Es war tiefster Winter.
Die kalte sibirische Luft schnürte mir beim einatmen die Kehle zu. Meine triefende Nase hatte rote Farbe bekommen, genauso wie meine kindlichen 10 Jahre alten Bäckchen. Die Hand zu Gänze mit Wollhandschuhe eingedeckt befüllte ich meine Nasenspitze um diese warm zuhalten. Ich kannte den russischen Winter, der tückischer und trügerischer war als jeder andere auf der Welt. Kein Einheimischer würde es wagen darüber zu spotten, denn alle im Dorf fürchteten sich vor den Schneegestöbern, die meterhoch empor stiegen und ganze Häuser mit ihrem Gewicht zerdrückten. Dieses Jahr übertraf der Winter sogar die davor und das hatte zu bedeuten, dass sich die Menschen mit Lebensmitteln, eingelegtem Gemüse und Holzscheite, in ihren Häusern verschanzten und warteten bis sich die Schneeböhen verzogen. Zusammengedrängt auf nur wenigen Quadratmetern harrten sie Wochen lang in ihren kleinen Hütten aus.
Ich jedoch liebte den Schnee. So sehr, dass ich in dieser einen stürmischen Nacht es wagte unsere warme Behausung zu verlassen ohne von Mutter, Vater und meinen vier Geschwistern erwischt zu werden. Bewaffnet mit Walinki, einem dicken Fuchsmantel mit zwei Schichten darunter liegenden Wollkragen Pullover, Strumpfhosen, und der Pelzmütze von meinem Vater, die mir ständig über die Augen rutschte, schob ich den Mettalenen Riegel zur Seite. Die Kälte schnitt mir in die Haut, als ich einen Schritt vor die Tür trat. Um mich herum stand der Schnee Taillenhoch und ich ärgerte mich abermals den dicken Mantel nicht eingeschnürt zu haben, sodass mir die kalte Luft hineinblies. Die Massen waren hoch, etwas steif, aber ich kam prima voran, nahm meine Hände zur Hilfe und setzte schön einen Fuß vor den anderen. Dabei schaufelte ich Schnee zur Seite um leichter voranzukommen und um den weichen glitzernden Schnee zu bewundern. Ich nannte ihn insgeheim Diamantenstaub, weil er im Mondlicht so hell funkelte, als habe man winzige Diamanten zersplittert und auf die Erde hinab rieseln lassen.
Ein paar Meter vor einem abgestellten Schiguli hielt ich an und drehte mich mit erhobenen Händen um die eigene Achse. Es war so schön, das ich rücklings in den Schnee fiel und mich vom ihm umkreisen lies. Ein Faustgroßer Schneeballen landete in meinem Gesicht, den ich lächelnd mit der Hand wegwischte. Es war herrlich seine Gedanken nur auf diesen einen Augenblick zu fixieren und das Wunder der Natur zu genießen. Minuten lang lag ich nur da und starrte auf den glasklaren Sternen Himmel. Mutter lehrte mich, jeder der Sterne habe einen Namen, und sie zusammen ergaben ein Bild. Vergeblich hatte ich heute nach dem großen Wagen gesucht, denn mir Vater einmal gezeigt hatte. In dem leuchtenden Gewirr konnte ich keinen der bekannten Sternenbilder erkennen, also schaffte ich mir meine Eigenen. Der direkt über mir ähnelte einem großen Vogel, ich glaubte Mutter nannte so einen Adler. Was für ein schöner majestätischer Vogel. Ich beineidete das Tier um seine Flügel. Er sah, anders als ich die Welt, die Menschen und sogar verborgene Orte. Wie gerne wäre ich aus dem Dorf rausgekommen, Länder gesehen. Vater aber meinte die Welt sei grausamer geworden, kapitalistischer, er wolle nur hier seine Ruhe haben. Abermals bettelte ich ihn an etwas von seiner Zeit in Weisrussland zu erzählen. Aber darauf meinte er nur da gäbe es nichts zu berichten, arme, vom Staat im Stich gelassene Bürger, angeführt durch einen egozentrischen Diktator. Er wäre froh hier hergekommen zu sein, sagte er. Ich würde Politik nie verstehen, möge ich auch noch so klug für mein Alter sein und das war ich tatsächlich. Den anders als meine Geschwister hatte ich einen großen Wissensdurst und freute mich jeden Tag auf den Unterricht. Die Schule zu besuchen war durch die ständig aufkommenden Schneemaßen unmöglich gewesen. Nur im Sommer, wenn die Windböhen ihre Ruhe fanden, besuchte ich mit anderen Kindern die Einzige Schule am anderen Ende des Dorfes.
