Sein Haus war alt. Bert hatte schon immer eine Vorliebe für alte Häuser gehabt.
Nummer 11 war ein Haus im viktorianischen Stil und hatte seinen Preis gehabt. Aber als er Nummer 11 das erste Mal gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er es kaufen musste, um jeden Preis. Seitdem besaß er nicht mehr viel Geld, zumal sein Beruf Müllmann war. Das Erbe seiner Tante väterlicherseits hatte er für das Haus geopfert.
Er erwachte vom schrillen Klingeln seines Weckers, fuhr aus dem Bett, schwang sich vom teuren Himmelbett – das allein vom hauspreis einen nicht geringen Teil ausgemacht hatte – und schlüpfte in seine Pantoffeln. Wie jeden Werktag war es draußen noch dunkel und weil Bert die finanziellen Mittel für Elektrizität fehlten, zündete er jeden Tag eine Kerze an, die immer auf dem Nachttisch bereit stand. Heute stand dort keine. Bert erinnerte sich, dass er gestern vergessen hatte, im Müll, den er ins Müllauto lud, nach neuen Kerzenstummeln zu suchen, und er fluchte. Den Weg die Treppe zur Küche hinunter fand er tastend, die Kaffeemaschine konnte er mühelos ohne Licht betätigen.
Der Kaffee weckte seine Lebensgeister. Gerade wollte er ins Bad, um sich frisch zum machen, als er seinen Kater miauen hörte. Da das Licht fehlte, sah er Amalrich – so der Name eines seiner Urahnen, nach dem er den Kater benannt hatte – nicht. Und so stolperte er bereits beim ersten Schritt über das Tier, das um ihn herum streifte, um wie immer seine Zuneigung zu zeigen.
Er war zu überrascht, als dass er hätte aufschreien können, besaß aber die Geistesgegenwart, sich mit den Händen aufzufangen. Dabei fiel ihm die Kaffeetasse aus der Hand und der Rest Kaffee darin ergoss sich über den Holzboden. Amalrich probierte sofort von der Pfütze und begann dann eifrig zu schlürfen.
Wieder fluchte Bert. Er wollte Amalrich von der Pfütze wegschieben, denn er hatte vor, den Kater auf dem Weg zur Arbeit ins Tierheim zur Flohkur zu bringen, aber Amalrich bohrte seine Krallen in den Holzboden und rührte sich nicht.
>>Genau wie Uronkel Amalrich! <<, schimpfte Bert. >>Stur und starrköpfig! <<
Es klingelte. Das musste Fred sein, Berts Freund, mit dem zusammen er jeden Tag zur Arbeit ging.
>>Komm jetzt! <<, zischte Bert. In diesem Augenblick gab Amalrich dem Druck seiner Hände nach, eilte davon und sprang durch das offene Fenster, das immer offen stand, um dem alten Haus frischen Atem einzuhauchen. Ein Fauchen ertönte, gleich darauf ein Schrei, es war Freds Stimme, wie Bert erschrocken erkannte, er tastete sich am Tisch vorbei hastig zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss, riss sie auf und erblickte im Licht einer Straßenlaterne, wie Amalrich sich in Freds Pelzmütze festkrallte. Was war in diesen Kater gefahren?
Mit einiger Mühe – Bert getraute sich nicht einzugreifen – gelang es Fred, die Mütze samt Kater vom Kopf zu reißen. Amalrich fing sich am Boden und rannte nun, noch immer wild fauchend, auf die Straße. Dort fuhr im selben Moment ein alter Volvo. Als der Fahrer Amalrich bemerkte, der seelenruhig über die Straße tapste, bremste er scharf. Doch die Straße war eisglatt im Winter, das Auto rutschte weiter, rutschte haarscharf an Amalrich vorbei und donnerte gegen die Straßenlaterne. Die Lampe erlosch und so wurde es auch hier vollkommen dunkel.
Bert, entsetzt und erschrocken, eilte mit Fred zu dem verunfallten Auto. Dort hörten sie, wie jemand ausstieg.
