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Er sah mir tief in die Augen und flüsterte: „Es war eine schöne Zeit. Aber ich muss gehen. Ich werde dich nie vergessen.“ „Ich…ich werde dich…“, aber er war schon gegangen. Und da stand ich nun im Regen, wieder allein. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht einmal was nach seinem Abschied in meinem Leben passieren würde. Für den Moment schien es, als würde mit ihm fast jede Freude aus meinem Leben weichen. Und das erste Zeichen dafür folgte sofort. Es hätte auch das letzte sein können. Meine Mom holte mich vom Flughafen, wo mich gerade der Sinn meines Lebens verlassen hatte. Ich hatte keine Perspektive. Ich würde die Schule abbrechen, ich konnte nicht mehr. Der Druck war zu groß, die 11. Klasse konnte ich nicht mehr aushalten, ich war doch schon zerbrochen genug. Was ich danach allerdings tun würde, war mir auch ein Rätsel. Ich wollte Dolmetscher werden, Übersetzer, irgendwas in dieser Richtung. Aber wie das Leben es so will, ist das unmöglich geworden. Diese Ausbildung gibt es nur im Westen und ich sitze hier fest im östlichsten Osten Deutschlands. Als ich nun da saß, ohne Zukunft, doch hoffnungsvoll, zog ein Gewitter auf. Ich hoffte, Mom würde nur rechtzeitig ankommen um mich abzuholen, und bevor der Regen die Chance hatte mich bis auf die Knochen zu durchnässen fuhr unser Auto vor. Mom wusste ganz genau, dass ich jetzt nicht gut zu sprechen war und so fuhren wir schweigend durch das Unwetter. Ich hatte das Gefühl, dass das Wetter mein Befinden widerspiegelt, und ich war ihm dankbar dafür. Strahlenden Sonnenschein hätte ich einfach nicht gebrauchen können. Ich war so in Selbstmitleid versunken, dass ich nicht bemerkte, dass Mom die Kontrolle über das Auto verloren hatte. Erst kurz vor dem Wald begann ich mich zu wundern, weshalb wir nicht mehr auf der Straße fuhren. Ich wollte gerade ansetzen zu reden als wir auf den ersten Baum aufprallten. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Es war schwarz. Und es tat gut, denn plötzlich war der ganze Schmerz weg. Er war einfach verschwunden. Ich fühlte mich so frei, frei und rein. Ich wusste nicht wo ich war, aber ich glaube, ich war gar nicht. Das Erste, woran ich mich wieder erinnern konnte, war dass ich in einem weißen Zimmer saß…lag. Ich wollte aufstehen und gehen, aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht bewegen. Nicht viel, zumindest. Naja, zwinkern ging noch, damit war ich erstmal etwas beruhigt. Bis mir langsam ins Bewusstsein kam was passiert war. Mom, wie geht es ihr? Ich wusste nicht was ich tun sollte, ich konnte mich nicht bewegen, und irgendwie konnte ich auch nicht schreien. Durch Zufall betrat in dem Moment eine Schwester mein Zimmer und fragte mich nach meinem Befinden. Wenn ich hätte sprechen können, hätte ich wohl gesagt „Das wüsste ich auch gerne, aber was mich mehr interessiert ist, wie es meiner Mom geht.“ Und obwohl ich nicht sprechen konnte, schien sie mich zu verstehen. „Ist schon okay, das wird besser. Deiner Mom geht es gut, sie liegt im Zimmer neben dir, sie ist bei Weitem nicht so glimpflich davon gekommen wie du. Aber sie wird es schaffen.“ Na toll, sehr ermutigend und beruhigend. Zu meinem Erstaunen stand Mommy kurz nach der Information in meinem Zimmer. „Meine Brüche sind zwar komplizierter als deine, aber nicht so schlimm.“…danke. „…aber ich werde das Krankenhaus schon morgen verlassen.“ …nochmal danke. Und wie lange muss ich hier bleiben? „Die Ärzte meinten, sie könnten dich in zeitigstens zwei Wochen entlassen. Dein…dein Bauch und deine Beine sind aufgeschlitzt…Wir werden dich besuchen kommen.“ Und das waren die letzten Worte die ich von ihr hörte, für drei Wochen. Denn niemand kam mich besuchen. Niemand, meine Eltern nicht, meine Freunde nicht, er nicht. Ich saß drei Wochen im Krankenhaus, war mir selbst nicht sicher, ob ich überhaupt überleben wollte, und dachte daran, was gewesen wäre, wenn ich ihn nicht zum Flughafen begleitet hätte. Es wäre wohl besser gewesen, denn dann wäre ich jetzt nicht im Krankenhaus und müsste nicht merken, wie wenig ich meiner ganzen Welt bedeute. