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Deserve it or not.

Ruth Carol. Das ist mein Name. In manchen Nächten lag ich wach und sprach ihn mehrmals aus. Ruth Carol. 
Nun konnte ich gar nicht mehr schlafen. Es war meine Pflicht wach zu sein. Doch vor ein paar Tagen konnte ich das noch gar nicht ahnen. 

“Ruth. Ruth Carol bitte”, sagte eine ruhige Stimme durch ein Mikrofon in den Raum, der aussah wie ein Wartezimmer beim Arzt, wo ich auch genau das getan hatte. Warten. 
Ich lief zu der einzig vorhandenen Tür in diesem seltsamen Raum und öffnete sie. 
“Hallo, Ruth. Schön, dich hier zu haben”, sagte eine Frau, die an ihrem Schreibtisch saß, und mich nun mit ihren blauen Augen anblickte. Sie war mittleren Alters und nicht gerade hässlich. Ihre blonden Haare und ihre Augen gaben ihr ein jugendliches Aussehen. 
“Ähm, hallo”, sagte ich schüchtern. 
“Ich bin Carol Smith. Die Leiterin des Arbeitsamtes in Spiraculum mortuos. Du weißt, wo du dich gerade befindest?”, fragte Carol. 
“Nein, ich bin aufgewacht und befand mich in dem Zimmer von eben.”
“Das ist merkwürdig. Hast du Kyle auf dem Weg hier her denn nicht kennen gelernt?”
“Auf dem Weg hier her? Wer ist Kyle?”, das wurde immer merkwürdiger. 
“Kyle, dein persönlicher Begleiter auf dem Weg in den Himmel, den wir ‘Spiraculum mortuos’ nennen.”
“Himmel?”, fragte ich. Das sollte doch wohl ein schlechter Witz sein. Ich war Ruth, ein lebendiges, 17 jähriges Mädchen. 
“Ja, du bist vor genau 3 Stunden und 23 Minuten gestorben”, antwortete Carol. 
“Gestorben? Das kaufe ich Ihnen beim besten Willen nicht ab! Wenn man stirbt, sollte man das nach drei Stunden wohl bemerkt haben!”, ich war empört. 
“Äußerst merkwürdig, äußerst merkwürdig.. Entschuldige mich eben kurz, ja?”, Carol verließ den Raum. 

Nach einer kurzen Ewigkeit kam sie wieder herein. 
“Du brauchst einen Beweis, nicht war?”, fragte sie. Ich sah ihr an, dass etwas nicht stimmte. Warum war das alles für sie so merkwürdig?
“Ja, den bräuchte ich wirklich”, antwortete ich. 
Carol drehte mir den Rücken zu und öffnete von hinten ihre Bluse. Sollte das jetzt ein Striptease werden? Ich wurde nervöser als ich es eh schon war. Doch dann sah ich etwas, was mir den Atem verschlug. Flügel. Schimmernde, weiße, große Flügel falteten sich auseinander. 
“Was ist hier los?”, fragte ich panisch. Schweißperlen liefen mir die Stirn hinunter. 
“Was hier los ist? Du bist im Himmel, liebe Ruth. Du bist gestorben und sollst nun dein Leben weiter führen. Der erste Schritt ist dabei ein Job. Den sollst du jetzt bekommen. Es gab einige Schwierigkeiten bei deiner Reise, doch das soll nicht deine Sorge sein. Der DNA - Prozessor wird deine Fähigkeiten erkennen, und dir deinen Job geben.”
