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I

Bei Regen sind alle Städte grau und dieser Regen schwemmte davon, woran ich mich mühsam gewöhnt hatte. Zwischen Wehmut, Wut und Resignation schwankend lieferte ich mir ein Wettstarren mit dem Draußen, der neuen Stadt – mal wieder.

Und die Stadt gewann – wie immer.

Ich hatte aufgehört, die Umzüge zu zählen, als ich in der Schule anfing, mich mit Dezimalzahlen auseinander zu setzen. Wie ich es schaffte, bei den ständigen Wechseln, erfolgreich eine Klasse nach der anderen hinter mich zu bringen, blieb mir ein Rätsel, das ich nicht zu ergründen gedachte.

Meine Eltern waren vor einigen Tage vorgefahren, ich hatte in dieser Zeit bei meiner Großmutter gewohnt, da die alte Wohnung an die nächsten Mieter gegangen war.

Jetzt fuhr ich den beiden hinterher, in die neue Stadt und den Neuanfang.

Man sollte meinen, dass ich mich dran gewöhnt hatte, dass ein Neuanfang für mich nichts Neues darstellte und das stimmte auch. Ich war weder aufgeregt noch nervös. Dafür launisch.

Die neue Schule hatte ich flüchtig angesehen, ebenso die neuen Klassenkameraden. Vom Fenster des Direktorats aus, hatte ich den Schulhof beobachtet und mich gefragt, wie es hier sein würde. Ob ich Menschen treffen würde, mit denen ich mich anfreundete – um sie mit großer Wahrscheinlichkeit sechs Monate später wieder verlassen zu müssen.

Und aus diesem Grund ging ich keine tiefen Freundschaften ein.

Ich hatte geseufzt und wie so oft festgestellt, dass ich nichts daran änderte, machte ich mir im Voraus Sorgen.

Ich war mittlerweile zu alt für Szenen, die ich meinen Eltern gemacht hatte, als ich jünger war und es zu Umzügen kam, deren Zahl sich ins Lächerliche häufte.

Als der Zug im Hamburger Hauptbahnhof einfuhr, kam die SMS an.
Sie schafften es nicht, mich abzuholen, mussten arbeiten und empfahlen mir Taxi oder Bahn. Mit dem Koffer wäre Taxi die bequeme Lösung gewesen, doch zum einen wollte ich nicht den überteuerten Preis zahlen, um eine halbe Stunde neben einer schlechtgelaunten, nach kaltem Rauch stinkenden Midlife-Crissis zu sitzen und zum anderen bot sich hier die Gelegenheit, Fahrpläne von U- und S-Bahnen kennenzulernen.

Bei meinem letzten Hamburg-Aufenthalt war ich zu klein gewesen, als dass ich mich gegen einen Umzug hätte wehren können, zu dem Zeitpunkt das Langzeitgedächtnis eines Goldfisches besessen – wie bei Babys allgemein üblich – und dementsprechend keine nennenswerten Erinnerungen.

Wenn man´s genau nahm, war ich von Geburt her Hamburgerin, so die Behauptung meiner Mutter. Dass sie sich an die Geburt erinnerte, grenzte an ein Wunder und wie sie die zwischen ihre Termine gestopft hatte, ebenfalls.

Ich zweifelte nicht daran, dass meine Eltern mich liebten, wie sie mir gelegentlich versicherten, bezweifelte allerdings, dass sie wussten, was ich brauchte oder wollte.

Ein uninteressantes Fußballspiel sorgte dafür, dass die Stadt einem Hexenkessel glich, aus dem es mit einem sperrigen Koffer kein Entrinnen gab.

Ich zerrte das Monstrum durch U-Bahn-Stationen, Treppen hinauf und hinunter, oft noch einmal rauf – wenn ich merkte, dass ich falsch war – und durch sich schließende S-Bahn-Türen.

Bis ich die Wohnung erreicht hatte, waren zwei Stunden vergangen, ich am Ende meiner Kräfte und der Koffer demoliert.

Meine Eltern standen nach wie vor nicht zur Verfügung, dafür ein Wohnungsschlüssel beim Nachbarn.

In eine leere Wohnung zu kommen ist deprimierend. Wenn man die zur Hälfte eingerichtete Wohnung nicht kennt und Kisten herumstehen, an denen man sich die Zehen stößt, verlässt einen der Mut.

Der stechende Geruch trocknender Farbe und Möbelpolitur durchzog die Räume, die ich auf der Suche nach meinem Zimmer abklapperte.

Hinter einer Tür gähnte Leere, mit Ausnahme eines platzsparend kleinen Haufens Kisten. Das musste es sein.

Ich hatte gelernt meinen Besitz klein zu halten, um die Packerei auf ein Minimum zu reduzieren.

Es war so dunkel, dass ich mir auf der Suche nach einer Matratze weitere Zehen stieß und sich bei dem Versuch Licht ins Dunkel zu bringen herausstellte, dass die Schalter, die ich ausprobierte, nur der allgemeinen Dekoration dienten – oder die Sicherung nicht drin war.

Irgendwo musste eine Matratze herumliegen, meine Eltern konnten das nicht vergessen haben.

Ich wurde fündig, in dem, was mal das Wohnzimmer werden sollte, wenn es groß und stark war.

Die Matratze steckte noch in ihrer Transporthülle und ich schleifte sie durch die Staubschicht, die den Boden gleichmäßig, wie ein Teppich bedeckte, in mein Zimmer. Bettzeug fand sich im Zimmer meiner Eltern und nachdem ich das Badezimmer entdeckt und geduscht hatte, fiel ich in mein improvisiertes Bett, ohne meine Eltern zu informieren oder mir die Mühe zu machen, mein neues Heim über andere Sinne, als geschändeten Zehen, zu erleben.

Dazu würde ich wenigstens die nächsten sechs Monate Gelegenheit haben.

II

Bevor ich in die neue Schule eingeführt wurde, hatte ich das Wochenende, um anzukommen, doch gedanklich schwebte ich in anderen Spähren, was meine Eltern nicht wahrnahmen, da für sie dasselbe galt. Ich entzog mich ihren Gesprächen über Inneneinrichtung, ging raus und betrachtete die Stadt um mich herum, an die ich kaum eine Goldfischerinnerung hatte.

So, wie ich mich von engeren Freundschaften fern hielt, so hielt ich mich auch von Gefühlen für bestimmte Orte fern, andernfalls wäre es mir nur noch schwerer gefallen, die Orte zu verlassen.

Ein paar Verwandte wohnten in der Nähe Hamburgs, wie meine Mutter erzählt hatte, doch wann hätte ich je die Gelegenheit gehabt, sie kennenzulernen, wo ich ständig mit Umziehen beschäftigt war?

Die Stadt lebte um mich herum und ich fragte mich, wie es sein würde.

In mancher Hinsicht war ich froh gewesen von der alten Welt wegzukommen, nicht allein wegen Daniel, einem der Fehler, die ich in dem Wissen begangen hatte, dass mich nur wenige Monate und mehrere hundert  Kilometer von der Lösung dieses Problems trennten. Manchmal waren die Umzüge auch ein Mittel zum Zweck.

In anderer Hinsicht bedauerte ich den Umzug. Hätte ich mehr Zeit gehabt, wären einige der Menschen sicherlich bessere Freunde geworden.

Ich seufzte, als ich mich auf den Heimweg machte. Meine bisherigen „Freunde“ wussten kaum etwas, denn ich sah keinen Sinn darin, ihnen etwas über mich zu erzählen, wenn ich nicht einmal lang genug blieb, bis die Wandfarbe trocken war.

Hier würde es nicht anders sein. Nettes Lächeln, nette Bekanntschaften, nettes Auf Wiedersehen.

Noch aber hatte ich das Hallo, das mir weitaus mehr Kopfzerbrechen bereitete, vor mir.

„Aufgeregt?“, fragte mein Vater, als ich am Montag Anstalten machte, das Haus zu verlassen.

„Oh ja, ich krieg mich kaum ein.“

Ich war nicht im klassischen Sinne aufgeregt, ich war vielmehr neutral erwartungsvoll. Aus schlechtem Gewissen oder reiner Freundlichkeit fuhr er mich zur Schule und ich wartete, bis er davon gebraust war, bevor ich mich ins Innere des grauen Gebäudes wagte.

Das Schöne ist, dass es an den meisten Schulen zu viele Schüler gibt, als dass man in der Funktion eines neuen Gesichts, auffällt. Erst, als ich die Klasse betrat, die man mir genannt hatte, ging das Starren los.

Ich konnte die geflüsterten Gespräche nicht hören, mir aber vorstellen, was da geflüstert wurde. Fragen, wer ich sei, ob ich neu sei, ob überhaupt eine Neue erwartet wurde, „… fragt mal den Klassensprecher.“ Man sollte meinen, dass Siebzehnjährige gelassener mit neuen Mitschülern umgehen, doch hier zeigte sich wieder einmal, wie gleich die Menschen bleiben, wenn es um das Unbekannte geht – ob sieben oder siebzig, die Reaktion ist von Neugier getrieben.

Mir blieben zwei Möglichkeiten. Ich hatte etliche Gelegenheiten gehabt, Reaktionen zu testen. Bisher war ich am günstigsten mit der gefahren, zu lächeln und mich selbstbewusst, doch nicht aufdringlich auf einen Platz zu setzen, der frei wirkte.

In diesem Fall entdeckte mich der Lehrer, bevor ich mich setzen konnte und winkte mich zu sich. Ich ließ die Tasche auf den Stuhl fallen und ging zu ihm, Blicke freundlich ignorierend.

Er begrüßte mich, fragte nach meinem Namen und erklärte, für welches Fach er zuständig sei – Deutsch. Anschließend wollte er wissen, wie weit ich in der anderen Schule gewesen sei – immerhin ging es auf die Abiturbereitung zu – und ich gab ihm geduldig die gewünschten Auskünfte.

Er entließ mich mit einem zufriedenen Nicken.

„Ich denke, Sie werden gut Anschluss finden. Ihre Zeugnisse sind ja durchaus positiv.“

Durchweg positiv. Etwas, was keinesfalls für meine Begeisterung galt.

Ich kehrte auf den von mir erwählten Platz zurück, der mittlerweile einen Banknachbarn hatte. Ein dichter Vorhang aus schwarzem Haar verwehrte den Blick auf das Gesicht dahinter, anhand der Kleidung war immerhin auszumachen, dass es sich um einen Kerl handelte.

„Hallo“, sagte ich versuchsweise, da keine Reaktion erfolgte, als ich mich setzte. Daraufhin drehte er den Kopf und durch die Strähnen war ein Gesicht zu erahnen.

„Hallo“, kam es durch die Haare und nach unüberhörbarem Zögern.

Meine Aufmerksamkeit verlagerte sich auf eine Delegation, bestehend aus Klassensprecher und zwei Mädels, die dem Jungen neben mir keine, mir dafür überaus freundliche Beachtung schenkten.

„Du bist Polly, richtig?“, fragte der Klassensprecher mit einem breiten Lächeln. Ich bejahte und aus dem Verhalten, dass sie im anschließenden an den Tag legten, schloss ich, dass ihnen etwas an dem Platz, den ich mir ausgesucht hatte, missfiel.

„Wir möchten dich ´n paar Leuten vorstellen“, meinte eines der Mädchen, namens Maike, nachdem wir die Liste der üblichen Begrüßungsfloskeln durchgegangen waren. Ich folgte der Bitte zögerlich und kaum waren wir ein paar Schritte gegangen, zischte mir das zweite Mädel, Lana, zu: „Wir wollen dich nur retten. Du hast dich grad neben Eisen gesetzt. Der absolute Freak! Echt unheimlich.“

Ich warf einen verwirrten Blick auf den Jungen, den sie als Eisen und unheimlichen Freak bezeichnete. Wirkte vielleicht ein bisschen nerdig und der Name war gewöhnungsbedürftig, unheimlicher als das aufgeregte Gezischel meiner „Retter“ war er sicher nicht.

„Eisen?“, fragte ich.

„So heißt er.“ Maike lächelte. „Er ist etwas … komisch. Ehrlich gesagt, ist er sehr komisch. Wir meiden ihn lieber, wenn du verstehst.“

„Verstehe.“ Ich verstand, einverstanden war ich aber nicht. Diese Denkweise war mir geläufig und ich wusste, was dahinter steckte, doch genau damit hatte ich ein Problem. Es gab nur wenige Dinge, die mir so zuwider waren, wie ausgrenzendes Verhalten. Ich war zu oft in neue Situationen geraten, um zu wissen, wie es ist mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, als dass sich in mir ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ausgrenzung andersartige wirkender Mitmenschen entwickelt hätte. Viel zu oft war ich selbst darauf angewiesen, in neuen Gruppen akzeptiert zu werden. Dabei half es mir sicher, kein schlacksiger, langhaariger Kerl in schwarzer Klamotte zu sein, sondern allgemein anerkannte Standards weiblicher, äußerer Attraktivität zu bedienen.

„Er schien ganz nett zu sein“, konnte ich mir nicht verkneifen einzuwerfen, obwohl ich mir bisher nicht im Ansatz eine Meinung gebildet hatte. Bevor ich die Menschen nicht kannte, urteilte ich nicht über sie, so einfach war das. Ich hatte mir diese Taktik zueigen gemacht, um mich besser und vor allem schneller anzupassen. Außerdem war mir meine Zeit zu kostbar, als sie mit kindischen Lästereien zu verplempern.

„Was meinst du?“

„Naja, er hat Hallo gesagt“, murmelte ich.

Die beiden Mädels zuckten mit den Schultern und ich beließ es dabei. Sie hatten ihre feste Meinung, da änderte auch dieses „Hallo“ nichts dran, außerdem: Was wusste ich schon? Von ihrem Standpunkt aus gesehen, hatte ich gar nicht die Qualifikation um zu urteilen. Immerhin hatte ich nur wenige Minuten in seiner Gesellschaft verbracht, im Gegensatz zu ihnen.

Nun, es lohnte nicht, sich in interne Angelegenheiten zu mischen. Besser gar nicht erst intern werden, so vermeidet man Schwierigkeiten.

Abgesehen von diesem kleinen Schönheitsfehler, entpuppten sich meine neuen Mitschüler als überaus nette und soziale Menschen, die sich untereinander erschreckend gut verstanden. Ein derartiger Klassenzusammenhalt war wünschenswert, kam jedoch selten vor – und selbst der hatte seine Macken, siehe Eisen.

Weil kein anderer Platz frei war und ich es albern fand, der vorgefertigten Meinung anderer wegen, mich umzusetzen, kehrte ich auf den Stuhl zurück, als der Unterricht begann. Ich lächelte, als der den Kopf wandte, war mir aber nicht sicher, ob er das Lächeln durch den Haarvorhang überhaupt sehen konnte.

III

Unterm Strich war dieser Tag ein „Erfolg“, gemessen an anderen ersten Tagen in neuen Schulen.

Mike, der Klassensprecher, hatte es sich nicht nehmen lassen und mich während der Pause mit dem unbekannten Rest der Klasse bekannt gemacht. Ich versuchte meinen Kaffee zu trinken und interessiert zu wirken.

„Wir legen hier großen Wert auf soziales Miteinander“, erklärte mir später der Vertrauenslehrer der Klasse und ich fragte mich, ob er von dem Fall „Eisen“ wusste. Falls dem so war, handelte es sich dabei um eine „Weißer Fleck-Modifikation“ in seinem ansonsten so einwandfreien Gedankengang.

Nun, niemand ist perfekt und ich wäre mir selbst untreu geworden, indem ich anfing die Klasse zu verurteilen, bevor ich in Gänze ihre Beweggründe erfasst hatte. Wozu ich derzeit weder die nötige Lust verspürte, noch die Zeit hatte.

„Eigentlich ganz praktisch, dass du jetzt kommst. Gerade rechtzeitig“, behauptete Lana nach der Schule, auf dem Weg zur Bahn. Ganz selbstverständlich wurde ich mitgeschleift und ich ließ mich mitschleifen, da  ich andernfalls nicht gewusst hätte, wie ich überhaupt zur Bahn kam.

„Ah und wieso?“, fragte ich, mit einer Spur gesundem Misstrauen. Lana wartete einen Moment, denn Eisen kam vorbei, den Kopf gesenkt, die Haare wie eine Gardine vorm Gesicht und den Rücken so krumm, dass jedes C vor Eifersucht erblasste. Ich rollte mit den Augen, als ich Lanas abweisender Miene gewahr wurde.

„Na, was nun?“, fügte ich ungeduldig hinzu.

„Er sollte es nicht hören“, murmelte sie. Dann: „Am Wochenende steigt ´ne Party, Mike hat Geburtstag und er hat mir gesagt, ich soll dich bitte einladen. Hast du Zeit?“

„Ähm ...“

Ankündigung und Frage überrumpelten mich. Das ging verdammt schnell, mit dem Eingliedern in die Klassengemeinschaft.

„Äh, vielleicht?“, sagte ich vorsichtig. Mir war schon viel begegnet, hauptsächlich zurückhaltendes, abwartendes Mustern. Dass man mich besprang, mit Entgegenkommen und Einladungen machte mich misstrauischer, als vermutlich nötig gewesen wäre.

Noch so eine Sache: Die ständigen Wechsel hatten mich, aus Selbstschutz, vorsichtig werden lassen, im Umgang mit meiner unmittelbaren Umgebung.

Lana deutete meine unpräzise Antwort als ein Ja und als sich meine Eltern beim Nachhausekommen daran erinnerten, nach dem ersten Schultag in der neuen Schule zu fragen und ob ich gut zurecht käme, wurde ihnen eine ähnlich indifferente Erwiderung an den Kopf geworfen. Einen Moment sah ich das schlechte Gewissen in ihren Gesichtern und seufzte.

„Es ist ok, in der Schule“, führte ich die knappe Antwort aus. „Scheinen nette Leute zu sein. Sehr … aufgeschlossen und so.“

„Das freut mich, Liebes!“, versicherte meine Mutter mit einer fast schon beleidigenden Erleichterung, um gleich darauf das Thema zu wechseln: „Hast du dein Bett inzwischen aufgebaut?“

Während ich den Nachmittag über allein in der halbfertigen Wohnung gesessen und über den sehr seltsamen Tag nachgedacht hatte, war mir die Idee gekommen, ich hatte sie aber verworfen. Allein ein Bett aufzubauen, endet schnell in einer kaputten Bandscheibe, außerdem besitze ich das seltene Talent mir grundsätzlich jedes Brett, dass ich in die Hand nehme, einmal entweder auf den Fuß oder auf den Kopf fallen zu lassen, je nachdem, in was für einer Position ich mich grad befinde.

Mit anderen Worten: Ich schlief beharrlich auf dem Boden, von dem mich lediglich eine zwanzig Zentimeter hohe Matratze trennte. Theoretisch gesehen hätte mein Vater das Bett übers Wochenende aufbauen können, theoretisch gesehen hätten er und meine Mutter übers Wochenende anwesend sein müssen, aber sie waren arbeiten.

Theoretisch gesehen funktioniert die Welt ohnehin viel besser als in der Praxis.

„Das wird auf die Dauer aber etwas kalt“, kommentierte Mutter, als ich versicherte, dass es mir egal sei, ob sich unter der Matratze ein Bettrahmen befand. „Also, übermorgen kommen die Handwerker wegen das Balkons. Vielleicht schafft Papa es ja dieses Wochenende dir beim Aufbauen zu helfen. Ich kann´s kaum erwarten, dass wir fertig werden mit dem Renovieren.“

Ich hob und senkte die Schultern, fragte mich heimlich, ob sich das überhaupt lohnte, da wir kaum lang genug bleiben würden, um etwas von der Renovierung zu haben und verabschiedete mich für den Abend. Meine Eltern hatten Papierkram zu erledigen und ich war müde.

Ich hätte mich an den Laptop setzen können, doch erstens war die Internetleitung noch nicht freigeschaltet und zweitens gab es niemanden, mit dem ich hätte chatten können oder wollen. Worüber redet man schon mit Menschen, die nichts über einen wissen und mein Bedürfnis, mich mit Egozentrikern zu beschäftigen, die nur über sich sprechen, weil ihnen alle anderen Menschen gründlich schnurzpiepe sind, auf der zwischenmenschlichen Ebene, ließ ebenfalls zu wünschen übrig.

Das Ding blieb aus und ich kroch mit Max Goldt und einem Schlaftee in mein improvisiertes Bett.

Am nächsten Morgen musste ich feststellen, dass sich die Tasse mit dem restlichen Schlaftee darin, selbstständig gemacht und über Max Goldt ergossen hatte – das kommt davon, wenn man mit Buch und halbvoller Teetasse in der Hand einschläft.

 

Da ich zusätzlich unter Zeitdruck stand, ließ ich die Sauerei Sauerei sein und machte mich im Orkantempo fertig. Heute würde ich nicht zur Schule gefahren, meine Eltern waren längst unterwegs und es blieb mir überlassen, mit dem, sich mir nach wie vor nicht ganz erschlossenen Fahrplan, fertig zu werden.

Es mochte das Glück der Glücklosen sein, dass die Verspätung auf wenige Minuten beschränkte.

Der zweite Tag und gleich unpünktlich erscheinen, keine empfehlenswerte Aktion. Bei der Mathelehrerin hinterließ das einen äußerst schlechten Eindruck und meine dürftige Begeisterung für Mathematik, machte die Sache nicht besser.

„Mach dir nichts draus, die ist immer so drauf“, flüsterte Lana, neben der ich heute zu sitzen gekommen war, nachdem Frau Schärge mir einen rhetorisch gut verpackten Rüffel erteilt hatte, dem ich nicht die Aufmerksamkeit schenkte, den er, ihrer Meinung nach, verdient hätte.

Ich lächelte vage. „Manche Menschen sind ständig unbefriedigt und kompensieren damit irgendwas perverses.“

Sie lachte. „Das stimmt in ihrem Fall wahrscheinlich.“

Es stimmte auch im Fall des nächsten Lehrers. Am Vortag war ich den „Netten“ begegnet, wie Maike erklärte. Heute war ein „Arschlochtag“. Der Biolehrer hatte einen Stock im Arsch und der Englischlehrer einen Stock im Rücken, er ging und sprach, als würde er täglich einen Besen verspeisen. Im Ganzen. Am Stück. Auf einen Happs.

Ich hatte immer darauf geachtet, dass meine Noten gerade gut genug waren, um weder negativ, noch positiv aufzufallen. So hatte ich meine Ruhe und konnte ein entspanntes Schulleben führen. So entspannt, wie ein Schulleben zwischen Umzugskartons eben ist.
Nach dem Biounterricht wurde ich nach vorn gerufen.

„Wie ich sehe, stehen Sie auf zwei in Biologie?“

Ich nickte brav.
„Haben Sie vor, sich zu verbessern?“

Was war das für eine Frage? Und wie würde er reagieren, wenn ich „Nein“ sagte?

„Ich hege die Absicht, meine Leistungen meinem Können entsprechend und das dem Stoff anzupassen“, erklärte ich nach kurzem Überlegen, wobei selbst mir der Sinn verwehrt blieb. Doch der Schmonzes erzielte eine Wirkung und ich wurde verwirrt angeglotzt.

„Ah, gut, gut. Ja. Sehr schön. Wenn ich mich recht entsinne, sind Ihre Eltern in der Forschung tätig, richtig?“

Ich verzog innerlich das Gesicht und nickte. „Ja … auch.“

„Nun, dann haben Sie ja die besten Voraussetzungen, nicht wahr?“ Er lächelte dünn, ich brachte es nicht fertig, dieses Lächeln zu erwidern. Dass ich mich bei weitem nicht so glücklich schätzte, wie er annahm, hatte er nicht zu wissen. „Ich denke, Sie werden gut zurecht kommen. Vielen Dank, ich lege nur Wert darauf, mir ein Bild zu machen.“

Damit war ich entlassen.

„Was wollte der alte Sack?“, steckte Maike ihre Nase in die Angelegenheit, sobald wir außer Hörweite waren.

„Nur wissen, ob ich vorhab gut in Bio zu sein.“

„Er ist so ein Leistungsschinder“, stöhnte Ingo, seines Zeichens Freund von Maike. „Mach dir nichts draus und ignorier ihn am besten.“

Ich versprach, seinen Rat zu beherzigen, wobei die Ironie spurlos von ihm abprallte.

„Was machste eigentlich so … hobbymäßig?“, fragte Mike, dem die Ironie nicht entgangen war und der verhalten grinste.

Eine von den Fragen, die ich nicht gern beantwortete. Hätte ich viel Zeit gehabt, hätte ich weitaus mehr Hobbies angehäuft, als mir möglich war. So hatte ich mich immer auf das beschränkt, was einem Normaden die geringste Mühe bereitet, im Bezug auf die Mobilität.

Da es sich dabei außerdem um eine Begabung handelte, war mir die Wahl leicht gefallen.

„Kunst und so“, antwortete ich ungenau. „Musik, du weißt schon. Womit sich wahrscheinlich siebzig Prozent der Menschheit beschäftigt, in der stillen Hoffnung, sich einmal von der grauen Masse abzuheben, wenn man sich nur lang genug der grauen Masse und ihren Bedürfnissen anpassen.“

„Schön gesagt“, grinste Mike und nickte. „Musik, ja? Zeig mir bei Gelegenheit mal, was genau du damit meinst.“ Er zwinkerte mir zu und ging, um sich seinen Pausenkaffee zu besorgen.

„Ich sollte dich vielleicht vorwarnen: Mike ist schwul.“ Lana wartete auf eine angemessene Reaktion meinerseits und schien sehr enttäuscht, als ich nickte.

„Ok.“

„Weißt du, viele Mädels stehen auf ihn, weil er so gut aussieht“, versuchte sie es erneut.

„Interessant.“

Du offenbar nicht“, fügte sie jetzt sehr deutlich und ohne Drumrumreden hinzu.

Ich lachte. „Nein. Ich  hab´s geahnt.“

„Ach?“

„Ja, zum Beispiel, als er mir gestern sagte: Ich bin übrigens schwul, um Missverständnissen vorzubeugen.“

„Das hat er gesagt?“, wunderte Maike sich. „Normalerweise behält er´s für sich. Er meint, es sei die Sache nicht wert, ständig drüber zu reden.“

„Womit er recht hat.“

Mike hatte es mir erzählt. Dazu gekommen war es auf dem Heimwegs, nachdem Maike und Lana ausgestiegen und wir allein weiter gefahren waren. Er hatte mich frank und frei heraus gefragt, ob ich einen Freund hätte bzw. ob es nette Jungs gäbe, da wo ich her kam, wo auch immer das sein mochte, da ich dazu keine Stellung genommen hatte. Was Material für ihn betraf, musste ich passen. Irgendwas an seiner Frage hatte mich aber dazu veranlasst, Daniel zu erwähnen. Seine Reaktion darauf, erinnerte mich an das typische Geschnatter von Weibern: „Er war´s nicht wert, glaub mir. Ich kenn mich mit solchen Typen aus.“

Wenn man es wusste und ihn genau beobachtete, bemerkte man die kleinen Zeichen, auf die es zu achten galt. Grundsätzlich war es mir absolut egal, ob er auf Männlein, Weiblein oder Bäume stand. Wenn er glücklich mit dem war, was er fühlte, gab es keinen Grund, sich einzumischen – ehrlich gesagt hätte es auch keinen gegeben, wenn er unglücklich gewesen wäre. Es war, schlicht und ergreifend, seine Sache.

„Suchst du im Moment denn?“ Maike riss mich aus meinen Gedanken.

„Bitte?“

Sie wiederholte geduldig: „Suchst du im Moment?“

„Was bitte?“

„Naja, ´n Freund.“

Ich lächelte. „Das hört sich ja an, als hätte ich einen unter einem großen Stein verloren. Falls du damit meinst, ob ich krampfhaft versuche, mit irgendwem glücklich zu werden, dann nein. Ich halte diese Taktik für die am wenigsten erfolgversprechende.“

Sie nickte nachdenklich. „Stimmt auch wieder. Und sonst?“

„Ich geh mal davon aus, dass „Und sonst?“, soviel heißt wie: Gibt’s denn sonst wen?“

„Erraten.“

Ich zuckte mit den Schultern. Das ging schon wieder zu weit in die persönlichen Angelegenheiten, die ich für mich behalten wollte.

„Eher nicht. Bin ja auch grad erst hergezogen und so.“

Sie beließ es dabei, aber dieses Thema weckt nun mal, aus welchem Grund auch immer, die Neugier anderer, selbst, wenn sie persönlich nicht betroffen sind oder den Betroffenen kaum kennen.

 

Augenscheinlich waren meine neuen „Freunde“ sehr gewillt, mich in ihre beinah perfekte Klassengemeinschaft einzugliedern, blieb die Frage, ob ich bereit war, mich aufnehmen zu lassen und gleichzeitig  meinen Grundsätzen treu zu bleiben. Es war schwer beides zu vereinen und ich verlegte mich darauf, zwar nett und freundlich zu sein, aber immer die Distanz zu wahren – die mir meine innere Ruhe gewährleistete – indem ich so wenig wie möglich von mir preisgab und das wurde akzeptiert.

Ein weiteres Mal wunderte es mich, dass diese tolerante Klasse eine so intensive Abneigung gegen Eisen an den Tag legte.

Zugegeben, viele Gedanken hatte ich mir um den Jungen bisher nicht gemacht. Ich sah ihn jeden Tag in der Schule, wo er still und wortlos den Unterricht absaß und keine Freunde zu haben schien. Sein Gesicht blieb hinter dem Vorhang aus Haar verborgen. Gleichzeitig machte er keinen abweisenden Eindruck. Er antwortete mir bereitwillig, wenn auch einsilbig, als ich im nächsten Deutschunterricht neben ihm zu sitzen hatte – der Lehrer bestand auf gleichbleibende Sitzordnung – und ihn etwas fragte. Seine Stimme klang rau, als sei sie infolge seltener Nutzung, eingerostet. Der Tonfall deutete weder auf schleimigen Computerfreak – wie Lana behauptet hatte – noch auf Perversling oder notorische Glöckner-von-Notre-Dame-Komplexe hin, so Maike.

Die Meinung der Jungs zu ihm, war gespalten. Die meisten enthielten sich, einige meinten, er sei halt seltsam.

Am Freitag, nach einer weiteren Deutschsstunde, stellte Lana mit mitleidigem Blick, fest: „Vielleicht kannste ja nächste Woche bei uns sitzen.“

Ich rollte mit den Augen.

„Du meine Güte, was ist nur los mit euch?“, wollte ich fragen und ließ es. Ich hatte den leisen Verdacht, dass sie meinen diesbezüglichen Standpunkt, so wenig verstehen würden, wie ich mich weigerte ihren zu teilen.

Es war mir gleich, neben wem ich saß, rein objektiv betrachtet und vom Lernerfolg her – hätte ich auf hohe Lernziele großen Wert gelegt – brachte es mich sicher weiter, wenn ich neben dem stummen Eisen saß. Ich würde mich nicht weiter einmischen. Sollte ich tatsächlich umgesetzt werden, dann auf ihr Bemühen hin, nicht auf meines.

