15. Kapitel
Miranda hatte kaum geschlafen. Zum einen, weil sie bei jedem Geräusch befürchtete Anthony würde ungefragt in ihr Zimmer kommen um sie zu töten, zum anderen, weil sie es hasste Dinge zu verlieren. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie ihre Kamera und ihre Tasche wiederbekommen sollte ohne auf Anthony zu treffen. Sie hatte beides in der alten Villa bei ihrer Flucht einfach liegen lassen ohne darüber groß nachzudenken. Nun ärgerte sie sich über sich selbst. In der Tasche befand sich schließlich ihr Handy und ihre Geldbörse.
Des weiteren überlegte sie, wie sie Connor kontaktieren konnte. Wenn er sich schon als ihr Beschützer aufspielen wollte, konnte er ihr auch den Gefallen tun und ihre Sachen holen, oder? Sie konnte sie schließlich nicht selbst holen, ohne dabei in Lebensgefahr zu geraten.
Es half alles nichts. Sie war durch den Schlafmangel viel zu müde sich weiterhin den Kopf zu zerbrechen und zu alledem musste sie an diesem Tag auch noch arbeiten. Wenigstens hatte sie nur Früh- und nicht Spätschicht.
Aber machte das überhaupt noch einen Unterschied? Anthony ließ sich ja anscheinend von der Sonne eh nicht aufhalten.
Schlecht gelaunt schwang sie sich aufs Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Es nieselte schon leicht und der Wetterbericht hatte weitere Schauer voraus gesagt. So würde sie wenigstens die Tische und Stühle draußen vorm Schröders nicht abketten müssen. Bei dem Wetter würde sich eh keiner nach draußen setzten.
Beim Schröders angekommen musste Miranda unweigerlich an Connor denken. Sie hatte bevor sie erfahren hatte ,dass er ein Engel ist, geglaubt er würde beim Schröders nebenan wohnen. Schließlich hatte sie ihn dort oft ins oder aus dem Haus kommen sehen. Aber nun war sie schlauer, denn sie wusste dass nicht Connor sondern lediglich sein Schützling dort wohnte. Engel würden sich wohl kaum eine eigene Wohnung mieten.
Moment mal
, dachte Miranda, vielleicht weiß sein Schützling ja wo er steckt? Ich kenn den ja auch vom sehen, vielleicht kann der mir ja weiterhelfen.
Gesagt getan. Es war halb zehn und Miranda musste erst um zehn anfangen, hatte also noch genug Zeit um ihre Idee in die Tat umzusetzen. Sie klingelte an der Haustür und kurz darauf war ein lautes Krachen und Pfeifen und jemand an der Gegensprechanlage zu hören:
„KRCHHCHHZ Ja? Wer ist da?“
„Hier ist Miranda. Ich arbeite nebenan im Schröders. Ich hätte da mal eine kurze Frage: Du kennst doch Connor, oder? Weißt du wo er steckt? Er hat sich länger nicht bei mir gemeldet. Ich dachte vielleicht ist er bei die oder du weißt wo er ist?“
„KRCHHHHZ Äh, keine Ahnung, hab ihn auch seit Samstag Abend nich gesehen. Ich kann dir aber seine Nummer geben, wenn's so wichtig ist...“
„Ja,bitte.“
„KRCHHHHHHTZ Äh Moment ...Ok.... null eins sieben fünf …..“
Schnell speicherte Miranda Connors Nummer in ihrem Handy. In ihren Notfallhandy wohl bemerkt. Es war ein altes hässliches Ding, das gerade einmal zum Nachrichten verschicken und zum telefonieren gut war. Ihr eigentliches Handy lag ja immer noch bei Anthony in der alten Villa.
„Vielen Dank!“
„KRCHHHHZZZ Kein Problem. KRCHHHHHHHHZZT“
Etwas verstört starrte Miranda auf die eingespeicherte Handynummer von Connor.
Engel besitzen Handys?
dachte sie.
