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Sie muss fliehen.

Es war bereits seit einigen Stunden dunkel draußen. Die Sonne war vor einer halben Ewigkeit vollkommen hinter dem Horizont verschwunden und hatte die Welt in Finsternis getaucht. Einzelne Laternen beleuchteten kleine Stellen der noch kleineren Stadt, während andere Ecken von der Dunkelheit verschluckt wurden. In einer dieser Ecken stand eine junge Frau. Sie hatte ihre Hände wie eine Höhle vor ihrem Mund verschränkt. Wärmte ihre eingefrorenen Finger mit ihrem warmen Atem, der kleine, weiße Wolken in der eisigen Nachtluft hinterließ. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auf den Weg nach Hause machen musste. Ihre Beine schlotterten bei jedem Windzug und auch sonst fiel es ihr schwer lautlos und unbemerkt zu bleiben. Sie fror unerträglich und sie hatte Hunger. Großen Hunger. Der Geruch von frischem Brot und Pfefferminztee hatte sich in der Niesche in der sie kauerte festgesetzt und machte es ihr noch schwerer. Sie wusste, dass es nicht sehr wahrscheinlich war, dass sie heute noch etwas zu Essen in die Finger kriegen würde, aber sie wollte auch nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Der Blick ihres kleinen Bruders hatte sich in ihren Gedanken eingebrannt und war unmöglich zu vertreiben.

 

Als sie gegangen war, hatte er auf einem der morschen Holzstühle in der kleinen Küche gesessen, die schmutzig und ungemütlich war. Er hatte glasige Augen gehabt und er war ängstlich gewesen.

 

»Du musst wiederkommen, ja?«, hatte er gefragt, während er mit seinen kleinen, kindlichen Händen seinen alten Pullover umklammerte. Er sah dünn aus. Ungesund. Fast verhungert und ihr tat es in der Seele weh ihn so zu sehen. Den Menschen, den sie wohl als einziges auf dieser Welt bedingungslos lieben konnte.

 

»Glaubst du, ich würde dich alleine lassen?« Die junge Frau hatte sich vor ihn auf den Boden gekniet und ihm tief in die grünen Augen gesehen. Sie wirkten zu groß für sein mageres Gesicht, hellten jedoch sofort auf, als er die Worte seiner großen Schwester wahr nahm. Es lag ein stilles Versprechen in diesem Satz und das wusste er, trotz dass er noch ein so kleines Kind war.

 

Sie hatte sich zu einem Lächeln gezwungen. »Das glaubst du doch nicht, oder Jesse?«

 

Für einen Moment ließ sie es zu, dass ihr Gehin das hohe, glockenhelle Lächeln noch einmal abspielte, ehe sie die Mauer in ihrem Kopf wieder hochzog und die Gefühle, die sie antreiben würden nach Hause zu gehen, verbannte. Sie musste ihm zumindest etwas Brot oder ein bisschen Gemüse besorgen. Etwas kleines was zumindest den Hunger stillen und ihr Zeit verschaffen würde am nächsten Tag weiter nach Nahrung zu suchen. Sie hatte sich geschworen, dass sie das Überleben von sich selbst und Jesse sichern würde. Und sie würde, so viel stand fest.

Vorsichtig trat sie einen Schritt nach vorne und wagte einen Blick um die Ecke. Es war niemand draußen, was wahrscheinlich an der Kälte und der Dunkelheit lag, aber sie konnte sich nicht sicher sein, dass nicht blitzschnell jemand in der Gasse auftauchte und sie festnahm. Sie wohnte außerhalb der kleinen Stadt, in einem verlassenen Dorf, was ausschließlich aus Ruinen bestand und es war ihr nicht erlaubt hier zu sein. Schon gar nicht in der Nacht und schon gar nicht unter dem Vorwand Essen zu stehlen. Zwar würde sie das nie zugeben, wenn man sie einmal erwischen würde, aber ihr dünner Körper und die zerschlissene Kleidung würden sie verraten. So sah niemand von hier aus. Hier waren sie zwar nicht reich, aber sie konnten überleben und sie hatten sogar noch Geld um sich ein wenig Luxus zu leisten. Sie hatten warmes, fließendes Wasser und was vernünftiges zu Essen. Keine Sorgen, dass jemand verhungerte. Keine Sorgen, dass jemand erkrankte und an den Folgen dessen starb, was man ohne Medikamente nicht kurieren konnte. Diese Stadt war zwar winzig, aber sie hatte zumindest einen Namen, den man auch außerhalb kannte. Das, was einmal ein Dorf gewesen war und nun nur noch aus Schutt und Asche bestand und in dem sie, ihr kleiner Bruder und noch einige andere Familien lebten, hatte nicht einmal das. Die Schilder, die ihnen einen Hinweis geben konnten, was genau damals einmal hier gelegen hatte waren entweder verbrannt oder sie waren unlesbar. Die anderen wenigen Menschen, die in den Ruinen lebten, hatten alles genauso vorgefunden und wussten auch nicht wie es vorher ausgesehen hatte. Die einzigen, die einem Auskunft geben könnten, wohnten in der Stadt und deren Hilfe konnte man nicht einmal bei so etwas gebrauchen.