Obwohl dieses Verhalten unglaublich lächerlich anmutete, mochte ich die Leute; ich befand mich in einer kleinen, nun ja, Zwickmühle.

Aber wieso sollte es, solang ich hier war, nicht klappen mit Freundschaften? Ich würde ohnehin nie erwähnen, was ich tatsächlich dachte und wer ich tatsächlich war. Sie wusste, dass meine Eltern viel arbeiteten und ich umgezogen war, damit reichte es an Privatinformationen, meiner Meinung nach.

„Gehen wir heut Abend zusammen zur Party?“, wechselte Maike das Thema.

Die hatte ich ganz verdrängt, die Party, nicht Maike.

„Sicher. Ich würd sagen, wir kommen zu dir und gehen von da aus los“, erwiderte Lana an meiner Stelle und ich nickte zustimmend. Solang sie nicht auf die Idee kamen …

„Oder wir gehen zu dir, dann sehen wir mal eure Wohnung.“ Genau diese Idee hatte ich gemeint.

Ich schüttelte eilig den Kopf. „Nee, bei uns sieht es aus, wie nach ´nem Erdbeben, Maike ist sicherer. Äh … zu mir können wir ´n andermal. Ihr wisst schon, wegen Umzug … es steht alles voll.“

Die Erklärung wurde akzeptiert, die „Gefahr war gebannt“, wie einer, den ich bei meiner vorletzten Umzugsimpression kennengelernt hatte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit sagte. Er war besessen von dieser Phrase. Ich hatte ihn gemocht und es umso mehr bedauert, als wir weiterzogen. Zu diesem Zeitpunkt war ich zu dem gefühlsschonenden Entschluss der Zurückhaltung in allen Bereichen meiner leicht verkrüppelten Emotionen gekommen.

Das mit meinem Zimmer war, leider, nicht einmal gelogen. Es sah noch schlimmer aus, als Fukushima nach einem Erdbeben der Stärke Tausend und ich hätte mindestens ein Jahrhundert gebraucht, um Ordnung zu schaffen. Was vor allem daran lag, dass ich etwas gesucht und nicht gefunden, dafür den Inhalt sämtlicher Kisten über mein Zimmer verteilt, aber nicht zurück geräumt hatte.

IV

Das Schöne an Partys ist, dass sie das Schließen flüchtiger Bekanntschaften erleichtern. Ebenso sind sie Brutstätte aller erdenklichen, zwischenmenschlichen Probleme und sorgen dafür, dass die Gerüchteküche gut gefüllte Töpfe voll vager, aber dafür umso wilderer Vermutungen enthält.

Ich hatte nie Gelegenheit gehabt, eine eigene charakteristische Saufkultur zu entwickeln. Ich kannte den „Wert“ von Alkohol und seine Fähigkeit einem das Leben, nun, leichter erscheinen zu lassen; gleichzeitig hatte ich Erfahrungen sammeln dürfen, die mich den Umgang mit Alkohol bedächtiger angehen ließen, meistens. Zum Beispiel vermied ich es, seit einem Zwischenfall, vor Umzügen in die Nähe von Bier zu geraten.

Ich war vorsichtig und beobachtete das allgemeine Geschehen von dessen Rand aus. Was mir dabei auffiel: Maike und Ingo mochten zusammen sein, sahen darin aber keinen hinderlichen Grund, trotzdem mit anderen Menschen „intim“ zu werden, was am Alkohol liegen mochte. Lana drückte sich in der Nähe des Klassensportasses, Benzo genannt, herum und es war nicht zu übersehen, dass sie gerne mit ihm „intim“ geworden wäre. Zwischen einem Mädchen, das ich als eine Art DSDS-Hall-of-Shame-Kandidatin identifiziert hatte, ihrer Sippschaft und mir Unbekannten, Freunde Mikes, gab es Streit. Und gut zwei Drittel der Anwesenden waren mir völlig fremd.

Nun, genaugenommen kannte ich niemanden in dem Sinne, aber diese zwei Drittel waren mir nicht einmal vom Sehen in der Schule ein Begriff.

„Hast du Spaß?“ Mike hüpfte neben mich aufs Sofa, von dem aus ich den Begebenheiten folgte. Eine Antwort wartete er nicht ab.  „Warum sitzt du hier? Komm, misch dich unters Volk, wie meine Oma immer sagt. Lern´ Leute kennen. Eine einmalige Chance. Andererseits würde ich dir bei dem ein oder anderen empfehlen, die Chance besser nicht zu ergreifen.“

Ich lachte. „Weil ich mir sonst die Finger schmutzig mach?“

Er klopfte sich, mit schiefem Grinsen, an die Nase und versuchte seinen Blick zu fokussieren. „Du hast es erfasst. Wie haste dich denn bisher eingelebt?“
Schon blitzte wieder der sozial engagierte Klassen- und Schulsprecher durch, der Projekte für jüngere Schüler leitete, mit dem klangvollen Titel: „Drogen und ihre Folgen – wie ich mich schützen kann, ohne dumm zu bleiben.“ Ich wusste davon, weil er fünf Minuten da rein investiert hatte, mich für eine Betreuerrolle innerhalb des Projekts, zu begeistern. Damit konnte man zusätzliche Punkte für den Sozialwissenschaftsunterricht sammeln. Ich hatte dennoch abgelehnt. Abgesehen von Umzügen, gibt es nichts Schlimmeres für mich, als Kinder. Nun, an Umzüge gewöhnt man sich nach einer Weile. Und sie schreien nicht so laut.

Jetzt nickte ich. „Gut. Ihr seid ja alle vorbildlich nett und aufgeschlossen.“

Er grinste wieder. „Jah, das war auch mal anders. Unsere Schule war ´n ziemlicher Saustall, als ich drauf gekommen bin ...“

„Aber deine Anwesenheit hat alles begradigt?“, vermutete ich ironisch.

„Auch, aber zwei Jahre später haben wir ´n neues Schuloberhaupt gekriegt und der war super … ist super. Hast ihn ja kennengelernt, nehm ich an.“

„Nee, ich hab euch hinterrücks infiltriert. Niemand weiß von mir. Schon gar kein Schuloberhaupt.“

Mike lachte. „Hört sich an, als seist du so ´n soziales Umfeld nicht gewöhnt. Ich mein, so rein schulisch. Nichts, gegen deine Eltern oder so … kenn ich ja nicht.“

Ich überging den letzten Teil. „Naja, bisher war ich auf den üblichen Schulen. Leistungsdruck und gelegentlich ein Amoklauf.“

„Na!“, brummte es auf meiner anderen Seite und als ich mich umsah, hing da ein Junge in den Kissen und schüttelte missbilligend den Kopf. „Das ist aber jetzt schon makaber.“

„Das ist Lasse. Er ist in meiner Band, spielt Bass“, stellte Mike uns vor.

Lasse richtete sich auf und gab mir die Hand, zusammen mit einem prüfenden Blick. „Du bist die, „die auch Musik macht“, richtig? Meinte Mike, die Tratschtante.“

„Hey!“

Zum ersten Mal lachte Lasse.

Ich nickte knapp. „Sozusagen.“

„Ja? Dann lass mal was hören.“

„Was? Hier? Kaum. So laut wie´s hier ist, außerdem läuft ja schon Musik“, lachte ich nun.

Lasse schien zu überlegen. „Na schön. Ein andermal. Kommst du nachher mit aufn Kiez?“

Ich schüttelte den Kopf. Es war bereits halb zwei. Wann auch immer sie vorhatten loszugehen, ich hatte vor, zu dem Zeitpunkt im Bett zu liegen. Am nächsten Tag erwartete mich eine der seltenen Familienzusammenführungen, bei denen ich meine Großtante und ihren Mann kennenlernen sollte, die „extra aus Uelzen“ kamen, um mich zu treffen, behauptete meine Mutter. Da konnte ich es mir nicht leisten, völlig verkatert zu sein. Meine Eltern ließen mir viele Freiheiten, aus Ermanglung an Möglichkeiten, mich zu überwachen. Stellten sie allerdings fest, dass ich diese Freiheiten mehr missbrauchte, als tolerierbar war, würde ich nichts zu lachen haben. Und da es bis zu meinem achtzehnten noch anderthalb Monate waren, musste ich mich solang zusammenreißen, offiziell.

„Jaja, Eltern“, sinnierte Mike, bevor er aufsprang und davon tänzelte. Lasse blieb mir, nuckelte an seinem Bier und lächelte gelegentlich.

„Was genau?“, brach er das Schweigen, das ich als unangenehm empfand, dank des gelegentlichen Lächelns.

„Bitte?“

„Was genau machst du für Musik, womit? Alte Ratsche, Kamm, Klavier, Triangel …?“

„In der Regel mit Hoffnung und etwas Talent.“

„Gesang?“, riet er ganz richtig. Mir gefiel das nicht, weil es zu weit in meine Privatangelegenheiten ging. Ich ahnte, was als nächstes kam.

„Dein eigenes Zeug oder Cover?“

Mein Zögern deutete er falsch. „Ah, gehörst du zu diesen Traumtänzerinnen, die hoffen, entdeckt zu werden, wenn sie nur ordentlich dran glauben?“

„Beweis mir erst mal, dass ihr es besser macht“, gab ich kühl zurück. Das erschien mir schlauer, als ein Aufschrei der Empörung.

Er lachte. „Warum sagst du´s nicht einfach?“

„Weil ich nicht will!“, war keine Option. Würde ich ihm sagen, dass ich durchaus im Stande war, meine eigenen Kreationen zu fabrizieren, würde er danach fragen und sie hören wollen, so, wie er bisher sein Interesse bekundet hatte.

„Du hast eine ganz reizende Art, weißt du das? Ich kann sowohl Klavier und Gitarre spielen, als auch singen und zwar meine eigenen Sachen, auch, wenn´s dich absolut nichts angeht.“ Es ärgerte mich, dass ich antwortete, aber er hatte eine reizende Art, eine, die vor allem die Nerven befiel.

„Ich würd trotzdem gern was hören“, erklärte er ungerührt. Lasse gehörte ganz eindeutig zu der Sorte Mensch, die Unfreundlichkeit mit Direktheit verwechselt, aber auch – der Hartnäckigkeit nach zu schließen – Interesse für alles zeigt, was mit Musik zu tun hat.

„Vielleicht irgendwann mal“, brummelte ich.

Er lachte wieder, bevor er aufstand. „Ich komm drauf zurück, versprochen. Muss mal weg, wir sehen uns.“

Wenn es sich nicht vermeiden ließ...

Solang er über meine Aktivitäten die Klappe hielt, würde ich nicht Gefahr laufen, von anderen um eine „Kostprobe“ gebeten zu werden. Ich bildete mir nichts Leichtsinniges auf mein Können und meine Fähigkeiten ein, andererseits wusste ich, was ich konnte und hatte auch nicht vor, mein „Licht“ unter den falsch bescheidenen Scheffel zu stellen. So etwas kommt in der Regel noch schlechter an, als übersteigerte Selbstbewusstsein, darüber kann man wenigstens lachen und meinen, es sei Selbstironie, was auf die Dauer die gesündeste Form der Selbstdarstellung ist.

Es gibt immer Verbesserungsmöglichkeiten und ich war ständig dabei, mich zu verbessern und nach Möglichkeit dabei nicht durch Umzüge abhalten zu lassen.

Ein richtiges Klavier mit herumzuschleppen, hatten meine Eltern als puren Wahnsinn abgetan und mir stattdessen ein elektrisches angeschafft, dem ich zwar nicht dieselbe Begeisterung entgegenzubringen im Stande war, wie einem ordentlichen Flügel, aber es war besser als nichts und ein Zugeständnis. Der Vater meiner Mutter war in der Musikbranche tätig und hatte ihnen geraten, mir „kreative Freiheit“ zu lassen.

Ich wäre bei dem Gespräch fast an die Decke gegangen, so ging mir dieses Vernunftgefasel über „unterdrückte Kreativität und daraus resultierende spätere Persönlichkeitsdefizite“ auf die Nerven. Als sei das nur eine nicht ernst zu nehmende Spielerei für mich!

Lana winkte mir vom anderen Ende des Zimmers zu. Die ersten waren zu den grünen Weidegründen des Alkohols aufgebrochen und der zusammengeschrumpfte Rest besetzte sämtliche, zur Verfügung stehende Fläche, ob nun horizontaler, vertikaler oder schräger Natur.

Solang kein Gegenstand den Platz für sich beanspruchte, saß, hing oder lehnte jemand darauf.

Neben mir saßen zwei der mir besonders unbekannten Gestalten und waren so intensiv in ein Gespräch über Wale vertieft, dass ich nicht einmal wahrgenommen wurde.

Lana wühlte sich durch das volle Zimmer, in dem die Luft stand und die laute Musik dem Ganzen einen greifbaren Charakter gab.
„Alles in Ordnung? Tut mir leid, ich wollt schon früher kommen.“

Ich winkte gnädig ab. Einen Moment lauschte sie dem seltsamem Gespräch neben mir.

„Worüber reden die da?“

„Über Wale, glaub ich.“

„Warum?“

„Du, das weiß ich nicht“, musste ich sie enttäuschen, dafür fand die Diskussion über Wale ein Ende und man wandte sich uns zu.

„Das ist ein sehr ernstes Thema!“, erklärte der Junge und eine schwache Fahne wehte mir entgegen. Ganz klar, nur ein stark Angetrunkener konnte um diese Uhrzeit über die Problematik des Walfangs reden, so einer oder ein Fanatiker.

Ich grinste und er erwiderte mein Grinsen, während das Mädchen, das weitaus nüchterner war und dem etwas am Thema liegen musste, so, wie sie sich ereifert hatte, die Stirn runzelte. Sie gehörte also zu der Sorte Fanatiker.

„Hi, Lennart“, stellte der Junge sich vor. Das Mädchen folgte widerwillig: „Ari.“

Lennart entpuppte sich als weiteres Mitglied Mikes Band, in der Funktion eines GitarristenSchrägstrichKlavierspielers, den Schrägstrich betonte er mit besonderem Nachdruck. Falls er von mir wusste, vergaß er, darauf einzugehen, wofür ich ihm, aber vor allem dem in ihm befindlichen Alkohol, dankbar war.

Ari war nicht seine Freundin, wär es aber unübersehbar gern gewesen. Weshalb sie mich kritisch musterte, als er blöd kalauerte und ich drüber lachte.

Als man sich auf den Weg auf den Kiez machte, sah ich die Zeit für gekommen nach Haus zu schleichen. Ein Stück lief ich mit der Gruppe zur Bahn. Es war ein fröhlich schrill-lauter Haufen, der sämtliche Nachbarn aus dem Bett haute, man konnte das Plumpsen regelrecht hören.

Lana hatte sich bei mir untergehakt, Maike strahlte, als ich ihrem Blick begegnete, Mike rollte mit den Augen und zwinkerte mir zu. Für den Moment fühlte ich mich absolut wohl, genau so lang, bis ich merkte, wie wohl ich mich fühlte. Dann schlich sich beharrlich Unsicherheit gepaart mit der Ermahnung, Acht zu geben, in mein Bewusstsein und machte das Gefühl kaputt. Ich war im Begriff mich an diese neue „Welt“ zu gewöhnen und das biss sich mit meinen Absichten.

„Na, kommste jetzt doch mit, oder was? Weißte noch, wer ich bin?“

„Wie könnt ich das vergessen, Lasse?!“, gab ich zurück, als er neben mir auftauchte, während wir die Stufen zum Bahnsteig hoch krochen, wankten und hüpften, je nach Bedürfnis.

Er nickte zufrieden. „Haha, genau das mein ich.“

„Weißt du auch noch, wer ich bin?“, mischte Lennart albern mit. „Und was ich tue?“

„Lennart und du spielst Schrägstrich.“ Mit Besoffenen diskutiert man nicht darüber, dass ihre Fragen Schwachsinn sind, denn etwas anderes kann man nicht von ihnen erwarten.

Er gackerte und ich war mir nun vollends Aris ewigem Zorn gewiss. Ich lächelte, als ich ihrem Blick begegnete. Es war mir nicht daran gelegen, sie zu ärgern, aber wenn sie sich trotzdem ärgerte, war das nicht mein Problem.

„Kommste nu mit?“

„Nee.“
„Och, komm schon. Warum nicht? Gib dir ´n Ruck!“, forderte Maike mich auf. Ich erklärte noch einmal, mit viel Geduld, den Sachverhalt und wurde später, wenn auch unter lauten Rufen des Bedauerns, aus der Bahn entlassen.

Ich starrte ihr hinterher, als sie losfuhr und das letzte, was ich sah, war Lennart, der sich die Nase an der Scheibe platt drückte und Grimassen schnitt.

Spielkinder.

Zu ihm passte das irgendwie, er erinnerte mich ans Kasperle meiner Kindheit. Wobei … wenn ich länger darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich gar nichts mit Kasperles zu tun hatte, in meiner Kindheit. Wie auch immer, er gab trotzdem ein sehr gutes ab.

V

Ich gab mir Mühe, leise durch die Wohnung zu schleichen, stellte, als ich an der Küche vorbei tigerte, fest, dass ich nicht die Einzige war, die sich Mühe gab, niemanden zu wecken.

„Ach, hallo.“ Überrascht sah mein Vater vom Laptop auf, als ich behutsam die Tür öffnete. „Natürlich, du warst ja feiern, richtig?“, beantwortete er sich selbst die ungestellte Frage.

Ich nickte, holte ein Glas und die Pseudomilch – meine Mutter kaufte nur Antimilch (quasi das Anti, von dem die Forscher immer sprechen: Antiteilchen, Antineutron, Antimilch … hat eine Logik, wenn man´s so einreiht) – aus dem Kühlschrank und setzte mich zu ihm an den Tisch. Er schob den Laptop zur Seite, wodurch ein Stapel Papier ins Rutschen geriet und zu Boden flatterte.

Er seufzte, ließ das Blattzeug liegen und lächelte.

„Kannst du nicht schlafen?“ Ich goss geräuschvoll gesunden Milchersatz aus Kautschuk oder Reis in mein Glas. „Bäh, warum tut sie das?“, fügte ich nach einem Schluck hinzu. Es schmeckte nicht, wie echte Milch, es roch auch nicht danach und wenn man ganz ehrlich war, hatte es nicht einmal die Farbe von echter Milch. Und so was nannte sich dann „Milch“-Ersatz – eine äußerst dubiose Angelegenheit.

„Sie mag keine Milch. Und niemand hindert dich daran, Milch zu besorgen, Liebes“, tadelte mein Vater sanft.

„Muss es denn immer gleich „Horchata de Chufa“ sein, kann sie nicht einfach keine Milch trinken, stattdessen Tee oder so?“, seufzte ich. (Ich hege eine ausgeprägte Abneigung gegen alles – fast alles – was Nuss enthält, das schließt Mandeln ein.)

„Übertreib´ nicht.“ Er lachte. „Ich bring morgen Milch mit, einverstanden?“

Ich nickte langsam. „Arbeitet ihr morgen auch?“

„Ja. Und da ich ohnehin nicht schlafen kann, dachte ich mir, fang ich jetzt schon an. Aber keine Sorge, wir sind morgen rechtzeitig wieder da.“

Als sie mich einmal einem mir unbekannten Verwandten vorgestellt hatten, hatten sie sich unvorbildlich verspätet und ich stand allein da, mit den, vorbildlich verfrühten Verwandten. Die Situation hatte mich überfordert, damals war ich ein ganzes Stück jünger gewesen war.

„Zu nett. Wann habt ihr eigentlich das nächste Mal länger als eine Stunde frei?“, schickte ich missmutig hinterher.

Normalerweise lag ich ihnen nicht mit Jammereien bezüglich ihrer Arbeit und der beschränkten Zeit, die sie für ihre Tochter erübrigten, in den Ohren. Doch manchmal machte sich ein kleiner Teil, der sich schlecht behandelt fühlte, selbstständig.

Er seufzte. „Bald, hoffe ich. Zumindest laut Arbeitsplan.“ Er bedachte mich mit einem besorgen Blick. „Tut mir leid.“

Ich winkte ab und unterdrückte ein Gähnen. „Schon ok. Ich geh ins Bett, sonst bin ich morgen doch tot. Wir sehen uns. Viel … Erfolg noch.“

Mein Vater hatte den Laptop vorm Gesicht, da hatte ich den Raum noch nicht wieder verlassen. So war das: Die Arbeit beanspruchte ihre Aufmerksamkeit zu sehr, als dass sie sich ihr länger entziehen konnten.

Wie bei vielen Dingen hatte das sein Gutes und sein Schlechtes. Momentan war es mir egal, ich wollte ins Bett.

 

„Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gewöhn ich mich dran“, behauptete meine Mutter. Worum ging´s?

Ich hatte die letzte Stunde damit verbracht, meine Gedanken treiben zu lassen, was meine Trommelfelle zu unempfänglicher Nutzlosigkeit verführt hatte. Es ging um Hamburg, soweit war ich mitgekommen, doch dann hatte meine Großtante einen spontanen Anfall von Lokalpatriotismus erlitten und war auf die Barrikaden gegangen, weil mein Vater zu erwähnen wagte, dass München auch sehr schön sei, weshalb ich abschaltete.

Inzwischen hatten die Gemüter sich beruhigt, doch eine allgemeine Anspannung hing, wie ein Damoklesschwert über der Ruhe und ließ sich nicht leugnen. Später erfuhr ich, dass die Großtante dagegen gewesen war, also, gegen die Ehe meiner Eltern, aber was hatte die schon zu sagen, wie mein Vater abfällig schimpfte, nachdem der Besuch gegangen war.

Noch saßen wir aber in der umzugumtosten Küche und meine Mutter gab sich Mühe, die Gäste von den anderen Räumen, in denen es schlimmer aussah, fern zu halten. Das Fenster stand offen und von draußen drangen die typischen Geräusche einer Stadt herein, die zu anonym und beschäftigt ist, als dass sie so etwas wie Lokalpatriotismus interessiert.

Der Frühling war nicht zu überhören und noch weniger zu überriechen – was auch für unsere Wohnung galt. Am Vortag war das Badezimmer neu verfliest worden, in der ganzen Wohnung stank es nach abartigem Kleber, dafür trocknete er zehnmal schneller als einfacher Kleber, der einem nicht die Nasennebenhöhlen wegätzt, behauptete zumindest der Fliesenleger.

Ich hätte lieber zehnmal länger gewartet, als mein Geruchsorgan dran zu geben.

„Wie gefällt dir Hamburg denn?“, stürzte man sich auf mich, weil ich leichtsinnigerweise gelächelt hatte.

Man erwartete eine Lobeshymne von mir, so, wie mich Gerda, die Großtante, mit Blicken an den Stuhl festnagelte. Ich hatte nicht vor eine „Ode an Hamburg“ anzustimmen, nur, weil sie mich andernfalls gedanklich und verbal gelyncht hätte. Ich mochte Hamburg, natürlich, aber ich brachte ihm ungefähr die gleiche Art von Sympathie entgegen, wie Sauerstoff, mit anderen Worten: Um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, bedurfte es keiner Gleichnisse, schwurbeliger Formulierungen oder aaliger Alliterationen.

Diese Art von „Freundschaft“ hatte ich jedem Ort, in dem ich lebte, entgegen gebracht, zumindest den meisten. Keine Liebe, kein ausgeprägter Hass, viel eher ausgeglichene Gleichgültigkeit mit einem Schuss Akzeptanz.

„Du wurdest hier ja geboren, nicht wahr? Du bist quasi nach Hause gekommen!“, mischte Otmar, der Onkel, sich ein. Er hatte eine sehr feuchte Aussprache und einen noch feuchteren Händedruck, passend zu seinem Beruf: Biologe, Spezialgebiet: Feuchtbiotope. (Irgendwie hat meine Familie es mit der Forschung.) Das wusste ich so genau, weil er ungefähr eine halbe Stunde darüber lamentiert hatte – ich hoffte, es bald zu vergessen.

Von Tieren weiß man ja, dass sie sich an ihre Umgebung anpassen, offenbar hatte Otmar sich an ihnen ein Beispiel genommen...

„Naja, da erinnre ich mich aber nicht wirklich dran, tut mir leid“, murmelte ich und schielte zu meinen Eltern rüber, die ihrerseits auf die Uhr schielten. Sie wollten weiter arbeiten, sobald der Besuch gegangen war.

„Ah, so. Nun ja, und wie gefällt es dir sonst? Ich meine, jetzt hast du es ja quasi neu kennengelernt, nicht wahr?“

„Es ist ok.“ Und als das deutlichen Unwillen auf die Gesichter von Großtante und -onkel rief, fügte ich hinzu: „Interessante Stadt.“

Damit hatte ich das Minimum an Begeisterung erbracht, dass sie zu sehen wünschten und meine Ruhe.

„Werdet ihr länger hier bleiben, meine Liebe?“, stürzte Gerda sich wieder auf meine Mutter, die einen sparsamen Gesichtsausdruck aufsetzte.

„Nun, das kommt drauf an.“ Solch vage Aussagen waren ihr Markenzeichen. „Aber alles deutet darauf hin, dass wir hier länger bleiben.“

„Ach?“, sagte Gerda.

„Ach?!“, echote ich und hob den Blick von der intensiven Musterung einer Fliege, die gegen das Fenster bretterte. Was waren das für Töne?
Mutter lächelte nervös und mein Vater starrte demonstrativ unbeteiligt aus dem Fenster.

„Na, das ist doch schön, nicht? Das ist schön“, stellte Gerda fest, meine Verwunderung blieb unbeantwortet. Gerda schnatterte weiter: „Dann lohnt es sich vielleicht sogar, wenn wir im Sommer ein kleines Fest veranstalten. Otmar wird ja sechzig und das wollten wir etwas größer feiern. Wäre schön, wenn ihr auch dabei wärt.“

„Natürlich.“ Meine Eltern lächelten höflich, ich verzweifelt.

Ich hasste Familienzusammenführungen im großen Stile, dabei lernte ich Leute kennen, die ich nie wieder sehen würde, aber trotzdem mögen musste, weil ich mit ihnen verwandt war. Eigentlich hätte ich jede Gelegenheit begrüßen müssen, in der ich einen der sesshaften Teile meiner Familie kennenlernte.

Wirklich kennen tat ich nur meine Großeltern, was daran lag, dass unser letzter Aufenthaltsort sich direkt neben ihrem ständigen Wohnsitz befunden hatte. Das hatte es mir ermöglicht, mich von meinem Großvater – der, aus der Musikbranche – nun, wie sagt man so schön?, caochen zu lassen. Demzufolge hatte es mir dort gut gefallen. Trotzdem hatte es mich nicht überrascht, wie schnell ich mir den Ort abgewöhnt hatte.

Allmählich fing ich an, zu glauben, ich hätte tatsächlich eine andere Beziehung zu Hamburg, als zu anderen Städten.

„Wir würden deshalb aber noch mal Bescheid geben, übrigens darfst du uns jederzeit besuchen, wenn du willst!“, richtete Gerda das Wort an mich, als sie und Otmar aufbrachen.

Eigentlich hatte ich nichts gegen die beiden, sie waren nett, abgesehen von Anzeichen einer gewissen Besessenheit und diesem feuchten Händedruck Otmars. Ich versprach, mich zu melden, wenn ich Zeit und Lust hatte und nach dem ein oder anderen guten Ratschlag gingen die beiden.

Ich räumte die Küche auf, meine Eltern krochen hinter ihre Laptops im unfertigen Wohnzimmer und wechselten gelegentlich ein Wort.

Ich begann diese Wohnung zu hassen. Sie war so baustellig – da wurde selbst die seit gefühlten Jahrhunderten bestehende Dauerbaustelle der Elbphillharmonie neidisch und es machte ganz den Anschein, als würde sie neuer Rekordhalter was die Dauer dieses Zustands betraf. Da konnte sie noch so gut geschnitten sein und helle, luftig-offene Räume haben. Solang die Räume von Leitern, Farbtöpfen und eintrocknenden Pinseln vollgestellt wurden, war das mit dem luftig-offen nur eine wohnkulturelle Phantasie.

„Tee?“ Ich steckte meinen Kopf ins Wohnzimmer. Der Tisch war frei geräumt, bzw., er war frei geräumt gewesen, bevor meine Eltern ihre Papiere drauf ausgebreitet hatten.

„Oh, das wär super, Polly“, rief meine Mutter mir hinterher, ich war längst wieder geflüchtet, das Chaos machte mich aggressiv.

Ich sah dem Wasserkocher dabei zu, wie er dröhnend vor sich hinarbeitete. Manchmal, in seltenen Momenten, fühlte ich mich allein. Ziemlich allein. In der Regel übertönte ich das Gefühl mit lauter Musik oder energischem Schlafengehen. Solang meine Eltern arbeiteten und es so früh war, kam keine der beiden Möglichkeiten in Frage. Nachdem ich meinen Eltern ihren Tee gebracht hatte, verließ ich die Wohnung, um der Gegend, in der sie lag, einen intensiveren Blick zu gönnen.

Stadtnah am Stadtpark – das hatte ich erst vor ein paar Tagen herausgefunden. Nach zehn Minuten laufen, kam ich zum Stadtpark, der mäßig gefüllt war. Es war noch zu kalt, um auf dem Rasen zu sitzen, aber warm genug, um die Bänke zu bevölkern.

Ich verirrte mich, weil ich nicht aufpasste, wohin ich lief und hatte Glück, dass ich in dem Versuch, mich zurecht zu finden, in die richtige Richtung irrte. Das Planetarium hätte mir einen Anhaltspunkt bieten sollen, aber ich hatte es irgendwann aus den Augen verloren. Jetzt ragte es wieder vor mir auf. Rechts erstreckte sich die große Wiese.

Unschlüssig sah ich mich um. Wollte ich nach Hause, musste ich über die Wiese bzw. an ihr entlang.

Etwas feuchtes presste sich an meine Hand und erinnerte sie an Otmars Händedruck. Instinktiv zog ich sie zurück und wischte sie abwesend an meiner Jacke ab. Ein Hund hechelte und glotzte mich aus blutunterlaufenen Augen an. Andere hätten sie vielleicht als treuherzig bezeichnet, aber ich kann nichts mit treu-doof blickenden Hunden anfangen.

„Na, Hund?“, fragte ich, als er keine Anstalten machte, zu verschwinden.

„Tut-tut mir leid … er macht, was er will. Ist aber ganz harmlos.“

Ich lächelte sparsam, den Blick nach wie vor auf das Tier gerichtet, dass anfing, meine Schuhe zu besabbern.
„Reizend. Oh.“ Ich hatte aufgesehen und stand … Benzo gegenüber. Das Sportass.

„Ach nee“, meinte der und grinste. „Polly, ne?“

Irgendwie klang das zu selbstgefällig.

„Oho, das hast du dir nach nur einer Woche gemerkt?“

Er lachte versöhnlich. „Wohnst du in der Nähe?“

„Jau. Soll dein Hund das machen?“

„Was? Oh, fuck … entschuldige ...“ Er stürmte davon, um den Köter davon abzuhalten, zwei nichtsahnende Spaziergänger zu bespeicheln und an ihre Räder zu urinieren.