Ein komischer Gedanke, aber im Moment war ja sowieso alles komisch. Deshalb ging Miranda nun ins Schröders und schrieb Connor eine SMS:
HALLO CONNOR :) ICH BIN'S MIRANDA. HAB MIR DEINE NUMMER VON STEPHAN GEBEN LASSEN. BRAUCHE DRINGEND DEINE HILFE WEGEN ANTHONY. BITTE MELDE DICH SOBALD DU KANNST BEI MIR. LIEBE GRÜßE MIRANDA
Und senden....
Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass er die Nachricht auch bekommt. Ich hasse es zu Warten.
Es dämmerte bereits. Anthony hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange hatte er geschlafen? Seine letzte Erinnerung was, dass Miranda an der Tür seines Schlafzimmers gestanden und dann die Flucht ergriffen hatte. Wie lange war das jetzt her? Er hatte seit dem nicht gewagt aufzustehen. Irgendetwas quälte ihn und er konnte nicht sagen was es war. Lustlos erhob er sich und ging elegant die Treppe ins Erdgeschoss herunter. Hier lag noch ein leichter Hauch eines ihm wohlbekannten Duftes in der Luft, dem er neugierig folgte.
Er gelangte in ein großes leeres Zimmer das durch eine Verandertür in den verwilderten Garten führte. Gedankenverloren strich er sich durch die kurzen schwarzen Haare und ging auf eine Ecke des Raumes zu. Im halbdunkel konnte er eine kleine, helle Tasche mit Rosenmuster und ein paar kleine, schwarze Absatzschuhe entdecken. Mirandas Duft hing süß an den Sachen als Anthony danach griff. Da er nun einmal neugierig war öffnete er die Tasche und kippte den Inhalt vorsichtig auf den alten Holzboden.
Natürlich waren die üblichen Dinge darin, die eine Frau so braucht: Ihre Geldbörse, ihr Handy, ein Lippenpflegestift der nach Kirschen duftete, ein runder Taschenspiegel, ein Taschenkalender, ein Päckchen Taschentücher und sonstige Kleinigkeiten.
Nichts besonderes. Nichts was erklären würde, warum er sie so interessant fand.
Anthony packte alles wieder ordentlich in die Tasche zurück und legte diese zurück in die Ecke zu den Schuhen. Es war etwas aufgefrischt und die kühle Abendluft drang durch die offene Verandatür. Wäre Anthony ein Mensch gewesen, hätte er wohl gefroren, aber als Vampir machte ihm Kälte nicht das geringste aus, nein, ganz im Gegenteil er fand es sogar recht angenehm.
Er fühlte sich leicht fiebrig und genoss die Abkühlung, wie der leichte Wind über seine nackte Haut strich. Er würde heute Nacht auf die Jagt gehen. Er würde wieder der eiskalte Jäger werden, der er war bevor er dieses seltsame Mädchen getroffen hatte. Die Kälte würde ihm helfen einen klaren Kopf zu bekommen. Und so trat er hinaus in den Garten, fühlte das kühle Gras unter seinen bloßen Füßen bis er plötzlich mit dem Fuß gegen etwas hartes stieß.
Bei näherem Betrachten stellte es sich heraus, dass es sich um eine kleine, silberfarbene Kamera handelte. Anthony hob sie auf und schaltete sie an. Das letzte Bild das mit dieser Kamera geschossen wurde zeigte ihn, wie er halb aufgerichtet im Sonnenschein auf seinem Bett hing.
Natürlich, ich erinnere mich,
fiel es ihm wieder ein, das muss Mirandas Kamera sein. Sie hat mich als sie mich dort in meinem Schlafzimmer entdeckt hatte, fotografiert.
Aus reiner Neugierde schaute er sich auch noch die anderen Fotos an, die auf der Kamera gespeichert waren. Es waren hauptsächlich Fotos mit Miranda als Hauptmotiv. Die neuesten hatte sie hier in der alten Villa aufgenommen. Sie trug das rote Kleid.
Anthony spürte einen Stich im Herzen. Auf diesen Bildern erinnerte sie ihn schmerzlich an eine junge Frau die er einst kannte, bevor er zum Vampir wurde.
Alte, verschüttete Erinnerungen bahnten sich ihren Weg zurück in Anthonys Bewusstsein. Er hatte diese Frau geliebt. Sie war seine Verlobte gewesen, doch kurz vor ihrer Hochzeit war sie unter mysteriösen Umständen verstorben.
