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1920


Es war einer der Morgen gewesen, an denen die Sonne nur als verschwommener, verwischter Farbfleck im wässrigen, grau durchtrieften Wolkenhimmel aufgegangen war. Es war kalt gewesen und sie alle hatten in der Nacht gefroren. Als er aufstand, erleichterte er sich. Nach dem Frühstück, altbackenes Brot und harter Käse, ging der Hauptmann durch ihre Reihen und erklärte, heute gebe es einen Sondereinsatz, sie hätten die Juden aus den umliegenden Dörfern im Wald zusammengetrieben. Nichts für schwache Nerven, nur die Härtesten unter ihnen würden gebraucht. Er könne verstehen, wenn jemand zurückträte.
Natürlich trat niemand zurück. Er auch nicht. Alle gingen sie mit, alle stapften sie durch den frischen, pulvrigen Schnee, der in der Nacht gefallen war und sich über die leeren Felder gesenkt hatte.
Ein paar übergaben sich. Es dauerte den ganzen Tag. Es waren tausende Juden, es waren Zivilisten, Greise, Frauen, Kinder, Säuglinge. Das war kein Spaß! Aber sich drücken, das hätte er nie können.
Abends besoffen sie sich alle, es gab Fleisch vom Spieß und Musik. Nachts träumte er von den verzerrten Gesichtern, von schrecklichen Gesichtern, starren Augen und er sah die Leiber in der Grube, übereinandergeschichtet, manche zuckten noch. Schweißgebadet wachte er auf. Einige Sekunden lang noch verfolgten ihn die Bilder, es war kaum auszuhalten. Aber er wusste, er hatte es nicht für sich getan, es hatte sein müssen, es war eine notwendige Aufgabe gewesen.

Als er die Augen öffnet, ist es weiß um ihn herum. Er braucht einen Moment, bis er wieder weiß, wo er ist. Kurz überlegt er, die Neonleuchte über ihm anzuschalten, aber er lässt es, er will jetzt kein Licht. Draußen ist es dunkel. Eigentlich will er das Fenster aufmachen und frische Luft reinlassen, aber er kann nicht aufstehen. Die verdammte Hüfte! Er hasst diesen Geruch, diesen chemischen, schneidenden Geruch nach Krankenhaus. Überhaupt hasst er den Raum, wo er sich befindet, hasst er das ganze Krankenhaus! Die Beklemmung hier ist schuld an seinem Traum.
Er will sich nicht erinnern.

Ansonsten hat er Schwein gehabt im Krieg. Russland war hart gewesen und ein Gefecht mit einer Handvoll plötzlich hervorstürzender Soldaten hatte ihn zwei Finger gekostet, aber nach einer Woche Lazarett war die Wunde genäht worden und er wieder gesund. Das war kurz nach jenem Tag gewesen, da der Sondereinsatz gewesen war.
Den Krieg in Russland hatten sie verloren, aber überlebt. Nach Kriegsende 1945 hatte er sich nach und nach ein Leben in dem Land aufgebaut, für das er jahrelang gekämpft hatte und das jetzt in Schutt und Asche lag. Er fing bei einer Maschinenbau-Firma an, hatte zwei Jahre später sie kennengelernt und kurz darauf geheiratet. Ein Jahr später war der erste Sohn geboren, ein weiteres Jahr danach ihr zweiter. Es war eine gute Zeit gewesen, er verdiente gut, lebte in einer glücklichen Ehe und seine Söhne wuchsen gesund heran.
Dann kam die Zeit des großen Aufbruchs in die Moderne. Die 68er Jahre, die Zeit der Revolution, nahm ihm seine Söhne. Sie entfernten sich mehr und mehr von ihm, nicht so sehr von ihrer Mutter, sie entfremdeten sich. Sie fragten ihn, wie der Krieg gewesen sei. Sie wollten wissen, was er im Krieg getan habe. Dann sprach er davon, dass er seine Pflicht getan habe, und schwieg sonst. Seine Söhne verloren das Vertrauen in ihn, bald auch den Respekt.
Als ans Licht kam, dass die Firma, bei der er arbeitete, Triebwerke produziere und an die USA für den Vietnamkrieg liefere, verlangten seine Söhne von ihm, bei der Firma zu kündigen und sich eine andere Arbeit zu suchen. Die Welt hatte sich geändert. Von der Generation, die den Krieg miterlebt hatte, wurden Rechenschaft und Geständnisse und Reue verlangt. Er hatte nur seine Pflicht getan! War das ein Fehler! Er hatte kein Verständnis dafür, warum er aufhören sollte bei seiner Firma zu arbeiten, wo er schon über zwei Jahrzehnte gearbeitet hatte. Diese Arbeit brachte seiner Familie Wohlstand, Geld und das Haus, was gab es da, über das es sich zu beschweren lohnte?
Seine Söhne wurden Fremde für ihn. Wenige Jahre später starb seine Frau an Leukämie. Er wurde älter, er alterte, seine Gelenke begannen zu schmerzen, bald brauchte er eine Gehhilfe, um die Einkäufe zu erledigen. Er wurde schwach. Damals war es oberstes Ziel gewesen, alles Schwache zu vernichten. Damals hatte man das Schwache verachtet. Er hatte verstanden, dass es notwendig war, das Schwache zu beseitigen, weil das Schwache lebensunwert war.
Jetzt war er das Schwache. Und er hatte Angst vor dem Tod.
Schließlich suchte er Zuflucht in der Religion, er ging öfter zur Messe, wurde fromm, betete und lernte das Gebot der Nächstenliebe kennen. Er begann zu verstehen mit eigenem Körper, dass das Schwache ein Recht zu leben hatte.
Hatte er damals einen Fehler gemacht? Er hatte sich selbst doch nichts zukommen lassen, er hatte doch nur seinen Vorgesetzten gehorcht, war etwas Falsches daran? Die ganze Welt um ihn herum hatte sich geändert. Er konnte nichts mehr richtig finden und auch nicht falsch.

Es brauchte einige Mühe, aber er schaffte es aufzustehen. Seine Hüfte tat verdammt weh. Die Operation hatte nichts geholfen, so schien es ihm, der Schmerz war unerträglich in seiner Allgegenwart.
Er schleppte sich zum Fenster und machte auf. Die frische Luft ließ den Schweiß auf seiner Stirn trocknen. Sein Herz aber kam nicht zur Ruhe.

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Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011

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