Ich überlegte, ob ich einfach gehen sollte, da kam er, den Hund an der Leine hinter sich herzerrend, zurück.

„Tschuldige“, wiederholte er. „Äh … wo waren wir? Ach ja, du wohnst hier. Wo genau?“

Ich wedelte in eine grobe Richtung.

„Im See?“, meinte er sarkastisch. „Oder meinst du, ich bin nicht vertrauenswürdig genug, als dass du´s mir gefahrlos sagen könntest?“

Seufzend nannte ich ihm die Adresse, er hatte recht, was konnte schon passieren? Wir setzten uns in Bewegung und schlenderten den Weg neben der Wiese hinunter. Der Hund, er hieß Roger, wollte sich von der Leine  befreien, gab irgendwann auf und versuchte statt dessen im Laufen zu pinkeln.

„Wie gefällt´s dir in Hamburg?“

„Du hörst dich an, wie meine Großtante“, seufzte ich. Den Satz konnte ich nicht mehr hören.

„Ach, ja?“

„Ja.

„Na schön, was hast du ihr denn geantwortet?“

Ich musterte Benzo von der Seite. Konnte ja richtig pfiffig sein, der Junge.

„Ganz gut. Ist ´ne interessante Stadt, denke ich. Wie gefällt´s dir denn?“

Er lächelte. „Na, ich liebe es. Man muss Hamburg lieben, es ist … einfach super.“

Ich nickte. „Na schön. Wie du meinst. Und du gehst brav jeden Tag mit Roger hier spazieren und freust dich dabei, dass du in Hamburg bist, wie?“

„So ungefähr. Hab dich die letzten Tage hier allerdings gar nicht gesehen.“

„Schande über mich. Aber ich hab ´ne Entschuldigung, die letzten Tage wusste ich nicht, dass ich hier wohne.“

„Wie?“, fragte er verwirrt.

„Ich mein, die letzten Tage war mir noch nicht bewusst, dass ich direkt neben dem Stadtpark wohne“, erklärte ich geduldig.

„Ach so. Na, wenn du möchtest, darfst du dich mir gern öfter anschließen. Es kann verdammt langweilig sein, das Gassigehen“, grinste er. „Wie findest du denn unsere Klasse, um auf ein weitaus interessanteres Thema zu kommen?“

Ich berichtete, was Mike mir geraten hatte und Benzo stimmte dem lachend zu. „Da hat unsere kleine Dragqueen ganz recht.“

Dabei sah Mike nicht einmal im Ansatz, wie eine Dragqueen aus.

„Du hast wohl was gegen Schwule“, vermutete ich, sein Tonfall verriet ihn.

Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. „Naja, ich hab kein Problem mit Mike, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich da so supertolerant mit umgehen kann, wie ihr Mädels. Ich mein, ich hab nichts dagegen … „

„ … aber da sind Berührungsängste, schon klar“, vollendete ich den Satz und hob die Mundwinkel, als er zustimmend grunzte.

Abgesehen von diesem kleinen Charakterfehler, der aber geschlechtsspezifischer Natur war, und der Sache mit dem sabbernden Hund, stellte ich fest, dass Benzo ein überzeugend netter Typ war. Er hatte Humor, auch, wenn der den Geschehnissen mitunter hinterher hinkte, konnte aber ebenso gut ernsthafte Unterhaltungen führen. Er erzählte mir das ein oder andere über die Klasse und ihre Gesichter. Seinen Schilderungen war zu entnehmen, dass er sich mit allen verstand. Und ihnen war zu entnehmen, dass er vorhatte, Profisportler zu werden. Na, wenn´s ihm gefiel. Ich erfuhr, dass er neben der Schule ständig an Wettkämpfen teilnahm, im Schwimmen sogar bei den überregionalen Meisterschaften, oder wie das heißt.

„Manchmal leidet die Schule drunter, aber naja, sollte es später mit der Schwimmkarriere nicht klappen … kann ich immer noch Schauspieler werden“, sinnierte er und grinste vieldeutig.

Ich verkniff mir einen Kommentar, wurde aber, bevor sich unsere Wege trennten, eingeladen, bei seinem nächsten Wettkampf „vorbei“ zu schauen.

Heute musste der „Tag des allgemeinen überallhin Einladens“ sein, erst meine Tante, jetzt Benzo, wer wusste, was noch kam.

Nun, zum Beispiel lud mich meine Mutter später dazu ein, mitzuhelfen, mein Bett aufzubauen. Ich lehnte dankend ab, ließ meinen Vater allein zurecht kommen und kletterte unter die Dusche.

VI

Ich verriet Lana nichts von Benzos Einladung, ihn bei Gassigängen zu begleiten oder zu seinen Wettkämpfen zu kommen. Sie glaubte nicht an bloße Freundschaft zwischen Männlein und Weiblein. Ganz abgesehen davon, wusste ich nicht, ob ich die Einladungen überhaupt wahrnehmen würde.

In der Bahn fiel mir ein, was sich mir im Sportunterricht aufgedrängt hatte.

„Ihr behauptet doch, Eisen würde ständig Ballerspiele spielen und halt ´n totaler Freak sein, wie passt das damit zusammen, dass er in Sport ja offensichtlich ganz gut ist?“

Beim Volleyballspielen, beim aktiven Mitspielen und das hatte er zweifellos, ist es schwer, dauerhaft eine krumme Figur zu machen, dabei hatte sich herausgestellt, dass der Junge größer und sportlicher gebaut war, als er vorgab. Überhaupt eine Kunst, wie er es schaffte, sein tatsächliches Aussehen so effektiv zu „retuschieren“. Wenn man ihn sich genau ansah, war das, rein physisch gesehen, ein Ding der Unmöglichkeit, bei dem es vor allem auf die Einbildungskraft des menschliche Gehirns, Assoziationen und Vorurteile ankam – die in der Klasse zu genüge existierten.

„Findest du? Hab ich nie drauf geachtet“, hielt Maike an ihrer Ansicht fest und ich gab meinen halbherzigen Versuch, sie zu etwas ähnlichem wie „Einsicht“ oder zum Nachdenken zu bewegen, auf.

Außerdem war es nicht meine Aufgabe, anderer Leuts moralische Weltanschauung zu korrigieren, meine eigene glich einem Sündenpfuhl, der Sodom und Gomorrha alle Ehre gemacht hätte (im weitesten Sinne), somit war ich weder in der Position, noch hatte ich die nötigen Ambitionen, geschweige denn den nötigen Antrieb.

„Willste mit zu mir kommen? Ich geh später zu ´ner Probe von Mikes Band. Außerdem meinte Lasse, du würdest ihm noch ein Vorsingen schulden.“

„Davon wüsst ich aber.“

Maike lachte. „Na, was ist? Kommst du mit oder kneifst du?“

Ich seufzte. „Na schön, bin dabei. Bei uns wüten eh wieder die Handwerker.“

Dieser Lasse war ein besonders großer Witzbold. Fand er auch, als ich ihm das an den Kopf schmiss. Er war aber um einiges umgänglicher, als bei der Party, was daran liegen mochte, dass er nichts getrunken hatte.

Auf dem Weg zu Mikes Haus, in dessen Kellerräumen sich der improvisierte Probenraum befand, hörte ich zum dritten Mal die Frage: „Wie gefällt dir Hamburg?“

Ich gab Maike dieselbe Antwort, wie schon Gerda und Benzo. Sie gab sich damit nicht zufrieden.

„Wo hast du vor Hamburg gewohnt?“

Ich schwieg.

„Oder sollte ich das nicht fragen?“, fuhr sie fort, als mein Schweigen anhielt.

„Nee, ich versuch mich nur an alle Namen zu erinnern.“

Sie lachte ungläubig. „Wie oft bist du denn umgezogen?“

„Im letzten Jahr?“

„Äh … Nee, so allgemein.“

„Öfter.“

Das Schweigen wiederholte sich, diesmal bei ihr und hielt an, bis wir das Haus erreicht hatten.

„Du redest nicht gern darüber, was?“

„Nee.“

„Na schön. Aber Hamburg ist eh das Beste, was dir passieren konnte, glaub mir.“ Sie zwinkerte mir zu und drückte auf den Klingelknopf. Der Meinung war jeder der aus Hamburg kam.

Eines konnte ich immerhin bestätigen: Es war nicht schlecht, was mich ein wenig offener dem Gegenüber machte, was mich hier im weiteren erwarten mochte.

 

„Mädels!“ Mike war damit beschäftigt, ein Kabel zu entwirren, als wir in den Keller trampelten, seine Mutter hatte aufgemacht. Er küsste Maike auf die Wange und grinste mich durch eine Schlaufe des Kabelsalats an. „Wollt ihr mal schnell helfen? Lennart ist grad aufm Pott und die beiden anderen noch nicht da.“

Wir halfen, bis Lennart zurück kam. Er war heute ernsthafter. Lächelte uns knapp zu und bastelte stumm am Keyboard herum.

„Wo ist denn deine SchrägstrichGitarre?“, fragte ich ihn schließlich.

„Autsch, was?“ Er hatte sich den Finger geklemmt und sah mich einen Moment verwirrt an, bis sich die Erkenntnis in sein Gesicht schlich und anschließend einem Grinsen wich. „Ah ja … ich erinnre mich. Nee, heut ist Keyboard dran. Was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

„Na, hören wir heut was von dir? Mike hat´s vorhin noch mal erwähnt … also, dass du auch Musik machst.“

„Oh. Ja … etwas. Aber, aber nicht heute“, winkte ich eilig ab.

„Wieso denn nicht? Die beste Gelegenheit, meinste nicht?“ Lasse war eingetroffen.

„Vielleicht bist du ja schüchtern“, zog Mike mich auf und tätschelte mir den Kopf. Ich schob seine Hand unwirsch beiseite und lächelte humorlos.

„Vielleicht, vielleicht ist die Welt auch ein Quadrat und verrät es uns bloß nicht.“

„Hört sich nach ´ner guten Strophe an, ich raubkopiere mir das mal rasch, ja?“, erklärte Lennart und fuhr an seine Mitstreiter gewandt fort: „Was ist jetzt, Jungs? Geht’s los oder was geht?“

Maike zog mich mit sich zum „Besucherthron“, wie sie den abgeranzten, stinkenden Sofasessel nannten, der so ausgeleiert und ausgesessen war, dass man bequem zu zehnt Platz darin fand.

„Lasst euch nicht stören, wir machen nachher noch ´ne Videosession, für „DuRöhre“, wenn ihr nicht mit ins Bild wollt, bewegt euch am besten nicht“, warnte Lasse, während er die Kamera installierte.

„Wie finanziert ihr den Spaß?“, fragte ich, dieses Getue faszinierte mich.

Die Jungs wechselten Blicke. „Na ja, wir haben den ein oder anderen kleinen Erfolg im Internet, offenbar nicht groß genug, dass es zu dir durchdringen konnte“, meinte Lennart mit einem sehr ironischen Schmunzeln. Dass mein beschränktes Wissen bezüglich Internetberühmtheiten ebenfalls zu den Folgeerscheinungen der Umzüge gehörte und ich die Zeit, in der ich still stand, als zu kostbar erachtete, als sie im Internet überstrapazierend zu verbeuteln, verschwieg ich.

„Und wenn man ein bisschen Erfolg hat, regnet´s auch schon mal Partnerverträge. Irgendwie muss man sich´s finanzieren, ist halt so.“

Und der Name? „SiebzigProzentWassermensch“ - auf so einen Namen kam man auch nicht alle Tage.

„Wie wir drauf gekommen sind? Zufall oder Vorsehung, keine Ahnung, kommt drauf an, wen man fragt“, überlegte Lasse. „Meine bescheuerte Hare-Krishna-Mutter würde Karma sagen. Aber ich glaub, auf den Namen sind wir gekommen, als wir in Bio mal über den menschlichen Körper gesprochen haben und … über Gurken, oder so. Frag nicht, wieso die Kombi. Da war ich noch auf eurer Schule, musste aus, hrm, Gründen abgehen. Egal. Auf jeden Fall haben wir zu der Zeit nach ´nem Namen gesucht und ständig deswegen rumgeblödelt, von wegen: Was wir für nasse Säcken sind, weil der Mensch zu siebzig Prozent aus Wasser besteht, du weißt ... tja, dann kam eins zum andern und jetzt heißen wir eben „SiebzigProzentWassermensch“.“

„Interessante Erklärung“, antwortete ich skeptisch. „Was sind den „hrm, Gründe“?“

„Solche, über die man besser den Mantel des Stillschweigens breitet. Da bist du ja, du Kanalratte.“

Das letzte Mitglied der Band war aufgetaucht.

„Habe die Ehre“, nuschelte er, nickte in Richtung Besucherthron und gähnte wie ein Schlosstor. „Was is´ das eigentlich für ´ne beschissene Uhrzeit? Ich hab grad gepennt.“

„Tut mir leid, dass wir dich in deinem Verdauungsschlaf gestört haben, aber der Termin steht ja wohl schon seit ´ner Weile fest, Söhnlein“, gab Lennart ungerührt zurück.

Maike fing an, mich im Flüsterton zu informieren: „Das ist Hannes, macht Schlagzeug und Percussion und so. Ist ziemlich super mit so ´nem Zeug, arbeitet manchmal als DJ, ist, soweit ich weiß, bi und hatte angeblicherweise mal was mit unserem Miky.“

„Verrückt.“

„Kannst du vielleicht wenigstens so tun, als wärst du überrascht?“

Verrückt!

„Schon besser.“

Ich grinste. Anschließend wurden wir höflich gebeten still zu sein - „Haltet mal eure Weibsklappen!“ -  und die Jungs spielten sich ein, wie sie es nannten.

Ihre Musik war eine Mischung aus allem, so, wie inzwischen alles, was das Radio rauf und runter dudelt. Im Großen und Ganzen durchaus gefallenswert, vor allem, wenn man sich einmal reingehört hatte. Sie hatten Talent, das ließ sich nicht abstreiten.

„Ganz eigentlich machen wir´s vor allem zum persönlichen Spaß und nicht zum Geld verdienen. Die Downloads sind alle umsonst“, wurde mir zwischendurch gesagt. Ich würde mich nach den Jungs umsehen, sobald ich wieder in die Nähe eines Computers kam.
Vorerst nahm ich mit ihrer Livepräsenz vorlieb, was sich als ausgesprochen amüsant erwies.

„Sicher, dass du heut nicht eine Kostprobe abliefern willst? Muss auch nicht vor der Kamera sein“, versuchte Lasse es noch einmal, während er besagte Kamera ausschaltete.

„Ich hab ´ne viel bessere Idee.“

„Bezweifle ich, Hans!“

„Scht! Also: Warum machen wir nicht was mit ihr zusammen? Dann kommt sich keiner blöd dabei vor, wenn er irgendwas aus der Luft gegriffen mal eben so vorspielen soll.“

„Aber wir wissen doch gar nicht, ob sie überhaupt ...“

„Da sie was mit unserer Musik anfangen kann, gehen wir mal großzügig davon aus, dass sie keinen Knick im Steigbügel hat, ja?“

„Und wenn man bedenkt, dass 'sie' euch nicht alle sehr persönlich tritt, weil ihr in 'ihrer' Gegenwart von 'ihr' als 'sie' redet, muss man davon ausgehen, dass das für euch verdammtes Glück ist!“, unterbrach ich ihren Dialog und seufzte. „Aber ich hab auf meinem Laptop einige Aufnahmen. Die zeig euch bei Gelegenheit, wenn ihr so scharf drauf seid.“

Womit ich vorübergehend Ruhe vor dem Thema fand – was dazu führte, dass ich die Angelegenheit ebenso vorübergehend vergaß.

Nachdem die Jungen ihre Probe beendet hatten, besorgte Hannes Bier. Eine Weile gammelten wir im Keller herum und als wir aus der Höhle herauskamen, war es dunkel und spät.

„Machen deine Eltern sich keine Sorgen, wenn du so lang wegbleibst?“, fragte Maike, als wir mit Lasse zur Bahn gingen. Das heißt, sie begleitete uns, musste aber nicht mitfahren, da sie nur zehn Laufminuten von Mike entfernt wohnte, was ihre besonders gute Freundschaft erklären mochte.

Ich zögerte.

„Nee. Nein, eigentlich nicht.“

Sie machten sich keine Sorgen, weil sie gar nicht merkten, dass ich nicht da war. Manchmal wünschte ich mir wütende Anrufe, in denen ich angeraunzt wurde, ob ich denn noch alle Tassen im Schrank hätte, ohne Bescheid zu sagen, wegzubleiben, immerhin sein ich noch nicht erwachsen und so weiter. Andererseits war ich froh, darunter nicht leiden zu müssen. Es kam, wie bei so vielen Dingen, auf meine Stimmung an.

„Dein Glück. Meine Mutter will immer ganz genau wissen, was ich tue.“

„Dein Pech, wenn du es ihr sagst“, behauptete Lasse.

„Was soll ich denn, deiner Ansicht nach, tun, Schlaumeier?“

„Lügen.“

„Ist klar. Als ob das zieht. Na schön, ich muss hier rein. Ich überlasse dich Lasses mehr oder weniger zuverlässigen Händen. Pass auf sie auf, sie ist noch relativ neu hier!“, warnte Maike den Jungen und umarmte mich.

„Ich werd sie wie meinen Augapfel hüten“, sarkastelte der. „Nicht umsonst hab ich den Film „Bodyguard“ erst gestern im Fernsehen zufällig entdeckt und weiter geschaltet.“

Als Maike gegangen war, setzten wir unseren Weg zur Bahn schweigend fort. Auf dem schwach erleuchtetem Bahnsteig angekommen, öffnete Lasse den Mund wieder: „Hast du Probleme mit deinen Eltern?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast nicht sonderlich glücklich gewirkt, als Maike das grad erwähnt hat.“

Ich schnaubte. „Du bist ja ein ganz genauer Beobachter, was?“

„Ich übe mich in Bescheidenheit, aber ja, du hast Recht.“ Er grinste, was in dem komischen Licht teuflisch wirkte. Sein Gesicht eignete sich hervorragend für teuflisches Grinsen.

„Meine Eltern sind nicht oft da, sie bekommen selten mit, wenn dasselbe für mich gilt. Abgesehen davon bin ich alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.“

Lasse musterte mich. „Hm. Hm, hätten sie dann auch nichts dagegen, wenn du gar nicht kommst?“

Ich zuckte mit den Schultern und starrte leer auf die Schienen. „Weiß nicht. Warum?“

„Keine Ahnung, willst du mit zu  mir? Wenn sie eh nicht da sind und du allein bist ...“

Ich wandte den Kopf und kniff die Augen zusammen. „Ja?“

„ … kannste doch auch woanders pennen, oder nicht?“

„Woanders pennen, ja?“, wiederholte ich langsam. Der Ausdruck in seinen Augen war am besten mit „anzüglich“ zu umschreiben, bis er lachte: „Wir können davor auch noch einen Film gucken, wenn du magst.“

„Wie kommst du darauf, dass ich ...“, fing ich an und klappte den Mund zu. Lasse war kein ausgesprochen hübscher Junge, dafür auf eine – nun ja – verwegene Weise attraktiv. Wenn man´s genau nahm, hatte dasselbe für Daniel gegolten, bei dem war ein ausgeprägter Mangel an Verständnis für höheren Humor hinzu gekommen – und ich hatte mich trotzdem drauf eingelassen. Oberflächlich betrachtet, war er gutes Material gewesen, gutes Material, um den ein oder anderen Spaß zu haben. Dagegen war Lasse ja der reinste Glücksgriff, falls ein solcher Ausdruck angebracht war.

(Ich hatte das Gefühl, mir ein Schema anzueignen, um ihm auf Ewig, oder zumindest für eine Weile, zu folgen.)

„Und dann?“, änderte ich die Richtung meiner Antwort.

„Dann schlafen wir.“

Ich schwieg.

„Oder lässt deine Moral keinen Sex zu, der nicht ganz so ernst gemeint ist?“, fuhr er sanft lächelnd fort. Sanftes Lächeln bewirkte keineswegs eine Abmilderung seiner teuflischen Züge, im Gegenteil.

Etwas anderes als bedeutungslosen Sex hab ich bisher nicht ausprobiert, aus Sicherheitsgründen für meine vielleicht sogar vorhandenen Gefühle, antwortete ich daraufhin nicht, dachte es aber. Nicht länger an einen Ort gebunden zu sein, als maximal ein Jahr, lässt einen vorsichtig werden, wenn es darum geht, seine Gefühle zu offenbaren oder ihnen auch nur Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln.

Lasse beugte sich vor und küsste mich, was sich genau so anfühlte, wie ich mir das bei seinem Anblick vorgestellt hatte. Es erinnerte an eine Kettensäge, die jemand hinter zwei aggressiven mit Sägemehl gefüllten Sandsäcken versteckt hat und es vermittelte die sehr klare Botschaft, dass es sich bei diesem Kuss lediglich um die Einleitung zum Sex handelte und nicht um einen Beweis von emotional reifer Zuneigung.

Es schmeckte wie immer.

VII

„Wo ist mein … ?“

„Willst du wirklich gehen? Du kannst hier pennen, ich meinte das schon ernst“, ignorierte Lasse meine unfertige Frage, während ich auf dem Bettrand saß, mir den BH anzog und mein Oberteil überstreifte. Ich schüttelte den Kopf.

„Morgen ist Schule, ich hab mein Zeug nicht dabei. Also steh ich morgen entweder viel zu früh auf, um noch vor der Schule heim zu fahren oder ich fahr jetzt. Jetzt bin ich wenigstens wach, weitgehend.“

Er richtete sich auf und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf und einem ebenso schiefen Lächeln.

„Ich musste dich ja kaum überreden.“

Einen Moment erwiderte ich den Blick. „Ach, musst du die Mädels normalerweise überreden?“

„So meinte ich das nicht“, brummte er und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Die Erwiderung gefiel ihm nicht. Seiner Ansicht nach, hätte ich wütend werden müssen, um ihm seine „Macht“ über diese Situation zu beweisen und nicht sarkastisch. Überhaupt war mir nicht entgangen – ich war gar nicht drum rum gekommen es zu bemerken – dass er ein ausgesprochen … dominanter Typ war.

Gleich darauf grinste er.

„Du hast mir trotzdem nicht drauf geantwortet. Oder hattest du es so nötig?“

„Stell dir die Frage selbst.“ Solche Bemerkungen waren albern.

„Ich hab´s immer nötig, ich bin ein Mann.“ Er war aufgestanden, als ich Anstalten machte, meine Jacke und meine Tasche zusammen zu suchen und fasste nach mir, als ich vorbei kam. Der Griff war nicht unangenehm, höchstens entschieden. Ich ließ es zu, denn nach dem, was ich heute schon zugelassen hatte, obgleich ich nicht die Absicht gehabt hatte, war das hier nicht der Rede wert. Die zwei Minuten dominantes Machogehabe würden mich nur ein paar Nerven kosten, die noch vom bereits passierten, entspannt waren. „Aber wir machen daraus jetzt kein Melodrama, oder? Du gehörst ja ganz eindeutig nicht zu der Sorte, die plötzlich anfängt, tiefe Gefühle zu entwickeln, nach ´nem bisschen Vögelei, oder?“

Ich lächelte scheinheilig. „Was für eine schlaue Bemerkung.“

„Ach?“, meinte er misstrauisch und es freute mich tierisch, da einen Hauch Unsicherheit heraus zu hören.

Dieses Mal lachte ich: „Keine Sorge, ich denke, wir sind beide auf der sicheren Seite.“

Ich auf jeden Fall. Sollte das hier schief gehen, sprich, wir uns irgendwann zoffen oder es zu anderen unschönen Zwischenfällen kommen, in die am Ende Außenstehende involviert waren, wäre spätestens in einem Jahr das Problem dank Umzug für mich gelöst – ich nahm meinen Eltern ihre Behauptung, wir würden länger bleiben, nicht ab.

„Na schön.“

An der Haustür grinste er ein letztes Mal: „War ´n guter Abend. Ruf an, wenn du das wiederholen willst. Das heißt, falls du nichts dagegen hast, ruf ich an.“ Er zwinkerte mir zu und erinnerte an den Freund, mit dem ich tatsächlich nur einen Film gesehen hatte, als er hinzufügte: „Und das mit der Musik werden wir demnächst auch in Angriff nehmen und wenn ich dich zwecks Umsetzung entführen muss.“

Mit anderen Worten: Wir „schieden“ als ganz normale Freunde und der Mantel des Stillschweigens breitete sich darüber, denn die nächsten Wochen glänzten durch Ereignislosigkeit, weitere Treffen zwischen uns – nach zwei unmittelbar darauf folgenden – blieben aus, infolge von Zeitmangel.
Nur einmal machte Mike eine entsprechende Bemerkung, die mich davon ausgehen ließ, dass Lasse etwas fallen gelassen hatte. Mike schmunzelte vor sich hin, als ich ihm einen Blick zuwarf und hielt die Klappe, womit er ein weitaus feineres Benehmen an den Tag legte, als Lasse – auch, wenn es mir völlig schnurz war, ob er es für sich behielt oder im Radio verbreiten ließ.

Ich hatte keine emotionale Bindung dazu und dank des anhaltenden Abstands, verblasste jegliche Erinnerung zu einer vagen Momenterscheinung.

 

Nun, in sexueller Hinsicht erwiesen sich die Wochen als sehr ereignislos, in schulischer Hinsicht wurden die Tage zur Routine, ich gewöhnte mich an Lehrer, Schüler, Gesichter und Eigenarten. Ich hatte das Gefühl, dazu zu gehören und als mir das klar wurde, erschrak ich.

Zu dem Zeitpunkt saßen wir in der Cafeteria, tranken Kaffee und sahen einer Matheklausur entgegen.

Und Lana machte eine Bemerkung in der Art von: „Ich hab das Gefühl, du bist schon seit Jahren hier.“ Ich biss mir auf die Lippe und hörte an den Bestätigungen, die Maike und die Umgebenden gaben, vorbei.

Dabei gab es nichts, was mich beunruhigen konnte, viel eher sollte ich mich freuen, kreischte mein Verstand und war beleidigt, als ich „Aber“ zu denken wagte.

„Aber“ was passiert, wenn ich weg ziehen muss? Es wird nur schwerer dadurch.

Na und? Denk doch nicht dran, was mal sein wird, schimpfte mein Verstand weiter und ich fragte mich, ob das der sicherste Weg war, um früher oder später schizophren zu werden und völlig durchzuknallen.

Bisher hatte ich mir keine Widerworte gegeben, warum ausgerechnet jetzt? Andererseits: Bisher war es nie nötig gewesen, war es nie zu einer solchen Erkenntnis gekommen.

„Bitte?“

Maike hatte mich etwas gefragt.

„Ob du dich auch drüber freust, hier gelandet zu sein?“

Ich lächelte. „Natürlich.“

Das stimmte. Es stimmte nur nicht, wenn ich behauptete, dass ich glücklich darüber war, dass es stimmte. Und auch das stimmte nicht so ganz. Ach, verdammt!

Mein Lächeln gefror zu einer Fratze, keiner merkte es in der allgemeinen Aufbruchstimmung die, dank Pausenglocke, herrschte.

„Matheee … ich versteh es nicht und hoffe trotzdem auf eine gute Note“, hibbelte Lana neben mir, während wir zur Klasse gingen.

„Es ist wichtig Ziele zu haben.“

Sie zögerte. „Das war sarkastisch gemeint, oder?“

Ich lachte erleichtert über die Normalisierung meiner Gedanken. Mein Verstand hielt die Klappe und quengelte nur ab und an im Hintergrund vor sich hin.

„Mach dir nichts draus.“

„Och, du bist ja blöd.“

Ich mochte „ja blöd“ sein, hatte aber recht, denn die Klausur fiel erfreulich gut aus.

„Von wegen Ziele“, zog ich Lana auf, als wir sie einige Tage später zurückbekamen und sie, wie ein Honigkuchenpferd, grinste.

„Das kommt dabei raus, wenn man mit seinem Nachhilfelehrer nicht nur vögelt“, lächelte Benzo etwas zu freundlich, bevor er ging, um mit Ingo über seine Note zu diskutieren. Benzo war verdammt gut in Mathe, womit alle weiteren Fragen geklärt waren, zumal Lana so rot wurde, dass sie in einem Korb Äpfel nicht aufgefallen wäre.

„Wann hat sich das denn ergeben?“, bohrte Maike nach. „Normalerweise erzählst du doch sofort, wenn dich ´n Kerl auch nur lüstern ansieht.“

„Ach, haltet die Klappen, ihr habt keine Ahnung.“ Sie wurde, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, da sie bereits maximale Röte erreicht hatte, noch roter.

„Was soll´s? Ich hatte was mit Lasse, ist doch nicht weiter schlimm“, meinte ich und bewirkte so eine Art bestürztes Schweigen.

Das … hättest du besser nicht gesagt“, murmelte Mike in die Stille, er hatte sich neben mich geschlichen.

„Hab ich auch, das Gefühl. Wo ist das Problem?“, zischte ich ihm zu.

„Thally, ähm, will was von ihm.“

Ich hob die Brauen. „Naja, aber sie ist ja grad nicht hier. Dann sagt es ihr eben nicht.“

„Eh, ich glaub, hier geht es um loyale Freundschaft oder so. So einfach ist das nicht.“

Besorgt musterte ich die Gesichter der Menschen um mich herum. Außer Lana und Maike, tummelten sich da Sophie und Helen, zwei Mädels, mit denen ich nur beschränkten Kontakt hatte, sie waren mir zu etepetete.

„Was ist denn? Meine Güte, hört auf so zu starren. Vielleicht war´s ja nur ´n Scherz.“

War´s nur ein Scherz?“, hakte Lana nach. Maike, wie ich feststellte, versuchte verzweifelt, sich ein Grinsen zu verkneifen. Ich sollte sie mal darauf ansprechen, die Erklärung würde interessant.

„Naja, nicht wirklich. Aber darum geht´s doch nicht. Es-es spielt keine Rolle.“

„Ist es ernst?“

„Ernst?“

„Willst du was von ihm?“, grollte Lana ungeduldig.

„Natürlich nicht!“

„Warum hattest du dann was mit ihm?“, öffnete zum ersten Mal Helen den Mund. Klang ganz schön feindselig, das Mädel, vielleicht war Thally nicht die Einzige, die was von ihm wollte, inoffiziell.

„Warum nicht?“

Ich konnte es in ihren Augen sehen, in Helens und Sophies, während Lana unschlüssig wirkte und Maike sich abwandte. Sie verurteilten mich bzw. überlegten, ob sie mich verurteilen sollten, nur, weil meine Moralvorstellungen von ihren abwichen. Die ewige Toleranz, daran scheiterte es meistens.

Lana schlug sich auf meine Seite, indem sie mit den Schultern zuckte und meinte: „Hast eigentlich recht.“

Helen und Sophie enthielten sich weiteren Äußerungen und trugen die Sache hoffentlich nicht weiter – nicht wegen mir, sondern, weil es mir um Thally leid getan hätte. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, ganz nach dem Motto. Die beiden Weiber wären rücksichtsloser als ich, wenn sie nun hingingen und es ihr erzählten.

