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Der Mann, der Angst vor der Zeit hatte


Das Taxi, das ich in Paris genommen hatte, war sehr sauber. Die Ledersessel waren poliert und glänzten, die Scheiben trübte kein Fleckchen und die Mütze, die ich vom Fahrer vor mir sah, war weiß und makellos. Es war eine schöne Fahrt gewesen und ich hatte dem Würgegriff der Großstadt entkommen und mich in den Wiesen und Feldern und den dahin schlummernden, sanften Hügeln vergessen können. Irgendwann war ich eingeschlafen, vom Brummen des Motors in einen wunderbaren Traum gewiegt.
Jetzt wachte ich auf. In dem Augenblick, als ich die Augen aufschlug, passierte das Taxi die ersten Häuser eines Dorfes. Ich erkannte es sofort. Hier, so war ich fest entschlossen, würde ich meine triste Arbeit in Paris vergessen können, hier wollte ich entspannen, mir guten Wein gönnen und schlafen.
Aber weder Vorfreude auf die kommenden Ferientage noch sonst ein freundliches Gefühl wollte sich bei mir einstellen. Überhaupt war da nur Leere in mir, sonst nichts, kein Gefühl, keine Empfindung, nur Leere.
Dabei waren die Häuser schmuck, hübsche Holzfassaden und Fenster mit Blumensimsen grinsten mich an – sie lächelten nicht, sie grinsten, da war ich mir plötzlich ganz sicher.
>>Wie lächerlich! <<, sagte ich laut.
>>Wie bitte? <<, fragte der Fahrer mit seiner hohen, säuselnden Stimme.
>>Nichts! <<, fuhr ich ihn an. Auf einmal war ich wütend. >>Fahren und schweigen Sie! <<
Der Fahrer gab ein leises, meckerndes Lachen von sich. Ich verspürte unvermittelt den Drang, ihn schreiend zurechtzuweisen – als das Taxi auf den Dorfplatz bog. Da sah ich das Hotel.
Es war klein und alt und verkommen, doch gerade deshalb war meine Wahl darauf gefallen.
Das Taxi hielt vor dem Brunnen in der Platzmitte. Ich stieg aus und atmete gierig die frische Landluft ein. Hier stand die Zeit still! Tränen stiegen mir bei diesem Gedanken in die Augen. Ich schnaubte, scheuchte sie fort, holte mein Portemonnaie aus der Tasche, zählte rasch das Geld ab – 100 Euro, welch ein Wucher! – und warf sie dem Fahrer in die geöffnete Hand. Der lachte wieder meckernd, riss die Autotür zu und brauste davon.
Einen unendlich langen Augenblick war es vollkommen still. Dann straffte ich meinen zusammengesunkenen Körper und eilte auf die Hoteltür zu. Ich packte die Klinke – sie war eiskalt! Mit einem Aufschrei zuckte ich zurück. Die Kälte wich nicht von meiner Hand, nein, vielmehr durchströmte sie plötzlich, obwohl meine Hand das Metall längst losgelassen hatte, meinen ganzen Körper und hatte einen Lidschlag später von mir Besitz ergriffen. In meinem Hirn klang das meckernde Lachen des Fahrers.
Dann fiel die Kälte von mir ab. Mit einem mürrischen >>Wie lächerlich! << auf den Lippen griff ich wieder nach der Klinke, drückte sie und die Tür öffnete sich. Ich ertappte mich dabei, wie ich ein unheimliches Knarzen zu hören erwartete. >>Wie lächerlich! << Nichts dergleichen vernahm ich.
Im Türrahmen blieb ich stehen und blickte mich um. Ich stand in einem großen, alten Raum mit splitterndem Bretterboden und lampenloser Decke. Auf der Stirnseite befand sich der Tresen, der leer war. Das einzige Licht fiel durch ein kleines, rundes Fenster zu meiner Rechten. Niemand war zu sehen. Ich machte einen zögernden Schritt ins Dämmerlicht.
>>Aha! <<, rief da plötzlich ein dröhnender Männerbass. Ich zuckte zusammen und fuhr nach links um. Dort eilte ein Mann auf mich zu, den ich nicht bemerkt hatte. Vielleicht war er vor einem Augenblick auch noch gar nicht dagewesen. Aus einer Tür konnte er jedenfalls nicht gekommen sein, denn es war keine zu sehen. Ich fand mich damit ab, dass meine sechsundfünfzigjährigen Augen langsam trüb wurden.
Der Mann war riesig, ein wahrhaftiger Hüne mit muskelbepackten Arme, kantigem Kinn und langem, schwarzem Haar. Den Bart hatte er sich rasiert. Er streckte mir die Hand entgegen und ich war so töricht, sie zu ergreifen. Die riesenhafte Pranke umschloss mein Händchen und drückte zu. Ein Knacksen war zu hören und ich konnte ein Stöhnen nicht verkneifen.
>>Ich- <<, begann ich, aber der Mann fiel mir ins Wort: >>Ich bin Guillaume, der Wirt, willkommen! Simon! Pack dich! << Eine Bewegung hinter dem Tresen war zu sehen. Noch ehe ich etwas erwidern konnte, kam eine Gestalt hinter dem Tisch hervor und schlurfte auf uns zu. Ich erkannte ein dürres Männlein, dem jedes menschliche Aussehen fehlte, so fand ich. Er hatte einen kahlen, winzigen Kopf ohne Hals, einen eingefallenen Körper, der jeden Augenblick zusammenzuklappen den Eindruck erweckte, und Beine, die dem Fliegengewicht des Oberkörpers kaum standzuhalten schienen.
>>Was is‘? <<, säuselte er. Ich schrak zusammen. Es war, ich war mir sicher, die Stimme des Taxifahrers!
Ich musterte Simon ein zweites Mal eindringlicher, aber im Gegensatz zu dem Taxifahrer war an Simon alles dreckig und ungepflegt. Den polierten Fahrer hatte ich jedenfalls nicht vor mir.
>>Bring den Herrn zu seinem Zimmer! <<, befahl Guillaume, der Wirt. Ich wollte etwas sagen, doch meine Lippen waren auf einmal schwer wie Blei und ich konnte den Mund nicht öffnen. Simon umschloss mit seiner linken vogelartigen Klaue meinen Oberarm und riss mich mit sich. Ich schnappte nach Luft und grunzte entsetzt, denn der so dürre Simon war stark wie eine Eiche.
Simon lachte meckernd. Die Kälte ergriff wieder von mir Besitz. Es war ganz sicher das Kichern des Taxifahrers! >>Wer-? <<, wollte ich fragen, doch da zerrte mich Simon auch schon durch eine Tür, die mir ebenfalls unbemerkt geblieben war.
Dahinter war es stockdunkel. Und es war kalt. Nichts war zu sehen. Ich stolperte Treppenstufen hinauf. Etwas in mir wuchs. Es war eine noch niemals zuvor gespürte Panik, gemischt mit der Starre, die einen zu Hilflosigkeit verdammt, und dem widersprüchlichen Drang, voranzuschreiten. Ich ging etwas entgegen! Es war etwas Furchtbares, das wusste ich plötzlich mit Sicherheit, aber ich vermochte nicht zu umzukehren, wegen Simon, der mich eisern gepackt hielt, und wegen dem Drang, der mich tiefer, tiefer hinein in dieses Furchtbare, noch Ungewisse führte.
Der lange, unendlich lange Flur war schwach erhellt, aber ich konnte keine Lichtquellen ausmachen, es gab keine Fenster, keine elektrischen Lampen und nicht einmal eine Kerze – dennoch konnte ich den Gang vor mir immer deutlich genug erkennen, um die Stufen zu sehen, die in regelmäßigen Abständen zu überwinden waren.
Bald glaubte ich mich in einer unermesslichen Höhe. Ich war sicher, mittlerweile über die ganzen Stufen in den Himmel gelangt zu sein. Der Gang führte nur geradeaus und eigentlich hätten wir die Wand, das Hinterteil des Hotels schon lange erreicht haben müssen, doch noch immer war kein Ende abzusehen.
>>Die Zeit. <<, sagte Simon plötzlich. Ich schrie auf, fuhr zu ihm herum, doch er erwiderte meinen Blick nicht, sondern starrte nach vorn.
>>Die Zeit. <<, flüsterte eine Stimme in mir. >>Die du so hasst, vor der du fliehen, der du entkommen willst! << Die Stimme brach in gackerndes Lachen aus und ich konnte nicht mehr an mich halten. Ein Schrei entrang sich meiner Kehle und ich schrie und rief um Hilfe wie ein Ertrinkender, während meine Beine mich weitertrugen, immer weiter und tiefer hinein in den Gang ohne Ende.
Dann blieben wir stehen. Mein Blick wurde hochgerissen von unsichtbarer Hand und ich erblickte eine Tür. Starrte sie an. Kein Schild, keine Nummer verriet den Namen dieses Zimmers. Aber ich wusste, dass es mein Zimmer war!
Eine unermessliche Macht packte meine Brust und zog sie der Tür entgegen. Meine Finger fühlten die Narben des Türholzes ab. Dort schienen Dinge eingeschrieben zu sein und ich wollte ihre Geheimnisse ergründen, ich wollte auf einmal ALLES über diesen Raum wissen!
Es war MEIN