>>Ich will bezahlt werden! <<, war das erste Wort, das Bert an diesem Tag hörte.
>>Für ihre alte Kiste bekomm’n Sie eh nich‘ mehr viel! <<, sagte Fred neben ihm.
Ein wutentbranntes Schnauben war zu vernehmen. >>Dir wird‘ ich Manieren beibringen! <<, rief der Fahrer und wollte den Sprecher der beleidigenden Worte treffen, also Fred, seine Faust aber irrte in der Dunkelheit zu Berts Nase. Es war ein höchst unangenehmer Schmerz und Bert fand nun Gelegenheit, seiner Wut über Amalrich Luft zu machen. Er schlug zurück. Der Fahrer rief empört, wollte den Schlag erwidern und traf wieder den Falschen, diesmal Fred. Nun trug auch der seinen Teil zum Streit bei.
Niemand bemerkte den Wachmann, der sich kurz darauf näherte. Gerade in dem Moment, als der Wachmann hinter Bert stehenblieb, wurde Bert geschubst, er taumelte nach hinten und fiel dem Wachmann in die Arme. Der warf ihm überrascht zurück, Bert, wütend auf den Unverschämten, der es wagte, sich in seine Rangelei einzumischen – er erkannte in der Dunkelheit den Wachmann nicht -, fuhr herum und...
Eine Viertelstunde später fand er sich in einer engen Zelle im städtischen Zuchthaus wieder, zusammen mit Fred und dem Autofahrer, der vor Wut immer wieder schnaubte.
>>Wir komm’n zu spät. <<, stellte Fred brummend fest.
Bert, zu wütend, als dass er auf diese tumbe Feststellung etwas hätte entgegnen können, murmelte nur ein >>Sei bloß leise! <<. Dann wurde die vergitterte Zellentür geöffnet und der Wachmann, der sie hierhergebracht hatte, trat ein. Seine Nase war rot und dermaßen geschwollen, dass sie einer betrunkenen Kartoffel ähnelte. Die Lippen waren dick und rosarot. Bert lief ein Schauder über den Rücken, als er nun sah, was er angerichtet hatte. Das würde drei Jahre geben, wenn nicht vier, nein zehn! Während Bert sich noch in solch düsteren Gedanken erging, sagte der Wachmann näselnd:
>>Telefon für Bert Nulpe! <<
Bert sah auf. >>Wer? <<, fragte er matt.
Die Augen des Wachmanns bekamen ein höhnisches, gefährlich zufriedenes Funkeln. >>Dein Chef!<<
Er winkte Bert, ihm zu folgen. Durch ein Gewirr aus Gängen, die nur vom trostlos verhangenen Schimmer einiger Neonlampen beschienen wurden, gelangten sie in ein kleines, hässliches Büro. Der Wachmann ließ sich in einem Ledersessel nieder, auf dem winzigen, mit Akten vollbeladenen Schreibtisch stand ein Schild, das den Wachmann mit >Hauptmann Schulze< benannte. Durch ein quadratisches Fenster warf Bert einen flüchtigen Blick nach draußen. Die große, mächtige Kastanie, die vor dem Fenster stand, wurde von starken Windstößen hin und her gepeitscht. Neben dem Baum war ein Telefonmast zu sehen, der gleich die zornentbrannten Impulse seines brüllenden Chefs leiten würde.
Hauptmann Schulze drückte Bert den Hörer eines gelben Telefons in die Hand. >>Hier Bert Nulpe! <<, meldete sich Bert.
>>Sie sind zu spät! <<, schoss es aus dem Hörer. Vor Schreck ließ bert den Hörer fallen, hob ihn aber sogleich wieder auf. Sein Chef war zweifellos sehr wütend. Doch er durfte nicht gefeuert werden, er brauchte das Geld!
>>Ich bin krank! <<, sagte Bert, aber seine leise, halbherzige Stimme war so gar nicht überzeugend.
