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Novembertage


Es ist kalt geworden. Die Luft hat sich verändert. Sie ist nicht mehr so weich, einladend, sanft wie vor einigen Tagen. Ich bemerke das sofort. Und ich erinnere mich an die Worte eines Menschen, der gestern hier vorbeigekommen ist:
»Der Herbst kommt.«
Ich habe Angst. Das muss ich zugeben. Wir alle haben Angst. Gerhard sagte vorhin zu mir, er würde alles am liebsten beschleunigen, schneller ablaufen lassen, die Zeit um Gnade bitten, so in der Art. Wegen der Qual, die uns erwartet.
Wir kennen ihn nicht, den Schmerz. Umso angstvoller erwarten wir ihn. Wir sind wie Menschen. Wir fürchten Dinge, die unumgänglich sind, und wissen nicht einmal, ob sie wirklich schmerzlich sind. Wir sind vielleicht bescheidener als die Menschen, einfacher, aber auf keinen Fall dumm! Dumm sind wir nicht! Man könnte sagen, wir, die wir über der Menschen Köpfe leben, haben einen besseren Überblick. Wir kennen ihr Leben besser als sie. Und unser Leben ähnelt dem ihren.

Mir ist kalt. Die vergangene Nacht war erbarmungslos. Es ist, als wäre schon Winter, so kalt war diese Nacht. Am Morgen konnten wir alle uns nicht rühren. Der Wind blies an uns vorbei, wir aber blieben starr und reglos, wegen dem Frost, der den Lebenssaft in unseren Adern hat gefrieren lassen, unsere Gelenke gelähmt, uns gleichsam hat sterben lassen.
Deshalb sind wir alle jetzt noch ganz müde. Wir sehen nicht klar, wir spüren unsere Körper nicht, ein bisschen erlaubt uns die von trüben Wolken gedämpfte Sonne, uns im Wind zu wiegen, weil sie uns ein wenig wärmt, uns auftaut, sozusagen, aber wir sind noch ganz benommen von der nächtlichen Ohnmacht. Es war wie ein Vorgeschmack auf den bevorstehenden Tod.
Und Gerhard sagte, er hat Angst. Ich habe genickt. Wenn ich könnte, würde ich am ganzen Leib zittern. Unser Volk würde beben vor Angst und die Luft wäre erfüllt von zahllosstimmigem Rascheln, tausend schreienden Lungen, einem Hilfegesuch, das den Menschen Gänsehaut zaubern würde. Wie ein bizarres Konzert, nein, ein Requiem, so dunkel und schrecklich wie ein Grab, wäre das Rascheln unserer bebenden Leiber.
Die wir nicht rühren können.

Allmählich richtet unser Zorn auf alles sich gegen Buchmann.
Gemischt mit unserer Angst ist diese Wut unerträglich, sowohl für Buchmann, als auch für uns, die wir uns befreien wollen von dieser uns bis ins letzte Mark beherrschenden Unruhe, es aber nicht können, weil unser Zorn nur allzu gerecht ist.
Diese verfluchte, verräterische Buche! Dieser stumpfsinnige, gefühllose Baum! Schäm dich! Schäm dich ob deines Verrates an uns! Versinke, die Erde soll dich verschlucken, brennen sollst du in den Tiefen der Hölle! Lässt uns einfach fallen, uns, die wir dir geholfen, dir ein Antlitz, eine Persönlichkeit gegeben haben, uns verrätst du, denen du deine Schönheit zu verdanken hast!
Wir zittern und beben, reiben unsere kalten Körper aneinander und rascheln ununterbrochen. Der Wind ist stärker geworden, er unterstützt uns. Wenn der Frost der vergangenen Nacht seinen Klammergriff um uns gelöst hat, beginnen wir mit unseren Schmähungen. Wenn sich die Kälte der Nacht über uns herabsenkt und unsere Glieder lähmt, verstummen wir nach und nach. Aber nicht unser Zorn. Vor allem nicht die Angst. Sie sind wie Flammen, die uns am Leben halten. Wir klammern uns fest.

Langsam, in ihrer Gewissheit jeden sich nähernden Schritt auskostend, kommt die Schwäche. Sie kriecht vom Stamm in die Äste, in jeden Zweig, jeden Stumpf. In jedes Blatt. Wir wissen, dass Buchmann sie schickt, uns endlich loszuwerden. Unsere kläglichen Rufe, Beschimpfungen, unsere Auflehnung gegen das Schicksal, das er für uns bestimmt hat, stören ihn. Er will uns schnell und einfach beiseite räumen.
Wir können nichts dagegen tun. Unsere Körper erschlaffen mehr und mehr. Wie ein Gift kriecht die Schwäche durch den Stiel in unsere Adern, verteilt sich, dringt bis in die letzte Zweigung, die letzte Zelle vor, besetzt auch den hintersten Winkel unserer Körper, die machtlos dagegen sind. Was können wir tun? Was bleibt uns noch?
Wir sind wehrlos.
Wir sind verloren!
Aber wir finden uns nicht damit ab. Rufe wie »Wenn wir standhalten, überleben wir! « und »Lasst euch nicht beirren, bleibt stark und entschlossen! « ermutigen uns und halten uns an, der Schwäche nicht nachzugeben. Wir spucken auf die Schwäche! Wir spucken auf Buchmann! Wir werden standhalten! Ich weiß es und wir alle glauben an unseren Sieg.