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht oder wütend sein sollte, ob ich weinen sollte oder Vorwürfe machen sollte, wenn ich aus dem Krankenhaus kam. Ich entschied, einfach beides zu tun. Ich habe mich noch nie so sinnlos gefühlt, noch nie so verlassen. Ich lag da, konnte nicht richtig essen, konnte nicht laufen und konnte nicht reden. Weil niemand zum Reden da war. Weil da niemand war, den es nur im Geringsten interessierte hatte wie es mir geht. Bis zum letzten Tag im Hospital. Es klopfte an die Tür und ein junger Mann betrat das Zimmer, ich schätzte ihn auf ungefähr 19 Jahre. Er setzte sich und wartete eine Weile, bis er ansetzte: „Hallo ich bin Reimar. Ich…ich habe dich gefunden.“ Gefunden? „Nach dem Unfall. Niemand hatte den Unfall bemerkt, also bist du aus dem Auto gekrochen und bist…naja, du bist zur Straße gelaufen, oder, hast dich zur Straße geschleppt…mit…naja du weißt ja selbst am Besten was du hast…und ich bin grade auf dem Bürgersteig langgelaufen, da stolperst du mir entgegen, blutverschmiert und hast nur geflüstert ‘Mom…Mom.‘ Und da habe ich dich ins Krankenhaus gebracht und vorher noch einen Krankenwagen gerufen, und Polizei und so, das Gebiet nach deiner Ma abzusuchen. Und…naja da wollte ich gucken wie‘s dir geht.“ Wie es mir geht? Sagen wir es so, ich habe es überlebt. Danke. „Nichts zu danken. Ich werde jetzt mal wieder gehen, du wirst heute ja sicher noch Besuch bekommen, oder? Gute Besserung.“ Ich drehte nur meinen Kopf zur Seite, um meine Tränen zu verbergen. Warum musste er nach Besuch fragen? Warum? Warum sieht er nicht, dass ich sinnlos bin? „Hey…hey sorry, ich wollte nicht, ich dachte nur…“ Was dachtest du? Du dachtest mich würde jeden Tag jemand besuchen, mir Blumen bringen und mit mir reden und mich trösten? Soll ich dir sagen wie oft ich besucht werde? Soll ich dir sagen, wer der Erste war, der mich besuchte? Du! Du, gerade eben! Ich liege seit drei Wochen in diesem verdammten Krankenhaus und es hat mich niemand, kein einziges Wesen besucht. Und die Blumen auf dem Tischchen hat mir eine Schwester mitgebracht, aus Mitleid. Und weißt du wie oft ich angerufen werde? Einmal wurde ich angerufen, einmal, von meiner Tutorin, die wissen wollte, wann ich wieder in die Schule komme! Siehst du wie wichtig ich bin, siehst du es? Er setzte sich an mein Bett und nahm meine Hand. „Hey…es tut mir leid, ich werde mal ein ernstes Wörtchen mit denen reden, die sind doch bescheuert, die können dich doch nicht hier liegen lassen. Ich bleibe bei dir.“ Er nahm meinen Kopf und legte ihn zärtlich an seine Brust. Ich atmete auf unter Tränen. Schön, dass ich gerade der Person, die ich am wenigstens kenne am meisten wert bin. Aber ich war ihm unendlich dankbar, auch wenn es mich nur noch mehr aus der Fassung brachte. Die Tränen flossen in Wasserfällen über meine geröteten Wangen. Nach ungefähr einer halben Stunde hatte ich mich wieder eingekriegt und war bereit meine Sachen zu packen, immerhin wurde ich auch an dem Tag entlassen. Ich hatte niemandem etwas davon gesagt. Ich wollte nicht, dass mich jemand abholt und so tut, als wäre nichts gewesen. Nach dem Entlassungsgespräch am nächsten Tag verließ ich das Krankenhaus, ich wollte mit dem Bus fahren, aber da war wieder jemand der meine Pläne durchkreuzte. Aber diesmal war ich glücklich darüber, es war Reimar, der an der Bushaltestelle vor dem Eingang auf mich wartete. Ich fiel ihm um den Hals. Er flüsterte nur: „Ich bring dich heim, okay?“ Aber nein, ich wollte nicht nach Hause. Was wollte ich schon bei diesen Leuten, denen ich nichts bedeute? Können…können wir nicht irgendwo anders hinfahren? Ich will da jetzt nicht hin… „Gut, fahren wir eben irgendwo anders hin. Wohin will die Gnädigste denn?“, grinste er. Egal. Vollkommen egal. Ich musste lächeln. Ich fühlte mich so wohl bei ihm. „ Auch gut. Dann steig ein, wir können ja spontan entscheiden.“ Wie früher, vor dem Unfall, hüpfte ich ums Auto um meine Sachen in den Kofferraum zu packen. Los geht’s. Unsere kleine Spritztour endete damit, dass wir in seiner Wohnung auf dem Sofa saßen und uns Filme ansahen. Es war schon spät und dunkel. Ich rutschte ein Stück zu ihm rüber, lehnte mich gegen seine Schulter und sah ihn von der Seite mit großen Augen an. Er lachte kurz auf und pausierte den Film.„Was genau willst du mir damit sagen?“ Ich will heute Nacht bei dir schlafen. „Warum wusste ich das?“, schmunzelte er. „Ich habe absolut nichts dagegen, ist ja genug Platz.