Prolog
Als sie zu sich kam, war es tiefste Nacht. Der Regen prasselte auf die Haut des Mädchens, sie konnte jeden einzelnen Tropfen spüren.
Langsam öffnete sie die Augen. Sie befand sich in einer schmutzigen Seitenstraße. Es war kalt und ihre Haut war kühl und nass vom Regen, doch sie fror nicht.
Langsam setzte sie sich auf. Sie wusste nicht wo sie war.
Wie bin ich hier her gekommen?
Der Regen hörte langsam auf. Sie wischte sich nasse Strähnen aus dem Gesicht.
Vom Ende der Gasse drang Musik, und sie konnte bunte Lichter sehen, vermutlich ein Nachtclub.
Ihre Beine wollten ihr noch nicht so recht gehorchen, deshalb stützte sie sich an der nassen Wand ab um auf die Füße zu kommen.
Vielleicht kann mir da vorn jemand sagen, wo ich hier bin,
dachte das Mädchen.
Aber was sollte sie den Leuten sagen? Was wollte sie genau fragen? Wohin wollte sie gehen,wenn sie wusste ,wo sie war?
Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie feststellen musste, dass sie sich an nichts erinnern konnte.
Wer bin ich? Und was mache ich hier? Wo wohne ich? Ich...ich...
Sie wusste nichts mehr. Nicht einmal mehr ihren Namen.
Ihr Kopf schmerzte bei dem Versuch sich zu erinnern, brannte wie die Hölle.
Was konnte sie jetzt tun? Nur eins war klar: Sie konnte hier nicht bleiben.
Inzwischen hatte der Regen aufgehört, als sie sich Schritt für Schritt an der glitschigen Wand zum Ende der Gasse vortastete. Die Musik wurde lauter, das Licht heller und es waren Stimmen zu hören.
Mit wackligen Beinen ging sie immer weiter darauf zu.
Kapitel 1
Das Mädchen wurde wach, weil die Sonne auf ihrer Haut brannte. Als sie die Augen aufschlug war sie geblendet und musste sich erst an das grelle Licht gewöhnen, das durch das Fenster schien.
Ein wohliger Schauer überkam sie, als sie bemerkte, dass sie in einem weichen, frisch bezogenem Federbett lag.
Langsam schaute sie sich um. Sie befand sich in einem Zimmer mit zwei Betten. In dem einen lag sie, in dem anderen ein junger Mann.
Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er ihr gestern Nacht geholfen. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren und er war so freundlich gewesen und hatte ihr angeboten, sie könnte das freie Bett in seinem Zimmer im Studentenwohnheim benutzen, wenn sie nicht wüsste wo sie übernachten sollte.
Sie hatte dankbar angenommen.
Das Mädchen erschrak als plötzlich ein Handy klingelte, der junge Mann, der sich ihr Gestern als "William" vorgestellt hatte, benutzte es anscheinend als Wecker. Irgendeine Hardrock Band grölte etwas von Mord und Totschlag. William drehte sich entnervt um und schaltete sein Handy grummelnd aus.
Er öffnete schlaftrunken die Augen, sein braunes Haar war zerzaust und schien in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf abzustehen.
Er gähnte lauthals und setze sich auf.
„Morgen“, brachte er heraus „Hab ich dich geweckt?“
„Nein,...ich war schon wach“
„Gut“,gähnte er.
Sie setzte sich ebenfalls auf und entdeckte, dass sie nur ein viel zu großes T-Shirt trug. Ihre eigenen Sachen hingen zum Trocknen auf der Heizung unter dem Fenster. Sie war gestern so durchnässt gewesen, dass William ihr eins von seinen Shirts zum Schlafen gegeben hatte. Bis deine Sachen wieder trocken sind
, meinte er.
Auch ihre Haare waren inzwischen getrocknet und fielen ihr in dicken dunklen Locken über die Schultern. Sie sah William mit großen Reh-Augen an.
Sie sieht aus, wie eine verloren gegangene Prinzessin,
dachte er.
Sie wusste nicht so recht, was sie sagen oder tun sollte, als William aufstand und seine Jeans anzog.
„Ich geh mal eben duschen. Hast du Hunger? Ich hab hier sonst noch ein bisschen Kleingeld. Ähm, draußen am Ende des Flurs ist ein Automat mit Sandwiches und Getränken. Nur falls du was möchtest. Ich legs dir hier hin, okay?“
„Danke“ sagte sie verwirrt.
„Okay, dann bin ich mal eben im Bad,ja? Fühl dich wie zu Hause.“ und dann war er auch schon weg und sie hörte nur noch das Wasser der Dusche rauschen.