Anthony hatte diese schmerzlichen Erinnerungen tief in sich verschlossen gehalten. Bis jetzt.
16. Kapitel
Eineinhalb Wochen vergingen. Connor hatte noch immer nicht geantwortet. Seit der ersten SMS an Connor hatte Miranda ihm noch vier weitere geschickt. Und sie hatte auch mindestens zehn mal versucht ihn anzurufen, aber er war nie an sein Handy gegangen.
Und auch Anthony hatte sich nicht blicken lassen. Vielleicht hatte er nun doch das Interesse verloren? Ein bisschen schmeichelhaft war seine Hartnäckigkeit ja schon gewesen. Auch wenn er sie hatte töten wollen, ein wenig vermisste Miranda ihn nun leider doch. Wer konnte schon von sich behaupten, dass ein attraktiver Vampir hinter ihr her war?
In der vergangenen Zeit hatte Miranda sich viele Gedanken gemacht. Inzwischen kam es ihr sogar so vor als hätte sie sich alles nur eingebildet. Es schien ihr fast so als wäre ihr Leben wieder so wie es war, bevor sie Connor und Anthony begegnet war. Genauso langweilig und eintönig. Und sie kam sich wieder genauso unwichtig vor, wie sonst immer. Die Sache mit den zwei Jungs hatte ihr das Gefühl gegeben, dass sie bemerkt wurde, dass sie jemandem wichtig war. Die Aufmerksamkeit fehlte ihr.
Verdrießlich starrte sie ihr 'Ersatzhandy' an. Die Sache mit Connor ließ ihr keine Ruhe.
Warum meldet er sich nicht? Ich hatte doch geschrieben es sei wichtig!
Es war Freitag Mittag und im Schröders war nicht viel los. Drei Leute wollten Frühstücken, zwei waren nur zum Kaffeetrinken da und der Himmel bezog sich immer weiter, was nichts Gutes verhieß.
Nach der Arbeit wollte sie nochmal zu der alten Villa gehen und schauen, ob ihre Tasche noch dort lag. Wenn sie sich nun die Sache mit Anthony nur eingebildet hatte, lag sie dort vermutlich noch unberührt in einer staubigen Ecke. Ja, das würde sie heute noch machen. Bevor es anfing zu regnen und sie ihre Kamera, die wohl immer noch im nassen Gras vor der Villa lag, endgültig vergessen konnte. Wenn es nicht sowieso zu spät war und das Mistding schon nicht mehr funktionierte.
Dann hatte der CD-Player plötzlich einen Hänger und machte fürchterliche Geräusche, als würde jemand gequält aufschreien. Erschrocken stellte Miranda ihn schnell ab. Kurz darauf kam eine junge Frau zur Tür herein. Sie fiel sofort auf. Allein schon durch ihre Kleidung: Sie trug ein schlichtes, schwarzes Mini-Kleid und dazu passende schwarze Stiefel. Ihre dunklen, langen Haare und ihr heller Teint ließen sie ein wenig wie Schneewittchen wirken. Sie war einfach unverschämt schön. Mit ziemlich elegantem Gang kam sie direkt zum Tresen geschlendert.
„Hallo, du bist Miranda habe ich recht?“
„Äh, ja. Warum?“
„Hy, ich bin Lilly. Connor schickt mich.“ Lilly reichte Miranda zur Begrüßung die Hand.
Ihre Hand ist kühl.
Ein leichter Schauder durchfuhr Miranda bei Lillys Berührung.
Wer ist sie? Warum schickt Connor mir eine Fremde und kommt nicht selbst?
Lilly schien amüsiert.
„Ich bin eine alte Bekannte von Connor. Und er kann aus ganz persönlichen Gründen, die er dir bestimmt gern selbst erläutern möchte, nicht kommen,“ Sagte Lilly und fügte leiser mit einem Zwinkern hinzu, „Und falls du es noch nicht wusstest, wir Engel können Gedankenlesen.“
„Okay,“ war das einzige, was Miranda darauf einfiel.