Im Grunde genommen ging es aber auch gar nicht um den Namen des Dorfes, sondern viel mehr darum, dass sie alle kein Zuhause hatten. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, oder auch nicht. Sie hatten einen kleinen See, durch den sie sich mit Wasser versorgen konnten. Und sie hatten immer ihre Ruhe, aber sie hatten kein Zuhause. Im Vordergrund stand der Hunger und die Angst.

 

Ein heftiger Windstoß riss sie schließlich aus ihren Gedanken und holte sie zurück in die kalte Wirklichkeit. Sie stand immer noch in der Mitte der Gasse, lauschte in die Dunkelheit und wagte es nicht sich schon zu rühren. Einige Minuten verstrichen, ehe sie erleichtert ausatmete und weiter huschte. Es fühlte sich gut an die eingefrorenen Gliedmaßen zu bewegen und auch wenn sie sich in Gefahr brachte, fühlte sie sich auch ums Herz um einiges leichter. Umso weiter sie in die Stadt kam, umso wahrscheinlicher wurde es, dass sie etwas essbares finden würde. Mit geschärften Sinnen bewegte sie sich an den immer dichterbebauten Straßen entlang. Die Häuse sahen hier noch teurer und neuer aus als um die Gasse herum, in der sie den halben Abend verbracht hatte. Es wuchs trotz der Kälte dichter Efeu an den Wänden entlang und einige, die offensichtlich auch im Winter nicht auf die Fensterdekorationen verzichten wollten, hatten ihre Blumenkästen mit Kunstblumen geschmückt. Es sah schön aus, aber dennoch ekelte es sie an. Hier gaben sie Geld für etwas belangloses wie Kunstblumen aus, während sie ihrem Bruder beim verhungern zusehen musste. Sie suchte sich eines der Häuser aus, in denen nur wenig Licht brannte, schlich darum herum und fand sich schließlich in einem kleinen Garten wieder. Sie seufzte verzweifelt. Einige Blumen, Unkraut... Sonst nichts. Sie hatte gehofft, dass es irgendwas gab, was sie zumindest zu etwas essbarem machen konnte, aber das hier sah nicht danach aus. Dennoch, sie fühlte sich ausgelaugt und Jesse war schon zu lange alleine. Wenn sie den Rückweg noch mit einrechnete, dann würde sie frühestens in wenigen Stunden das kleine Haus erreichen. Und sie müsste am nächsten Tag wieder los. Bis dahin war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der kleine Körper ihres Bruders zu geschwächt war, um ihn alleine zu lassen. Sie musste etwas finden.

 

Mit einem Finger fuhr sie über das einzige Schmuckstück was sie besaß. Es hing um ihren schmalen Hals. Eine silberne Kette und am Ende davon ein kleines, rundes Medallion, was zerkratzt und ausgeblichen war. Es war wertlos für andere, aber für sie unbezahlbar. Einst wurde diese Kette von ihrer Mutter getragen. Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt. Ein kleiner Beweis für die Liebe ihrer Eltern. Sie waren beide an den Folgen des Hungers, der Unreinheit und der Kälte gestorben. Ihr Bruder war noch ein Baby gewesen, gerade so alt, dass sie ihn ohne ihre Mutter durchbringen konnte. Noch immer konnte sie die Stimme von ihr hören, ihre liebevollen geflüsterten Worte, die ihr immer die Angst genommen hatten. Der Klang und die unendliche Liebe in ihrem Tonfall, wenn sie den Namen der jungen Frau aussprach... Peyton.

