In einer Lichtung, nicht weit vom Hochsitz entfernt, grasen zwei Rehe. Er weiß genau, wenn er jetzt die Leiter runtergeht, die sicher knarren wird, dann werden die Rehe erst aufsehen, zu ihm hin sehen, und dann werden sie das Weite suchen. Und er weiß genau, wenn er jetzt eine Waffe dabei hätte, wenn er nüchtern wäre und nicht so müde, würde er den Lauf auf eines der beiden Tiere ausrichten, einatmen, ausatmen – und dann abdrücken. Und dann würde der Knall durch die Blätter, durch die Büsche rauschen, und die Kugel würde das Reh treffen und das Reh würde kurz aufschreien und dann wankend zu Boden fallen und das andere Reh würde geschockt fliehen. Dann käme das Echo zurück und das wüsste er, dass der Schuss tatsächlich passierte und dass das hier alles echt ist. Und dann würde er zu dem toten Kadaver gehen, ihn in einen Leinensack tun und er könnte zufrieden nach Hause gehen – er wäre es aber nicht, weil das Schießen ihn nicht zufrieden macht – und zu Hause würde er einen Kollegen anrufen, der dann einen Kollegen anruft, der dann kommt und das tote Tier abholt und daraus eine Delikatesse macht und dann irgendeinem Minister vorsetzt, irgendeinem arroganten Minister, der in seinem Leben noch kein lebendes Reh gesehen hat, und dann darüber schwadroniert, wie gut dieses Fleisch ist, wie zart es ist – und dann erst diese Sauce, ein Traum. Und er, er würde sich wieder vor den Fernseher sitzen mit einer Flasche Alkohol und wäre nicht glücklich, weil es ihn nicht glücklich macht.
Stattdessen steht er nur da, auf seinem Hochsitz, atmet ein, atmet aus, und macht nichts, nichts, außer zuzusehen. Zu sehen, wie das Tier frisst und sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er dieses Tier abknallen müsste.
Er steht noch ein paar Stunden da, denkt nach über sich und dieses Reh, über all die Rehe, und auch über die Füchse, denen er die Beute klaut, zugunsten irgendwelcher Minister, er beobachtet die Rehe, die unermüdlich an der Lichtung grasen und liegen und sitzen und stehen und einfach nur da sind, und dann öffnet er das knarrende Türchen, geht die wackligen Barren der Holzleiter hinab und er schaut noch einmal hinauf zu dem Hochsitz und in das kleine Viereck Luft, das kein Fenster war, das er an guten Tagen einen Ausguck, in schlechten Tagen ein Drecksloch genannt hatte, was diesem aber egal war, weil es mehr als ein kleiner Ausguck nie sein wollte, weil es mehr nie sein musste, und dann geht er in Richtung seiner Hütte. Die Rehe haben kurz zu ihm geguckt und sind geflüchtet.
Und auch er flüchtet nun, geht zuhause in sein Bett und wird schlafen, und dann wird er irgendwann, vermutlich nüchterner und dafür mit schwerem Kopf, aufstehen, und dann wird er wissen, was er tut, und solange geht er noch nach Hause, atmet ein und aus, und mehr nicht, denn mehr will er jetzt nicht tun.


Impressum

Texte: Patrick Clasen
Bildmaterialien: http://www.flickr.com/photos/mecklenburg/3732757814/
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2012

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