„Ich soll dich zu ihm bringen. Also pack deine sieben Sachen, wie ihr Menschen das so gern tut, und folge mir.“
„Ich kann hier nicht einfach weg! Ich muss arbeiten und würde meinen Job gern noch ein Weilchen behalten.“
„Oh,“ Lilly schien verwundert, „Okay, wann hast du denn 'Feierabend'“?
„Um siebzehn Uhr.“
„Schön,“ strahlte Lilly, „Dann hol ich dich um siebzehn Uhr ab. Bis nachher dann.“
Ohne Mirandas Antwort abzuwarten rauschte sie von dannen.
Immer noch perplex stand Miranda nun hinterm Tresen und versuchte zu verstehen, was da gerade passiert war.
Kurz vor siebzehn Uhr kam Mirandas Ablösung, ihre Arbeitskollegin Julia. Miranda dachte immer daran, wie lustig der Anblick von ihnen beiden zusammen wohl sein musste: Miranda war eher klein mit braunen Locken und Julia war groß und honigblond.
Fast hätte Miranda es vergessen, doch punkt siebzehn Uhr stand Lilly wieder am Tresen ohne das jemand bemerkt hätte, wie sie den Laden betreten hatte.
Miranda fühlte sich ein wenig unwohl.
„Bist du soweit?“ fragte Lilly fröhlich.
Da sie nicht wusste ob Lilly ein Nein akzeptieren würde nahm Miranda noch schnell ihre Tasche und ging artig zu ihr: „Ja, ich bin soweit.“
Kurz drehte sie sich noch zu Julia um und verabschiedete sich von ihr, dann gingen Lilly und Miranda nach draußen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ergriff Miranda das Wort: „ So, du kennst Connor? Und er hat dich geschickt um mich zu ihm zu bringen, oder wie? Warum sollte ich dir so einfach vertrauen? Ich kenn dich doch gar nicht!“
Lilly wirkte amüsiert.
„Meine Güte ihr Menschen seid immer so niedlich einfältig! Ja warum solltest du mir vertrauen? Nun ja, Connor hat ir nicht gesagt, was ich auf so eine Frage antworten soll. Brauchst du wirklich einen Beweis? Einen Beweis, dass ich dich wirklich zu Connor bringe?“
„Also,“ Mirandas Herz schlug vor Aufregung schneller, sie hatte das Gefühl Migräne zu bekommen, „Ja, ich weiß nicht. Wo sollst du mich denn genau hinbringen? Du könntest mir ja erst einmal das erzählen und dann entscheide ich, ob ich mitkomme und dir vertraue oder nicht.“
„ Ach wie süß. Na schön. Connor wartet in einem ziemlich heruntergekommenen Kloster mit irgendeinem seltsamen alten Mann. Das Kloster ist allerdings nicht hier sondern, ach wie hieß der Ort noch gleich?“ Lilly machte eine kurze Denkpause und zog ihre makellos glatte Stirn dabei kraus. „ Ach irgendwas mit Holywasweißichwas... Kommst du nun mit oder nicht?“
So langsam schien Lilly verärgert zu sein. Aber Miranda wusste nicht, was sie von ihren Aussagen halten sollte.
„Und wie sollen wir nach Holydingsda kommen?“
Nun grinste Lilly vergnügt.
„Ich sagte dir doch, ich bin ein Engel. Für uns gelten andere Gesetze, was Raum und Zeit angeht. Schließe deine Augen und atme einmal tief ein...“
Missmutig tat Miranda wie ihr befohlen war und schloss die Augen. Im selben Moment spürte sie federleicht Lillys Hand auf ihrer Schulter und hörte sie leise kichern. Empört, weil sie sich veralbert vorkam öffnete sie die Augen sogleich wieder und war erst einmal sprachlos. Sie befanden sich nicht mehr einige Schritte vom Schröders entfernt, sondern in einem düsteren Wald, der Miranda völlig fremd war. Erschrocken blickte sie sich um und hinter ihr war das besagte tatsächlich ziemlich herunter gekommene Kloster.
Lilly ließ ihre Schulter los, grinste breit und trällerte: „Wir sind da.“
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2011
Alle Rechte vorbehalten