 

Die junge Frau seufzte geräuschlos, verscheuchte auch diese Gedanken an unbeschwertere Tage und sah sich erneut um. An der Seite des Hauses an der sie stand waren keine Fenster. Es führte nur eine kleine Treppe nach unten zu einer spärlichen Tür, die nicht besonders sicher aussah. Gegen jede Vernunft huschte sie nach unten und drückte vorsichtig die Klinke nach unten. Zu ihrer Überraschung schnappte die Tür auf und gab den Blick in das Innere eines dunklen Kellers frei. Die einzige Lichtquelle war der Schein einer Petroleumlampe und selbst die schenkte ihr nur wenig Sicht. Sie tappte wortwörtlich im Dunkeln.. Aber es war eine Chance. Einen Moment blieb sie auf der Stelle stehen, lauschte den leisen Schritten im oberen Stockwerk, wärmte ihren unterkühlten Körper. Dann trat sie nach vorne, tastete sich nach weiter. Als ihre Finger einen geflochtenen Korb anstupsten, blieb sie stehen. Sie hob den Deckel leicht nach oben und griff mit ihrer freien Hand herein. Wirklich sicher war sie sich nicht, aber es fühlte sich so an, als hätte sie etwas gefunden. Die Oberfläche der kleinen Päckchen war glatt, aber es roch leicht nach Zimt und Apfel. Vielleicht war es auch nur der Hunger, der sie das denken ließ, aber sie stopfte dennoch etwas in ihren kleinen Beutel. Ebenso nahm sie etwas aus den anderen Kisten und Körben, bis all ihre Taschen gefüllt waren und drehte sich um. Sie wollte gerade zur Tür zurück, als aus dem Nichts ein weiterer Lichtstrahl auftauchte. Dieser kam aus der Ecke aus der sie gekommen war und leuchtete ihr direkt ins Gesicht. Jemand hatte sie erwischt und würde sie nicht einfach so gehen lassen.

 

Sie musste fliehen.

Jesse würde verhungern, wenn sie es nicht tat und auch für sie würde eine Verhaftung kein gutes Ende nehmen, bei den vollen Taschen mit Essen was ihr nicht gehörte.

 

»Was haben wir denn da?«, fragte eine männliche, tiefe Stimme.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hab nicht vor dir was zu tun.

Es war schon eine merkwürdige Sache mit der Zeit. Wenn man auf etwas wartete und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass es endlich kam, dann verstrichen die Sekunden so quälend langsam, dass es einem weh tun konnte. Und wenn man wollte, dass etwas schnell zu Ende ging, dann rannte sie an einem vorbei und hinterließ nur ein taubes Gefühl. Peyton fröstelte und sah weiter gebannt in den Schein der Taschenlampe, die auf sie gerichtet war. Das grelle Licht brannte in ihren Augen, aber sie wagte es nicht wegzusehen. Innerlich tobte in ihr ein Krieg. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie sich so dermaßen in Gefahr gebracht hatte, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass es die einzige Möglichkeit gewesen war um auch nur irgendwie an Essen zu kommen und Jesse zu versorgen.

 

Jesse.

Bei dem Gedanken an ihn zog sich ihr Herz zusammen. Die Angst um ihr eigenes Leben war nichts im Vergleich zu dem, was sie nun empfand. Er war so klein, so sanft.. Er durfte nicht für einen Fehler bezahlen, den er nicht begangen hatte. Und er sollte nicht sterben. Auf gar keinen Fall durfte dieser kleine Junge sterben. Er hatte schon zu viel überwunden, dass es ihr falsch vorkam, wenn er wegen ihres Fehlers nun gehen würde.

 

»Geht es dir gut?«

 

Die Frage überraschte sie. Ungläubig zog sie die Augenbrauen zusammen und konzentrierte sich angestrengt auf die Dunkelheit. Nach einigen weiteren Augenblicken hatten sich ihre Augen so sehr an die Lichtumstände gewöhnt, dass sie einen Blick auf den Mann werfen konnte, der sie wohlmöglich in den Tod treiben würde. Oder? Er hatte sie eben gefragt wie es ihr ging. Tat man sowas, wenn man vor hatte einen umzubringen oder zu foltern?