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich musste wohl ihren Anweisungen folgen, denn eine andere Wahl gab es nicht. 
“Hier, der Prozessor. Leg deine Hand auf den  Bildschirm und lass sie dort liegen”, befahl sie mir. 
Der Prozessor war ein kleines Gerät. Ungefähr so groß wie ein iPad mini. Ich legte meine Hand auf den Bildschirm und sofort fing er an zu vibrieren und zu leuchten. Ich erschrak, doch die Hand lies sich nicht wegnehmen. 
In einer unleserlichen Schrift erschien nun ein Text. “Das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid, Liebes. Dein Beruf. Du bist von nun an unser Amor”, sagte Carol leise zu mir. 
Amor? Das war lächerlich. Amor war ein Märchen. Ein kleiner Kerl, meistens als ein Kleinkind dargestellt, der Pfeile auf zwei Menschen abschoss, die sie dazu brachten, sie zu verlieben. 
“Niemals bin ich Amor. Das ist ein albernes Märchen und Sie erklären mir jetzt bitte, was sie wirklich wollen!”, ich war völlig empört. 
Doch Carol beachtete mich gar nicht, sondern fing an mir zu erklären, was dieser “Beruf” war. “Amor zu sein, ist ein schreckliches Schicksal. Ich denke, du solltest wissen, dass deine Vorgänger allesamt verstorben sind. Stirbt man im Himmel, gibt es kein weiteres Leben mehr. Man ist endgültig ausgelöscht. Die meisten von ihnen starben durch Einsamkeit, doch ein weiterer Großteil starb an Fehlern. Die Menschen haben sich mit der Zeit verändert, Ruth. Wahre und lang anhaltende Liebe gibt es kaum mehr. Ein Amor, also auch du, hat 10 Lebenspunkte. Trennt sich ein von dir verkuppeltes Paar, verlierst du einen Punkt. In den alten Zeiten war Amor zu sein eines der beliebtesten Berufe im Himmel. Man konnte Menschen verlieben lassen. Doch heutzutage sterben sie. 
Es gibt einen weiteren Nachteil als Amor, die zur zweit häufigsten Todesursache führt. Du kannst dich nicht verlieben. Weder in einen Bewohner des Himmels noch in einen Bewohner der Erde. So starben viele deiner Vorgänger an Einsamkeit. Sie wollten sich verlieben, doch ihr Beruf machte es ihnen nicht möglich”, Carol atmete tief ein. 
“War’s das? Darf ich jetzt wieder nach Hause? Das Psycho Gelaber geht mir auf den Geist”, rief ich. 
“Beruhige dich, Ruth. Ich werde dich nun in dein Wohnhaus schicken. Deine Mitbewohner erwarten dich schon, und sie werden dir sicher ein paar deiner Fragen beantworten”, redete Carol mit beruhigender Stimme auf mich ein. 
Sie umarmte mich herzlich und lächelte noch ein mal leicht, dann verschwand sie. Nein, ich verschwand. “Ruth, du scheinst ein liebes Mädchen zu sein. Vergiss das nicht”, hörte ich Carol sagen, dann war ich auch schon im dritten Raum für heute.