Sie überlegte kurz, nahm dann das Geld, das vor ihr auf einem kleinen Nachttisch lag und ging auf den Flur.
Es war sehr still, was vermutlich daran lag, dass es erst sechs Uhr morgens war. Vereinzelt waren hier und da aus dem einen oder anderen Zimmer Musik oder Stimmen zu hören. Sie blickte nach rechts und nach links und fand den beschriebenen Automaten schließlich am linken Ende des Flurs.
Sie war barfuß und man konnte in der Stille ihr Fußtapsen hören. Ihr war ein wenig unwohl, deshalb beeilte sie sich und steckte schnell ein paar Münzen in den Automaten gab die richtigen Nummern für ein Puten-Sandwich und einen Orangensaft ein.
Erst hörte man das Wechselgeld klirren und danach plumpsten der Saft und das Sandwich herunter, sodass sie die Sachen aus dem Automaten holen konnte.
Sie tippelte schnell zurück zu Williams Zimmer, irgendwie wollte sie nicht gesehen werden.
Zimmer Nummer 36. Sie hatte die Tür nur angelehnt, da sie keinen Schlüssel hatte. Nun schloss sie schnell die Tür hinter sich.
William war immer noch unter der Dusche, sie konnte immer noch das Wasser rauschen hören.
Sie setzte sich wieder auf das Bett und wickelte vorsichtig das Sandwich aus der Folie. Als sie dann einen Bissen nahm kam es ihr irgendwie seltsam vor Schmeckt komisch...,
dachte sie und sah auf das Verfallsdatum auf der Packung, doch danach war es noch fast eine Woche haltbar.
Nachdem sie das Sandwich zur Seite gelegt hatte versuchte sie es mit dem Orangensaft. Sie hatte auf einmal fürchterlichen Durst. Ihre Kehle brannte.
Es war eine ziemliche Fummelarbeit, den Strohhalm ,der an der Saftpackung klebte, aus dem Plastik zu bekommen.
Nachdem das Mädchen einen Schluck von dem Saft probiert hatte, wurde ihr mit einem Mal übel. Sie suchte auch auf dem Saftpäckchen nach dem Verfallsdatum aber auch dieses war noch mindestens drei Monate gut.
Sie wusste nur eins : Die Sachen schmeckten ihr nicht. Darum beschloss sie ,sie an die Seite auf den kleinen Nachtschrank zu legen, vielleicht versuchte sie es nachher nochmal.
Sie hatte immer noch diesen unerträglichen Durst.
Um sich abzulenken ging sie zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Ihre Augen taten vom direkten Sonnenlicht sofort weh und sie zog die Vorhänge kurzerhand wieder zu.
Hm,....,
dachte sie ,Alles sehr seltsam. Irgendwas stimmt mit mir nicht.
Gedankenverloren spielte sie an ihrem Kettenanhänger.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit nun ihren inzwischen trockenen Klamotten zu. Sie überlegte ob sie sich umziehen sollte, befürchtete aber, dass William gleich aus dem Bad kam. Darum entschied sie sich ,sich wieder aufs Bett zu setzen und zu warten bis er fertig war. Sie wollte sich dann im Bad umziehen.
Nach ein paar Minuten ging zwar das Wasser aus, aber kurz darauf hörte sie, wie er einen Föhn anschaltete. Das dauert also noch ein paar Minuten...
Vor Langeweile schaute sie sich im Zimmer etwas um.
Es war nichts außergewöhnliches. Die Wände waren schlicht weiß, der Fußboden aus hellem Holz. Es stand ein Bett rechts im Zimmer und eins, das auf dem sie saß, links. Die Vorhänge waren aus einem dunklem grau-blau. Neben jedem der beiden Betten stand ein kleiner Nachtschrank, und eine Kommode. William hatte auf seinem Nachtschrank sein Handy, einen MP3-Player und seinen Schlüssel sowie ein paar Zettel liegen. Mehr gab es dann auch nicht zu entdecken.
Plötzlich schossen ihr wirre Bilder durch den Kopf. Sie sah die Gasse in der sie aufgewacht war. Sie kramte in einer kleinen schwarzen Tasche , sie suchte ihr Handy.
Dann spürte sie einen Schlag auf den Kopf und alles wurde dunkel.