 

Vorsichtig schüttelte Peyton den Kopf, wagte es jedoch nicht zu sprechen.

 

Immer noch fixierte der Mann, oder sollte sie besser sagen, der Junge, sie. Selbst in der Dunkelheit konnte sie seine blauen Augen funkeln sehen. Sie fesselten für einen Moment ihren Blick, ehe sie wegsah und sich mit einer Hand durch ihre zersausten, feuerroten Haare fuhr. Schweigen, dann kleine Schritte. Die Augen kamen näher. Peyton wich einen Schritt zurück.

 

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« Die weiche Stimme ihres Gegenübers machte es nicht besser. Die gewohnten Geschichten über Folter und Morde passten nicht dazu. Und schon gar nicht zu seinen freundlichen Worten, die sie überraschenderweise glaubte.

 

»Sondern?«, fragte sie in einem Anflug von Hoffnung.

 

»Ich hab nicht vor dir was zu tun.«, sagte er leise.

 

»Sondern?« Verwundert legte die junge Frau den Kopf schief. Sie sah auf und blickte in die blauen Augen, die nun nur noch wenige Meter von ihr entfernt standen. Sie war sich sicher, dass sie ihn berühren könnte, wenn sie ihre Hand nach ihm ausstreckte.

 

Der Unbekannte schmunzelte. »Eigentlich bin ich nur hier unten um Brot zu holen.«, antwortete er amüsiert, während er noch einen Schritt auf Peyton zuging und in den Korb direkt neben ihr griff. »Ich bin überrascht, dass ich jemanden hier finde. Normalerweise hab ich nur Gesellschaft von Spinnen und vielleicht mal einer Ratte.«

 

Peyton wusste nicht ob sie ihn auslachen oder einfach an ihm vorbeirrennen sollte. Er schien ihr wirklich nichts tun zu wollen, aber wenn doch? Wenn er nur Zeit schinden wollte, bis sich jemand wunderte, wo er so lange blieb und schließlich noch jemand in den Keller kam? Sie musste hier weg und sie musste so schnell wie möglich zu Jesse. Mit einem großen Satz war sie an der Tür, riss sie auf und rannte los. Selbst als ihre Lungen schon brannten und es sich anfühlte, als würde ihr Brustkorb zerbersten verlangsamte sie ihr Tempo nicht. Erst als das kleine Dorf in Sichtweite kam verfiel sie in einen leichten Gang. Sie verwischte ihre Spuren hinter sich, so gut es ging und zog schließlich die morsche Tür auf, die in den großen Raum führte, was sie unnötigerweise ihr Haus nannte. Die Möbel waren alle alt und kaputt, aber sie reichten aus für die beiden. Ein weiteres Zimmer, die kleine Küche, war in einem besseren Zustand, aber sie war zu klein um sich gänzlich darin aufzuhalten. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, bis sie ihn schließlich entdeckte. Jesse lag ausgestreckt auf der dünnen Matratze und atmete gleichmäßig. Normalerweise würde sie ihn nicht wecken, aber sein Zustand war schlecht gewesen, als sie gegangen war und sie war sich unsicher wie schlecht. Sie wollte nicht riskieren, dass er wie ihre Mutter eines Morgens nicht mehr aufwachte. Sie wollte nicht ganz alleine sein, ohne jemanden der sie am Leben hielt.

 

»Jesse?« Die Rothaarige ließ sich neben den Jungen auf die Matratze fallen. Mit einer Hand strich sie ihm die schwarzen Locken aus der Stirn, während sie mit der anderen eine ihrer vollen Taschen öffnete. »Guck mal, ich hab uns was fürs Abendbrot mitgebracht.«

 