„Ich fürchte, bei denen bist du unten durch.“

„Ich fürchte, das macht mir nicht so viel aus“, knurrte ich. Dieser selbstgerechte Frömmigkeitszorn war zum Kotzen!

„Themawechsel: Nächste Woche haben wir ´n paar Tage frei, wegen irgendwelcher Feiertage, die ich mir nicht gemerkt hab, weil meine Eltern jüdisch sind und es mir egal ist“, plapperte Mike los. „Ich dachte, wir drehen da endlich das Video.“

„Was fürn Video?“

Lana und Maike klärten mich auf. Es ging um einen Song der Jungs, dem sie, mit Hilfe eines Musikvideos, die nötige Atmosphäre verpassen wollten, wie Maike es ausdrückte.

„Und, was schwebt euch da vor?“, warf ich ein.

„Äh … wir gehen da intuitiv vor.“

„Verstehe.“

„Na ja, ist halt schwer, jetzt schon konkret zu sagen, was uns vorschwebt“, meinte Mike. „Biste auch dabei?“

„Ich hab nicht vor ...“

„Du musst auch nicht mitspielen, wenn du nicht willst“, fügte er hinzu, als hätte er meine Gedanken erraten. Mein Verlangen, in einem atmosphärenreichen Filmchen mitzuspielen, belief sich auf Null.

„Ok.“

„Ist das denn kein Problem, mit Lasse?“, fragte Lana, als wir nach der Schule noch einmal drauf zu sprechen kamen.

„Wieso sollte es?“

„Oh … äh, nur so“, wimmelte sie ab, als Maike mit den Augen rollte. „Du, äh, willst ja wirklich nichts von ihm. Äh.“

„Nee.“

„Gut. Hoffentlich hält er auch die Klappe, Thally wird dabei sein“, machte sie sich anschließend Sorgen.

„Ich kann ja mit ihm reden.“

„Son Einfluss hast du auf ihn?“ Nach ein paar Sekunden, stöhnte sie: „Och nee, das war wieder ´n Scherz, oder?“

„Allerdings“, lachte ich. „Kümmere du dich doch einfach um Benzo, hm?“

„Ts. Ihr habt ja keine Ahnung.“

„Stimmt“, bestätigten Maike und ich unisono. Solang sie nicht bereit war von sich aus mit Einzelheiten heraus zu rücken, würden wir sie nicht fragen.

 

„Wie isser denn so?“

„Was bitte?“

Lana hatte sich abgesetzt, um Benzo zu treffen, Mike war plötzlich verschwunden und ich fuhr allein mit Maike nach Hause. Sie nutzte die Gelegenheit.

„Na, Lasse.“

„Was meinst du?“

„Naja … er kommt mir immer so … du weißt schon ...“

„ … machomäßig vor? Ja, stimmt, der Eindruck.“

Ich beobachtete amüsiert, wie sie mit der nächsten Frage rang.

„Es hat auch was. Macht Spaß und so. Er ist ´ne Erfahrung“, nahm ich ihr das Durchringen ab und sie lachte.

„Ja … ja, er ist nett.“

„Das auch, nicht grad im Bett oder so, aber außerhalb davon schon. Ich glaub, ich werde weitere Aktivitäten mit ihm, auch auf das Außerhalb beschränken.“

„Du meinst in der Dusche?“

„Ich mein, Freundschaft ohne gewisse Vorzüge.“ Ich glaubte mir selbst nur beschränkt.

„Oh, achso. Natürlich. Weißt du“, fuhr sie fort. „Ich bin nicht son, du weißt schon … ich brauch Gefühle dabei.“

Ich nickte. „Ist doch ok. Nicht jeder kann wie jeder sein, wär ja langweilig.“

Sie lehnte den Kopf an die Scheibe. „Stimmt. Und dir ist es ganz egal?“

Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster. Egal war es mir nicht, es bereitete nur weniger Probleme und Mühen.

„Sagen wir so: Ich fahr gut damit, weil ich vielleicht son Mensch bin, der´s ohne kann.“

„Aber?“

„Aber anders hab ich es noch nicht ausprobiert. Kann somit also nicht sagen, was ich besser finde.“

Maike hob die Mundwinkel. „Versteh mich nicht falsch, aber in mancher Hinsicht bist du … komisch.“

„Stimmt.“

Die Bahn hielt, sie musste aussteigen, was mir gelegen kam. Wer wusste, was sie sich noch für Fragen einfallen ließ.

„Wir sehen uns morgen. Ich schreib dir später.“ (Man hatte mir ans Herz gelegt, mich mehr meinem Instagram-Account zu widmen, was ich widerstrebend tat, seit sie angefangen hatten, mir alle wichtigen Nachrichten darüber zu schicken, um mich zu zwingen, öfter nachzusehen).

VIII

Vorerst schien alles gut zu gehen. Die Ferientage hoben die allgemeine Stimmung. Ich war nicht dazu gekommen, es meinen Eltern zu sagen, sodass sie reichlich verdattert waren, als ich um halb elf gelassen aus meinem Zimmer marschierte. Ihnen waren die Feiertage durchaus geläufig, doch wie viele Dinge, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten, verdrängten sie es.

Zu derartigen Dingen gehörten besagte Feiertage, tanken oder mein Geburtstag. Es gab in unserer Familie keine richtige Geburtstagstradition und darum vermisste ich es nicht, als sie dieses Mal wieder vergaßen dran zu denken. Ihre Unaufmerksamkeit hatte Geburtstage auch für mich zu einer unbedeutenden Nebensache gemacht – außerdem hielt ich nicht viel davon, meinen fortschreitenden Alterungsprozess zu feiern.

„Was machst du denn hier?“, war in diesem Fall die Glückwunschbotschaft.

„Ferien“, erklärte ich und setzte meinen Weg in die Küche fort, wo meine Mutter Kaffee kochte. Ausgerechnet heute hatten sie ihren „freien Vormittag“, was hieß, dass sie nicht zur Arbeit fuhren, sondern sich zu Hause welche machten.

„Ferien?“

Ich erklärte den Grund und die Erinnerung sprang sie hinterrücks an. „Natürlich, die Feiertage. Habt ihr heut Brückentag?“

„Richtig. Ist der Kaffee fertig?“

Mit dem Kaffee verzog ich mich in mein Zimmer und zog die Jalousien hoch. Die Sonne schien und es versprach ein Bilderbuchtag zu werden.

Das enervierende „Blib“ einer eintreffenden Nachricht auf meinem Handy riss mich aus meinen Gedanken.

 

Schon wach?

 

Mike. Meine Freunde wussten so wenig von meinem Geburtstag, wie meine Eltern.

 

Jetzt, wo du´s erwähnst …

 

Zurück kam eine Armee Smilies und er fragte, ob ich am Nachmittag dabei sein würde, wie versprochen. Im Stadtpark, zum Drehen, erklärte er, als ich stutzte.

Vorsichtig stellte ich meine Kaffeetasse auf den Boden um die Hände frei zu kriegen und sagte zu.

Bisher hatte ich weder Schreibtisch noch Nachtschränkchen aufgebaut. Der Boden erfüllte den Zweck beider Gegenstände mit einer, mich überzeugenden, Virtuosität und solang das für mich reichte, würde ich nichts daran ändern.

 

Super, um halb zwei. Große Wiese.

 

Um kurz vor zwei schlenderte ich los. Das Wetter war zum Küssen und der Stadtpark gut gefüllt. Ich hatte Benzos Angebot, ihn auf seinen Gassigängen zu begleiten, noch nicht angenommen, darum hatte es sich meiner Aufmerksamkeit entzogen, wie es hier an sonnigen Tagen aussah.

„Wolltest du das Klischee bedienen, demnach Vaginas immer zu spät kommen?“, begrüßte Lasse mich, der Erste, dem ich begegnete, da er der Einzige war, der an dem Platz herumwühlte, an dem sich meine Freunde niedergelassen hatten. Er sah auf und grinste. Sein Glück, dass niemand anwesend war, vor allem nicht Thally.

„Ich bin mir sicher, dass du zu früh gekommen bist“, gab ich ungerührt zurück und ließ meine Tasche auf den Boden sinken. Er erhob sich und es folgte eine flüchtige Begrüßungsumarmung.

„Lang nicht gesehen. Wie geht’s uns denn?“

Die Situation normalisierte sich.

Ich murmelte ausweichend, fragte dann: „Wo sind die anderen?“

Er nickte in eine unbestimmte Richtung. „Komm mit.“

Ich erinnerte mich an den Grund, aus dem ich zu spät gekommen war, weil ich danach hatte suchen müssen.

„Ich hab die Aufnahmen dabei.“

„Bitte?“

„Die Aufnahmen. Du weißt schon.“

Als er verstand, zierte ein begeistertes Strahlen sein attraktives Teufelsgesicht. „Ich glaub das nicht! Dass ich das noch erleben darf.“

„Na, nun spiel mal nicht gleich Clown.“

„Haha. Nur für mich, ja? Oh, Poll, ich bin begeistert“, behauptete er, als ich ihm meinen iPod, samt Kopfhörer und dem Hinweis „Später hören“, übergab.

„Heey!“ Unsere Konversation fand ein Ende, als wir die anderen erreichten, die teilweise im Gehölz des Parkwaldes steckten und mit moderner Technik und Natur kämpften.

Nach der Begrüßung wurde mir der Grund für den Drahtseilakt erklärt. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, um Atmosphäre.

„Und die sucht hier hier? Im Wald?“

„Du glaubst gar nicht, wie viel ungenutzte Atmosphäre es hier einzufangen gibt“, alberte Lennart. Lasse saß vorgebeugt, unweit des eigenwilligen Drehorts, auf einer Bank, die Kopfhörer auf den Ohren und lauschte aufmerksam dem, was darin erklingen mochte.

„Was tut er?“

„Hört Musik.“

„Ist ja der perfekte Zeitpunkt, um ´ne Pause zu machen und Musik zu hören“, lästerte Mike und kroch aus dem Gebüsch, Stöcke aus seinem Haar zerrend. „Was ist daran so besonders, dass er´s jetzt hören muss?“

Ich lächelte tiefgründig. „Ist von mir.“

„So what? Nur weil ihr gev ...“

Thally stand in der Nähe und Mike verschluckte den Rest des Satzes, außerdem verstand er.

„Ach, von dir?“

Er und Lennart stratzten los.

„Was is´ mit denen? Gibt’s da Bier?“ Hannes, der hinter Mike aus dem Gebüsch gekrabbelt und mit seiner Säuberung beschäftigt war.

Ich hielt nicht viel von den Aufnahmen, da die Qualität des Mikrofons sie versaute, aber sie vermittelten einen Eindruck und sorgten dafür, dass die Jungs abgelenkt waren.
Thally verhielt sich mir gegenüber völlig normal, ich konnte davon ausgehen, dass ihr nichts zugetragen worden war.

Maike und Lana grinsten angestrengt, bis ich sie fragte, ob sie mal aufs Klo müssten, da entspannten sie sich. Mit ihrem nervösen Getue verrieten sie eher etwas, als mit Andeutungen, die keiner ernst nahm, wobei mit „keiner“ Thally gemeint war.

Wir standen herum, warteten und Lana erzählte widerstrebend, wie es dazu gekommen war, dass die Nachhilfe Benzos in anderen Aktivitäten geendet hatte.

„War ja auch irgendwie fällig“, behauptete Maike. In dem „Bericht“ ging es um die üblichen versteckten Zweideutigkeiten und eindeutige Hinweise.

Ich hatte mit halbem Ohr zugehört, das andere, sowie meine Augen, galten den Jungs. Nervös war ich nicht, nicht direkt, mehr erwartungsvoll gespannt, was sie sagen würden, außer „Scheiße“ zur Mikroqualität.

Im Pulk kamen sie zurück.

„Du brauchst ´n ordentliches Mic!“, beschloss Mike ohne Einleitung.

„Du, den Gedanken hatte ich auch schon mal, so nachts, in einer stillen Stunde.“

Lasse lächelte komisch, sagte aber nichts. Erst, als die Mädels sich mit meinem iPod beschäftigten und die anderen Jungs in den Büschen neuerlich nach Atmosphäre suchten, murmelte er: „Ich nehm zurück, dass ich es angezweifelt hab.“

„Hm?“

„Du weißt schon, deine Musik ...“ Er lächelte noch einmal und schloss sich seinen Bandkollegen an.

Die allgemeinen Reaktionen waren nicht anders, als ich erwartet hatte – so eingebildet das auch klingen mag, aber wie bereits erwähnt, weiß ich, was ich kann.

Ich weigerte mich eine Stellungnahme zum Inhalt dessen, was ich trällerte, zu geben. Das hätte zu vieler Erklärungen bedurft.

Die Band gab die Suche nach Atmosphäre im Unterholz auf und wir gingen auf die Wiese, um dort weiter zu suchen. Am Ende hatten sie eine ganze Stange Material, das es nur zu sichten und auszuwerten galt, wie Lennart seufzte.

„Jetzt heul nicht rum“, schimpfte Maike. „Das sollte euch Spaß machen, ihr macht´s doch freiwillig.“
Natürlich machten sie es freiwillig, wie Lennart betonte, und trotzdem.

„Es macht einfach Spaß, wie ´n Mädchen rumzuheulen“, sagte Lasse und lächelte gehässig, als Lennart die Augen verdrehte.

„Ach komm, du halt die Klappe.“

Ich beobachtete, wie Thally Lasse musterte und dem das völlig entging. Warum musste man immer auf die Menschen stehen, die nichts von einem wollten? Abgesehen davon, glaubte ich zurecht, dass man ein dickes Fell brauchte, wenn man es auf Lasse abgesehen hatte. Er ließ sich gern oberflächlich auf etwas ein und solang es einem nicht um mehr ging, klappte das. Aber für alles andere war er zu … eigen. Oder speziell, wenn der Ausdruck angebracht war.

Wie auch immer, ich schüttelte den Gedanken ab. Es war nicht meine Angelegenheit.

IX

Daheim empfing mich der besorgte Gesichtsausdruck meiner Mutter.

„Ähm, Polly, Liebes, tut mir wirklich leid.“

„Was ist denn?“, wunderte ich mich und verstand anschließend. „Oh, oh … das ist doch kein Ding. Ich bin´s gewohnt. Ich mein, es macht mir nichts aus.“

„Ja, aber dein Geburtstag … ach, es tut mir wirklich so leid“, seufzte sie. Meine Großeltern, die diesen Tag nie vergaßen, mussten angerufen und sie dran erinnert haben.

„Und glaub mir, mir ist es wirklich nicht wichtig“, beruhigte ich sie und zog meine Schuhe aus.

„Kann ich irgendwas für dich tun? Wünschst du dir was?“

Ich zögerte und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, schenkt mir Geld oder so. Ist mir egal. Bitte, mach nicht son Gesicht. Und du auch nicht.“ Das galt meinem Vater, der sich der Kummermiene meiner Mutter anschloss.

Weil sie nicht  aufhören wollten, holte ich einen Zettel, schrieb darauf, was ich mir wünschen würde, hätte ich mir etwas gewünscht, drückte den Zettel in ihre besorgten Hände und ging in mein Zimmer. War ja nicht zum Aushalten!

Das ewig schlechte Gewissen trieb sie dazu und das war eigentlich das Schlimmste. Wenn sie gesagt hätten: „Wir haben einfach viel zu tun und nicht viel Zeit, das weißt du ja, aber bei Gelegenheit schaffen wir einen angemessenen Ausgleich“, hätte ich mich deutlich wohler gefühlt.

Die folgenden Tage verbrachte ich mit Maike entweder bei Lana, deren Eltern verreist waren oder wir genossen draußen den sparsamen Sonnenschein.

Passend zum Ende der Ferientage fing es an zu regnen und weil ich keinen Schirm dabei hatte, war ich klitschnass, als ich die Schule nach dem Wochenende erreichte.

„Mistmistmistmist!“, murmelte ich vor mich hin, als ich durch die leeren Flure eilte. Ich war nicht nur nass, sondern vor allem spät dran.

„Woher kommen Sie?“, fragte Frau Schärge.

Auch das noch! Mathe in der ersten Stunde.

„Von draußen“, brummte ich und versuchte heimlich meinen Mantel auszuwringen.

Die Frau öffnete den Mund, um mich zu rügen, als weiter vorn eine Hand in die Höhe ging und ihre Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Während sie sich mit dem Fragensteller beschäftigte, schlich ich auf meinen Platz und durchweichte meine nähere Umgebung.

„Ihh, bist du nass! Hattest du keinen Schirm dabei?“

Einen Moment starrte ich Helen, von der die Frage kam, an. „Doch, aber ich wollte nicht, dass er nass wird.“

Mike gab sich große Mühe sein Lachen in ein Husten zu verwandeln und Maike und Lana wechselten einen grinsenden Blick.

„Dumme Fragen betteln geradezu nach dummen Antworten“, schickte ich hinterher, als Helen die Stirn runzelte.

„Musst ja nicht gleich so unfreundlich sein. War nur ´ne Frage.“

Ja, ´ne dumme, dachte, sagte ich aber nicht laut.

Meine Geduld war noch im Urlaub. Das lag am Regen und an der Tatsache, dass meine Eltern dran schuld waren, dass ich mich verspätet hatte.

Eigentlich war es meine Schuld, indem ich vergessen hatte den Wecker zu stellen, doch ich konnte mich in solchen Momenten nicht darauf verlassen, von ihnen erinnert zu werden.

Nicht einmal richtig geduscht hatte ich, wenngleich der Regen das anschließend erledigt hatte und zwar gründlich.

„Willste nicht lieber heim und dich umziehen? Du holst dir ja den Tod.“

„Oh, bitte ...“

Maike zuckte mit den Schultern, als ich so unempfänglich für Ratschläge reagierte. Außerdem hörte sich die Empfehlung zu altbacken an.

„Dann jammer später nicht rum, wenn du krank bist!“, schimpfte Lana. Ich war froh, als ich nach der Pause Abstand von beiden bekam, die sich in beleidigtes Schweigen hüllten, dank Detusch.

Des kleinen Disputs wegen, war ich früher in die Klasse gegangen und wartete darauf, dass meine Laune besser wurde und der Unterricht begann. Das schlechte Wetter sorgte dafür, dass die Klasse voller war, als in Pausen üblich, infolge der hoffnungslos überfüllten Cafeteria.

„Morgen.“

Bürg knallte seine Tasche aufs Lehrerpult. „Schöne Ferien gehabt?“

Ein mehrstimmiges Brummen hub an. Er nickte. „Sehr schön. Ach, Polly“, bemerkte er mich.

„Glückwunsch nachträglich.“

Ach, du meine Güte, Bürg gehörte zu den Lehrern, die wussten, wann ihre Schüler Geburtstag hatten, zumal er der Klassenbetreuer war. Sicher hing bei ihm zuhause ein Kalender, in den er die Geburtstage eintrug. Das bereitet einem nur Scherereien, so nett es anmutet.

Er hatte leise gesprochen, sodass es nicht alle Anwesenden mitbekamen aber Eisen, der sich eben neben mich gesetzt hatte, hob den Kopf.

„Du hattest Geburtstag?“, fragte er, was an sich eine Überraschung war. Ich nickte und sparte mir böses Grunzen.

„Glückwunsch nachträglich auch von mir.“ Wahrscheinlich lächelte er. Ich nahm die mir dargebotene Hand an und nickte noch einmal.

„Danke.“

Ich rechnete mit einem laschen, etwas feuchten Händedruck. Stattdessen schlossen sich seine Finger fest um meine Hand. Feucht war der Griff ebenso wenig.

Wie es der unpassende Zufall will, kreuzten zeitgleich meine bockigen Freundinnen auf und wie nicht anders zu erwarten, bombardierten sie mich nach der Stunde mit der Frage, warum ich Eisen die Hand geschüttelt hatte.

Schließlich platzte mir der Kragen.

„Warum nicht?“

„Naja, muss doch ´n Grund geben, oder?“

„Ja, ich hatte Geburtstag und er hat mir gratuliert“, stöhnte ich.

Es folgte Stille, für genau eine Sekunde. „Du hattest Geburtstag?“

„Ja, das hat man öfter, im Schnitt einmal im Jahr.“

„Und wieso wussten wir davon nichts? Wann denn?“, ließ Maike nicht locker. Als ich mit der Wahrheit rausrückte, wurden sie und Lana regelrecht wütend.

„Bist du blöde? Warum sagst du nichts? Das ist ja total dämlich. Und was heißt hier, „nicht wichtig“? Natürlich ist das wichtig! Meine Güte! Und wir waren an dem Tag die ganze Zeit  zusammen und du hältst einfach die Klappe!“

Plötzlich musste ich lachen und ihre schimpfenden Stimmen verstummten abrupt.

„Ist euch das so wichtig?“

„Na hör mal, Eisen wusste davon und wir nicht? Ausgerechnet der Freak?“, rief Lana beleidigt und ich war mir sicher, dass er es hörte, er saß nur wenige Meter weiter.

Ich rollte mit den Augen. „Na und? Was soll das? Es war Zufall. Keiner von euch sollte es wissen, jetzt wisst ihr es leider alle und ich muss damit leben.“

„Das wird ein Nachspiel haben“, kündigte Maike unheilvoll an. Ich glaubte ihr, dass sie es ernst meinte und machte mich auf alles gefasst.

Was mich aber wirklich ärgerte, war ihr Ewig-Und-Drei-Tage-Verhalten Eisen gegenüber und es wurde schlimmer.

Während des Biologieunterrichts eröffnete man uns, dass wir als Abschlussarbeit anstelle einer Klausur Referate halten sollten, zu zweit, um das Ganze komplexer gestalten zu können.

„Ich hasse Gruppenarbeit“, murrte ich.
Ich hasste sie, weil sie zu besonders komplexem Chaos und sonst gar nichts führte. Wenn unser Lehrer es darauf abgesehen hatte, standen die Erfolgschancen ziemlich gut.

„Ich frag mal, ob wir auch zu dritt ...“ Maike wuselte davon, wobei jetzt schon klar war, das hier die Chance auf Erfolg sehr gering war. Außerdem hielt ich noch weniger von Mehr-als-zwei-Gruppenarbeit.

„Er hat nein gesagt“, lautete das Ergebnis ihrer Bemühungen.

„Ist schon ok, macht ihr mal zusammen.“

„Was ist mit Thally?“, fragte Lana. Die hatte sich mit Mike unterhalten, beide wirkten unschlüssig.

„Entweder wir beide machen zusammen und Mike mit Eisen oder …“ Sie stockte und Mike rollte mit den Augen.

Eisen hing in seinem Stuhl, versteckt hinter den schwarzen langen Haaren. Ich musterte ihn eine Weile, während mein Ärger sich verdichtete.

„Ich werde mit Eisen arbeiten.“

„Sicher?“

Lana und Maike sahen zu ihm herüber, mit einem, meiner Meinung nach, unbegründet ablehnenden Blick. „Er ist einfach so … komisch und unangenehm. Und er sieht so aus, als würd er nicht duschen.“

Was sollte das denn jetzt? Solche Sprüche tauchten ständig auf und sie befremdeten mich jedes Mal. Verrückterweise schien ich, als Neuling, nach nur wenigen Wochen, mehr über Eisen zu wissen, als seine mehrjährigen Klassenkameraden und bisher traf keiner der finster geäußerten Vorurteile ihm gegenüber zu. Ich hatte mehr Zeit neben Eisen verbracht, als diese Leute in den letzten zwei Jahre, daran bestand kein Zweifel und abgesehen von einem schwachen Axeduft, der nur bewies, dass er wusste, was Körperpflege ist, war mir nichts olfaktorisches an ihm aufgefallen.

Nach dieser unzutreffenden Bemerkung also, platzte mir die, heute ohnehin, angespannte Hutschnur.

„Ihr seid echt unmöglich!“ Ich kramte mein Zeug zusammen. „Sind wir noch in der achten? Denkt doch mal nach, bevor er ihr etwas verbalisiert, ja?“

Ich ließ mich neben Eisen, der versunken in sein Handy da saß, fallen, woraufhin er zusammenzuckte und aufsah.

„Hallo, Polly…?“

„Hi. Machst du mit mir diese lästige Gruppenarbeite?“

Er sah mich durch die Strähnen an und nickte.

„Klar.“

Eine emotionalere Reaktion blieb aus.

 

Das Referat sollten wir außerhalb der Schulzeit vorbereiten. Es würden sich gewisse Schwierigkeiten ergeben, wenn Eisen weiterhin so wortkarg daherkam. Überhaupt würde das ein sehr interessantes Zweierreferat, wenn nur einer sprach.

Bevor er gehen konnte, hielt ich Eisen zurück. „Was hältst du davon, wenn wir uns morgen treffen? Nach der Schule? Am besten bei dir. Bei mir ist es derzeit etwas, äh, unruhig.“

Die Renovierung des Balkons, auf die meine Eltern seit dem Einzug warteten, hatte eben begonnen, wodurch es unglaublich staubig und unglaublich laut war, ganz zu Schweigen von meinem anhaltenden Versuch, Freunde und Mitschüler aus meinem Wohnumfeld fernzuhalten.

„Klar. Bis morgen“, sagt er schlicht und ging.

Die Mädels fühlten sich dazu verpflichtet, Mitleid mit mir zu haben.

„Du gehst zu ihm, um zu arbeiten?“, quiekte Lana, als ich es erwähnte.

„Was schlägst du vor?“

„Bei dir? Oder in den Bücherhallen?“

Ich lächelte süffisant. „Keine Sorge, ich werd schon nicht getötet.“

„Das nicht aber … naja, warum nicht in der Bibliothek?“

„Darum eben!“ Und wenn nur deshalb, weil es die anderen störte. „Entspannt euch.“

Ich beschloss, um mir und meinen Nerven einen Gefallen zu tun, an weiteren Bemerkungen vorbeizuhören, was sich als schwierig erwies, da wir am Nachmittag in der Stadt zum Schuhkauf verabredet waren. Maike hatte eine Familienhochzeitsfeier am Wochenende und benötigte passendes Schuhwerk.

Lana, Thally und ich fungierten als Berater, auch wenn sie schlussendlich nahm, was sie wollte.

Doch das spielte keine Rolle, es war ein schöner Nachmittag und einmal mehr wurde mir klar, wie tief ich hier drinsteckte. In der ganzen Angelegenheit, der Stadt, den Freundschaften, dem Wohlfühlen.

Ich brachte es nicht fertig, meine Eltern auf ihre Behauptung anzusprechen. Es grauste mir vor der Antwort, die unter Umständen, sehr ernüchternd ausfallen würde. Und was würde ich dann machen?

Lieber schob ich den „Moment der Wahrheit“ so lang vor mir her, bis er ans Hindernis der zwangsläufigen Realität stieß.

In diesem Rahmen ergaben sich weitere Probleme: Das Abitur stand an und es fiel mir schwer genug, ständig zwischen Schulen hin und her zu wechseln. Ich bezweifelte, ob es  möglich war, nach diesem Jahr, das gewisse Relevanz für das Abitur hatte, ein weiteres Mal zu wechseln, womöglich Bundeslandübergreifend.

Ich war auf einigen Schulen und Schulformen gewesen, darunter private und staatliche.

Momentan verdankte ich es meinem schlauen Köpfchen, dass ich mitkam und keine völlig grottigen Noten schrieb. Eine Zeitlang hatten meine Eltern mit dem Gedanken gespielt, mich auf ein Internat zu tun, dagegen hatte ich mich mit so viel Nachdruck gewehrt, dass sie von der Idee abgekommen waren und dank stabiler Noten war es dabei geblieben.

Die Schule ging mir auf die Nerven, ich wollte sie hinter mich bringen, um mein Leben so führen zu können, wie ich es wollte. Denn wenn ich mir eines vorgenommen hatte, dann war es, sobald ich achtzehn und mit dem Abitur fertig war, würde ich ausziehen, mir einen schönen Studienplatz suchen und für wenigstens drei Jahre keinen Umzug tätigen.

X

Vorerst galt es allerdings, unter anderem dieses Referat zu erstellen und das Schuljahr zu überstehen.

Manchmal werden die großen Probleme gelöst, indem man sich mit den kleinen befasst.

Am nächsten Tag wartete ich nach der Schule auf Eisen, den ich im allgemeinen Gewimmel des Aufbruchs aus den Augen verloren hatte.

Ich erlitt einen Herzinfarkt, als er plötzlich „Hallo“ hinter mir sagte.

„Erschrick mich doch nicht so“, seufzte ich, als ich mich von dem Schrecken erholt hatte. „Können wir?“

Auf der Heimfahrt schwieg er, ohne aber den Eindruck verbissener Ablehnung zu machen, als vielmehr den in sich gekehrter Nachdenklichkeit.

„Macht dir das nichts aus?“, fragte er irgendewann.

Die Frage kam unvermittelt und ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Was meinst du?“

„Na ja, was die anderen so sagen.“

Meine Verwirrung wuchs. Er hatte sich nie anmerken lassen, dass ihm die Ablehnung der anderen nicht entging.

„Was interessiert es mich?“, zuckte ich mit den Schultern, sobald ich in der Lage war, mehr als zusammenhanglos „Bitte was?“ zu stammeln.

Es war schwer zu sagen, ob er lächelte oder nicht. Erneut holte uns das Schweigen ein, bis wir bei ihm waren.

„Wir müssen leise sein, mein Vater hatte Nachtschicht und schläft noch“, flüsterte er, als er eine Wohnungstür im vierten Stock aufschloss und wir die Wohnung betraten. Sie befand sich in einem der kubistisch angehauchten Häuser einer Neubau-Wohnsiedlung.

Auf Zehenspitzen schlichen wir zu seinem Zimmer und ich merkte, dass ich die Luft anhielt. Albern. Eisen schloss behutsam die Tür und ich sah mich, durchatmend, im Zimmer um.

Ich hatte mit einem vollgestopften, unordentlichen Raum gerechnet, dessen Inneneinrichtung unweigerlich an einen neurotischen Computerfreak mit Affinität zu Ballerspielen, erinnerte. Stattdessen sprang mir eine geradezu verblüffende Spartanität ins Auge. Bis auf die herkömmlichen Gegenstände – wie Bett, Schreibtisch oder Schrank – war der Raum leer, abgesehen von einem Riesenschlagzeug, dass eine Hälfte der zur Verfügung stehenden Bodenfläche einnahm.
„Du spielst Schlagzeug?“

Eine ausgesprochen dämliche Frage, angesichts dieses Monsters, aber die Verwunderung hatte mich noch in ihren Klauen und ließ brillante Bemerkungen nicht zu. Außerdem wollte ich die Stille mit irgendetwas füllen und sei es lauter Unsinn.

Weil ich keine Antwort erhielt, wandte ich mich zu Eisen um und hatte Mühe, meinen Mund am Aufklappen zu hindern.

Er hatte seine Haare zurück genommen und mit einem Band zu einem Zopf gebunden, wodurch sein Gesicht zum Vorschein kam, das ja zweifellos jeder Mensch hat (bei ihm aber nur ein rudimentärer Gedanke gewesen war).