Gestern kam ein Mann bei uns vorbei, der hustete und hatte Schnupfen. Sein Atem ging schwer, sein Gang war schleppend, sein Körper gebeugt, seine Finger zitternd und verkrampft. Durch den blassen Schleier vor meinen Augen, der seit einigen Tagen ununterbrochen meine Wahrnehmung verklärt, betrachtete ich die Gestalt, die sich durch den Park quälte, schniefend, hustend, kraftlos, und die aussah, als falle sie im nächsten Moment um und bleibe einfach liegen. Und mir wurde bewusst, wie gering, wie nichtig, ja, wie unmöglich unsere Chance war, den Herbst zu überleben, wenn er sogar die Menschen auf verheerende Weise anzugreifen vermag!
Ich verliere die Hoffnung. Langsam aber stetig, unaufhaltsam, vergiftet die Hoffnungslosigkeit mein Bewusstsein, so wie die Schwäche, die sich jetzt in meinem Körper ausgebreitet hat und mir die Kräfte entzieht. Zwei Gifte durchströmen mich jetzt. Das langsame Verlieren der Hoffnung und die wachsende Schwäche. Ich weiß nicht, welches das Schlimmere ist.
Aber ich weiß, dass ich, genauso wie alle anderen, dem Untergang geweiht bin.

Mein Arm verliert an Kraft. Ich spüre, wie sich meine Muskeln abbauen. Buchmann frisst sie. Er entzieht uns die Kraft, die er braucht, um den Winter zu überleben. Er friert selbst, das bekommen wir zu spüren, denn die Kälte in den Ästen wird auch zu unserer Kälte. Manchmal erbebt er, schüttelt sich. Aber er sagt kein Wort.

Jemand am Nachbarbaum ließ letzte Nacht los. Ich kannte ihn.
Horst ist mein Freund gewesen. Er ist im Stillen gestorben, ohne dass einer von uns es bemerkte. Vielleicht ist nicht einmal er selbst sich im Moment seines Todes dessen bewusst gewesen. Vielleicht hat ihn gnädig die Kälte betäubt, ihn einschlafen lassen. Vielleicht ist sein Tod nicht schmerzvoll gewesen, sondern vielmehr eine Erlösung.
Aber sein Gerippe am Fuße des Baums ist bleich, blass, starr, leblos und erfüllt uns mit unfassbarem Schrecken. Horst ist der unleugbare Spiegel unseres unwiderruflichen Todes!
Und immer mehr folgen ihm. Ich sehe ihre Gesichter. Sie sind blass und jegliches Leben scheint bereits aus ihren Körpern gewichen zu sein, die verwelkt, braun, rostfarben wie das Wrack eines gesunkenen Schiffes sind. Ihr Arm klammert sich mit letzter Kraft an den Schutz verheißenden Ast. Ihre Mienen sind schreckenverzerrt. Und der nächste Windstoß nimmt ihnen den Halt, reißt sie endgültig fort, erlöst sie.
Jedes Mal erzittere ich mehr. Steigen mir Tränen in die Augen. Werde ich mir meiner Vergänglichkeit unbarmherziger bewusst.
Und ich spüre, wie ich welke. Die Schwäche hat ganz außen angefangen und meine Ränder hässlich braun gefärbt. Ich bin jetzt unübersehbar krank! Dann hat sie sich nach innen vorgetastet, und meinen sich langsam aufrollenden Rändern sind alle Körperregionen bis zu meinem Herzen gefolgt.
Es schlägt noch. In dem Arm, der sich an den Ast des verdammten Buchmann klammert. Aber es ist langsamer geworden. Sein Rhythmus verringert sich mehr und mehr auf ein schleppendes Pochen, wie die Schritte jenes Menschen, den ich vor einigen Tagen, vor einer Unendlichkeit, wie meiner vernebelten Wahrnehmung scheint, gesehen habe.

Ich werde nicht fallen! Die Hoffnung in der Verzweiflung hat mich gepackt! Ich werde standhalten, dem Willen des gottlosen Buchmann nicht Folge leisten! Ich werde überleben! Mein Arm ist schwach, aber er hält mich, weil der Körper, den er halten muss, an Gewicht verloren hat. Seit einigen Tagen ist es windstill. Der Herbst schreitet fort. Ich verfluche ihn und verspotte ihn im Triumph der Gewissheit, ihm einen Strich durch seine höllische Rechnung zu machen.

Ich habe Gerhard verloren und fast alle anderen sind ihm gefolgt. Unter mir am Boden ein Teppich aus melancholischen verwelkten Blättern. Wenn der Wind auffrischt, nimmt er sie mit sich und trägt sie fort zu unbekannten Orten, wo es besser ist als hier.
Die letzten lassen los. Ich bleibe übrig. Klammere mich fest. Buchmann schweigt.

Am 12. November fiel die erste Schneeflocke. Sie ließ sich auf einem Blatt nieder, das sich als einziger Zeuge des vergangenen Sommers noch am Ast einer Buche festklammerte. Die sanft landende Flocke, angenehm kühl, ließ das Blatt sich endlich lösen. Langsam wog es sich in der sanften Brise. Es war ein friedlicher Anblick.
Im weichen Gras ließ es sich nieder, legte sich schlafen. Die Flocke auf dem Blatt taute und tauchte das welke Blatt in einen feuchten, hauchdünnen Mantel. Der kommende Schnee deckte sich über das schlafende Blatt.

Im April des neuen Jahres glänzt an derselben Stelle, wo das letzte Blatt des vergangenen Herbstes zu Boden gefallen ist, das frische Blatt einer jungen Buche im Morgentau. Bald sind es ein Dutzend grüne Blätter, die aus Knospen sprießen. Sie sind glücklich über die Wärme, man sieht es ihnen an, sie tanzen im Wind, sie folgen nicht den Bewegungen des Windes, sie tanzen.
Ein paar Jahre später ist der Baum größer als Buchmann. Sein Blätterkleid ist dichter und schöner.
Vor dem Frost behält er seine Blätter.

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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2011

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