“ Zufrieden drückte ich mich weiter an ihn und wartete darauf, dass der Film weiterlief. An Weiteres kann ich mich nicht erinnern, ich muss wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, standen unsere Gläser noch auf dem Tisch, neben mir lag Reimar, noch schlafend. Eigentlich wollte ich aufstehen, aber der Moment war zu schön um einfach zu gehen, also blieb ich liegen. Nach einer Weile entschied ich mich dann doch, aufzustehen und Frühstück zu machen. In der Küche stand ein Foto von ihm und seiner kleinen Schwester, sie musste ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Im Kühlschrank fand ich alles was ich brauchen konnte, Reimar war sehr ordentlich und hatte alles da. Ich deckte den Tisch und wartete, dass er aufwachte. Als das noch eine Weile dauerte, entschied ich mich noch Spiegelei zu machen, ich selbst aß kein Ei, war mir aber sicher, dass er es mag. Als ich so vor dem Herd stand und auf das Ei aufpasste, ich hatte sowas nämlich vorher noch nie gemacht, spürte ich wie sich eine zwei Hände von meiner Hüfte auf meinen Bauch schoben und sich dort verknoteten. Es war Reimar, der mich von hinten umarmte und seinen Kopf auf meine Schulter legte. „Du bist wunderbar, ich weiß nicht wann ich das letzte Mal so n geiles Frühstück hatte.“, flüsterte er in mein Ohr und küsste mich auf die Wange. Danach verschwand er in Richtung Bad und ließ mich mit einem Kribbeln im Bauch am Herd stehen. Nachdem das Ei fertig war setzte ich mich an den Tisch und wartete wieder. Ich hatte das, was die letzten Tage passiert war fast vergessen. Er machte mich so glücklich, dass ich sogar den Abschied am Flughafen, vor dem Unfall, vergessen hatte. Zumindest für eine kurze Zeit. Eine schöne kurze Zeit. Reimar kam in die Küche und setzte sich neben mich. „Ich weiß gar nicht womit ich das verdient habe.“, er sah mich fragend an. Oh doch, das weißt du ganz genau. Er lächelte. „Kannst du nicht einfach hier bleiben?“ Kannst du mich nicht einfach entführen? „Entführen würde ich dich gerne.“, schon wieder dieses Grinsen. Ich mochte es. Nach dem Frühstück begab ich mich auch nochmal ins Badezimmer und danach ging es los, nach ‘Hause‘. Ich hatte Angst, ich war die ganze Zeit nervös, aber Reimar war unglaublich gut darin, mich zu beruhigen. Er sagte, er würde zuerst mit meinen Eltern reden und mich dann holen kommen, und genauso machten wir es dann. Ich weiß bis jetzt nicht, was er ihnen gesagt hat, aber ich bin mir sicher, dass er es ernst gemeint hat und ich war unglaublich froh, dass er es tat. Nach ca. 15 Minuten kam er zurück zum Auto und holte mich ab. Mit zitternden Beinen ging ich den Weg entlang zu unserem Haus, Reimar führte mich vorsichtig. „Süße, alles wird gut.“, flüsterte er mir noch ins Ohr. Da standen meine Eltern. Mom hatte Tränen in den Augen, Dad sah auch nicht sonderlich glücklich aus. Ich sagte „Hallo“ und ging an meinen Eltern vorbei. Mom flüsterte: „Es tut mir so leid, Lynn, es tut mir so leid.“ Meine kleine Schwester kam die Treppe heruntergerannt: „Lynn! Lynn!“ Sie schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest. Aber es fühlte sich so fremd an. Als würde ich als Austauschschülerin in ein anderes Land, in eine andere Familie kommen. Irgendwie bekannt durch Mails und Telefonate, aber irgendwie doch so fremd. Ich war erleichtert, als ich auch Reimars Hände wieder spürte. Wir gingen in mein Zimmer, das fühlte sich alles so unecht an. Wir setzten uns auf mein Bett, ich drückte mich an ihn und begann wieder zu weinen. Wo war all das, was mir früher so viel wert war, hin? In der Schule würde es genauso enden, alle die, die mir so viel wert waren, fremd und…unbedeutend. Ich wollte am liebsten einfach wieder zurück in Reimars Wohnung. Ich fühlte mich verstoßen und gespalten, wo gehörte ich hin? Hier hin, zu Reimar oder gar zu ihm, den ich verabschiedete? Da saß ich nun, verzweifelt und irgendwie allein. Ich wusste, dass Reimar mich heute Abend verlassen müsste. Als ob er meine Gedanken lesen würde, sah er mich und sagte nur: „Ich werde heute Abend vielleicht gehen. Aber ich werde dich nicht verlassen. Ich werde immer bei dir sein.“ Sein Gesicht war plötzlich ganz nah bei mir und als er mich küsste, war meine Welt wiederhergestellt.

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Texte: photo: http://der-klare-blick.com/2011/01/die-silverpreis-spirale-teil-iii-morgen/
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2011

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dedicated to the most important persons in my life. Lil & Hobbit

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