Zum ersten Mal sah ich ihn mit allem, was dazu gehört, samt Mimik und tiefblauen Augen, die mich unter langen Wimpern musterten. Hinter dem Vorhang aus schwarzem Haar steckte ein Junge, den kaum einer als „Freak“ bezeichnet hätte. Mein Starren, das kaum eine Sekunde gedauert haben konnte, war ihm nicht entgangen, denn er lächelte, was eine neuerliche Veränderung seines Aussehens mit sich brachte. Das Lächeln vertrieb das letzte bisschen Zurückhaltung aus seinem Gesicht, zauberte ein Grübchen auf seine Wange und verriet der Welt und speziell mir, dass ihm mehr als bewusst war, was er hinter diesem Vorhang versteckte.

„Entschuldigung.“ Ich hatte mich wieder gefasst und lachte. „Ähm … was ein Haargummi doch anstellen kann ...“

Er erwiderte mein Lachen. „Man glaubt´s kaum. Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich hatte nur zu viel Platz und wollte den möglichst sinnvoll nutzen.“

So eine Antwort hätte ich nicht von dem Eisen erwartet, der hinter seinem Haar lebte.

„Ja, dumme Frage, ich weiß“, grinste ich und wandte mich dem Grund für mein Hiersein zu: „Na dann, lass uns mal anfangen zu arbeiten.“

Ich gewöhnte mich schnell an Eisens neues Aussehen und dass wir etwas zu tun hatten, half, mich ebenso schnell an sein ungewohntes Verhalten zu gewöhnen. Dabei unterschied es sich nicht von dem, in der Schule. Er redete nur mehr, lachte zwischendurch völlig ungezwungen, machte trockene Witze und legte eine entwaffnende Offenheit an den Tag.

Warum gab er sich so nicht in der Schule? Für ihn wäre alles viel leichter gewesen, oder etwa nicht? Ich wagte nicht, zu fragen. Er akzeptierte, dass ich seine Veränderung bemerkte, ich bezweifelte jedoch, dass er es hören wollte.

Selbst seine Klamotten, die zwar nicht geschmacklos unmodisch aber auch nicht herausragend „trendy“ waren, wirkten hier anders. Unter der farblich fragwürdigen Sweartshirtjacke trug er ein völlig normales T-Shirt, dass mit seiner Jeans einen anderen Eindruck schuf als die Jacke.

Und er war größer. Na gut, er war genauso groß, wie in der Schule, nur erinnerte seine Haltung nicht mehr an ein C.

„Man, ist schon ´ne Weile her, dass ich Gruppenarbeit gemacht hab“, fing er plötzlich von sich aus an. Er saß vorm Computer und bastelte an der Präsentation. Ich hockte daneben, blätterte in einem Comic und drehte auf dem Drehstuhl langsam vor mich hin.

„Was meinst du?“, riss ich meinen Blick von einem faszinierend ekelhaften Bild los.

„Na, was wohl?“, lachte er. „Was glaubst du, wo ich ja so unheimlich beliebt bin?“

Ich klappte das Comic zu. „So, wie die sich benehmen, würd ich an deiner Stelle auch das Alleinsein vorziehen.“

„Du scheinst dich mit ihnen zu verstehen.“ Es war eine reine Feststellung, ohne Neid, Vorwurf oder Spott.

„Es gibt ja auch keinen Grund für mich, sie nicht zu mögen, was aber nicht heißen muss, dass ich ihr Verhalten nachvollziehen will oder kann oder etwa gut heiße.“

Eisen nickte langsam und speicherte die Präsentation. „Sehr weise Worte.“
„Keine Ahnung. Ich bilde mir einfach gern selbst eine Meinung.“

Er drehte sich auf seinem Stuhl zu mir um.
„Ah und die hast du dir inzwischen gemacht?“

Ich grinste. „Ich bin dabei, ich bin dabei.“

„Wie ist das Zwischenergebnis?“ Seine blauen Augen lachten mich an. So stellte ich mir einen Blick vor, den man „schelmisch“ nennen würde, würde man dieses Wort in einem anderen Zusammenhang, als mit „Kasperle“ benutzen.

„Neugierige Tante,“ antwortete ich ausweichend. Ich hatte nicht vor ihm meine Überlegungen auf die Nase zu binden. „Aber soviel kann ich ja verraten: Ich hatte recht mit meinen Vermutungen.“

„Dass der erste Eindruck täuschen kann?“

„Genau.“

Eisen grinste, dann fiel sein Blick auf die Uhr. „Oh, verdammt, mein Vater steht gleich auf und ich  muss noch Essen machen. Hast du was dagegen, wenn du jetzt ...“

„Kein Problem, ich muss ohnehin mal nach Hause.“ Das musste ich keineswegs, es gab niemanden, der mich sehnsüchtig erwartete, aber das brauchte Eisen nicht zu wissen.

Er brachte mich zur Tür und während ich mir umständlich die Schuhe anzog, sagte er unvermittelt: „War wirklich lustig, heut Nachmittag.“

Ich nickte und richtete mich auf. „Auf jeden Fall. Sag Bescheid, wann du Zeit hast, damit wir weiterarbeiten können.

„Willst du mir deine Handynummer geben?“ Er kramte seines hervor.

„Du kannst mir das auch persönlich in der Schule sagen“, fügte ich hinzu, nachdem ich sie ihm genannt hatte.

„Lass mal, ist vielleicht besser für dich, wenn wir den Kontakt beschränken.“

Ich wurde böse. „Überlass´ mal, mir zu entscheiden, welcher Kontakt für mich gut und welcher schlecht ist und mach dich selbst nicht so runter!“

Gleich darauf sah ich das Lachen in seinen Augen. Er zog mich auf. Ich schüttelte missbilligend den Kopf, fühlte mich dämlich und ging.

XI

Die Handwerker waren verschwunden, im Wohnzimmer klaffte ein Loch dort, wo einmal die Fenster zum Balkon rausgegangen waren, es war mit einer Plane abgedeckt, dasselbe galt für die Möbel, um sie vorm gröbsten Schmutz zu bewahren. Den Boden zierte eine Patina aus Dreck.

Schöne Bescherung.

Mein Handy vibrierte.

„Wie war´s bei Eisen? Haste Lust auf ´n bisschen Ablenkung nach so einem Nachmittag?“ Lana.

Ich sparte mir einen Kommentar und versprach am Abend in die Stadt zu kommen. Von dort aus wollten wir weiter zu Mike, um den Jungs bei der Probe zuzusehen.

 

„Wie ist es bei ihm zu Hause denn?“

„Normal.“

„Normal? Was heißt normal?“

„Normal heißt: Er hat keine Schränke voller Schrumpfköpfe  – zumindest hab ich keine gesehen – und er hat auch nirgendwo Folterbänke und Kettensägen rumstehen“, stöhnte ich.

„Na schön, aber sicher hat er tausend Comics und spielt nur so Spiele und ...“

„Was wollt ihr eigentlich? Ich dachte, der Typ ist euch egal“, unterbrach ich Maike scharf. Sie klappte den Mund zu. Jaja, das, was man „verabscheut“ fasziniert einen am meisten.

Ich wechselte das Thema, bevor eine Pause entstand, die sie oder Lana mit beleidigtem Schweigen füllen konnten.

„Wie weit sind die Jungs mit ihrem Video?“

„Naja, Lennart dreht ´n bisschen durch, weil er behauptet alles sei unscharf. Aber eigentlich kommen sie gut voran“, erzählte Lana. „Lennart kann ´n ganz schöner Perfektionist sein.“

Da Thally nicht dabei war, ließ keine von uns besondere Vorsicht walten.

„Hast du dich in letzter Zeit noch mal mit Lasse getroffen?“, forschte Maike prompt nach. Ich verneinte und fügte nicht hinzu, dass es sie nichts anging.

Hin und wieder schrieben wir uns SMS, meist um halb eins, in der Nacht, doch es beschränkte sich auf, nun, Themen und war ziemlich leeres Gewäsch.

„Ich fürchte, er will nichts von Thally“, murmelte Maike besorgt, als sie die Klingel drückte.

„Na, Mädels?“ Mike grinste wie ein Verschwörer, als er öffnete. Im Keller dröhnte laut Musik, nicht die der Jungs, sondern aus dem Radio. Lennart saß auf dem Besucherthron, den Laptop auf den Knien und wuselte im Internet rum.

Das Video war fertig und hochgeladen. Wir sahen es uns an, bevor wir den Rest der Mannschaft begrüßten. Eins musste man Lennart lassen: Er konnte es.

Lasse und Hannes lehnten am offenen Kellerfenster und bliesen Rauch in die Dämmerung. Auf der Fensterbank stand eine bollernde Shisha.

„Steht ihr da, weil´s besonders gemütlich ist?“, fragte ich.

„Nein, weil wir wert auf unsere Gesundheit legen.“

„Na dann.“

Wir fläzten uns in die fatboys und beobachteten die Jungs bei ihren Probebemühungen. Das Ganze lief nicht gerade gut, weil Hannes, laut Lasse, zu viel gekifft hatte, aber alle hatten Spaß.

Hätten wir am nächsten Tag nicht Schule gehabt, wäre es weitaus spaßiger geworden.

Als wir aufbrachen, flüsterte Lasse mir zu: „Kommst du mit?“

Die Zusage lag mir auf der Zunge, doch die Lustlosigkeit, die mich überkam, als ich daran dachte,

anschließend per Nachtbus nach Hause fahren zu müssen, siegte.

„Lass mal, morgen vielleicht. Ich schreib dir.“

Außerdem spürte ich Maikes prüfenden Blick im Rücken. Ich sollte dieses Ding beenden, Thally zuliebe, immerhin waren wir befreundet. Mein Gewissen zwickte mich und ich schrieb Lasse eine Ausrede, die nur Frauen haben können, woraufhin er eine Stange Smilies zurück schickte, die einen misstrauisch machen konnte.

Da aber praktisch alles was er tat oder sagte, Misstrauen hervorrief, war das nichts, worüber man sich Gedanken machen musste.

Es war albern, aber es überraschte mich, als ich Eisen am nächsten Tag in derselben Aufmachung wie immer daherkommen sah. Haare vorm Gesicht und irgendwie freakig, wie die Mädels gesagt hätten. Nun, wieso hätte er es ändern sollen?

Ich lächelte ihm zu und er erwiderte meine Begrüßung.

„Muss das sein?“
„Muss das sein?“, äffte ich Lana nach, die meinen kurzen Wortwechsel mit Eisen mitgehört hatte.

„Naja, musst du jetzt barmherziger Samariter spielen und so nett zu ihm sein?“

„Wie kommst du darauf, dass ich barmherziger Samariter spiele? Ich bin nett, weil ich nett sein will, wenn du nichts dagegen hast“, antwortete ich mit erzwungener Geduld und einem Lächeln, das Eis neidisch werden ließ.

Der Einfachheit halber beschränkte ich den Kontakt zu Eisen auf ein Minimum, das Getöne meiner Freunde ging mir zu sehr auf die Nerven, als dass ich es weiterhin ignorieren konnte. Es war mir nicht unangenehm, dass sie von dem Kontakt wussten, es war mir nur lästig, jedes Mal darauf hinzuweisen, dass es sie nichts anging und ich es wollte und nicht dazu gezwungen wurde.

Allerdings sorgte ich dafür, dass er nichts von meiner Vorsicht mitbekam.

In der folgenden Woche verabredeten wir uns zum nächsten Treffen. Wieder bei ihm; der Balkon wuchs noch und es war zwischenzeitlich so laut in unserer Wohnung, dass man sich nur mittels Flüstertüte unterhalten konnte und dabei unweigerlich die Stimmbänder zerrte.

Dieses Mal mussten wir keine Rücksicht nehmen, sein Vater arbeitete und wir konnten uns in die Küche setzen, wo Eisen nebenbei kochte.

„Mein Vater hat kaum Zeit dafür und irgendwer muss es ja machen“, erklärte er, als ich fragte, ob er es aus Leidenschaft oder anderen Gründen tue. „Aber ein bisschen Leidenschaft ist es vielleicht auch. Außerdem kann ich´s inzwischen gut genug, dass auch das Ergebnis Spaß macht.“

Er lachte.

Ich beobachtete, wie er Zwiebeln schnitt – seine Haare hatte er wieder als Pferdeschwanz zurück gebunden – und rührte in meiner Teetasse herum. Keine der Fragen, die sich mir aufdrängten, wagte ich laut auszusprechen. Eisen beantwortete jede, die ich stellte, direkt und unumwunden, doch bisher hatte ich keine persönlichen gestellt. Ich wusste selbst nicht, was mich an ihm faszinierte. Vielleicht die Tatsache, dass er so anders wurde und doch er selbst blieb, sobald die Schule zwei Schritte hinter uns lag. Auf so subtile Weise, dass es viel mehr Spaß machte dabei zuzusehen, als wenn er sich plötzlich High-Heels und Minikleid übergestreift hätte.

Gut, das wäre auch spaßig gewesen, zugegeben, trotzdem war es ein anderer Spaß.

„Willst du so was später mal machen, kochen?“

Wieder lachte er. „Bewahre, da wär ich ja schön doof. Meiner Meinung nach verliert man so nur die … Freude dran. Ich will später mehr in Richtung Medizin gehen, hat zwar auch was mit Messern zu tun, ist aber auf Dauer solider.“

„Medizin?“

„Ja. Oder hast du was dagegen?“

Ich lächelte und beugte mich über das Buch vor mir. „Wie du meinst. Dann sollte dir dieses Referat ja keine Probleme bereiten. Welch Glück für mich.“

„Haha, ja. Bin gleich fertig, dann können wir weiterarbeiten.“

Die Sonne schien und schickte ihre spätnachmittäglichen Strahlen durchs offen stehende Fenster. Von draußen drangen Autolärm, gelegentliches Vogelkreischen und das menschliche Äquivalent dazu, herein.

„Hast du Geschwister?“, fragte Eisen, nach einer Weile, unvermittelt.

„Nö, du?“

„Eine Halbschwester, ist aber ein ganzes Stück älter als ich.“

Ich nickte langsam. „Wieso?“

„Na ja, mein Vater hat ..:“

„Nein, ich mein, wieso wolltest du wissen, ob ich Geschwister hab.“

„Nur so. Du redest nicht viel über dich.“

Ich musste lächeln. „Du auch nicht über dich.“

Er musterte mich mit schiefgelegtem Kopf und das Grübchen erschien auf seiner Wange. „Gut beobachtet. Na schön“, sein Blick wanderte weiter zur Küchenuhr. „In ´ner halben Stunde dürfte er kommen. Ehm, ich will dich nicht rauswerfen, aber ...“

Ich winkte eilig ab. „Schon gut. Ich sollte eh los.“

„Hast du übermorgen Zeit?“, wollte er wissen, als wir zur Tür gingen.
„Sicher. Sollen wir dann weiterarbeiten?“

„Wär gut. Bei dir oder wieder hier?“

Eigentlich wäre ich dran gewesen. Eigentlich, wie ich mir eingestehen musste, steckte ich zu tief in diesem Leben, als dass ich ohne größere Schwierigkeiten heraus gekommen wäre und doch betrachtete ich es als einen, nun ja, Schutz. Solang niemand zu mir nach Hause kam, gab es eine Art Grenze, hinter die ich flüchten konnte, sollte es dazu kommen, dass das Leben in Hamburg ein Ende fand. Nomaden können sich nicht ändern, oder? Schon gar nicht solche, deren Nomadenleben von außen bestimmt ist.

„Es ist kein Problem, wir könne uns hier treffen, ich muss es nur wissen“, lächelte Eisen, als habe er meine Gedanken erraten. Ich erwiderte sein Lächeln dankbar.

 

„Wann sind die endlich fertig?“

Meine Mutter war eben heimgekommen. Ich lehnte in der Wohnzimmertür und betrachtete die Unordnung missmutig. „Außerdem stinkt´s nach allen möglichen Chemikalien.“

„Ach, Polly, muss das jetzt sein?“, seufzte sie und ließ eine Einkaufstüte auf den Boden gleiten.

„Nicht unbedingt. Wann ziehen wir wieder um?“

Völlig perplex starrte sie mich eine geschlagene Minute lang an, bevor sie sich brüsk abwandte und in die Küche stelzte.

„Die Frage ist doch wohl gestattet, oder? Immerhin ist das auch meine Zukunft, die ihr da verpfuscht!“, rief ich ihr nach.

Ihr Kopf erschien in der Tür. „Wir verpfuschen deine Zukunft nicht!“

„Dann sagt mir, was Sache ist!“

Der Kopf verschwand und ich folgte ihr. Sie begann ihre Einkäufe wegzupacken. Ich setzte mich an den Küchentisch und wartete. Als nichts kam, öffnete ich den Mund, wobei ich mir Mühe gab, nicht aggressiv zu klingen: „Hab ich nicht ein Recht darauf zu erfahren, was Sache ist?“

„Natürlich hast du das. Aber du weißt doch, wie das ist. Es ist … kompliziert. Und ich möchte nichts versprechen, bevor nicht alles geklärt ist.“

„Was gäbe es denn zu versprechen?“

„Polly, bitte!“ Sie fasste sich an den Kopf. „Können wir das verschieben, ja? Heute war ein verdammt anstrengender Tag.“

„Es ist immer ein verdammt anstrengender Tag.“ Ich erhob mich. „Ich geh ins Bett.“

„Willst du nichts zu Abend ...“

„Nein!“

Erst viel später, als sie und mein Vater im Bett waren, schlich ich zurück in die Küche und kochte Tee.

Und gerade als ich zurück ins Bett klettern wollte, hörte ich es wieder.

Die Wände unserer Wohnung sind nicht sehr dick. Dick genug, um nicht jedes Gespräch belauschen zu können, aber dünn genug, dass man ein Klavier hört.

Das erste Mal passierte es um halb zwei, in der Nacht, vor einigen Tagen, bzw. Nächten. Nicht laut oder aufdringlich, im Gegenteil. Eigentlich spielte der jemand sehr behutsam und gedämpft.

Ich lauschte dem nächtlichen Konzert. Mein Wissen bezüglich klassischer Musik ist stark beschränkt, ich weiß gerade mal, was Beethovens Fünfte oder Neunte ist oder was es mit dem Marche funebre von Chopin auf sich hat (und selbst das ist wahrscheinlich mehr, als die meisten wissen). 

Das, was da gespielt wurde, klang stark nach Klassik, war aber nicht so schwerverdaulich, wie ein Rachmaninoff oder Tschaikowski. Es war niveauvoller Herzschmerz. Wer auch immer da spielte, spielte immer nur trauerumwogende Stücke. Entweder er oder sie tat es, weil es einfacher war, weil es nachts nicht so aufdringlich daher kam oder weil er oder sie selbst an niveauvollem Herzschmerz litt.

Es störte mich nicht, zumal er oder sie gut spielte – womit gemeint ist: Er oder sie probierte nicht zehnmal den Anfang von „Für Elise“, bevor er oder sie zufällig den richtigen Ton traf, um weiterspielen zu können und nicht, unter Verwirrung leidend, von vorne beginnen musste.

Es gibt nur wenige Dinge, die ich so sehr hasse, wie Menschen, die „Klavier spielen“ und darunter verstehen, genau ein Stück auswendig zu können und sich mit etwas Glück an die passenden Tasten zu erinnern.

Die Musik verklang und ich hörte dumpf eine Tür schlagen.
Na schön, end of concert. Würde ich eben schlafen.

 

XII

Ich sprach meine Eltern nicht noch einmal auf den Umzug an, nicht, bevor ich mir nicht gute Argumente und bessere Nerven zugelegt hatte.
Genügend anderes ergab sich, worüber es nachzudenken galt. Das Referat – das nächste Treffen sagte Eisen ab, ohne mir den Grund dafür zu nennen, er lächelte nur entschuldigend – oder meine Freundinnen und ihre komischen Ansichten zu ihm und Benzo, den ich am Wochenende im Park traf.

Ich war hingegangen, um frische Luft zu schnappen, weil unsere Wohnung am Ausstinken war. Der Balkon stand soweit, an den Feinschliff würde Montag gegangen, behauptete mein Vater.

Als wäre es abgesprochen, rannte ich Benzo an derselben Stelle, wie beim ersten Mal, in die Arme.

„Nächste Woche hab ich ´n Turnier, bist du dabei? Die anderen kommen auch, ist hier in Hamburg, darum müsst ihr nicht weit fahren“, schlug er vor, nachdem wir die obligatorischen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten.

Roger beschnüffelte einen Baum und beschloss anschließend, ihn organisch zu gießen.

„Naja, warum nicht? Wird sicher lustig.“

„Warum arbeitest du mit Eisen zusammen für Bio?“

„Bitte?“ Die Frage traf mich voll zwischen die Augen. „Was meinst du?“

„Du machst doch mit ihm zusammen das Projekt, oder?“

Ich nickte langsam. „Bitte spar dir mir zu sagen, wie komisch er ist!“

„Du findest ihn komisch?“

Ich klappt den Mund zu. „Nein! Aber anderen müssen mich ständig drauf hinweisen. Sehr anstrengend.“

Benzo lächelte. „Ja, kann ich mir vorstellen.“

Seine Worte machten mich stutzig. „Was denkst du über ihn?“

„Er ist in Ordnung, auf seine Art und Weise.“

„Du kennst ihn also besser, was?“

„Kann man sagen, wir trainieren zusammen, schwimmen, du weißt schon.“ Weil ich schwieg fügte er hinzu: „Du willst bestimmt wissen, warum wir in der Schule nicht viel miteinander zu tun haben? Genaugenommen hat er ja mit niemandem viel zu tun. Naja, ich denke, aus demselben Grund, wie du?“

„Wie?“

„Wenn man ihn besser kennt, ist es einem scheißegal, was andere über ihn denken, weil er sich so gibt, wie er sich geben will. Wir sind seit Jahren befreundet, haben schon zusammen trainiert, als er noch nicht auf der Schule war. Da er sich aber ebenso von mir fernhält, beschränken wir unsere Freundschaft auf außerschulische Aktivitäten, wenn du verstehst.“

Ich nickte.

„Ist doch bei dir mit ihm genauso, oder?“

„Ja, wahrscheinlich. Allerdings habe ich nie die Meinung unserer Mitschüler geteilt“, stellte ich klar.

„Ach, nicht? Sie haben dir doch gesagt, was für ein Freak er ist. Und davon lässt du dich nicht beeinflussen?“ Benzo warf mir einen Blick zu. „Oder sagst du das jetzt nur so?“

Wir hatten uns auf eine der Bänke gesetzt, die hier alle zwei Meter standen. Roger belästigte andere Spaziergänger.

„Benzo, ich war schon oft genug in meinem Leben selbst Außenseiter, das ist man zwangsläufig, wenn man neu in eine Klasse kommt und selbst, wenn ich bisher immer gut zurecht gekommen bin, nach ´ner Weile, hab ich es mir abgewöhnt, über jemanden zu urteilen oder ihn zum Außenseiter zu machen, nur, weil andere es sagen oder er … er lange Haare hat.“

Na bitte, ich hatte etwas über mich verraten, was ich lieber für mich behalten wollte. Doch in diesem Fall war es mir wichtig, dass er verstand und er verstand.

„Tut mir leid, ich wollt dich nicht angreifen.“

„Schon gut.“

„Wie oft hast du die Schule gewechselt?“

„Können wir … einfach nicht darüber sprechen? Es war zu oft. Und allmählich geht mir die Lust darauf aus.“

Benzo lachte leise. „Denk ich mir.“

Etwas anderes kam mir in den Sinn. „Aber Eisen schwimmt nicht auch am Wochenende, oder?“

„Nein. Er macht keine Turniere. Schwimmt nur so, als Training.“ Wieder lachte er. „Wenn die Mädels wüssten, wie er unter seinen Nerd-T-Shirts aussieht, würden sie nicht so reden.“

Ich grinste. „Sicher, dass du nicht schwul bist?“

Er verzog das Gesicht. „Hör mal, ich kann über so was auch urteilen, ohne schwul zu sein, danke.“

Jetzt lachte ich. Es machte Spaß, ihn aus seiner Reserve zu locken und etwas am allzu machomäßigen Ego zu kitzeln.

Den Rest des Spaziergangs redeten wir über unverfänglichere Themen, wie Vodka oder Roger.

 

Uns blieben drei Wochen, für die Fertigstellung des Referats, was nicht viel war, da wir nebenher Klausuren zu schreiben und Hausaufgaben zu machen hatten.

Und dann versäumte ich, Eisen Bescheid zu sagen. Erst am Freitag viel mir ein, dass da noch was war.

Er saß in der Cafeteria und las. Als ich mich zu ihm setzte, sah er auf.

„Hallo.“

„Du, wegen des Biodings … ich hab´s ganz vergessen. In zwei Wochen ist Abgabe und wir müssen noch einiges tun. Wann hast du Zeit?“

„Deine Freundinnen gucken komisch“, überging er die Frage.

„Tatsächlich? Also, wann hast du Zeit?“

Durch die Haare war es schwer auszumachen, ob er grinste, doch ich war mir sicher, dass er es tat.

„Hör auf so blöd zu grinsen, Mann!“

„Sorry. Also, wie wär´s mit … morgen? Heut kann ich nicht.“ Er klappte das Buch zu.

„Morgen? Nee, da bin ich bei Benzos komischem Turnierding.“

„Ach? Und danach?“

„Um wie viel Uhr ist das nochmal?“, fragte ich harmlos.

„Um elf, oder?“ Einen Moment sahen wir uns an. „Er hat dir gesagt, dass wir zusammen schwimmen. Sonst hättest du mir die Frage kaum gestellt, was?“

Ganz schön schlau, das Bürschchen.

„Ja, ich geb´s zu. Warum redet ihr nicht auch in der Schule miteinander?“ Ich dachte daran, was Benzo gesagt hatte und musterte heimlich Eisens Figur bzw. das, was über den Tisch ragte. Es war mir im Sportunterricht aufgefallen und hier bestätigte es sich. Man erwartete nicht, dass die Schultern eines Freaks, dessen Hauptbetätigungsfeld eine Spielkonsole ist, so gut ausgeformt sind. Selbst mit natürlicher Veranlagung, hätte es eines Trainings bedurft.

Eisen riss mich aus meiner Überlegung.

„Ist einfacher. Also danach? Wir müssen uns ja nicht um halb sechs morgens treffen. Es reicht auch Nachmittags, oder nicht?“

Wir setzten den Termin auf drei fest.

„Findest du allein zu mir?“

„Wenn ich mir keine Augenbinde anleg, dürfte es klappen“, nickte ich. Eisen lächelte. Irgendwie brachte ich es inzwischen fertig, das durch die Haare zu sehen.

„Willst du nicht zu Maike und Lana zurück? Wir hätten damit ja alles besprochen, nicht wahr?“

„Soll ich gehen?“ Ich machte Anstalten aufzustehen. Er schüttelte den Kopf.

„Nicht, wenn du nicht möchtest. Ich dachte nur, weil sie ständig herüber sehen.“

„Sie können ja herkommen, wenn es sie nach meiner Anwesenheit dürstet.“

„Nett gesagt“, lachte er leise. Ich blieb für den Rest der Pause bei ihm. Aus Trotz und weil ich es wollte.

 

An einem Samstag so früh aufzustehen, bringt gewisse Nachteile mit sich, wie schlechte Laune.

Maike, Thally und Lana litten an akuter schlechter Laune, meine glänzte dagegen mit Euphorie, was die der anderen nicht gerade hob.

„Was ist los? Wie kannst du so gut drauf sein?“, jammerte Maike. „Es ist zu früh! Ich brauch Kaffee! Sieh mal, hier sind sogar noch Kiezleichen unterwegs!“

Womit sie recht hatte. Es war früh genug, um auf „Kiezleichen“ zu treffen, die Überreste „durchzechter“ Nächte. Kein schöner Anblick.

Benzo teilte meine Laune und freute sich, dass wir da waren. Mike, Ingo und Lasse, mit dem Benzo über Mike befreundet war, hingen auf der Zuschauertribüne und versuchten sich den Anschein von Aufmerksamkeit zu geben, während sie alle paar Minuten einnickten.

„Hey, ihr Feudel!“ Ich stieß Lasses Füße, die er auf dem Sitz vor sich abgelegt hatte, beiseite.

„Was? Hey … Mädels“, gähnte der und klopfte neben sich. „Setzt euch her.“

Ich ließ Thally zufällig neben ihn, was er mit einem Stirnrunzeln quittierte. Nein, er stand wirklich nicht auf sie und sie tat besser daran, ihn so schnell wie möglich abzuschreiben. Nun, so, wie sie die Schwimmer betrachtete würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie ihn vergessen hatte. Man musste dafür sorgen, dass sie ein anderes Ziel fand.

„Wann geht’s ´n los?“

„Elf.“

„Schießt der Schiri mit ´ner Pistole rum?“, fragte Ingo und beugte sich vor, um die Sitzreihe entlangzusehen. Maike hatte sich zu ihm gesetzt und hielt Händchen. Entzückend.

„Nein, dieser spezielle Schiri benutzt eine Keule, die er gegen deinen Schädel hämmert, wodurch ein hohles Geräusch erklingen dürfte, das der Startschuss für die Schwimmer ist“, antwortete Lasse mit unbewegter Miene. Thally kicherte, ihr Blick hing nach wie vor an besagten Schwimmern.

„Halt die Klappe!“

Benzo winkte uns zu, die Einzige, die darauf achtete, war Lana, da alle anderen damit beschäftigt waren Mike, der wieder eingeschlafen war, auf möglichst brutale Weise zu wecken. Das nenn ich echte Freundschaft.

Als das Turnier begann, rissen wir uns zusammen. Benzo war gut, er hatte nicht übertrieben.

Er gewann in zwei Disziplinen, in der dritten und vierten wurde er zweiter. Alles weitere verstand ich nicht, ich hab weder eine Ahnung von den Regeln, noch von den Wettkämpfen selbst, ich fand es nur faszinierend, zuzuschauen.

„Habt ihr irgendwas mitbekommen?“, rief Benzo uns lachend zu, als wir nach den Wettkämpfen seiner Altersgruppe zu ihm mehr torkelten als gingen.

„Wir sind ja so stolz auf dich“, flötete Mike und schielte nach einem von Benzos Kontrahenten. Dasselbe galt für Thally. Wenn sie so weitermachte, vergaß sie Lasse rekordverdächtig schnell.

Apropos Lasse. Er stand dicht neben mir, sodass ich mit der Hand gerechnet hatte. Ich griff so unauffällig, wie ich Thally neben ihn gelassen hatte, nach hinten und löste sie mit sanftem Nachdruck von meiner Rückseite.
„Nicht,“ stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und einem breiten Lächeln hervor.

„Wohl Schiss, was?“

„Es ist die Sache nicht wert.“

Jetzt drehte der den Kopf. „So?“

Ich erwiderte seinen Blick. „Du weißt warum!“

Er nahm die Hand weg. „Ich will nichts von ihr.“

„Von mir auch nicht.“

„Sex schon.“

„Dafür solltest du aber nicht meine Freundschaften riskieren! Du würdest es nur bereuen!“

Der Blickkontakt hielt für weitere Sekunden und er lächelte, bevor er sich abwandte.