>>Sie sind im Kittchen! <<, brüllte sein Chef zurück. >>Sie verweigern die Arbeit! <<
Bert warf einen verzweifelten Blick zu Hauptmann Schulze, aber Hauptmann Schulze grinste nur boshaft vergnügt. Berts Blick irrte weiter zum Fenster. Der Wind war mittlerweile noch stärker geworden und zu einem Sturm gewachsen und rüttelte brutal am Baum und am Telefonmast.
>>Aber das stimmt- << Ein Knacken zischte aus der Leitung. >Aber das stimmt doch gar nicht! <, hatte er sagen wollen. Und gerade in dem Augenblick kippte vor seinen Augen, vor dem Fenster des Büros von Hauptmann Schulze, der Telefonmast ächzend um.
Einige Augenblicke lang starrte Bert fassungslos nach draußen, wo der Telefonmast gerade noch gestanden hatte.
>>Häha! << Hauptmann Schulzes Lachen riss ihn aus seiner Umnachtung. Bert wurde bewusst, dass er soeben seine Arbeit verloren hatte. Mit weit aufgerissenem Mund starrte er Hauptmann Schulze an, in der verzweifelten Erwartung, dass der irgendetwas unternahm.
>>Das Auto wirst du bezahlen müssen, Nulpe! <<, grinste Hauptmann Schulze. Aber Bert hatte die Arbeit verloren, er hatte kaum Geld und das wenige, das er besaß, brauchte er, um überhaupt einmal zu überleben!
>>Hab nix! <<, stotterte er, während er noch immer Hauptmann Schulze anstarrte.
Genüsslich den Moment auskostend, lehnte Hauptmann Schulze sich langsam vor. >>So...<<, sagte er näselnd. >>Dann wird natürlich<< - voller Schadenfreude musste er sich ein Kichern verkneifen, was in einem lauten Grunzen missglückte. >>dann wird ihr Haus natürlich gepfändet werden müssen. <<
Berts Entsetzen erreichte noch tiefere, noch dunklere Gefilde. Er sollte sein Haus aufgeben – er liebte sein Haus! >>Niemals! <<, schrie er, sprang auf, riss die Tür des Büros auf und stürmte eine Treppe hinunter. Durch eine Halle gelangte er in den Empfangsraum des Zuchthauses, wo ihm eine verdutzte Sekretärin beim Hinausstürmen zusah.
Der Wind, der draußen herrschte, war so kräftig und stark, dass Bert ernsthaft aufpassen musste, nicht weggeweht zu werden. Er wandte sich nach links und folgte der Straße. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Zuhause würde man ihn sicherlich als Erstes suchen. Er beschloss, seinen Chef aufzusuchen und ihm den Irrtum verständlich zu machen.
Das Büro seines Chefs lag am Rande der Stadt und die Stadt war sehr groß. Berts Haus und das Zuchthaus lagen am gegenüberliegenden Stadtende. Mit der Bahn, die Bert und Fred jeden Tag nahmen, war es eine Fahrt von einer halben Stunde. Doch als Bert zur Haltestelle kam und wartete, dass die 10-Uhr-Bahn käme, wartete er bis halb Elf. Von der war nichts zu sehen. Schließlich musste Bert sich damit abfinden, dass die Bahn bei solchem Wetter nicht fuhr und dass er zu Fuß zum Chef würde laufen müssen.
Er rannte. Häuser, hohe, kleine, breite und lange, glitten an ihm vorüber. Da erblickte er plötzlich ein Müllauto vor sich. Er konnte sein Glück kaum fassen. Er würde mit dem Müllauto mitfahren und schnell zum Chef fuhrwerken, um alles zu erklären, seinen Job wiederzubekommen und sein Haus zu behalten.
Das Müllauto bog in eine kleine Straße ein. Gerade den Moment suchte sich eine Katze mit schwarzem Fell aus, um die Straße zu überqueren. Es war Amalrich.
Das Müllauto bremste, die Straße war glatt, es rumste. Bert schloss die Augen. Es war ein gewaltiges Rumsen und er zuckte zusammen. Er wandte sich um und eilte davon.