2. Kapitel
Das Mädchen fand sich auf dem Bett liegend wieder. Ihr war schwindelig. Vorsichtig betastete sie ihren Hinterkopf. Sie konnte keine Wunde von dem Schlag aus ihrer Vision/Erinnerung von der letzten Nacht finden. Sie wunderte sich nicht weiter darüber denn plötzlich fiel ihr noch etwas anderes aus ihrer Vision ein: Vielleicht war ihre Tasche noch in der Seitenstraße? Womöglich konnte sie dort Hinweise auf ihre Identität finden?
Die Chance war zwar nicht sonderlich groß, da sie vielleicht überfallen worden war. In diesem Fall hätte der Dieb die Tasche wohl mitgenommen. Aber versuchen konnte sie es ja.
Im Bad wurde es endlich still. Sie wollte William gleich von ihrem Einfall erzählen, denn sie brauchte seine Hilfe. Allein würde sie wohl den Weg zu dem Nachtclub und der Gasse nicht mehr finden.
William öffnete die Badezimmertür und sie roch eine frische Wolke seines Duschgels. Er sah nun nicht mehr so zerzaust aus. Da er kein T-Shirt trug konnte sie sehen dass er einen ziemlich athletischen Körper hatte. Er gefiel ihr.
„Na, hast du den Automaten gefunden?“ scherzte er mit einem Blick auf das Sandwich und die Saftpackung ,“ Schmeckt nicht sooo toll, ich weiß. Aber wenn man genug Hunger hat geht’s,“ grinste er.
„Ja,... Aber ich hatte nicht so viel Hunger“, meinte sie.
William lachte, und suchte in seiner Komode nach einem Shirt.
"Sag mal, wie soll ich dich eigentlich nennen?" fragte er.
Darauf wusste sie so recht keine Antwort und guckte ihn nur mit großen Augen und einem Schulterzucken an.
William überlegte, als sein Blick an dem Buch hängen blieb, dass er gerade in Französisch lesen musste: "Lys et Glaive" "Lilie und Schwert"
.
"Ich glaube ich nenne dich 'Lys', dass passt zu dir. Das ist französisch für Lilie," grinste er sie an.
Warum nicht?
dachte sie. Damit war sie einverstanden.
Sie stand auf und sammelte ihre Sachen von der Heizung“ Ich geh mich mal eben umziehen“ murmelte sie und verschwand im Bad.
William sah ihr nach, als sie die Tür hinter sich schloss. Er wusste auch nicht genau, warum er sie gestern Nacht mit zu sich genommen hatte. Lys hatte ihn mit ihren traurigen Reh-braunen Augen angeschaut, und dann musste er ihr einfach helfen. Vielleicht sollten sie zur Polizei gehen und fragen ob jemand vermisst wurde dessen Beschreibung auf sie zutraf? Allerdings würde sie dann vermutlich erst nach zwei oder drei Tagen als vermisst gemeldet werden.
Es hätte ihn jedenfalls nicht gestört, wenn sie noch ein wenig geblieben wäre.
Als Lys die Tür hinter sich geschlossen hatte , betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war sehr blass und ihr Haar war zerzaust von der Nacht. Auf dem Regal unter dem Spiegel konnte sie allerdings nur einen Kamm entdecken, anscheinend besaß William keine ordentliche Bürste. Sie hatte keine Lust sich mit diesem kleinen Stück Plastik durch ihre Locken zu kämpfen. Also beließ sie ihre Frisur vorerst so. Lys blickte sich in die Augen und kam sich fremd vor. Ihre braunen Augen waren trüb und rot gerändert.
Seufzend zog sie Williams Shirt aus und ihre Sachen an.
Lys fühlte sich in ihren eigenen Klamotten schon wohler. Allerdings kam sie sich etwas „overdressed“ vor. Sie trug einen Kurzen schwarzen Gothic Rock und ein ebenfalls schwarzes, floral besticktes Korsagen-Top, dazu schwarze Lederstiefel mit nicht grade flachem Absatz. Nun gut, andere Sachen hatte sie nun nicht. Sie betrachtete noch kurz den in verziertes Silber gefassten blutroten Stein, der an einem Schwarzen Seidenband an ihrem Hals hing. Dann verließ sie das Bad.
William guckte zur Badezimmertür als Lys diese öffnete und hinaustrat. Sie sahen sich in die Augen. Ihre braun wie Nussholz, seine blau wir der Sommerhimmel. Sein Puls ging schneller, und er wandte den Blick ab.
Lys sah aber auch einfach hinreißend aus. Mit ihrer weißen Haut im Kontrast zu ihrem dunklen Haar und den schwarzen Klamotten. Doch, der Name 'Lys' war durchaus angebracht.