„Hm, hast recht, Poll.“

„Gehen wir noch was trinken?“ Die Frage kam von Maike, ich passte.

„Ach komm schon, dann geh halt nicht hin. Ist doch nur der Freak!“, meinte Thally abfällig.

„Ihr seid auch son paar Freaks“, murmelte ich und winkte zum Abschied. Mir war nicht entgangen, wie Benzo sich ein Grinsen verkniff.

XIII

Ich war zu früh dran und verlief mich, was das „Zu früh dran“-Sein neutralisierte, bis es umkippte und zu einer Verspätung wurde.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, begrüßte Eisen mich.

„Tut-tut mir wirklich total leid“, stotterte ich. Die letzte halbe Stunde war sehr verstörend gewesen. Alle Straßen hatten gleich ausgesehen und eine Weile hatte ich den Eindruck gehabt, von einem tollwütigen Hund verfolgt zu werden.
„Schon ok, ist ja kein Problem.“ Eisen klopfte mir sanft auf die Schulter und nahm mir die Jacke ab.

„Willst du was trinken?“

Als ich, weil ich meinen Mund nicht unter Kontrolle hatte, von meinem Erlebnis erzählte, lachte er, verstummte aber, als ich mich verärgert räusperte.

„Zwei Häuser weiter wohnt so eine irre Alte, die tausend Hunde hat, oder so. Und manchmal hauen die Hunde ab, wenn sie die Balkontür nicht zu macht. Dann hüpfen sie über´s Geländer – sie wohnt natürlich im Erdgeschoss – und rennen, wie blöde bellend, so lang herum, bis die Feuerwehr sie einfängt. Tut mir leid, dass sie dich erschreckt haben.“

„Ja, passt schon.“ Ich war immer noch beleidigt, weil er so ausgiebig gelacht hatte.

Außerdem war irgendwas anders.

Eisen brachte mir ein Glas Wasser. Seine Haare bildeten den üblichen Pferdeschwanz und seine blauen Augen lachten. Momentan über mich.

Ich konzentrierte mich auf das Wasser und registrierte, dass ich mir, zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten, nervös durchs Haar fuhr. Es war nicht so, dass ich mich nervös fühlte, aber ich kannte mich. Sobald ich nervös wurde, fing ich an, mir durchs Haar zu streichen und zu reden.

Energisch setzte ich das Wasser auf seinem Schreibtisch ab, traf einen Kulli, der wegrollte und die ganze Schoße ergoss sich über Blätter und Bücher.

„Oh, fuck!“

Und was tat Eisen? Er lachte.

„Ist doch nicht weiter schlimm, nur Wasser. Das hängen wir auf und innerhalb kurzer Zeit ist alles trocken und kann neu beschrieben werden. Die Tinte ist natürlich hin!“

Er hob eines der Blätter hoch und blau und schwarz verfärbte Tropfen landeten auf dem Parkett.

„Tut mir leid. Keine Ahnung, was heut los ist. Diese Hunde haben mich total fertig gemacht.“

Eisen holte einen Wäscheständer und befestigte die Papiere, die nicht völlig hinüber waren, mit Wäscheklammern daran. Anschließend besorgte er neues Wasser und platzierte mich auf einen Stuhl, weil ich nur herumstand und versuchte mein durcheinander geratenes Weltbild zu entwirren.

„Jetzt hol mal tief Luft und beruhig dich wieder, Polly. Das kann jedem passieren. Ich stoß auch ständig Sachen um.“

„Auf fremder Leuts Schreibtischen?“

„Äh, nein … aber sonst überall.“

Ich musste lächeln. „Sehr nett. Wirklich.“

Er zwinkerte mir zu.

„Können wir vielleicht anfangen? Dann vergess ich diese äußerst peinliche Momenterscheinung.“

„Momenterscheinung? Interessantes Wort. Aber peinlich? Nein, war doch sehr niedlich“, blödelte er.

Ich rollte mit den Augen.

„Na schön. Legen wir los.“

Nach einer Weile hörte mein nervöses Haareraufen auf. Ich hatte mich auf sein Bett verzogen, blätterte in einem Comic – sie faszinierten mich, auch, wenn sie mitunter sehr abartig und pervers waren, qualitativ waren sie dafür hochwertig – und er saß vorm Computer.

„Hey, komm mal bitte her.“

Seufzend legte ich das Comic weg.

„Welches Bild …?“

Ich setzte mich neben ihn und betrachtete die beiden, die er zur Auswahl stellte.

„Äh, keine Ahnung. Darauf erkennt man besser was, oder?“

„Es ist nur bunter.“

„Ja, aber übersichtlicher.“

„Aber nicht realistisch.“

„Warum fragst du mich dann überhaupt?“

„Weil´s schließlich unsere Präsentation ist?“

„Ja, aber wenn du eh nimmst, was du willst … wieso ...“

„Och, Polly, du kannst echt anstrengend sein.“

Ich hob den Kopf und begegnete seinen vorwurfsvoll blickenden Blauaugen. „Ach?“

„Ja, los, geh zurück, Bilder angucken. Ich mach das hier.“

„Ts.“

Er lachte, als ich zurück zum Bett ging. Es war kein boshaftes Lachen, eigentlich war es ziemlich nett.

Mir wurde langweilig, als ich alle „Bilder angeguckt“ hatte und schlenderte neben ihn. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er mich nicht bemerkte.

„Du weißt schon, was man über gute Präsentationen sagt?“

„Schleichst du dich vielleicht mal nicht so an? Ich hätte ´n Porno gucken können. Was sagt man denn?“

„Je besser die Präsentation, desto schlechter der Inhalt.“

„Geh bloß weg.“

Dieses Mal lachte ich. „Porno, ja?“

„Man weiß nie.“ Er blätterte in seinen Unterlagen.

Lächelnd setzte ich meinen Rundgang durchs Zimmer fort, der vom Schlagzeug stark verkürzt wurde. Mit Daumen und Zeigefinger schnippte ich gegen ein Becken. Es machte leise „Tsing“.

„Kannst du gut spielen?“

„Das musst du unsere Nachbarn fragen.“ Ich hörte, wie er gähnte. „Lass uns aufhören für heute. Aber was frag ich dich, du hast ja schon vor ´ner Stunde aufgehört.“

„Haha“, sagte ich und schnippte noch einmal gegen das Becken.

Das Summen des Computers verstummte, als ich die Blätter befühlte, die am Wäscheständer baumelten. Eisen hatte die Heizung angemacht und den Ständer daneben gestellt.

„Hm … schön trocken.“

„Jop.“

Jetzt schraubte er die Heizung runter und öffnete das Fenster. Es regnete und ich stöhnte beim Anblick der Wassermassen.

„Ich hab keinen Schirm dabei.“

„Kannst ja warten, bis es aufgehört hat. Ich werd dich jetzt sicher nicht rausschmeißen, wenn du nicht von dir aus gehen musste.“

„Nee.“

„Willst du noch was trinken oder so?“

Die Haustür ging. In der anschließenden Stille, die im Zimmer herrschte, räusperte Eisen sich.

„Scht.“ Er legte den Finger auf die Lippen, als ich ihn fragend ansah. „Warte.“

Damit ging er.

Ich wartete und ich würde sicher nicht fragen, warum er nicht wollte, dass sein Vater von meiner Anwesenheit wusste. Er würde seine Gründe haben.

„Er legt sich gleich eh hin. Solang musst du noch warten“, erklärte Eisen, als er zurück war. Ich nickte und setzte mich aufs Bett. Auf dem niedrigen Tisch daneben zeigte sich heilloses Durcheinander, bestehend aus Büchern, Papier, einem Feuerzeug, einem Glas und einem Bild, halb versteckt, hinter einem Buch.

Ich hätte gern gewusst, was darauf abgebildet war. Wenn es neben seinem Bett stand, fast neben seinem Bett, musste ihm der Inhalt viel bedeuten. Doch eher hätte ich mir die Hand abgehackt, als danach zu greifen.

Dafür fiel mein Blick auf ein Blatt Papier, das nicht so gefährlich wirkte. Ich nahm es und betrachtete die Zeichnung darauf, bis Eisen sich neben mich setzte.

„Hast du das gemacht?“, flüsterte ich.

„Ja.“

„Bist du sicher, dass du Medizin studieren willst?“

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, es hatte etwas wehmütiges. „Ja.“ Der Ausdruck verschwand. „Wie ich schon sagte: Auf Dauer ist es solider.“

„Ha, ja. Die Welt braucht solide Mediziner. Wie du meinst.“ Ich legte das Blatt weg.

So, wie er geschaut hatte, fragte ich besser nicht, wen die Frau, die die Zeichnung zeigte, darstellte. Sie sah nicht wie ein Mädchen aus, dass er aus sehnsüchtiger Liebesphantasie gezeichnet hatte.

„Was ist mit dir?“

„Hm?“

„Was willst du später mal machen?“, führte er seine Frage aus.

Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und den Ellenbogen aufs übergeschlagene Knie. „Ich weiß nicht. Was … sinnvolles? Das heißt, es muss für mich sinnvoll sein, nicht unbedingt im Sinne der Allgemeinheit.“

„Ich bin mir sicher, da findest du was.“

„Hör auf so zu grinsen.“

Als ich ging, regnete es noch, doch Eisen musste selbst los, so blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehen. Solang ich mit ihm zur Bahn unterwegs war, konnte ich von seinem Schirm profitieren. Er bot mir den Arm und ich hakte mich unter. In einiger Entfernung mühten sich zwei Feuerwehrleute ab, einen kleinen, aggressiven Zwergpinscher einzufangen.

Um uns herum ging die Sintflut nieder. Auf dem Bahnsteig schützte uns wenigstens die Überdachung.

„Ekeliges Wetter.“

„Ja, aber man muss auch an die Landwirtschaft denken.“

„Man, du kannst ja richtig lustig sein, Eisen“, meinte ich trocken. Die Bahn fuhr ein und öffnete quiekend ihre Türen.

„Du hast es erraten. Nach dir.“

Natürlich, wir leben in einer emanzipierten Welt, aber welche Frau findet es nicht schmeichelhaft, wenn man zuvorkommend behandelt wird? Und damit meine ich nicht die zuvorkommende Art, die sich aus einem dringenden Bedürfnis, die entsprechende Frau flachzulegen, ergibt, sondern die, die eine gewisse Aufmerksamkeit suggeriert.

Bei Eisen war mir das schon zuvor aufgefallen. Er ließ mich immer zuerst durch eine Tür treten und ging, wenn wir zusammen unterwegs waren, grundsätzlich auf der Seite, an der die Straße verlief.

Oder er bot mir an, mich zu setzen, wenn die ganze Bahn voll und nur noch ein Platz frei war. Ich trat zur Seite und ließ die alte Dame sitzen, die nach uns die Bahn erklomm. Eisen zwinkerte mir zu, als ich neben ihn trat und mich gegen das Glas der Abtrennung lehnte.

Ich wollte fragen, wohin er ging und wusste, dass ich keine Antwort erhalten würde, darum fragte ich nicht. Ich verkniff mir in seiner Gegenwart so manche Bemerkung, allerdings: Er tat dasselbe mit mir. Eigentlich eine gute Grundlage.

XIV

 

Zu Hause lief das heiße Wasser nicht mehr, im ganzen Haus. Der Hausmeister war gerufen worden, aber nicht aufgetaucht. Meine Duschpläne wurden somit vereitelt und ich war gar nicht begeistert. Wenigstens hatte ich mir kein Shampoo ins Haar geschmiert.

Ich setzte Wasser auf und machte Tee, ein kleiner Trost.

„Wo warst du heute?“ Eine seltene Frage.

Meine Eltern beschränkte sich darauf „Hallo“ zu sagen, wenn sie oder ich nach Hause kamen.

„Bei ´nem Freund. Für die Schule was gearbeitet.“ Das war sogar die Wahrheit.

„Ach, nett.“

Meine Mutter goss Wasser in eine Tasse und vergaß den Teebeutel reinzutun, als sie ging, um sich die Schuhe auszuziehen, holte ich das nach.

„Wie heißt der Freund?“

„Eisen.“

„Seltsamer Name.“

„Das gilt auch für Penelope. Außerdem geh ich davon aus, dass das nicht sein richtiger Name ist. Leider kann ich nicht davon ausgehen, dass Penelope nicht mein richtiger Name ist.“

„Gegen Penelope ist nichts einzuwenden!“

„Sagst du!“

„Ach komm, alle nennen dich Polly. Also, wirklich. Ist er nett?“ Manchmal vollführte sie seltsame Gedankensprünge.

„Oh … ja, doch.“

„Na dann.“ Sie holte den Teebeutel aus ihrem Becher und stockte. „Hab ich den reingetan?“

„Nein, er ist von selbst reingeflogen.“

Sie lächelte. „Danke, Polly.“

Ich nickte und schlürfte an meinem Tee.

Kaum zu glauben, doch später tauchte der Hausmeister auf und verkündete, es sei alles in Ordnung und das warme Wasser liefe wieder. Der Schlaftee tat seine Wirkung, sodass ich den Duschvorgang auf den nächsten Morgen verschob – in der stillen Hoffnung, dass das warme Wasser nach wie vor flösse.

 

Es floss und der Tag war gerettet. Benzo, dem ich beim letzten Treffen im Park meine Nummer gegeben hatte, rief an, ob ich ihn begleiten wolle. Lana war unpässlich oder gar nicht gefragt worden. Das, was die beiden führten, konnte man als Beziehung verstehen, wenn man ganz optimistisch war. Realistisch gesehen war es höchstens eine etwas intensiviere Freundschaft.

Wir trafen uns am See. Roger sabberte mir zur Begrüßung gegens Bein.

„Dein Hund ist komisch.“

„Blödsinn, du magst ihn nur einfach nicht.“ Wir latschten los.

„Ja, weil er komisch ist.“

Er nahm mir meine Bemerkungen nicht übel, was bewies, dass er ein toleranterer Hundefreund als ich ein „Hundehasser“ war.

„Dein Problem ist die Einstellung ...“

„Sag ich mir auch immer und dann – zack! – kann ich doch nicht anders.“

Auf halbem Weg um den See kam uns, bzw. Roger, ein anderer sabbernder Hund entgegen. Sie schlossen sofort Freundschaft und sabberten gemeinsam durch die Büsche.

Der Besitzer des Hundes, er konnte nicht viel älter sein als wir, bückte sich und sah den beiden Tieren nach, die hechelnd im Dickicht verschwanden.

„Keine Sorge, ihr findet sie wieder, folgt einfach den Speicheltropfen“.

„Das war sehr pietätlos!“, beschwerte Benzo sich und tat es dem anderen „Herrchen“ gleich, indem er ein Stockwerk tiefer ging. „He, Roger, du verblödete Misttöle!“, brüllte er mit ganzer Stimmkraft in das Unterholz.

„Ach und wie nennst du das?“

Der andere Kerl lachte gen Boden. Als er sich aufrichtete, rief er mir zu: „Na, du hast deinen Freund ja gut erzogen.“

„Du deinen Hund offenbar auch!“

„Hündin bitte, ja!“

Benzo kam hoch. „Hündin? Ist sie sterilisiert?“

„Nö.“

„Fuck! Magst du kleine Babyhunde?“

Ich musste mich setzten vor Lachen, als die beiden Jungs den „Misstölen“ nach hechteten.

Irgendwann kam Roger aus dem Gestrüpp und ich tat Benzo einen Gefallen, indem ich ihn festhielt, also Roger, nicht Benzo. Es war nicht auszumachen, ob er die folgenreiche Tat begangen hatte oder ob noch Hoffnung bestand.

Wenig später folgten Benzo, der andere Kerl und seine Hündin.

„Danke.“ Benzo nahm Roger an die Leine und reichte dem anderen die Hand. „Ich bin übrigens Benzo.“

Der andere grinste. „Matthias.“

Ich hob die Hand. „Polly.“

Ein Stück begleitete uns Matthias, bevor er es für besser hielt, Roger und sein Tier nicht länger in unmittelbarer Nähe zu halten.

„Kauf ihr am besten die Pille danach!“, riet ich ihm. Ich wurde sehr befremdlich angeglotzt, nicht von Matthias, der lachte, sondern von anderen Spaziergängern. Die verstanden alle keinen Spaß.

„Jetzt reicht´s, ich werd ihn kastrieren lassen“, grummelte Benzo.

„Ich dachte, allein die Vorstellung reicht, um euch Männer von so was abzubringen.“

„Ja, aber die Vorstellung plötzlich Alimente für seine Kinder zu zahlen, ist auch nicht sehr sexy.“

Ich lachte und tätschelte ihm den Kopf. Das war weniger feucht, als bei Roger.

Den Rest des Spaziergangs ließ er Roger nicht mehr von der Leine.

Obwohl ich ihm davon abriet, brachte er mich bis vors Haus. Mit hoch kommen konnte er – dank Roger, da Tiere nicht erlaubt waren – leider, bzw. zum Glück nicht.

„Wir sehen uns morgen!“

„Richtig.“

 

„Guten Morgen, Polly.“ Misstrauisch beobachtete ich Maike. Im Gegensatz zu Samstag, war ihre Laune heute ein Springbrunnen voll Schokolade, nur nicht so braun.

„Morgen.“

„Rate, was heute ist.“

„Montag.“

„Nein … ich mein ...“

„Dein Geburtstag?“

„Och nee, du bist total unromantisch.“

Ich gab auf. „Na schön, was ist denn los? Bedenke, ich lebe noch nicht so lang hier. Ich kenne noch nicht alle lokalen, ähm, Feiertage.“

„Ich hab heut Jahrestag.“

„Wie jetzt? Also doch Geburtstag?“

„Nein! Maaan. Meine Beziehung, was sonst?“

Ich lachte ungläubig. „Und woher sollte ich das wissen? Wenn du ganz angestrengt nachdenkst, erinnerst du dich daran, dass ich letztes Jahr noch nicht hier war, wie schon gesagt.“

„Kann ja sein, dass du was gehört hast“, schnaubte sie.

„Freut mich trotzdem für dich.“ Ich lächelte versöhnlich. „Denkt Ingo an so was?“

„Ich hoffe es“, knirschte sie.

Das konnte nur heißen, dass sie in der Hinsicht schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Ich überließ sie ihren Mordgedanken, falls er es vergessen sollte und setzte mich auf meinen Platz. Deutsch – das hieß, neben Eisen.

„Na, was ist los?“, begrüßte er mich. Außerhalb der Schule mochte er so aufgeschlossen sein, wie ein kaputtes Schloss, in der Schule war er nach wie vor einsilbig. Die Begrüßung kam also unerwartet.

„Maike will ihren Freund umbringen, wenn er nicht an ihr Einjähriges denkt.“

„Du hättest sie erleben sollen, als er das Halbjährige vergessen hat“, murmelte er. Ich lächelte. Ich wollte es mir gar nicht vorstellen.

„Warum legen die Leute da immer son Wert drauf?“, fragte ich die Welt im Allgemeinen.

Sie antwortete mir nicht. Die Welt antwortet selten, wenn man sie etwas im Allgemeinen fragt – und besonders nicht im Besonderen.

In der Pause schlich Mike sich an. „Willst du die nächsten Tage vorbeikommen, und ´n bisschen mit uns jammen?“

Lana und Maike – Ingo hatte es nicht vergessen, zumindest klebte kein Blut an ihren Fingern – nickten mir heftig zu. Es gab sicher nichts, was dagegensprach.

 

Ich sagte zu und bereute es kaum, als es soweit war. Die Mädels wollten ebenfalls kommen, verspäteten sich aber, wofür ich gesorgt hatte, indem ich ihnen die falsche Uhrzeit nannte, was es mir ermöglichte, eine Weile in Ruhe mit den Jungs rumzudaddeln.

Als ich ankam, waren ohnehin erst Mike und Hannes da. Hannes war ausnahmsweise nicht völlig zugedröhnt und wusste bereits im zweiten Anlauf meinen Namen.

„Ist Polly dein richtiger Name?“

„Einen richtigeren wirst du nicht hören“, machte ich ihm sehr entschieden klar.

„Ich werd´s schon noch rausfinden“, drohte er. „Kommen die drei andern auch? Wie heißt die eine noch mal? Fängt mit T an, glaub ich.“

„Thally?“

„Ja. Genau. Kommt die?“

Wir hatten ihr Bescheid gesagt und sie hatte gemeint: „Mal sehen, was sich einrichten lässt.“

„Wünsch es dir halt.“

„Haha.“ Er zog eine Zigarette hervor und trat zum Fenster. „Ich hab mir ja auch deine Aufnahmen angehört.“

„Tatsächlich?“

Er nahm die Zigarette aus dem Mund. „Du musst nicht so gehässig sein.“

„Tut mir leid.“

„Ja, also … ich hab die Aufnahmen gehört“, wiederholte er. Ich ging davon aus, dass seine hängende Nadel irgendwann das Hindernis überwinden und er weiterreden würde. Bis dahin beschäftigte ich mich mit dem Beobachten Mikes, der ein Mikro aufbaute. „Ich mag ja deine Stimme und so. Aber die Quali von deinem Aufnahmegerät ist schlecht.“

Ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte oder ob das ein besonders dämlicher Witz sein sollte. Bei Hannes konnte man sich nie sicher sein. Manchmal redete er sehr geistreich daher und dann wieder schnappte er völlig über und faselte den größten Stuss.

„Freut mich. Ich werd´s ändern“, antwortete ich vorsichtig.
„Du hattest doch was mit Lasse, oder?“ Damit wies er das Geschick meiner Mutter für Themenwechsel auf.

„Warum?“

„Nur so.“

„Na, gut, dass wir das geklärt haben.“ Das Gespräch bewirkte leise Kopfschmerzen im Bereich der Geduld, fand aber ein Ende, als Lasse und Lennart eintrafen.

Nachdem ich die erste Befangenheit abgelegt hatte, machte diese Sache einen Spaß, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass es Spaß machte. Es führte mir wahrscheinlich vor Augen, was Musik mir bedeutete – oder etwas ähnlich tiefgründiges.

„Macht euch das gar nichts aus? Ich mein, ihr seid ´ne feste Band und so“, wagte ich in einer Pause einzuwerfen. Die Mädels waren erschienen, auch Thally. Amüsiert hatte ich beobachtet, wie Hannes sich an sie heranschlich und mit einem seiner fragwürdigen Gespräche anfing.

„Wieso? Es macht Spaß, das ist die Hauptsache.“ Mikes Ansicht war vorbildlich, trotzdem war es vor allem seine. Lasse nickte zustimmend, Lennart und Hannes äußerten sich nicht, sie befanden sich nicht in Hörweite.

„Viel mehr Probleme bereitet mir diese sexuelle Spannung ...“, hub Lasse an.

Ich gab ihm einen Tritt gegens Schienbein, was er gar nicht einsehen wollte. Zwar war Thally durch Hannes unzusammenhängendes Gebrabbel vorübergehend abgelenkt, das hieß aber nicht, dass sie ihr feinjustiertes Frauengehör abgestellt hatte. Und selbst wenn eine Interessenverlagerung stattfand, wäre es unfein gewesen, anschließend sofort mit allem offen rumzuwedeln.

Er lächelte unangenehm.

„Hast du keine Angst, dass er dich, äh, irgendwie erpresst?“, hatte Lana mich einmal gefragt.

„Da wär er sehr doof.“ Sollte er so etwas versuchen, würde ich hinnehmen, dass Thally davon erfuhr und er sollte von mir aus zur Hölle fahren. Doch, unter all dem Machogetue, war Lasse kein perverser Psychopath. Dem Idioten Daniel hätte ich so etwas eher zugetraut, gut, dass er nie in der Position gewesen war. Ich hätte nicht die Probe aufs Exempel machen wollen.

„Machen wir weiter?“, riss Lennart mich aus meinen Gedanken.

 

Nach einer Weile ließ ich sie allein „weiter machen“ und setzte mich zu den Mädels.

„Das war super“, freute Maike sich. „Die Jungs spielen dieses Jahr auf der Abiparty. Mach doch da auch mit.“

„Mal sehen.“ Falls ich dann überhaupt noch da war, schoss es mir durch den Kopf und verhagelte mir augenblicklich die Stimmung. Ich konnte nichts dagegen tun, ständig drängte sich mir der Gedanke auf und dank der Reaktion meiner Mutter, als ich sie das letzte Mal darauf angesprochen hatte, wagte ich nicht, die Aktion zu wiederholen, aus Furcht vor der Antwort.

Es würde mir kaum etwas bringen, mit Außenstehenden darüber zu reden. Genauso gut konnte ich mit Luftballons gegen Matratzen kämpfen.

Ich wusste nur eins: Weg wollte ich auf keinen Fall. Das war der „worst case“, den ich mir nie hatte ausmalen wollen. Vielleicht lag es daran, dass ich es leid war, leid, immer „Nein“ zu sagen, wenn man mir Freundschaft anbot oder einfach nur ein Leben, in dem man neunzig Prozent der Zeit glücklich ist und nicht erst einen Satz auf Stolperfallen überprüft, bevor man ihn ausspricht.

Ich hasste jeden dieser sentimentalen Gedanken und hielt mich gleichzeitig daran fest.

Ich mochte diese Leute um mich herum und redete mir gleichzeitig ein, dass es nicht mehr war, als die übliche Oberflächenfreundschaft.

Einmal, einmal hatte ich es so weit kommen lassen und das hatte mich wichtige Lektionen gelehrt. Doch allmählich bezweifelte ich, ob das die richtige Strategie war. Irgendwann sollte ich sie ändern.

XV

 

„Bitte?“

„Komm. Die Jungs sind fertig. Oder willst du hier übernachten?“

Wir verabschiedeten uns von der Band, die aufräumte und schlenderten zur Bahn. Die SMS von Lasse bekam ich, als wir auf den Bahnsteig traten.

 

Sehen wir uns gleich noch?

 

Witzbold. Wie soll ich mich losmachen?

 

Wenn du in deiner Tasche nachsiehst, bemerkst du sicherlich, dass ich deine Fahrkarte weggenommen hab. Aber bitte werd vorher deine Anstandsdamen los, ja?

 

„So ein Idiot!“

„Was ist los?“ Lana drehte sich besorgt um.

„Die Jungs haben mir meine Fahrkarte geklaut“, stöhnte ich. „Ich geh zurück und hol sie. Ihr müsst nicht warten, wirklich. Ist schon ok.“

Wenigstens das Lügen sparte ich mir. Lasse wartete vor der Tür, als ich das Haus erreichte.

„Du hättest mir wenigstens entgegenkommen können“, beschwerte ich mich.

„Ich wusste ja nicht, ob du allein bist.“ Er hielt mir die Karte hin und zog mich an sich, als ich danach griff. „Aber wie ich sehe, bist du ein braves Kind.“

Ich befreite mich energisch aus seinen Armen. „Können wir uns bitte zusammenreißen?“

„Nee, das mit den sexuellen Spannungen war schon ernst gemeint.“

Gegen meinen Willen musste ich lachen.

„Na komm, Poll. Inzwischen dürften die Weiber weg sein.“

Kein Händchenhalten, kein Umarmen oder gelegentliches stehen blieben und Sabber austauschen. Mir war nicht mal danach, als wir bei ihm waren. Gut, mir war schon nach dem ein oder anderen, aber es war so leer und bedeutungslos, dass ich einen neuen persönlichen Rekord aufstellte, in leeren und bedeutungslosen Dingen. Sicher, es gab die üblichen Spezialeffekte – unterm Strich sind Effekte aber auch nur Effekte und das explodierende Auto wurde angezündet und hat sich nicht selbst entzündet (wenn der Vergleich klar ist).

 

„Bleibst du heute?“

Lasse lehnte am Fenster und rauchte.

„Ich hab morgen Schule. Kannst du dir vielleicht was anziehen?“

„Und wenn schon. Dann hast du dein Zeug halt vergessen. Ich kann dir ja ´n Stift und ´n Blatt leihen. Und nein, kann ich nicht.“

„Wie großzügig. Du hast ´n Schaden.“ Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen.

„Du hast ja auch nichts an.“

„Ich steh aber auch nicht am offenen Fenster.“

Lasse warf die Zigarette raus und schloss es. Anschließend ließ er das Rollo runter.

„Sonst hast du doch kein Problem mit meinem Penis.“
„Es geht nicht um deinen Penis.“

„Worum sonst?“ Er setzte sich auf den Bettrand und musterte mich, bis ich die Decke hoch zog.

„Darum, dass du ein kleiner Exhibitionist bist.“

Er lachte und beugte sich vor. „Na komm, machen wir ein bisschen Sex, damit du wieder runter kommst. Und ich auch.“

Unnötig zu erwähnen, dass ich doch bei ihm pennte.

Ich schlief weder in seinen Armen ein, noch wachte ich darin auf. Wir lagen wie Freunde nebeneinander und klauten uns gegenseitig die Decke, dabei blieb es.

„Du gehst mir unglaublich auf die Nerven“, verkündete ich, als wir zu spät aufgestanden waren und er Kaffee kochte. Ich saß auf einem Stuhl und zog mir die Schuhe an.

„Jau, das sagen viele Leute.“

Mich traf der Schlag, als da mit einem Mal ein Kleinkind hereinspazierte, gefolgt von einer Frau, die Lasses Mutter sein musste.

Bitte, lass sie glauben, ich sei nur eine Freundin, betete ich stumm.

„Oh, hallo.“

Lasse, der Teufel, blieb abartig ruhig. „Das ist Polly, du weißt schon. Sie macht mit uns Musik. Ich hab dir doch erzählt, dass sie hier pennt, weil sie so weit fahren muss, nach Hause.“

Das war eine so dreiste Lüge, dass ich den Mund zuklappte und beschloss, gar nichts mehr zu sagen. Aber seine Mutter schluckte es wortlos.

 

„Weit fahren? Hallo? Ich wohn ungefähr zehn Stunden näher an Mike, als du!“, stellte ich fest, auf dem Weg zur Bahn.

„Du willst ja nie, dass wir zu dir gehen“, brummelte Lasse. „Hätte es dir vielleicht besser gepasst ich hätte gesagt: Hey, das ist Polly, ich vögel hin und wieder mit ihr. Sie hätte mich allein deshalb gelyncht, weil Greta dabei war.“

„Greta?“

„Meine kleine Schwester.“

„Ah. Trotzdem!“, beharrte ich.

„Wie du meinst.“

Ich hatte mich beruhigt, als wir uns verabschiedeten, mit dem flüchtigen Kuss auf die Wange, der so unverbindlich war, dass er einen den Sex vergessen ließ.

 

„Warum hast du nichts dabei?“, wollte Maike wissen, als ich mir Blatt und Stift von ihr lieh. Ich rollte mit den Augen, Thally saß direkt neben uns.

„Später.“

„Ich kann´s mir denken.“

„Gut, dann wär das ja geklärt.“

Ich fühlte mich nicht gut. Mein Wohlbefinden spielte im Keller verstecken mit sich selbst.