Ich setzte mich auf und richtete meinen Blick auf den dunklen Wald, der nicht allzu weit von uns entfernt lag. Man munkelte dort würden Wolkichi leben, Königswölfe des Nordens, Herrscher über Tundra und Taiga. Größer und mächtiger als Tiger seien sie. Sogar heilige Kräfte sollen den Tieren zugesprochen werden, sie könnten jedes menschliche Gebrächen mit ihren bloßen Tränen kurieren.
Wie gern wäre ich einem von ihnen begegnet, ihre geheimnisvolle Welt betreten. Der Wald war schon immer ein verborgener Ort gewesen.
Fasziniert von ihm stand ich auf und ohne mir den Schnee von der Kleidung zu streifen ging ich in seine Richtung. Etwas zog mich magisch an.
Mein Verstand schreite förmlich danach umzudrehen, meine Neugier aber drängte mich in die Dunkelheit hinein. Ich würde diese Chance nie wieder bekommen, sagte ich mir.
Also stapfte ich durch den Schnee, der nur mehr meine Unterschenkel bedeckte. Es gab weder Weg noch Licht. Nur der volle Mond erhellte die Bäume, schattenhafte Silluetten, die empor ragten wie stämmige Riesen. Es war still, als gäbe es kein Leben. Doch etwas drängte mich weiter in die Dunkelheit, als würde mich jemand mit einer unsichtbaren Schnur zu sich ziehen. Das kam mir seltsam vor und ich begann mich zu wehren. Mit meinem ganzen Körper versuchte ich umzukehren oder zumindest einen Schritt rückwärts zu tun, aber nichts geschah.
Ein Wolfsgeheul ertönte aus dem hintersten Winkel der Nacht. Schnee fiel von den Ästen als ein Schatten unmittelbar in meiner Nähe vorbeihuschte und mich irritierte. Ich wandte mich hastig um, zu der einen Seite und dann zu der anderen, bis ich mich im Kreis drehte und mir schwindlig wurde. Noch ein Schatten. Ein Zweiter. Ein Dritter…und da sah ich ihn. Er saß direkt vor mir auf einem weißen Erdhügel umgeben von lauter Bäumen, nur ein paar Meter entfernt, so majestätisch und würdevoll. Seine eis blauen Augen schimmerten leicht. In ihnen lag etwas, was mich erstarren lies. So als wüsste er etwas, was ich nicht wusste. Der große weiße Wolf erschien mir auf einmal so menschlich. Er saß nur da und beobachtete mich. Er war neugierig, was ich als nächstes tat.
Ich konnte nicht erkennen wie groß er tatsächlich war, durch den Schatten um ihn herum war meine Sicht getrübt. Vorsichtig wagte ich es einen Schritt nach vorne zu setzen, einen, und noch einen… Doch der Wolf blieb regungslos. Das gab mir Mut bis zu ihm vorzudringen und obwohl ich Angst hätte empfinden müssen, trat etwas anderes in den Vordergrund. Es war eine Art der Verbundenheit, die mich leitete.
Nun stand ich nah genug um ihn mit der Hand berühren zu können. Er war wunderschön, ragte mit seiner Größe über meinen Kopf hinweg. Sein Fell hatte graue und weiße Härchen, die in einem hübschen Verlauf angeordnet waren, schon beinah wie eine Musterung. Der Riese beobachtete jeden meiner Bewegungen, als unsere Augen sich schließlich trafen. Blau auf Grün. Mensch auf Tier.
Der Wolf beugte sich mit dem Kopf runter zu mir und rieb mir mit seiner Schnauze den Schnee von der Schulter. Die Berührung lies mich erzittern.
Behutsam schnüffelte er an meinen Haaren und Gesicht. Jetzt konnte auch ich ihn berühren, sein weiches Fell streicheln, dass ganz kalt vom Schnee war.
Es war eine Begegnung fremder Welten und ich wusste
An diesem Tag traf ich einen Wolkichi.
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Sibirien, mögest du deine geheimnissvolle Winterwelt für immer bewahren.