Sie sah, wie seine Augen im Sonnenlicht funkelten wie Eiskristalle. Er hatte die Vorhänge aufgezogen. Sein Kiefer war angespannt und sie konnte die Adern an seinem Hals sehen, als er seinen Kopf zur Seite drehte. Lys fand diesen Anblick faszinierend. Bei genauerem Betrachten bildete sie sich sogar ein das Blut darin pulsieren sehen zu können. Ja es förmlich riechen zu können.
Sie riss sich fast mit Gewalt aus diesem tranceartigen Zustand. Ihr fiel ihre Idee von der Tasche wieder ein und sprach William darauf an.
Dieser dachte kurz darüber nach, und da seine Idee mit der Polizei wahrscheinlich eh verfrüht war, willigte er ein, ihr zu helfen.
Der Nachtclub war nicht weit vom Unigelände entfernt. Sie mussten nur fünfzehn Minuten zu Fuß gehen.
Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus. Nun gut, möge die Suche nach ihrer Handtasche beginnen. Lys fühlte sich unwohl an diesem Ort. Sie fröstelte obwohl ihr nicht kalt war. Und sie fühlte sich beobachtet. William schien nichts zu bemerken, er ekelte sich lediglich vor dem Dreck und dem Müll. Sie trat zwei Schritte zur Seite und das spärliche Sonnenlicht das vom Ende der Gasse kam viel auf etwas, das von der Sonne glitzerte. Sie trat näher heran und entdeckte halb unter einem alten Pappkarton ihre mit Strasssteinen besetzte Handtasche!
Erfreut rief sie William zu sich, der gerade hinter einen Mullcontainer spähte. Sie öffnete die Handtasche und fand so allerlei : Einen roten Lippenstift, Ihr dunkelrotes Handy, ein Feuerzeug, einen kleinen runden Handspiegel und eine kleine Geldbörse aus Schwarzem Leder mit Rosenmuster.In der Geldbörse suchte Lys nach einem Ausweis, fand aber keinen. Auch keine Versichertenkarten oder einen Führerschein. Keinen Hinweis auf einen Namen oder sonstige Infos. Ihre Hoffnung schwand immer mehr.
William nahm ihr das Handy ab und durchsuchte den Telefonspeicher nach nützlichen Nummern. Er hielt ihr das Handy hin und fragte „ Sagen dir diese Namen irgendwas?“ Aber sie kamen ihr alle unbekannt vor. William versuchte spaßeshalber eine der Nummern anzuwählen. Er hörte das Freizeichen es tutete drei mal und dann nahm jemand ab. Er hörte ein Klicken und dann ein freundliches „Hallo?“.
Mit einem Mal flog etwas durch die Luft, knapp an ihrem Kopf vorbei und schlug William das Handy aus der Hand, welches gegen den nächstgelegenen Container schepperte und in Einzelteilen zu Boden fiel.
Lys war sprachlos und den Tränen nahe. Genauso sprachlos wie William, der immer noch die Hand hochhielt in der sich eben noch das Handy befand. Beide starrten entsetzt die Reste des Handys an und wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten.
William drehte sich in die Richtung um aus der das Geschoss gekommen war und entdeckte gerade noch eine Gestalt, die blitzschnell verschwand.
„Was soll ich denn jetzt tun?“ seufzte sie. Das war ihre einzige Hoffnung etwas über sich heraus zu finden.
Er sah sie an, sie war verzweifelt und wirkte so zerbrechlich, doch mit einem mal kochte die Wut in ihr hoch. Er konnte sehen wie ihre Wangen davon rosig wurden und sich eine kleine Zornesfalte auf ihrer Stirn bildete.
Lys war wütend , fast rasend vor Zorn. Wer versuchte zu verhindern, dass sie erfuhr wer sie war? Und vor allem warum?
Aber die dunkle Gestalt war leider bereits über alle Berge. Sie wusste nicht wohin mit ihrer Wut. Ihr Hals brannte und der Durst überkam sie wieder. Ihr Kiefer schmerzte, es fühlte sich fast so an, als würde ihr jemand ohne Betäubung die Zähne ziehen.
William sah sie nur kopfschüttelnd an. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und sah ihr in die Augen „Ist schon gut. Morgen gehen wir zur Polizei, vielleicht können die uns ja weiterhelfen, ok?“
Lys fühlte seine warmen Hände auf ihrer kühlen Haut. Sie konnte kaum noch klar denken, zwang sich aber, sich zu beruhigen. Endlich konnte sie ihm antworten „Ok, ist gut.“
Damit war die Sache vorerst erledigt und sie machten sich auf den Weg zurück zum Studentenwohnheim. Hier gab es nichts mehr zu holen.
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2011
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