Im Deutschunterricht erinnerte Eisen mich ans heutige Treffen.

Heute?

„Heute war das?“

„Eh ja, ist was nicht in Ordnung?“

Und ich hatte absolut nichts dabei. „Doch, doch. Ist es … ist es ok, wenn wir heut zu mir gehen? Ich hab irgendwie alle meine Schulsachen vergessen.“

Ich war selbst schuld und musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen.

Er zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Von mir aus passt das.“

Das Gefühl wurde nicht besser und hinzu kam ein gewisses Unwohlsein im Allgemeinen und im Besonderen gegenüber Eisen.

Ich hoffte inbrünstig, er möge niemals herausfinden, warum ich all meine Schulsache vergessen hatte und besiegelte meinen Entschluss, das Techtelmechtel der Nacht das letzte zwischen Lasse und mir sein zu lassen.

Dass Eisen, als erster Mensch seit Äonen, zu mir nach Hause kam, machte mich nicht nur nervös, sondern absolut kribbelig. Es hätte mich nicht gewundert, wenn meine Haare ausgefallen wären, so oft, wie ich mir durchstrich.

 

Es war nicht damit zu rechnen, auf meine Eltern zu treffen und obwohl die Handwerker mit dem Balkon nicht fertig waren, glänzten auch sie durch Abwesenheit.

„Aber hallo, ziehst du bald aus?“ Eisen sah sich in meinem Zimmer um, wie ich mich damals in seinem.

„Nee.“

„Und ich dachte, ich hab wenig Möbel. Oder lebst du hier nur eine Lebenseinstellung?“

Ich lachte verlegen. „Nicht direkt. Ich-ich … äh … Setzt dich auf mein Bett. Äh … Ich muss was trinken.“

Als ich zurück kam, hatte ich mich gefasst. „Es ist nur … ich brauch keine Möbel, um mich wohl zu fühl ...“

Er war damit beschäftigt sich die Haare zusammen zu binden und hob erwartungsvoll den Kopf. „Ja?“

„Ich brauch keine Möbel“, sagte ich noch einmal. „Es ist außerdem zu anstrengend und ich mag´s minimalistisch.“

„Das Gefühl hab ich auch.“ Er lachte, schüttelte den Kopf und hob seine Tasche vom Boden. „Na, auf jeden Fall kann einen hier nichts ablenken.“

Womit er recht hatte. Da die Präsentation auf seinem Computer gespeichert und der nicht hier war, beschränkten wir uns darauf, den schriftlichen Teil fertig zu stellen und mit dem Referatsteil anzufangen.

„Alles in Ordnung, Polly? Du wirkst irgendwie … unruhig.“

Eisen musterte mich, als ich ihn ansah. „Ja, ich hab selten Besuch.“

Er ließ den Blick ein weiteres Mal durch mein Zimmer schweifen. „Ja“, murmelte er. „Ja, glaub ich.“ Wieder sah er mich an. „Warum?“

„Warum hast du selten Besuch?“, fragte ich ungehalten dagegen.

Er lächelte sogar. „Na hör mal, bei meinem Ruf.“
Ich wand mich und rückte schließlich mit der Sprache heraus: „Ich hab es nicht gern. Es ist schwierig.“

„Ehrlich, hier sieht´s aus, als würdest du jeden Moment abhauen wollen.“

„Vielleicht muss ich das ja“, flüsterte ich in meine Unterlagen und ärgerte mich. Nicht über ihn oder das, was er sagte. 

„Wie meinst du das?“

Ich riss mich zusammen. „Vergiss es. Sagen wir einfach, es ist schwierig. Ich will nicht darüber reden.“

„Nicht mit mir oder generell?“

Ich rutschte vom Bett. „Generell. Auch ´n Tee?“

Die Engländer regeln alle Probleme mit Tee – zumindest gewinnt man diesen Eindruck, wenn man ihre Filme sieht.

Im Hintergrund dudelte das Radio leise vor sich hin, so konnte keine unschöne Stille entstehen.

Als ich mit dem Tee zurückkam, stand Eisen am offenen Fenster. Fades Sonnenlicht fiel herein, das Wetter erholte sich nur langsam vom Regen.

Ich reichte ihm eine Tasse und lehnte mich neben ihn an den Fensterrahmen.

„Weißt du, was ich manchmal denke?“

„Hm?“ Er wandte den Kopf und richtete die, in dem seltsamen Licht, hellblauen Augen auf mich.

„Eigentlich spielt es keine Rolle, was man tut, das Leben macht am Ende doch das, was es will.“

„Hm.“

„Ich hab das Gefühl, dass nichts funktioniert.“

„Was meinst du?“, fragte er sanft.

„Ach … egal.“ Ich seufzte, wollte nicht sehnsüchtig werden. Es wäre zu abgehalftert gewesen. „Ich kann also nur hoffen, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst.“

„Da ich nicht weiß, wovon du redest ...“, fing Eisen an und ich winkte ab.

„Ich erklär´s dir ein andermal. Lass uns weiterarbeiten.“

Ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht nachforschte, wovon ich zusammenhanglos brabbelte.

Je länger ich ihn kannte, desto mehr mochte ich ihn. Es war schwer, ihn nicht zu mögen. Er war nett, auf eine alles andere als aufdringliche Weise, ging davon aus, dass sein Gegenüber intelligent genug war, um eine eigene Meinung zu den Dingen zu haben – die er respektierte – und versteckte sich nie hinter zweideutigen Bemerkungen.

Abgesehen davon fand ich großen Gefallen daran, seine Augen zu betrachten, besonders, wenn er sein Gesicht in der Schule hinter dem üblichen Vorhang aus dunklem Haar verbarg. Eigentlich war es durch diesen Vorhang ziemlich gut zu erkennen, wie mir eines Tages auffiel. Möglich, dass es an mir lag, weil ich wusste, wie er darunter aussah, das Ganze dementsprechend eine Art innerer Projektion gleich kam.

Wenn er das Haar zu dem Pferdeschwanz band, war ich fasziniert, doch auf eine andere Art und Weise. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass er sich veränderte. Er nahm einfach seine Haare zurück und blieb Eisen.

Wenn ich ihn nicht ansprach, hielt er in der Schule die Klappe. Wenn ich ihn ansprach, antwortete er und war nie unfreundlich oder genervt.

 

„Warum siehst du Eisen so komisch an?“, zischte Maike mir zu, zwei Tage vor Abgabe des Referats. Natürlich hatte sie mich beobachten müssen. Ich wurde von diesen verdammten Weibern immer beobachtet, wenn es um Eisen ging und in der vorherigen Stunde hatten wir Deutsch gehabt.

Die beiden letzten Wochen waren dahin gedümpelt. Ich hatte meinem, mir selbst gemachten Versprechen, Folge geleistet und war Lasse fern geblieben, indem ich Mike für die nächsten Jamsessions absagte. Er bedauerte es, verstand aber, da ich den Grund andeutete. Ich wollte es auf die Freundschaft beschränken und hoffte die Freundschaft erhalten zu können, indem ich einen gewissen, nun, physischen Abstand zwischen uns brachte.

Außerdem hatte ich genug mit der Schule zu tun, wie alle. Das Referat hatten wir am vergangenen Tag beendet und waren mit dem Ergebnis recht zufrieden.

„Was interessiert euch das?“

„Du weißt nicht, was man sich noch so über ihn erzählt?“

Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Es kam nicht gut an, mitten im Unterricht auszuflippen.

„Ich will´s gar nicht wissen…“

„Meine Güte, hört sich ja fast so an, als wärst du in ihn verknallt“, murrte Lana auf der anderen Seite.

„Und wenn schon. Wenn´s so wär, was wär daran schlimm?“

„Wir wollen dich nur beschützen!“, ereiferte Maike sich. „Mal ganz abgesehen davon, dass … Eisen kaum dein Typ ist.“

„Ich spinnt ja. Was wär denn mein Typ?“

„Da passt Lasse schon besser.“

Ich schüttelte den Kopf und starrte wütend vor mich hin. Es bestand kein Zweifel daran, dass ich sie mochte und ich hätte mich geschmeichelt fühlen müssen, wo sie sich doch um mein Wohlergehen sorgten. Leider wurde ich das blöde Gefühl nicht los, dass es nicht um Sorge ging, sondern vor allem darum, mir ihre Meinung aufzuzwingen.

„Ich find das nie gut, wenn du dich mit ihm triffst. Und ich bin nicht die Einzige“, sagte Maike da.

„Na schön und warum nicht, hm? Was soll er getan haben, dass ich mich offenbar in Lebensgefahr begebe, wenn ich mit ihm allein bin?“, fauchte ich, gerade so laut, dass es den Unterricht noch nicht störte.

Weil keine Antwort kam, nickte ich langsam. „Ah, verstehe.“

„Angeblicherweise soll er … es wurde zwar nie wirklich bewiesen … aber man muss ihn sich nur mal ansehen.“

„Oh, bitte nicht so detailliert ...“

„Es ging um ´nen Einbruch und da soll auch was mit ´nem Mädel gewesen sein und er ist gewalttätig und ...“

„Oh, bitte“, lachte ich wieder spöttisch.

„Können Sie Ihr Gespräch vielleicht verschieben?“, ereiferte sich der Englischlehrer.

Was auch immer sie antrieb, ihn auf jeden Fall schlecht dastehen zu lassen – je mehr sie auf mich einredeten, desto mehr lehnte ich es ab und desto mehr stellte ich mich auf seine Seite. Ich hatte es nie zu diesem parteiischen Verhalten kommen lassen wollen, doch jetzt fühlte ich mich in die Enge getrieben. Ich wollte mir nicht vorschreiben lassen, wie ich die Menschen zu beurteilen hatte.

XVI

 

Natürlich gab es Gerüchte, aber nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, mal zu fragen. Und ich würde nicht fragen, weil ich die Gerüchte für den größten Schwachsinn des 21. Jahrhunderts hielt.

Wenn ich Lust hatte, Eisen zu mögen, dann würde ich ihn mögen. Wenn ich auf die Idee kam, mich in ihn zu verlieben … dann würde das sehr interessant, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

Ich hoffte, dass ich es rechtzeitig bemerkte, um anschließend viel Zeit zu haben, es als eine Momenterscheinung abzutun.

Und doch kam ich nicht umhin mich zu fragen: Aber wieso macht es mir nichts aus? Ist nicht die Bereitwilligkeit, mich in ihn zu verlieben, bereits ein Beweis dafür, dass ich in ihn verliebt bin?

Diese schwer psychoanalytischen Fragen tauchten auf, als ich wachlag und einmal mehr dem Klavierspiel nebenan oder über mir lauschte.

Ich lächelte in die Dunkelheit und kam mir im nächsten Moment dumm und albern vor. Das war das Problem: Wenn man ständig die Liebe als Witz des Lebens mit einem sarkastischen Lachen abtut, kommt man selbst nur schlecht an die Liebe, weil das Leben es nicht gern hat, wenn man es nicht ernst nimmt. Und Witze, die das Leben reißt, sollte man verdammt ernst nehmen.

Gingen wir mal davon aus, dass ich ihn einfach nur mochte, denn das tat ich und es bereitete mir keinerlei Kopfschmerzen.

In Anbetracht der Tatsache, dass ich ihm gegenüber keinen Knoten in der Zunge hatte oder über meine eigenen Sätze stolperte, beruhigte sich mein Inneres.

 

Meine Freundinnen kriegten sich ein, denn nach dem Referat, so ihre Schlussfolgerung, würde der Kontakt zwischen mir und Eisen auf ein Minimum schrumpfen.

„Hey, was hast du heut Abend vor?“, fragte Maike am nächsten Tag, als wir nach der Schule zur Bahn schlenderten. „Lana macht was mit Benzo, glaub ich. Und Ingo hat keine Zeit, weil er Fußball spielt, der Spinner. Gehen wir ins Kino, oder so? Oder ich könnt zu dir kommen und endlich mal eure Wohnung sehen.“

Mir fiel keine Ausrede ein und es war auch nicht nötig, eine zu finden. Die letzte „Grenze“ hatte ich überschritten, indem Eisen vorbeigekommen war.

„Ok. Willst du direkt mitkommen oder …?“

Sie verneinte bedauernd, für den Nachmittag stand Babysitten bei ihrer Schwester auf dem Plan. Doch anschließend wollte sie sofort vorbeikommen.

„Bring Thally mit, wenn wir schon mal dabei sind.“ Der letzte Teil des Satzes galt mir selbst und ich murmelte ihn. Sie musste ihn nicht zwangsläufig hören.

„Mach ich.“

Zu Hause setzte ich mich an die Hausaufgaben, was bedeutete, dass ich auf dem Boden hockte, um mich herum Blätter, Bücher und meinen Laptop. Die Stille, die mich umgab, bekämpfte ich mit Musik. Die Sonne schien und tauchte meine Englischlektüre und Teile der Geschichtshausaufgaben in goldenes Licht. Das Fenster stand offen und eine fette Hummel brummte verwirrt gegen die Scheibe des anderen Fensterflügels. Blöde Biester.

Ich beförderte sie, unter Hinzunahmen einer Englischanalyse und eines Glases, nach draußen. Als ich später, auf der Suche nach einem Aufgabenblatt Mathe, durch die Papiere blätterte, fiel mir ein Zettel in die Hände, der nicht mir gehörte. Das hieß, er gehörte mir, bzw. gehörte zum Referat. Eisen hatte drauf rumgekritzelt. Der Rand war übersäht mit Studien cartoonartiger Wesen und einer erstaunlich gut gelungenen Zeichnung meiner Wenigkeit. Ich erinnerte mich daran, wie er verkündet hatte, er würde jetzt Charakterstudie betreiben. Er hatte dabei gelacht und ich es nicht für Nötig befunden, still zu halten. Später hatte er erklärt, dass es Blödsinn sein, zu glauben, die Menschen müssten für ein Portrait lang stillsitzen. Solang sie in der Nähe waren und man Gelegenheit bekam, hin und wieder ihr Gesicht zu betrachten, kam es nur darauf an, das Wesentliche zu erfassen und aufs Blatt zu bringen.

„Wir reden hier natürlich von Skizzen“, hatte er hinzugefügt und gezwinkert.

Ich hatte es nicht ernst genommen und das Ergebnis nicht sehen wollen.

Tja.

Das Papier schob ich unter einen Stapel anderer, um es zu vergessen. Wegschmeißen wollte ich es nicht. Genaugenommen gehörte es nicht mir.

Die Mädels machten, wie nicht anders zu erwarten, große Augen, als sie mein spartanisches Zimmer betraten. Die Spartaner hätten sich eine Scheibe von diesem Zimmer abschneiden können. Außer vom Fußboden, der mit meinem Schulzeug gepflastert war.

Immerhin besaß ich jetzt Sitzgelegenheiten, zwei von den Monsterkissen, die auch bei Mike im Keller gelegen hatten.

„Warum willst du keine Einrichtung haben?“, wunderte Thally sich und sah sich um. „Das Zimmer ist super geschnitten. Wenn ich die Möglichkeit hätte, es einzurichten ...“

„Unsere kleine Designerin! Will später mal Innenarchtektin werden“, erklärte Maike grinsend und setzte sich in ihrem Kissen zurecht, während Thally durchs Zimmer wanderte.

„Nicht mal Bilder.“

„Nee. Wie sieht´s aus? Wollt ihr was trinken?“

Als ich mit dem obligatorischen Tee bewaffnet zurück kam, hatten die beiden mein elektrisches Klavier, dass unter einem Stapel Kleidung verborgen war, entdeckt.

„Du spielst?“

„Ja. Solltet ihr doch kennen, von den Aufnahmen.“ Ich stellte das Tablett mit den Tassen auf dem Boden ab.

Maike schaltete das Piano ein und startete, wie ich befürchtet hatte, den ersten Anlauf „Für Elise“.

„Bitte, nicht … wenn ihr klimpern müsst, dann wenigstens nicht das“, bat ich sie eilig.

„Was anderes kann ich nicht.“

„Versuch es mit „Alle meine Entchen“ oder dem „Flohwalzer“, nur nicht „Für Elise“, ja?“, beharrte ich und sie gab nach dem inzwischen fünften Versuch auf.

„Du hast uns nie gesagt, was du noch so machst, außer Musik.“

Ich zuckte mit den Schultern und lehnte mich gegen das Bett. Thally und Maike steckten buchstäblich in den Kissen fest. „Nicht viel. Umziehen.“

„Das ist kein Hobby.“

„Glaubt mir, es wird zwangsläufig zum Hobby.“

„Du hast uns auch nie gesagt, wie oft du umgezogen bist.“

„Weil es keine Rolle spielt.“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie einen Blick wechselten. Sicher hatten sie darüber gesprochen, wie wenig ich von mir preisgab. So entstanden Gerüchte – hatte man es mit Menschen zu tun, die einem nicht wohlgesinnt waren. Natürlich spekulierten sie, aber ich ging nicht davon aus, dass sie ihre Spekulationen in Theorien umwandelten und die Theorien zu allgemein anerkannten Gerüchten mutieren ließen.

„Ok, aber … sei uns nicht böse, wir würden nur gern wissen … Ich mein, es muss ja schon wirklich oft gewesen sein“, fuhr Maike vorsichtig fort. „Ist doch nicht weiter schlimm, oder?“

„Nee. Aber ich red nicht gern drüber.“ Schon gar nicht, wenn es bald wieder der Fall sein könnte. Na gut, ich war jetzt erwachsen, aber ich ging noch zur Schule. Ich wusste nicht, ob ich nebenher, neben dem Abitur, spontan anfangen konnte, eine eigene Wohnung zu führen. Und auf dem Papier erwachsen zu sein, bedeutete nicht, dass man sich erwachsen fühlte, nicht in jeder Hinsicht.

„Ok, anderes Thema: Wir haben dir ja angedroht, dass dein Geburtstag, bzw. dass du es uns verschwiegen hast, ein Nachspiel haben wird.“

Ich lachte. „Ohweh. Das hatte ich total verdrängt.“

Wieder wechselten sie einen Blick, dieses Mal einen amüsierten.

„Keine Sorge, es ist eigentlich ziemlich nett. Wir haben für´s nächste Wochenende ein kleines Grillfest im Park organisiert. Und wehe du kommst nicht. Dann wirst du gelyncht!“, warnte Maike.

„Ihr spinnt. Warum? Ich hab doch gesagt, dass es ...“

„ … nicht wichtig ist, ja, schon klar. Aber wir wollen es. Du gehörst zu uns, darum hast du´s verdient. Weißt du … es ist wirklich schräg. Wir kennen uns ja wirklich erst so kurz, aber es gibt Menschen, bei denen hat man das Gefühl, sie seit Jahren zu kennen.“ Das kam mir bekannt vor.

„Obwohl ich mich mit Eisen abgebe?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen und lächelte zynisch.

Ein Schatten flog über ihre Gesichter. „Der … ts.“ Es war nicht nur der Schatten des allgemeinen Missfallens sondern auch der einer vagen schuldbewussten Besorgnis.

„Das hat aber doch nichts damit zu tun, ob wir dich mögen oder nicht“, beeilte Maike sich, hinzuzufügen.

„Beruhigend.“ Ich kam zurück auf die unausweichliche Party. „Wann genau soll der Spaß denn stattfinden?“

„Also, nächsten Samstag soll gutes Wetter werden. Wir dachten dann? Falls es allerdings morgens wie blöde regnet, verschieben wir´s auf Sonntag. Wir sind da relativ flexibel.“

„Ist ja wundervoll.“

„Ach komm, das wird lustig.“

Ich nickte lachend. „Na, sicher. Davon bin ich überzeugt. Aber ich muss nichts albernes machen, oder?“

„Nee, außer, du willst.“

Die Befangenheit, die ihre Anwesenheit, hier in meinen vier Wänden, hervorgerufen hatte, löste sich in Wohlgefallen auf.

„Wo sind eigentlich deine Eltern?“, wollte Thally wissen, als wir uns eine Flasche Wein besorgt hatten. Musik lief und Maike durchwühlte meine Schuhe. Hin und wieder rief sie begeistert. Sie teilte meine Begeisterung für dieses nützliche Accessoire.

„Noch arbeiten, müssten aber jeden Moment kommen.“ Ich warf einen Blick auf mein Handy. Halb zehn. Die ließen sich Zeit. Es kam vor, dass sie nach der Arbeit mit Kollegen Essen gingen. Normalerweise sagten sie mir Bescheid, außer, sie vergaßen es. Was viel eher der Normalfall war, wenn ich genau drüber nachdachte.

„Woher hast du solche Schuhe?“

„Der Vorteil, wenn man ständig umzieht. In München gibt’s einen Schuhladen, der einfach nur super ist und der Gründe, warum ich es bedauert haben, von da weg zu müssen.“

„Ja, kann ich mir vorstellen.“

Maike zog sich die High-Heels über und klapperte über den Holzboden. „Wäre ich kriminell veranlagt, würd ich sie dir wegnehmen.“

„Aber sicher doch. Du kannst sie dir aber leihen, wenn du willst. Außerdem wohnen meine Großeltern da unten. Falls ich sie jemals besuchen sollte, kannst du mich begleiten“, schlug ich vor und grinste.

„Darauf kannst du dich verlassen.“

Bei ihrem Probelauf durch das inzwischen äußerst dämmrige Zimmer, das lediglich durch die Stehlampe neben meinem Bett ausgeleuchtet wurde, rannte sie in meine fein säuberlich aufgestapelten Schulsachen.

„Hups, tut mir leid.“

Sie versuchte das Malheur zu beseitigen und brachte alles durcheinander.

„Lass einfach liegen. Ist kein Ding“, rief ich, bevor es schlimmer werden konnte.
„Na sch … hui, was haben wir denn da?“

Als sie einen Zettel aus dem Durcheinander zerrte, wusste ich sofort, noch bevor ich ihn gesehen hatte, um welchen es sich handelte. Solche Begeisterung bringt man nicht auf, wenn es um eine Matheaufgabe geht.

Die Schuhe an den Füßen, sank sie zurück in ihr Kissen, dabei betrachtete sie das Blatt.

„Hübsch, das bist du, nicht?“

„Ja“, seufzte ich.

„Wer hat das gemalt?“ Sie drehte den Zettel hin und her. „Wer auch immer es war, kann wirklich gut zeichnen.“

„Hm.“ Wenn sie wüsste. Gut, dass Eisen nicht dazu neigte, eine leserliche Künstlerunterschrift zu führen. Er hatte so etwas wie eine „Künstlerunterschrift“, es handelte sich dabei aber um einen unleserlichen Schnörkel.

„Also, kennen wir ihn oder sie? Oder hast du´s selbst gemalt?“

„Nee. Äh … ihr kennt … ihn eh nicht“, murmelte ich und das war kaum gelogen.

„Ah, also ein er?“

Sie lächelten verschwörerisch. „Aber nicht Lasse, oder?“

„La … hallo? Spinnt ihr? Nein! Himmel nein!“

„Hm, wer dann?“

Ich ahmte ihr verschwörerisches Lächeln nach. „Das bleibt mein kleines Geheimnis, wenn ihr gestattet.“

„Wir finden es eh raus.“

„Ich wünsche ganz besonderes Vergnügen dabei. Aber bitte lasst mich zugegen sein, wenn ihr es rausfindet.“ Ich wollte wirklich nicht zugegen sein, wenn sie es herausfanden, der unweigerlich folgenden Kommentare wegen.

„Auf jeden Fall ist es verdammt gut. Ich werd mir auch was malen lassen, sobald ich weiß, wer der Herr ist!“, verkündete Maike.

Die Haustür klapperte. Meine Eltern waren von ihrem Essen zurück und die Mädels nutzten die Unterbrechung, um aufzubrechen.

„Ich hab meiner Mutter versprechen müssen, zu kommen und es ist eh schon spät. Nächstes Mal penn ich hier, versprochen“, versicherte Maike. Ich brachte sie und Thally zur Bahn, die frische Luft konnte nicht schaden.

Meine Eltern saßen in der Küche und unterhielten sich, als ich zurückkam. Ich sagte ihnen gute Nacht und machte mich bettfertig.

Auf dem Weg vom Bad in mein Zimmer, fing ich einen Wortfetzen auf, der mich aufhorchen und sehr unfein zur Küchentür schleichen ließ. Lauschen ist keine faire Sache, andererseits sind viele Umzüge keine faire Sache und in dem Wortfetzen ging es zweifellos um Umzüge.

„Ich frag mich, wie sie darauf reagieren wird.“

Ich hielt die Luft an und verlagerte vorsichtig mein Gewicht auf den anderen Fuß, mit dem ich nicht auf etwas spitzem stand.

„Wir sagen es ihr am besten noch nicht jetzt. Vielleicht warten wir, bis die Ferien anfangen. Es sind nur noch wenige Wochen, bis Schulende. Schließlich ist es schon eine neue Situation ...“

Eine Weile schweigen meine Eltern. Ich widerstand der Versuchung, in die Küche zu stürmen und mir Klarheit zu verschaffen. Ich weigerte mich anzuerkennen, dass ich längst wusste, worum es ging, starrte auf den schmalen Lichtstreifen, der durch den Türspalt kroch und biss mir auf die Lippe.
Es konnte nur darum gehen. Um einen weiteren, abstumpfenden Abschied.

„Naja“, meine Mutter seufzte. „Gehen wir erst mal ins Bett. Das können wir auch noch morgen klären. Heut abend ist mir das zu viel. Ich bin noch ganz fertig von dieser Besprechung.“

Ich trat zurück und schlich auf Zehenspitzen in mein Zimmer. Als ich die Tür ins Schloss drückte, ging im Flur das Licht an.

In dieser Nacht konnte ich die traurige Melodie, die durch die Wand kroch, nur zu gut mitfühlen.

XVII

 

„Polly? Polly?!“

„Hm?“

„Wir müssen aussteigen, komm!“

Auf dem Weg zur Schule, war ich in Benzo gerannt und wir hatten den Weg gemeinsam fortgesetzt.

„Ist alles in Ordnung?“

„Sicher.“

„Na gut, dann renn bitte nicht gegen Laternenpfähle.“ Er zog mich zur Seite. „Klar, alles ist in Ordnung.“

Ich rollte mit den Augen und konzentrierte mich aufs Hier und Jetzt. Die Kopfschmerzen waren schuld. Nein, die Müdigkeit. Nein, die tausend Gedanken.

Was auch immer Schuld war, es durfte mich nicht außer Gefecht und vor Laternenpfähle setzen.

„Äh, danke.“

Benzo brummte etwas. Ich hätte mich jetzt zusammenreißen müssen, stattdessen hing ich weiter den Gedanken nach.

Ich würde in diesem Zustand kaum bis zu den Ferien überleben. Wenn meine Aufmerksamkeit davon abhing, was meine Eltern mir zu sagen hatten, musste ich es erfahren. Offiziell.

Inoffiziell wusste ich es. Was sollte es sonst sein, worum sonst konnte es sich handeln, als darum?

Sie waren nicht mehr da gewesen, als ich aufgestanden war. Ich hatte sie drauf ansprechen wollen.

Hauptsächlich deshalb, weil ich mich über mich selbst ärgerte. Hätte ich nicht gelauscht, steckte ich jetzt nicht in einem verdammten Dilemma.

„Sollen wir heut noch mal über die Arbeit gehen? Morgen ist Abgabe?“ Eisen musterte mich abwartend, als ich neben ihn sank und daraufhin vage nickte.

„Sicher.“

„Dann … kommst du nach der Schule einfach zu mir. Bist du ok?“, setzte er übergangslos hinten an.
Wieder das vage Nicken. „Sicher. Nach der Schule? Gute Idee.“

Er lächelte. Die Ruhe, die er ausstrahlte, wie ein Uranstab Nachzerfallswärme, sprang auf meine Nerven über und sorgte dafür, dass meine Aufmerksamkeit sich auf das Hier und Jetzt richtete. Möglicherweise bildete ich es mir ein, aber es war tröstlich, selbst als Einbildung.

Ich hatte schlecht geschlafen, so schlecht, dass mir gegen Mittag die Augen zufielen und Maike mich mit einem gezielten Ellenbogenstoß zwischen die Rippen wecken musste.

„Wie kann man nur so die Ruhe weg haben?“, meinte sie kopfschüttelnd. Ich berichtigte sie nicht und stöhnte genervt, als sie hinzufügte: „Wenn man bedenkt, dass du außerdem gleich wieder zu dem Freak gehst.“

Ich weiß nicht was es war, dass mich dazu trieb, ihren letzten Satz, zusammen mit einem verächtlichen Lachen, an ihn weiterzuleiten.

„Oh, ja. Sie glauben wahrscheinlich, ich schlag dich oder so.“

„Sie schaukeln sich gegenseitig immer mehr hoch“, seufzte ich.

„Und sagen mir, ich soll mich von dir fern halten.“

Ich hob den Kopf und blieb stehen. „Bitte?“

Er wandte sich zu mir um und lächelte. „Ganz ruhig.“

„Sie haben das nicht wirklich gesagt, oder?“

„Was soll´s?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hör über so was hinweg. Und das solltest du auch, Polly.“

Langsam setzte ich mich in Bewegung. „Ich mag sie wirklich, aber sie sind solche Hohlköpfe. Es ist doch meine Sache, oder nicht?“

„Natürlich. Wie gesagt, hör nicht hin, wenn sie mit so was kommen.“

Ich hüllte mich in grimmiges Schweigen und es blieb dabei, bis wir bei ihm waren.

„Ich muss rasch kochen. Du kannst dich zu mir setzen oder Comics angucken oder so“, schmunzelte Eisen und werkelte mit einem Haargummi herum.

Ich ging „Comics angucken“, wobei ich beabsichtigte, zu schlafen. Er hatte sicher nichts dagegen, wenn ich mich für die ein oder andere Minuten auf sein Bett legte.

Dass ich beabsichtigte zu schlafen, bedeutete nicht, dass es mir gelang. Zum einen lenkte mich der Geruch des fremden Bettes ab – nicht, dass es unangenehm war und was die Sache erst zu einem Problem machte.

Die Tür stand offen, hin und wieder drang ein Klappern zu mir herein. Die Wohnung war nicht   riesig und was im Nebenzimmer passierte, erfuhr man, indem man das Ohr in die Nähe der Wand hielt.

Meine Gedanken kreisten um das leidige Thema, wie Geier um ein sterbendes Tier. Und genau das war es: Etwas, das dringend ein Ende finden sollte.

Ich wollte nicht länger der Willkür meiner Eltern oder ihrer Arbeit ausgeliefert sein. Ich wollte hierbleiben, mein letztes Jahr Schule absitzen, Freunde haben und … ich seufzte und zupfte an einem Stück Kissen, das sich vor meine Nase schob und versuchte beim Einatmen hineinzukriechen. Ich wollte die Gelegenheit haben, herauszufinden, ob ich mich daran gewöhnen konnte, in Eisen verliebt zu sein.

Wenig später kam er ins Zimmer; weil ich keine Reaktion zeigte, als er ans Bett trat und ich meine Augen geschlossen hielt, setzte er sich an den Computer und ließ mich in Ruhe, im irrigen Glauben, ich schlafe. Was immer er tat, er gab sich große Mühe leise zu sein.