Augenblicklich flatterten die kleinen Lider. Jesse schlug die Augen auf und brauchte eine Menge Anstrengung um sich aufzusetzen. Sein kleiner, ausgemagerter Körper hatte kaum noch Kraft. Dennoch, sie reichte aus um das kleine Gebäck, was wirklich nach Zimt und Apfel roch in die Hand zu nehmen und die Zähne darin zu vergraben. Hätte er nicht tagelang gehungert, hätte sie ihn wahrscheinlich ermahnt nicht so zu schlingen, aber sie selbst war ihm in diesem Moment kein gutes Vorbild. Zwar war es wichtig, dass sie sich das Essen einteilten, damit sie so schnell nicht wieder los musste, aber sie verschlang trotzdem noch einen weiteren Apfel und etwas Brot. Als sie gegessen und ausgiebig getrunken hatten, konnte sie auf den Wangen ihres Bruder etwas Farbe erkennen, weswegen sie ihm beruhigt beim einschlafen zusehen konnte. Es dämmerte bereits, als er tief schlief und sie nutzte den Moment um nach draußen zu gehen. Sonnenuntergänge waren für sie immer ein kleines bisschen Hoffnung, gerade wenn sie sich für einige Stunden keine Sorgen um Jesse machen musste. Ein Tag war zu Ende gegangen und ein neuer würde kommen. Wenn sie sich dessen sicher war, dann konnte man fast sagen, dass sie glücklich war. Wenigstens für diesen Moment.

 

 

                                             ******

 

John Hemilton beobachtete einen Vogel aus den Augenwinkeln, während er die Mistgabel zum abertausendsten Mal in dem schmutzigen Stroh versank. Es kam ihm so vor, als würde er seit Tagen nichts anderes machen und langsam aber sicher verlor er buchstäblich den Verstand. In seinem Kopf dröhnte es bereits, was ihn nicht davon abhielt, laut fluchend mit seinem Werkzeug gegen die Holzwand der kleinen Box zu schlagen. Der Lärm den er dabei verursachte brachte es allerdings auch nicht fertig seine trüben Gedanken zu vertreiben und während er so da stand, dem immer leiser werdenden Geräusch lauschte, kam ihm seine Tätigkeit noch sinnloser vor, als ohnehin schon. Er war so wenig bei der Sache, dass man ihn genauso gut von der Arbeit befreien könnte. Jeder andere würde doppelt so schnell vorran kommen. Würde den Besitzer des Hofes doppelt so schnell zufrieden stellen.

 

»John, was ist hier drinnen los?« Wie aufs Stichwort kam einer der anderen Arbeiter in den Stall und beäugte den Dunkelhaarigen skeptisch. Dieser stand immer noch mit erhobener Mistkabel da, die Lippen zu einer strengen Linie zusammen gepresst.

 

»Jaja, alles in Butter.«, murmelte John genervt. Er lehnte den Holzstab gegen die Wand und krempelte den Ärmel seines Hemdes nach oben, während die Muskeln in seinen Armen sich antspannten. »Würdest du das hier für mich fertig machen? Ich hab noch was dringendes zu erledigen.«

 

Sein Gegenüber verzog das Gesicht zu einer mürrischen Grimasse. »Kannst du das nicht nach der Arbeit immer noch erledigen?«

 

»Ich fürchte nicht, nein.« John schüttelte den Kopf, strich sich eine Strähne seiner braunen Haare aus dem Gesicht und legte seinem Kollegen eine Hand auf die Schulter. »Bitte, Glen. Du hast was gut bei mir.« Es war das erste Mal, dass er jemanden von hier persönlich mit Namen ansprach und es hinterließ einen merkwürdigen Beigeschmack auf seiner trockenen Zunge. Er ignorierte diese Tatsache, wohl wissend, dass seine neugewonnene Erfahrung, Wirkung zeigte.

 

Glen seufzte ergeben und griff nach der Mistgabel. »Na schön, aber wag es nicht mir einen Gefallen auszuschlagen, wenn ich mal einen habe.«

 

»Das würde mir niemals einfallen.« Der junge Mann grinste triumphierend. Zwar ging ihm kurz der Gedanke durch den Kopf, dass dieser Gefallen wohlmöglich ziemlich zu seinem Nachteil ausfallen würde, aber darauf achtete er nicht. Was konnte Glen schon schlimmes im Sinn haben? Er war ein netter Kerl, wenn auch zu gutgläubig und zu schmächtig für die Arbeit auf einem solch großen Hof.