Wings. It's not like heaven.

Ich hörte ein Rascheln und drehte mich in die Richtung, wo es her gekommen war. Ich traute meinen Augen kaum, als ich im Spiegel des Raumes Flügel sah. Es waren meine Flügel. ich vermutete, dass dies auch mein Zimmer war. Mein Zimmer des Wohnhauses. Das Ganze war noch etwas ungewöhnlich und unglaubwürdig. Mein Job sollte nach den Worten von Carol zu urteilen, ziemlich gefährlich sein. Ich sollte kein Jahr leben, hieß es. Kaum war ich einmal gestorben, sollte ich erneut sterben? Und diesmal für immer? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich sah an mir hinab. Ich trug ein leichtes, weißes Abendkleid. Es war wunderschön und meine Haaren waren es ebenfalls. Sie waren wie aus Zauberhand gereichtet und frisiert worden.
Ich sah aus wie Cinderella auf dem Weg zum Ball. Nur das meine Haare und Augen braun waren. Die Stubsnase machte mein Gesicht etwas kindlich, doch die schmalen Augen glichen es aus.
Ich war nie hässlich gewesen, doch ich hatte mich auch noch nie hübsch gefunden. Doch als ich erneut in den Spiegel sah, wunderte ich mich über meine Schönheit. Ich war eben doch Amor.
“Hey, Mädchen! Du! Komm raus da!”, rief eine weibliche Stimme, und zwei weitere lachten.
Ich trat zur Tür und öffnete sie.
“Heilige Scheiße!”, rief ein Junge aus und betrachtete mich von oben bis unten ungläubig. “Man, da ist jemand aber hübsch.”
“Einer der Vorteile, wenn man Amor ist”, sagte ein Mädchen und lächelte.
“Lucy, hör auf sie daran zu erinnern. Die arme hat kein langes Leben mehr vor sich. Das tut mir leid”, sagte das zweite Mädchen.
“Ähm, kommt doch rein”, sagte ich. Ich wusste nicht, wie man sich im Himmel verhielt, doch auf der Erde gilt so etwas als höflich.
Die drei kamen ins Zimmer gestürmt und kuschelten sich auf die Coach.
Ich setzte mich auf einen Sessel direkt vor ihnen. Ich betrachtete die drei für einen kurzen Augenblick.
Sie alle waren ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Der Junge, der mich so hübsch fand, sah auch nicht schlecht aus. Doch nach seinen Gesten und Klamotten zu urteilen, war er höchstwahrscheinlich schwul. Das machte ihn noch viel sympatischer. Er hatte ein enges Hemd an, dass mit einem Karomuster besetzt war. Er trug eine dieser Nerdbrillen und hatte für meinen Geschmack seine blonden Haare viel zu altmodisch gestylt. Aber wer weiß, wie lange er schon tot war.
Das erste Mädchen, was Lucy hieß, hatte pechschwarze Haare. Sie hatte etwas braune Haut, wie nach drei Tagen Urlaub in Spanien. Sie wirkte sehr offen und freundlich. Hyperaktiv vielleicht, aber ganz so gut konnte ich sie noch nicht einschätzen.
Wie bei jedem Menschen, der schwarze Haare hat, hatte sie auch braune Augen. Es war ein sehr dunkles Braun, doch es stand ihr gut. Die Klamotten waren schön, dich nicht besonders. Sie sah aus, als wäre sie mitten auf der Straße gestorben, und hatte ihre Klamotten anbehalten. Alltagsklamotten eben.
Das zweite Mädchen hatte braune Haare. Genau wie meine waren sie haselnussbraun. Ihre Augen hatten ein helleres Braun als meine und ihre Gesichtszüge waren auch härter. Sie sah erwachsener aus, als sie es war.
“Wie unhöflich von uns! Wir haben ganz vergessen, uns vorzustellen. Ich bin Heath. Ein etwas zu männlicher Name, dafür, dass ich schwul bin, finde ich. Ich bin bin 18 Jahre alt und bin in einer Schlägerei ums Leben gekommen”, erzählte der Junge.
“Ich bin Lucy, und 16 Jahre alt. Ich bin manchmal etwas nervig und zu aufgedreht, aber das verzeihen mir die meisten Menschen schnell. Ich bin durch einen Hausbrand gestorben”, berichtete das erste Mädchen.
“Ich bin Chloe. Ich bin im Alter von 19 durch einen Mord ums Leben gekommen und bin seitdem auch nicht mehr gealtert”, berichtete Chloe.
“Wir alle sind aus den 80’ern. Aber denke bloß nicht, wir wüssten nichts über die heutige Zeit!”, sagte Heath.
“A - also ich bin Ruth und noch etwas nervös, was das hier angeht. Ich bin 17 Jahre alt. Der Grund, warum ich nicht mehr auf der Erde lebe, ist unklar. Bei meiner Reise lief etwas schief, also weiß ich kaum etwas über ‘Spiraculum Mortuos’”, sagte ich.
“Du bist außergewöhnlich, Ruth”, sagte Chloe.
“Du bist also Amor, ja?”, fragte Lucy.
“Genau. Was habt ihr so für einen Beruf?”, antwortete ich.
“Ob du’s glaubst oder nicht. Ich bin Bäckerin”, sagte Lucy lachend.
“Modedesigner. Etwas offensichtlich für einen Schwulen, nicht wahr?”, sagte Heath und lächelte etwas traurig.
“Persönliche Begleiterin”, sagte Chloe. 
“Diesen Begriff musst du mir genauer erklären”, sagte ich.
“Naja, ich führe die Neulinge in das Wartezimmer zu Carol. Ich erkläre ihnen, wie das weitere Leben ungefähr aussehen wird.”
“Das ist bestimmt interessant, oder?”, fragte ich. Das Ganze begann, mich zu interessieren.
“Nein, es ist langweilig. Jedes Mal das selbe erzählen. Jedes Mal dieselben Reaktionen, die selben Fragen”, seufzte Chloe.
“Daran hatte ich nicht gedacht.”
“Daran denkt niemand.”
“Tut mir leid.”
“Nein, das braucht es nicht”, Chloe lächelte.

Ein Umschlag flog durch die Tür. Einfach durch.
“Ah, Post für dich!”, rief Lucy und hob den Umschlag auf.
Ich nahm ihn dankend entgegen, öffnete ihn und las den Text. 

What have I done to deserve this?