In eine dunkle Gasse bog er ein. Er würde sich eine neue Katze anlegen! Das war sein erster Gedanke. Dann fiel ihm ein, dass er dafür kein Geld hatte. Verzweifelt ließ er sich er auf den Boden fallen. Als ihm ein Gedanke kam.
Um 12 Uhr trat er in ein hohes, einschüchterndes Hochhaus. In einer hohen Halle mit vielen Fenstern und rotem Teppichboden befand sich in der Mitte der Empfang, an dem sich eine ältere Dame mit hoch aufgetürmter Frisur gerade schminkte.
Bert räusperte sich und widerwillig löste sich die Dame von ihrem Spiegel. Bei seinem Anblick rümpfte sie die Nase, verzog angewidert das Gesicht und fragte: >>Wo kommen Sie den her? <<
Erst jetzt bemerkte Bert, dass er noch immer einen gestreiften Sträflingsanzug trug.
Er ging über die peinliche Frage hinweg und sagte: >>Ich will mein Haus verkaufen! <<
Die Dame hob eine Braue. >>Das will jeder hier. <<
Auch über diese Bemerkung sah Bert hinweg. >>Nummer 11. <<
Die Dame hob die zweite Braue. >>Ah. <<
Bert wurde immer nervöser. >>Zwanzigtausend. <<, stieß er hervor.
Die Brauen der Dame wanderten noch höher.
Bert hielt dem missbilligenden Blick der Dame nicht mehr stand und sah zu Boden. >>Zwanzigtausend Euro will ich dafür. Für das Haus. <<, sagte er.
>>Ah ja. <<, sagte die Dame.
Bert schluckte.
>>Ah ja. <<, wiederholte die Dame.
Bert schluckte wieder.
>>Herr Fromm ist krank. <<, sagte die Dame.
Bert war verwirrt und runzelte die Stirn.
Die Dame bemerkte seine Verwirrung und hub mit einer wichtigen Miene zu einer Erklärung an. >>Herr Fromm ist der Makler. <<, sagte sie. >>Ohne ihn geht hier nichts. <<
Bert wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er musste sein Haus heute verkaufen, denn morgen würde es zu spät sein, dann würde sein Haus bereits verpfändet werden.
Bert drehte sich um und verließ das Gebäude. Mit sich selbst und seinem Schicksal hadernd eilte er durch Gassen und Straßen. Was konnte er tun? Wie konnte er sich vor den Polizisten verstecken? Wie würde er ohne ein Haus leben können?
Gedankenversunken trat er auf eine Straßenkreuzung. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Es war die Kreuzung, an der das Müllauto durch Amalrich verunfallt war. Das Auto war in eine Häuserwand gebrochen. Drei Müllmänner redeten aufgebracht auf drei Polizisten ein. Und immer wieder zeigten sie auf Amalrich, der unbeeindruckt von alldem daneben saß.
Da erblickte Amalrich Bert. Der Kater sprang auf und eilte laut miauend auf Bert zu. Bert war zu bestürzt und zu fassungslos, als dass er hätte ans Weglaufen denken können.
Die Blicke der Polizisten folgten dem Kater, der sich nun an seinen Besitzer schmiegte. Sie näherten sich Bert. Jemand fragte: >>Ist das Ihr Tier? <<
Bert war müde und erschöpft. Hatte es einen Sinn zu lügen? Würde man ihm überhaupt noch glauben?
>>Ja. <<, sagte er gepresst.
>>Mitkommen! <<
Um vier Uhr fand er sich nach einer ausgiebigen Untersuchung in derselben Zelle wieder, die er an diesem Morgen erst verlassen hatte und in der Fred noch immer saß. Der Autofahrer war inzwischen wieder freigelassen worden.
>>Zwei Tage hab ich hier wegen dir? <<, begrüßte Fred ihn vorwurfsvoll.
>>Ich hab drei Jahre. <<, erwiderte Bert. >>Aber hier gibt’s Essen und ein Bett. Und er- <<, er zeigte auf Amalrich in seinen Armen, >>er ist auch da. Also fast wie zu Hause. <<
Das war gar nicht so schlecht.
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011
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