Jean Mercard war ein durch und durch besessener Mensch. Er wurde in einer farblosen Nacht geboren, die Welt von Schwarz durchtränkt, und sein erster Schrei war der einzige, den er während seiner Kindheit von sich gab. Vielleicht war es die farblose, weiß-schwarze Welt um ihn herum, die Natur, die bleich und blass war, die ihn verstummen ließen. Denn zu der Zeit von Jean Mercard kannte die Welt noch keine Farben, nur die Malerei produzierte bunte Bilder, deren Farben aber in der kalten Farblosigkeit der Welt fremd wirkten.
Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter an Tuberkulose, sein Vater blieb übrig, Jean Mercard war das einzige Kind. Während sein Vater seinem Beruf nachging und Bilder malte, seine weiße Leinwand mit Farben beklatschte, denn Robert Mercard liebte Farben, bunte Leuchtfeuer in der sonst weiß-schwarzen Welt – während der Vater also seine Bilder malte, musste Jean Mercard auf dem Acker hinterm Haus arbeiten und das Gemüse ernten, von dem sie beide lebten.
Jean Mercard war ein stilles Kind, in gewisser Weise vollkommen in sich selbst versunken, schweigend. Jeder, der ihn sah, meinte sofort und vom ersten Augenblick an, den Inbegriff der Dummheit vor sich zu sehen.
Aber Jean Mercard träumte. Hinter seinen dunklen Augen verbarg sich sein innigst gehüteter, liebster Traum, dem er bei seiner Arbeit auf dem Acker immer, ausnahmslos nachhing und der ihn am Leben hielt. Es war der Traum von der Anerkennung seines Vaters.
Und als er kein Kind mehr war, kam ihm eine göttliche Offenbarung. Es war ein harter Winter gewesen und vor fünf Tagen hatten sie beide die letzte Rübe verzehrt. Er stand draußen auf dem Acker, aber es gab nichts zu ernten. Der gewaltige, schreckliche Würgegriff dieses Hungers in ihm brachte ihn schließlich dazu, eine Handvoll Erde vom Boden zu packen und zu essen. Und in dem Augenblick, da der erste Krümel der steinigen, vom Frost harten Erde seine Zunge berührte, in dem Moment, als er dieses Stück Erde zu schmecken bekam, explodierte vor seinem geschlossenen Auge ein dunkles, staubiges Braun. Und Jean Mercard durchfuhr die wunderbare Erkenntnis, dass ebendieses Braun die Farbe der Erde unter seinen Fingern war. Und noch vollkommen überwältigt von diesen unglaublichen Offenbarungen, wusste Jean Mercard, dass er einen Weg gefunden hatte, die Anerkennung des Vaters zu bekommen, von der er seit jeher träumte. Er, Jean-Luc Mercard, würde ein Gemälde schaffen, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Er würde der weiß-schwarzen Welt um ihn herum Farbe geben, die echt, wahre Farbe. Er würde die Welt ihrer Farblosigkeit berauben. Für seinen Vater.
Und so kam es, dass Jean Mercard am 23. Juli 1893 in der Nacht sein Zuhause verließ, mit allen Farbtuben, die er bei seinem Vater hatte finden können, einem Pinsel und der Hälfte des mageren Ersparten, das unter dem Kamin vergraben war. Und er begann mit den Bäumen, zuerst die Stämme in dem Braun, das er vor sich sah, als er ein Stück Rinde vorsichtig mit der Zunge erschmeckte, dann Geäst und Blätter. Und er zog durchs Land, gab allem auf seinem Weg eine Farbe, dem Stein hartes Grau, einem Fuchs ein Pfirsichorange, einem Hasen helles Braun, dem Wasser klares, verwischtes nasses Blau und den Fröschen an seinen Ufern gemischtes Grün, den Fischen schillernde helle Farben. Und kein Wesen, keine Sache vergaß er. Die Häuser der Menschen färbte er nachts, wenn sie schliefen, die Menschen selbst, wenn er mit ihren Häusern fertig war. Und das Geld für neue Farben, die schnell ausging, stahl er sich von den Menschen zusammen – aber war das ein gebührender Preis für die Tatsache, dass er ihnen Farbe gegeben hatte, ein Aussehen, ein Antlitz? Eine Persönlichkeit?
Und als Jean Mercard schließlich sein Werk vollendet hatte, sah er, dass es gut war. Und er kehrte nach Hause zurück, um seinem Vater sein Werk zu zeigen. Er war erfüllt von unfassbarer Freude, war durchtränkt von dem so schmerzhaft herbeigesehnten Glück, das ihn gleich erwarten würde, wenn sein Vater die neue Welt erblickte. Wie stolz würde Robert Mercard auf seinen Sohn sein! Welch unglaubliches Werk hatte Jean-Luc Mercard vollbracht!
Als er aber endlich sein Zuhause erblickte, war es verfallen, die Wänd3 rissig, das Dach in sich zusammengefallen, kaum mehr eine Ruine, und der Acker von Unkraut überwuchert. Und als er im nahen Dorf fragte, wohin Robert Mercard denn verschwunden sei, erzählte man ihm, dass sein Vater in derselben Nacht gestorben war, in deren Schatten sein Sohn in die Welt hinausgegangen war, ihr Farbe zu geben.
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011
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