“Liebe Ruth.  Hier deine Anweisungen für den Beruf “Amor”. Dein Arbeitstag beginnt jetzt und endet, wenn du nicht mehr imstande bist, diesen Job zu führen. Kurz gesagt: Wenn du tot bist.  Als Amor kannst du nicht schlafen, siehst wunderschön aus, kannst fliegen und besitzt die Macht der Liebe. Gebrauche sie weise.  Es ist ganz einfach. Du musst einschätzen, ob zwei Menschen für einander geschaffen sind. Wenn sie es sind, schießt du den Pfeil erst auf die Frau. Dann auf den Mann. Das muss so schnell wie möglich geschehen. Wenn sie bis in den Tod zusammen bleiben, gewinnst du einen Lebenspunkt. Trennen sie sich, verlierst du einen.  Deine Pfeile befinden sich in deinem Wandschrank. Sie sind nicht tödlich. Benutze sie nicht aus Gründen der Langeweile oder der Freude. Überlege gut, bevor du einen der Pfeile abschießt.  An das Üben vom Schießen musst du nicht denken. Du kannst es. Du bist Amor.  Viel Glück,  Carol.” Sollte das ein Witz sein? “Viel Glück?” Ja, das hatte ich wohl nötig. Meine Lebenserwartung betrug nicht einmal ein Jahr. Ich hatte 10 Lebenspunkte, die sehr schnell flöten gingen.  Ich beschloss die restliche Zeit, die mir blieb, zu genießen. Zeit hatte ich kaum, doch die Nächte blieben mir auch noch. Ich konnte also nicht schlafen. Super.  “Ruth, wir müssen gehen. Dein Arbeitstag hat soeben begonnen. Tut uns leid”, sagte Chloe leise. Meine neuen Freunde verließen mein Zimmer.  Ich lief zu dem schmalen Wandschrank an der linken Zimmerwand und öffnete ihn. Dort befanden sich tatsächlich die Pfeile und der Bogen. Er war groß und schmal. Er musste neu sein. Die Pfeile sahen sehr spitz und tödlich aus. Doch durch den Brief wusste ich, dass sie es nicht waren. Sie befanden sich in einem Kescher, der relativ komfortabel war. Leicht und gerade so groß, dass die hundert Pfeile reinpassten. “Bonam fortunam” war in den gold schimmernden Bogen eingraviert.  Ich sollte mich wohl auf den Weg machen. Nur wohin sollte ich gehen? Plötzlich leuchteten auf dem Boden Pfeile auf. “Na klar”, dachte ich mir und fand das Ganze noch viel merkwürdiger. Ich lief den Pfeilen nach, durch meine Tür und weiter auf einer Straße, die auf einer weichen Wolke lag, bis dorthin, wo die Wolke endete. Ich guckte dem Abgrund entgegen. Ich sah die Erde. Klein lag sie dort. Die leuchtenden Pfeile hoben sich aus dem Boden und sprangen von der Kante.  Ich spreizte meine Flügel. Das war ein Instinkt, ich musste es nicht lernen. Nun schwebte ich einen halben Meter über dem Boden. Meine Flügel schwungen langsam und synchron an meinen Schulterblättern. Das rauschen, dass sie durch den Wind von sich gaben, beruhigte mich. Ich schloss die Augen und sprang. Es war unglaublich. Meine Flügel hinderten mich daran mit Höchstgeschwindigkeit zur Erde zu fallen. Sie hielten mich auf und ich flog langsam aber sicher der Erde zu. Meine Augen hatte ich schon längst geöffnet, als ich mitten auf einem Marktplatz landete. Ich kam sanft auf dem Boden an und meine Flügel lies ich auf meinem Rücken verschwinden.  Durch den Trubel vermutete ich, dass es Sonntag war. Wie sollte ich aber erkennen, dass zwei Menschen für einander geschaffen sind?  Ich machte mir in Gedanken Notizen: Ich hatte 17 Jahre auf dieser Erde gelebt. Ich wusste, wie die Menschen tickten. Erwachsene schienen Beziehungen weitaus ernster zu nehmen als Jugendliche. Sie sollten nicht abhängig von Alkohol oder Drogen sein. Arbeit sollten sie auch haben.  Also hielt ich Ausschau nach Menschen mittleren Alters. Hier waren viele zu finden, da es Markttag war und Teenager eher auf Shopping aus waren und nicht auf Käse.  Am Gemüsestand entdeckte ich eine Frau, ungefähr 30 und ohne einen Ehering. Ich ging dicht an sie heran und bemerkte einen Zettel. Ein kleiner Zettel wie an Klamotten im Geschäft. An einer kleinen Schnur an der Jacke befestigt. An ihrer Kleidung konnte ich vestellen, dass sie beschäftigte Anwältin war. Im ersten Moment dachte ich, sie hätte einfach nur vergessen das Preisschild abzuschneiden, doch dann las ich die Aufschrift: “Ledig und Partner suchend”.  Ich hatte meinen ersten Kunden gefunden. Fehlte nur noch der Mann.  Ich fand ihn nur wenige Minuten später am Käsestand. “Ledig und Partnerin suchend” stand auf seinem Zettel. “Na, wunderbar!”, dachte ich und ging ein paar Schritte zurück. Ich legte einen Pfeil an und schoss  ihn auf die Frau. Sie zuckte kurz, dann bezahlte sie ihren Salat. Der Mann zuckte gar nicht, sondern setzte einfach seinen Weg in Richtung Rathaus fort, als ich meinen zweiten Pfeil abschoss.

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2013

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