Raum!
Meine Finger ertasteten den eisernen Schlüssel im Schloss. Ich wollte den Raum sehen! Meine Nackenhaare sträubten sich, mein Herz wollte aus dem Käfig seines Körpers ausbrechen, mein Entsetzen wuchs ins Unermessliche. Aber ich verspürte Gier! Es war die Gier nach diesem Raum, ich war gierig nach dem Inhalt dieses Raumes und gleichzeitig zerrte und riss die Panik in und an mir und ein Teil meiner selbst wollte raus, durch die Wände brechen und weg von diesem Ort, und der andere Teil führte meinen Daumen und meinen Zeigefinger und der Schlüssel drehte sich zweimal und ich hörte das Schloss zurückschnappen.
>>Nur zu! <<, hörte ich Simon aus weiter Ferne säuseln und ich wusste, dass er meckernd lachte.
Und ich packte die Klinke und drückte und riss die Tür auf!

Der Raum ist leer. Er ist winzig und quadratisch und besitzt kein Fenster. Er ist leer bis auf das Pendel. Es hängt von der drückend niedrigen Decke und schwingt hin und her. Tick, Tack. Tick, Tack! Es ist die Zeit, der ich seit jeher zu entfliehen suche. Ich spüre, wie alle Angst, Panik, Gier aus meinem Körper weicht. Da ist Leere. Nur das Pendel schwingt. Die Leere ist erfüllt vom hallenden Tick, Tack.
Ich spüre, wie sich der Boden unter mir öffnet – und mich verschlingt.


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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

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