 

John schlenderte über das Grundstück, vorbei an den endlosen Weiden und den unzähligen Ställen, bis er schließlich an dem großen Metalltor ankam, was den Hof sehr wirkungsvoll vor Dieben schützte. Es war nicht verschlossen, aber dennoch schwer zu öffnen. Quietschend schwang es schließlich auf. Es war ein schöner Tag. Die ersten Sonnenstrahlen in diesem Frühling schienen durch die Zweige der dichten Bäume und hinterließen ein gitterförmiges Muster auf dem Schotterweg. John summte leise vor sich hin, kickte hier und da einen Stein nach vorne und genoss die Wärme auf seinen nackten Unterarmen. Frühling war für ihn immer schon die schönste Jahreszeit gewesen. Es war für ihn ein schönes Gefühl, mit anzusehen, wie das Leben wieder in die Welt zurückkam.

 

Es war kein weiter Weg zu ihm nach Hause in die kleine Stadt. In weniger als einer Stunde hatte er das Haus erreicht, in dessen Garten das Unkraut durch den Frühling hervor gelockt wurde. Schon vor einigen Tagen hatte er sich fest vorgenommen es zu entfernen, aber hatte es dann doch nie gemacht. Zu viel Arbeit hatte er auf dem Hof gehabt.. Zu viele Gedanken hatten seine Sicht auf anderes versperrt. Gedanken über das, was ihn vor einigen Tagen so aus der Bahn geworfen hatte, dass sein Herz immer noch anfing wie wild zu schlagen, wenn er daran dachte. Mit einem Seufzen trat er die kleinen Stufen nach unten und öffnete die Kellertür. Es war nicht der übliche Weg in das kleine Haus, aber er konnte es sich nicht nehmen lassen, zumindest für einen kurzen Moment in dem kleinen Keller zu verharren und auf die Stelle zu starren wo ihn vor einigen Tagen noch diese grünen, wunderschönen Augen zuerst erschrocken und dann misstrauisch angesehen hatten. Das sanfte, dünne Gesicht was von knallroten Haaren umgeben war, war in seinem Kopf immer noch so präsent, dass er immer etwas brauchte um zurück in die Realität zu kommen. Dieses Mädchen hatte ihn und seine Familie beklaut, hatte sich in den Keller geschlichen und sich mitgenommen was sie zu fassen bekam. Sie hatte ein Verbrechen begangen und doch konnte er nicht anders, als einfach nur wütend zu sein, dass sie nicht geblieben war. Sie hatte ihn in ihren Bann gezogen und so sehr er es auch versuchte, es fiel ihm schwer wieder hinaus.

 

»John? Bist du das?«

 

Er zuckte zusammen. Brauchte einen Moment um sich zu sammeln und die Stimme seiner Mutter zu erkennen, die ihm vom oberen Treppenansatz zurief. Natürlich hatte er ihr nicht gesagt, dass er den Einbrecher gesehen hatte, was bei ihr nur eine merkwürdige Angst hinterließ. Sie hatten sofort gemerkt, dass in ihrem Keller jemand gewesen war und so sehr John ihr die Angst nehmen wollte, er konnte es ihr nicht verraten. »Ja, ich bins.«, rief er stattdessen um sie zu beruhigen. Er wandte den Blick von der leeren Ecke ab und ging mit schnellen Schritten die Treppe nach oben.

 

»Ich muss aber gleich nochmal los.« Die Worte waren raus, noch ehe er wirklich darüber nachgedacht hatte. »Schaffst du das hier alles alleine?«

 

Seine Mutter war noch nicht alt, aber der Verlust seines Vaters und die viele Arbeit hatten sich altern lassen. Ihr Gesicht war faltig und eingefallen und ihre dünnen Arme zitterten unter dem Gewicht des Wäschekorbes, den sie auf den Armen hielt. Dennoch, sie war eine liebenswerte Frau. Ein Mensch, den man mögen musste, ganz gleich ob man ihn wirklich kannte. »Natürlich. Das meiste ist sowieso erledigt.«, antwortete sie und strich ihm mit einer Hand kurz über die Wange. »Komm aber nicht zu spät. Du weißt, es ist nicht unbedingt sicher draußen.«

 

Er nickte, wusste jedoch, dass er dieses stille Versprechen wohlmöglich nicht einhalten würde. Er wusste es wahrscheinlich schon die ganze Zeit, aber erst jetzt wurde ihm bewusst, was er eigentlich schon den ganzen Tag im Begriff war zu tun. Er würde das Mädchen suchen.Und er würde sie finden.

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Tag der Veröffentlichung: 04.03.2014

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