So ein Mist, warum musste ich ihn mögen? So mögen? Es war viel leichter jemanden zu mögen, der ein Arschloch war, dann hatte man wenigstens gute Argumente, um sich denjenigen auszureden.

Realistisch gesehen, gab es keinen Grund, mir Eisen auszureden, leider beschlich mich die unschöne Angst, dass seine Gefühle mir gegenüber sich auf das beschränkten, was offensichtlich war, eine Freundschaft. Mit einer Absage von jemandem, der grundsätzlich kein Arsch ist, geht man weitaus schlechter um, weil man es nicht auf, nun, eben nicht auf den Arsch schieben kann, der in erster Linie Unabhängigkeit oder Macht oder was auch immer in dieser kranken Welt zählt, suggerieren will.

Ich beschloss „wach“ zu werden und kehrte dem Zimmer meine Vorderseite zu. Eisen riss sich vom Anblick des flimmernden Bildschirms los.

„Ausgeschlafen?“

„Nee.“

„Ach?“

Ich starrte vor mich hin, den Blick auf den niedrigen Tisch gerichtet. Das Bild, das mir schon einmal aufgefallen war, war nicht mehr durch Bücher verdeckt. Es zeigte dieselbe Frau, die er gezeichnet hatte. Es war exakt dieses Bild, nach dem er sie gezeichnet haben musste.

„Hey, was ist los? Irgendwas ist doch nicht in Ordnung?“, fuhr er mit sanfter Stimme fort und erhob sich.

„Es-es ist nichts. Ich hab nur daran gedacht, dass es langsam Zeit wird, mir einen Schreibtisch anzuschaffen.“

„Lobenswerte Überlegung.“ Er schob ein paar Comics zur Seite, mit denen ich mir das Bett teilte, und sank auf die Kante. „Und wie kommst du da ausgerechnet jetzt drauf?“

„Ich weiß nicht. Ich glaub … ich muss damit anfangen, hier anzukommen.“

„Hier ankommen?“

„In Hamburg.“

Ich bemerkte seinen verwunderten Blick und schluckte. „Ach, vergiss es.“

„Wenn du hier warst, sieht mein Zimmer immer weitaus unordentlicher aus als zuvor. Rutsch mal!“

Er hatte die Comics endgültig vom Bett verbannt und schob mich mit sanftem Nachdruck vom Bettrand zur Bettmitte, um sich neben mich zu legen.

Die Arme hatte er hinter den Kopf geschoben, die Augen gen Decke gerichtet. Männer sollten keine dermaßen langen Wimpern haben, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das fällt unter „Ungerechtigkeit der Welt“.

„Du machst dir doch wegen irgendwas Sorgen. Und das hat nichts damit zu tun, dass andere Leute unsere Freundschaft missbilligen.“ Er stockte und lachte leise. „Erinnert mich irgendwie an „Romeo und Julia“, nur ohne Balkon und niemand stirbt.“

Bisher ist niemand gestorben. Apropos, mit ´nem Balkon könnte ich dienen“, rutschte es mir heraus.

Wir lachten. Die Beklemmung in meinem Innern ließ nach und das Herzklopfen war zurück, hervorgerufen durch seine horizontale Nähe.

„Warum haben sie nie versucht mit dir zu reden? Ist ja nicht so, als würdest du nicht antworten.“

Er zuckte mit den Schultern. „Der Vergleich mag ein bisschen selbstüberschätzend anmutend, aber stell dir einen Tiger vor: Man weiß, dass er einem den Arsch aufreißt, wenn man zu nahe kommt, weil alle Leute das sagen. Man hat es zwar nicht am eigenen Leib erlebt, aber weil alle es glauben, glaubt man es auch.  Nun, alle Leute sagen über mich, dass ich böse Sachen angestellt hab, demzufolge werd ich das wohl immer tun und darum kommt man mir besser nicht zu nah.“

Einen Moment dachte ich über diese Worte nach. „Das war allerdings selbstüberschätzend.“

„Darauf kommt´s gar nicht an“, lachte er. „Du verstehst den Vergleich, darauf kommt´s an.“

„Ja. Aber ein Tiger ist tatsächlich ein wildes Raubtier, dass einem nach Möglichkeit den Arsch aufreißt, wenn es Gelegenheit dazu bekommt.“

„In seinem Fall ist es Instinkt oder so. Bei mir wäre es eine bewusste Entscheidung wenn ich dich jetzt zum Beispiel, äh … du weißt schon, was die Leute sich halt erzählen.“

„Komisch, ich wär nie auf son Blödsinn gekommen. Auf mich wirkst du nicht, wie ein angehender Psychopath“, grinste ich.

Er lächelte nachdenklich. „Ich bin nicht, was ich bin, schrieb Shakespeare und damit hatte er wahrscheinlich recht.“

„Bist du jetzt auf dem Shakespeare-Tripp, oder was?“

Eisen wandte mir sein Gesicht zu, nach wie vor lächelnd.

„Gut gebrüllt, Löwe. Schon gut“, lachte er. „Ich hör auf. Du stehst wohl nicht auf Shakespeare?“

„Oh, ich hab nichts gegen ihn; eigentlich mag ich ihn bedingt. Aber wer anfängt Shakespeare übermäßig zu zitieren, der ...“

„... hat was von ´nem angehenden Psychopathen“, vollendete er meinen Satz mit einem Augenzwinkern.

Ich rollte mich auf den Rücken, als mich das dringende Bedürfnis überkam, ihn zu umarmen. Oder zu küssen, woraufhin ich ihm vorsichtshalber den Rücken ganz zuwandte. Ihn nicht weiter anzusehen, hatte dieselbe Wirkung, wie eine Wanne voll Eis – hoffte ich.

Dass er sich ebenfalls drehte, damit hatte ich nicht gerechnet. Er lag so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem im Nacken spürte, als er ohne jegliche Befangenheit, so wie ich sie in mir aufsteigen spürte, meinte: „Eigentlich lebt es sich ziemlich gut, mit einem Schutzpanzer aus Gerüchten. Da muss man sich keine doofen Fragen anhören und kann tun und lassen was man will.“

Ich konnte es mir nur schwer verkneifen, zu kichern. Es gibt nichts albernes auf der Welt, als albernes Kichern.

„Mhh.“

„Allerdings freu ich mich, dass du aufgekreuzt bist, Polly. Mit den richtigen Freunden lebt es sich nämlich noch besser.“

Jetzt kicherte ich doch, aus lauter Nervosität. Zu allem Überfluss legte er einen Arm um mich. Ein – leider – freundschaftlicher Arm. Das fühlte sich gar nicht gut an.

Doch, es fühlte sich verdammt gut an, darum war es nicht gut. Ob er wusste, wie ich empfand?

Mein Herz schlug laut genug, dass es auch Eskimos in Grönland hören konnten.

Und plötzlich, wie das manchmal so kommt, schlug mein beinah euphorisches Gekicher, in Tränen um.

Ich konnte nichts dagegen tun und meine Bemühungen um Beherrschung fielen wie ein sehr mickriger Tropfen auf einen kochend heißen Stein.

Er sagte nichts, verstärkte den Druck seines Arms und wartete.

„Tu-tut mir leid“, schniefte ich, nach wie vor darum bemüht, diesen peinlichen Moment ungeschehen zu machen oder zu verkürzen.

„Ach, bloß nicht“, murmelte er. Sein Arm verschwand und er richtete sich auf. „Ich hab hier irgendwo Taschentücher. Möchtest du mir immer noch nicht sagen, was los ist?“

Er reichte mir das gefundene Taschentuch.

Ich setzte mich ebenfalls auf und trachtete danach, mein verheultes Gesicht im Taschentuch zu verbergen. Niemand sieht gut aus, wenn er heult, niemand. Und was die in Filmen zeigen, ist eine indoktrinierende Lüge. Denn niemand heult, indem ihm eine einzelne Träne die Wange hinab läuft, die Lippen zucken und die Nasenflügel beben, das ist reines Wunschdenken, entwickelt von denselben Leuten, die sich „Happy Ends“ ausgedacht haben.

Um nicht völlig idiotisch da zu stehen, erzählte ich es ihm, stockend und unzusammenhängend, aber er konnte sich ein Bild machen, wenn er wollte. Und er tat es.

„Sie haben noch nichts gesagt, oder?“

„Das spielt keine Rolle.“

„Du hast nicht konkret gehört, was genau ...“

„Ich weiß es. Ich leb lang genug mit ihnen zusammen“, unterbrach ich ihn.

Er stieß zischend die Luft aus, doch statt eines „Tja, was willst du eigentlich hören?“, legte er einen Arm um meine Schultern.

„Beruhig dich und mach dir keinen Kopf, bevor es nötig ist. Ich glaube … ich weiß, dass alles gut geht, was auch immer es sein wird.“

Ich nickte langsam. „Ich hoffe, du hast recht.“

Für den Bruchteil einer Sekunde legte er seine Lippen an meine Schläfe, dann lachte er. „Na komm, gehen wir noch mal diesen Biomist durch. Ich denke, darauf können wir einigermaßen stolz sein. Es hört sich zumindest nach ziemlich schlauem Zeug an.“

XVIII

 

Das fand auch unser Biolehrer. Ab der anschließenden Woche wurden die Referate gehalten, dank der üblichen Nachzügler und Zuspätabgeber kamen wir nicht darum herum, die Präsentationen auf die darauffolgenden Wochen auszudehnen.

Auch wenn mich das „Gespräch“ - das mehr einer Heulorgie gleichgekommen war –  „beruhigt“ hatte, so hatte es dafür gesorgt, dass mich jedes Mal das Bedürfnis überkam, Eisen zu umarmen, sobald er aufkreuzte – und das war die harmlose Variante meiner Bedürfnisse bezüglich Körperlichkeiten. In der Schule hätte das unweigerlich zu sehr großen Fragen geführt und ich brachte nicht den Mut auf, mich ihnen zu stellen, geschweige denn, einfach zu tun, wonach mir war, darum ließ ich es.

Dafür scherte es mich in keiner Weise mehr, mit ihm gesehen zu werden. Was bedeutete, dass ich ihm in der Pause weitaus öfter Gesellschaft leistete, als vorher. Ihn störte es nicht, im Gegenteil schien es ihn zu amüsieren und ansonsten auf seine Zustimmung zu stoßen.

„Langsam glaub ich wirklich, dass du dich in Eisen verliebt hast!“, stichelte Maike, als ich einmal wieder bei ihnen saß.

„Das hatten wir doch schon mal“, seufzte ich.

„Ja und allmählich wird’s unheimlich. Das kann nicht …“

Ich lächelte Maike an und sie verstummte. „Scht!“

„Du hast mich jetzt nicht wirklich grad gescht, oder? Nimm das sofort zurück!“, rief sie mir nach, als ich lachend aufstand, um mir den dritten Kaffee und einen unweigerlich folgenden Coffeinschock zu besorgen.

Da es keine Auswirkungen hatte, wenn sie mich damit aufzogen, ich sei in Eisen verschossen – Mike hatte das gründlich ausprobiert – verlegte man sich wieder darauf, ihn schlecht zu reden. Den anderen Teil Aufmerksamkeit, der sich erübrigen ließ, richteten sie auf das kommende Wochenende und die Gebete, der Wettergott möge gnädig gestimmt sein. Ich gab zu, dass ich mich nach anfänglichem Zögern, auf die Nachfeier freute. Es war eine Ablenkung, die außerdem Spaß machte – nicht wie die Schule, die durchaus eine Ablenkung darstellte, aber nur begrenzten Spaß versprach.

Meine Eltern sah ich maximal jeden zweiten Tag, meist Abends, wenn sie müde nach Hause kamen und ihr Redebedürfnis sich bei Null eingependelt hatte. Einmal hatte ich versucht sie, quasi durch die Blume, drauf anzusprechen. Das hieß, wir saßen am Küchentisch, zwischen uns eine welkende Topfblume und ich hatte gefragt: „Müsst ihr mir was sagen?“

Sie hatten einen Blick gewechselt und in völligem Einverständnis miteinander, erklärt: „Ein andermal. Es gibt da zwar was, aber heute ist es schon zu spät.“

Dafür hätte ich sie töten können – im übertragenen Sinne. „Ist es was schlimmes?“, schickte ich verzweifelt hinterher.

Daraufhin hatte meine Mutter von Kopfschmerzen zu sprechen begonnen und mein Vater festgestellt, dass er dringend das Zimmer verlassen musste.
Das „Ihr denkt nur an euch“ war mir im Hals stecken geblieben, da es, erstens, zu Streit und zweitens, zu gar nichts geführt hätte. Sie würden es mir sagen, wenn sie es für richtig befanden.

Und ich würde mich hüten und darauf hinweisen, dass ich gelauscht hatte.

Ich war selbst schuld, verschaffte mir diese Erkenntnis auch in keiner Art und Weise Ruhe.

 

Ruhe fehlte mir auch in Bezug auf das Referat. Aus irgendeinem Grund hatte ich damit gerechnet, Eisen würde nicht auftauchen, da Referate die Angewohnheit haben, vorgetragen zu werden und irgendwie war mir die Vorstellung, eines, vom Publikum als Freak verschrienen, viele Sätze hintereinander sprechenden Eisen zu fremd, als dass sie in meinem Kopf funktionierte. Doch er kam, meiner irrationalen Gedanken zum Trotz.

Er begrüßte mich und grinste, was schwerlich zu übersehen war, trotz der Haare.

„Bereit?“

„Die Frage kann nicht mal die Evolution beantworten und die passiert ständig.“

„Wunderbar. Dann mal los.“

Während der Präsentation beobachtete ich die Gesichter meiner Freunde. Die der Jungs wiesen überwiegend die üblichen Anzeichen großer Anstrengung auf, sich vom Schlafen abzuhalten, ein paar Mädels unterhielten sich ungeniert über Schuhe und der Rest hörte mehr oder weniger aufmerksam zu.

Ich verpasste meinen Einsatz, vor lauter Beobachten. Eisen räusperte sich in der eintretenden Stille und ich beeilte mich, die Stille zur Vergangenheit zu machen. Maike runzelte die Stirn. Klar, die schob das auf Eisen.

Böser Junge, hatte aufgehört zu reden und mich dadurch beinah aus dem Konzept gebracht, genau das sagte ihr Gesichtsausdruck.

Ich bin kein ausgesprochener Freund von Referaten, deren Thema mir grundsätzlich nicht einfallen würde, würde man mich fragen: „Worüber willst du ein Referat halten?“

Ich komm zurecht und habe kein Problem damit, vor anderen Menschen eine „Rede“ zu halten, in diesem Fall verdankte ich es in erster Linie aber Eisens stoischer Ruhe, dass ich nicht nervös herum hüpfte, weil sich mein Hinterkopf beharrlich mit der Reaktion der Klasse auseinandersetzte.

„Na, hat doch geklappt, oder nicht?“, murmelte Eisen und lächelte schief, nach erfolgreichem Abschluss und als wir den Platz für die nächste Gruppe räumten.

„Hm.“ Ich erwiderte das Lächeln abwesend.

„Und Maike und Lana können sich nicht mehr beschweren, dass du ständig bei mir bist, um mit mir zu lernen – ihre Worte, nicht meine“, fügte er hinzu, als ich den Kopf hob. Als er meine volle, ungeteilte, mit aufsteigendem Ärger erfüllte Aufmerksamkeit hatte, grinste er. „Jetzt treffen uns aus reinem Spaß.“

Ich schwankte zwischen besagtem Ärger, einem Lachen und dem glückseligen Gedanken, dass er damit deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass wir uns weiterhin trafen – aber warum auch nicht? Wir waren Freunde.

Weil ich mich vor allem der glückseligen Gedanken schämte, entschied ich mich fürs Lachen und ein: „Du hast ´n Schaden, Freak.“

Weil es unhöflich gewesen wäre, nach getaner Arbeit zu schwatzen und dadurch die nächste Gruppe zu stören, setzten wir uns und verschoben weitere Gespräche auf die Zukunft.

Die Zukunft enthielt so viel Maike und Lana, dass ich Eisen nur ein Schulterzucken schenken konnte, bevor ich vom Aufbruchsschwung, den das Ende des Unterrichts mit sich brachte, davon gespült wurden, mit tatkräftiger Unterstützung meiner „besorgten“ Mitschüler.

„He-hey … passt auf!“

„Jetzt wirst du hoffentlich mal wieder ein, zwei Minuten für uns haben und den Freak und deine Barmherzigkeit vergessen, ja?“, erklärte Maike so bestimmt, dass ich baff den Mund schloss.

Das grenzte an DDR-Verhältnisse, à la „Du tust, was wir sagen, sonst gibt’s was auf die Drölf!“

„Meine Güte, man könnt meinen, ihr seid irre … ach, wartet, ihr seid irre!“ Ich riss mich los, trottete aber weiter neben ihnen her. Der Unterricht war beendet und auch wenn ich gern auf Eisen gewartet hätte, war es sicher besser, für den Tag auf Abstand zu gehen. Mein gesteigertes Interesse an seiner Person war ihm sicher klar, doch fraglich blieb, ob er ahnte, dass da mehr hinter steckte und ich wollte nichts riskieren.

„Mike wollte außerdem mal wissen, wann du wieder Zeit zum jammen hast.“

„Warum fragt er mich das nicht direkt?“

„Weil du ständig mit Eisen rumhängst.“

„Ah und in Gegenwart von Eisen kann man mich nicht ansprechen, weil? Ich unter dem Bann eines bösen Dämons stehen und solang kein Deutsch verstehe, oder was?“

„Es geht ihn nichts an“, schnaubte Lana ungeduldig. „Hast du auf alles eine Antwort oder ist das dein innerer Rebell?“

„Nein, mein innerer Schweinehund, der gleich eurer inneren Schweinehundeherde in den verdammten Arsch treten wird. Sag Mike, ich bin dabei, wenn sie das nächste Mal proben, ok? Sind wir jetzt alle wieder Freunde und lieben uns?“

„Na schön, also am Freitag. Da freut er sich. Und Lasse bestimmt auch“, kam es gehässig von Maike.

„Warum Lasse?“

Ich grinste Maike an, dabei war ich die Letzte, die zu grinsen hatte, die Frage kam von Thally.

„Die Erklärung möchte ich auch hören. Warum Lasse?“, zog ich meinen Kopf mit vorgetäuschter Unwissenheit aus der Schlinge. Ich hoffte, dass meine nicht vorhandene Tarnung hielt.

„Nur so. Du kennst doch Lasse. Und er steht halt auf ihren Gesang“, stotterte Maike und durchbohrte mich mit mordlüsternen Blicken.

„Ach ja? Ich mein, ja? Mehr als die anderen Jungs?“

In solchen Fällen gucken, in den alten Filmen, die Leute in die Luft und pfeifen betont harmlos vor sich hin. In meinem Kopf fand ein solches Szenario statt, mein Körper beschränkte sich darauf, einen Schritt schneller zu gehen, während Maike sich mit der nächsten Antwort herumschlug.

Thally ahnte etwas. Sie hätte schon reichlich hohl sein müssen, um keinen Verdacht zu schöpfen. Außerdem wurde ihr allmählich klar, dass Lasse ihre Gefühle auf die falsche Art und Weise erwiderte, nämlich gar nicht.

Möglicherweise hatten die beiden Moralapostel Helen und Sophia verbalen Mist fallen lassen, um ihre unsterblichen Seelen zu reinigen, von dieser gehörten Sünde. Was auch immer es war, ich hielt es für ratsam, nicht allein mit Thally zu sein, solang ihr Verdacht sich nicht zerstreut hatte.

So, wie Maike druckste, würde er sich, im Gegenteil, erhärten.

Warum konnte Thally sich nicht auf Hannes konzentrieren? Der hatte doch ein, wenn auch bekifftes, Interesse an ihr bekundet, indem er sich länger als zehn Minuten mit ihr unterhalten hatte, soweit man das, als „Unterhaltung“ bezeichnen wollte. Und schlecht schaute er auch nicht aus, sah man mal von den roten Augen ab. Auch Stiere haben rote Augen und trotzdem stehen ihnen massenweise Weiber zur Verfügung.

In seiner Bi-Existenz, neigte Hannes momentan zu Mädels, nachdem seine letzte männliche „Romanze“ mit Mike nicht so erfüllt gewesen war, wie er es sich vorgestellt hatte – Mikes Worte.

„Sag mal, Thall, was hältst du eigentlich von Hannes?“, wechselte ich aus einer Laune heraus das Thema, kurz, bevor Maike unter ihren Ausreden zusammenbrach.

„Hannes? Warum?“

„Nur so.“

„Äh … er ist oke. Denke ich. Kifft viel. Hat schöne Haare.“

„Das nennst du schöne Haare? Diesen Teppich aus ungekämmten Zottel, gepaart mit einer frischen Portion Pro-Schuppen-Shampoo?“ Wo kam Mike schon wieder her?

„Er hat schöne Haar und du keine Ahnung“, giftete Thally, es war nicht zu übersehen, dass sie gereizt war.

„Nee, ich hab keine Ahnung, nee“, höhnte Mike.

Ich trat ihm zufällig gegens Schienbein und er jaulte wie Roger, wenn er ein Kaninchen gefunden hat, um es anschließend vor lauter Liebe in seinem Sabber zu ertränken.

„Ich hasse dich auch!“, keuchte er und hüpfte eine Weile neben uns her. Manchmal, in Momenten, in denen er grinste, wie jetzt, wollte man nicht glauben, dass er der seriöse Schulsprecher war, der ein neues Projekt mit dem Namen „Mein Körper gehört mir!“ zur allgemeinen Prävention leitete. Es ging dabei um „Ja“- und „Nein“-Gefühle und früher oder später, auch um Drogen. Darum geht´s immer, in Präventionskampanien. „Ich überleg mir, ob ich nicht überlege, gewisse Überlegungen laut zu äußern ...“, fing er an.

„Ich überlege, ob du mit beiden Beinen in der Luft laufen kannst!“, ging ich dazwischen und er ließ sein geschundenes Bein los. „Ich hab da nämlich ein ganz starkes Nein-Gefühl.“

„Ich auch“, nuschelte er, ein Haufen Kompost enthielt weniger Dreck, als sein Grinsen.

„Ich hab auch ein ganz starkes Nein-Gefühl bei deinem Grinsen. Und wenn du nicht damit aufhörst, dann werd ich am Freitag ein ganz starkes Nein-Gefühl für eure Probe haben.“

Er rollte mit den Augen und kroch auf Maikes andere Seite, um vor mir sicher zu sein.

„Darüber macht man sich nicht lustig“, beschwerte er sich von dort aus.

„Was genau tut ihr eigentlich bei diesem Projekt?“, wollte Lana wissen, die die letzten Minuten damit verbracht hatte, aufmerksam ihr Handy anzustarren. Nicht einmal ein, sich am Arsch kratzender, Affe im Zoo, bekommt so viel Aufmerksamkeit durch nasepopelnde verrotzte Kleinkinder, wie ein Handy von einer Frau, wenn sie eine Nachricht von ihrem Bettfreund erwartet.

Er fing an zu erklären und merkte nach einer Weile, dass Lana nicht zuhörte, Aug und Ohr galten ganz dem kleinen Bildschirm.

„Hey, Lady MacBett! Frag mich nicht sonne Sachen, wenn du eh keine hochqualifizierte, gut verständliche Antwort hören willst, ja?“

„Tschuldige, ich war nur grad …“

„Ja, schon gut, es hat einen Grund, warum ich dich jetzt nur noch „Lady MacBett“ nenne!“

„Das setzt sich eh nicht durch.“ Sie wedelte unwirsch eine imaginäre Fliege beiseite. „So ein bescheuerter Name. Wer interessiert sich schon für Shakespeare?!“

Wieder eine von den Situationen, in denen man in den Himmel gucken und pfeifen sollte.

„Was ist da oben?“, fragte Maike misstrauisch – immerhin, das Pfeifen verkniff ich mir.

„Nichts, aber vielleicht entdecke ich da die dem Universum entweichende Intelligenz.“

„Ihr mit euren mehrdeutigen Scheißandeutungen“, stöhnte Lana. „Wisst ihr was? Ich treff mich jetzt eh mit Benzo, wagesnichtundmacheinenKommentarMIKE!, das heißt, was ihr sagt, bekomm ich eh nicht mehr mit. Man sieht sich morgen, Freunde.“

Sie rauschte davon. Mike sinnierte, während er ihr glasig hinterher starrte: „Da rauscht sie hin, wie ein Racheengel, darauf aus, die Knäufe zum Tor der Glückseligkeit zu polieren, auf dass sie glänzen.“

„Woher hast du denn den Scheiß?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ausm Porno oder so.“

„Ja, hört sich ganz so an.“

Maike hatte dasselbe mit Ingo vor, der auf dem Bahnsteig wartete, wie Lana mit Benzo, und Thally ging neuerdings jeden Donnerstag schwimmen.

„Aber nicht etwa wegen des gesunden Effekts. Oh nein. Da trainieren nur die Jungs vom Verein“, hatte Benzo mir verraten. „Eine super Gelegenheit, um sich retten zu lassen oder so.“

„Das heißt, du und Eisen seid auch da?“

„Nee, wir kommen immer später. Bzw. er kommt später.“

Ich hatte mir den gar zu einfachen, schmutzigen Kommentar gespart.

XIX

 

„Wie laufen die Proben so? Die Mädels haben erzählt, ihr spielt auf dem nächsten Abiball.“ Mike und ich blieben allein in der Bahn zurück. Allein mit tausend anderen Leuten.

„Oh, ja. Soweit man das spielen nennen kann. Wenn Hannes nicht grad total verkifft ist, macht Lasse Stress oder Lennart muss plötzlich aufs Klo oder … momentan ist es einfacher und schmerzloser sich den Hintern mit ´nem Bienennest abzuwischen, als mit denen zu proben. Vielleicht hilft ja deine Anwesenheit.“

Ich winkte ab. „Davon würd ich nicht ausgehen. Lasse wird wahrscheinlich versuchen, mir an den Arsch zu fassen.“

„Dabei weiß er doch, wie er sich anfühlt.“

„Ach komm, hör auf“, knurrte ich, als Mike wie angestochen lachte. „Momentan halt ich das für eine meiner blöderen Ideen.“

„Wieso? Scheint doch keine emotionalen Probleme zu geben, oder irre ich mich?“

„Nein, das mein ich nicht. Ich will nichts von Lasse und damit mein ich gar nichts ...“

„Oho.“ Mike klopfte sich an die Nase. „Haben wir uns etwa anderweitig der Liebe zugewandt? Die Mädels erwähnten, dass du, wo du ständig mit Eisen rumhängst, angeblicherweise nichts dagegen hast, dich in ihn zu verlieben.“

„Das ist wirklich selten dämlich.“

„Hab ich ihnen auch ges ...“

„Nein, ich meine deine Formulierung. Ich hätte nichts dagegen, mich in ihn zu verlieben. Ha! Genauso gut könntest du sagen: Hättest du etwas dagegen geboren worden zu sein? Scheißdreck! Als könnte man das beeinflussen.“

Ich wich seinem Blick aus. Die Bahn quietschte und blieb mitten auf der Strecke stehen. Das passierte in letzter Zeit zu oft. Wahrscheinlich ein Sprayer, der an Frischluft gespart hatte, dafür nicht an den Dämpfen seiner Dosen.

Nach fünf Minuten fuhr sie mit einem Ruck wieder an.

„Du magst ihn wirklich, oder? Ich mein, ganz unabhängig davon, ob verliebt oder nicht. Einfach nur so, als Freund halt“, stellte Mike fest und ausnahmsweise schwang keine Ablehnung in seiner Stimme mit. Er hatte das Gehetze nie so exzessiv betrieben, wie die weibliche Fraktion. „Bestimmt erzählst du mir jetzt, er sei eigentlich ganz anders, als er ist und wenn man ihn erst besser kennt ...“ Das klang eher nach Ablehnung.

„Stell dir vor, das tu ich nicht.“

„Er ist nicht anders, als er ist?“, wunderte Mike sich spöttisch.

Ich stand auf und gähnte demonstrativ in meine Hand. „Das Stellen philosophischer Fragen überlasse ich jenen, die meinen, ihre eigenen Fehler mit einer allgemeingültigen, kosmischen Theorie erklären zu können.“

„Das klang nach Hirnakrobatik.“

Mike stieg hinter mir aus. Zu ärgerlich, dass wir über weite Strecken, den gleichen Heimweg hatten.

„Es war ein Drahtseilakt, so, jetzt weißt du Bescheid.“

„Aber ganz unabhängig davon magst du ihn schon, oder?“, rief er mir nach, als sich unsere Wege trennten.

Ich lächelte und setzte mir die Kopfhörer auf. An seinem Grinsen konnte ich erahnen: Die letzte Bemerkung war so anzüglich, dass sie nackt auf einem Tisch tanzte und Pingpongbälle verschoss, wozu sie weder Hände, noch Mund oder Füße gebrauchte.

 

Ich hatte mir vorgenommen und endlich den verdammten Schreibtisch aufgebaut. Dafür hatte ich zwar erst einen besorgen müssen, aber wozu gibt es schließlich Ikea-zwar-nicht-frei-aber-doch-Haus-Lieferungen? Meinen Eltern war die Veränderung nicht aufgefallen, da sie im Durchschnitt alle zweihundert Jahre, also nie, mein Zimmer betraten.

Den Schreibtisch auszusuchen war ein leichtes gewesen, im Gegensatz dazu, eine gefühlte tausend Tonnen schwere Platte auf zwei Böcke zu heben. Dabei klemmte ich mir die rechte Hand.

Das verflixte Teil stand nun ungünstig, mitten im Zimmer und wir beäugten uns gegenseitig misstrauisch.

Es war so lang her, dass ich das letzte Mal einen Schreibtisch besessen hatte, dass ich mich nur dran erinnerte, wenn ich alte, sehr alte Fotoalben ansah.

Wie dem auch war, es spielte keine Rolle. Jetzt stand der neue Schreibtisch auf sehr reale Weise vor mir und sagte mir unterschwellig: „Du wirfst den Anker aus, Mädel!“

Ich knallte meine Tasche auf die makellos weiße Fläche und verursachte die ersten Kratze, indem ich einen darunter geratenen Stift zermalmte.

Sehr schön, get used to it, oder wie auch immer.

Das Zimmer war leer genug, dass das Geräusch der aufsetzenden Tasche einen Hall erzeugte. Ich mochte diesen Hall und gleichzeitig schabte er an meiner Entscheidung die Sesshaftigkeit für mich zu entdecken. Wenigstens für ein weiteres Jahr.

Seufzend ließ ich mich in die Monsterkissen fallen und starrte die weiße Decke an. Unabhängig davon, würde ich sicher nicht anfangen, Poster aufzuhängen oder mit nachdenklichen Postkarten meine Wände zweitzutappezieren.

Ich schaltete den Fernseher an. Nichts heitert das Gemüt mehr auf, als ein guter Film und nichts heitert das Gemüt bis zur Ekstase auf, als ein guter Drag-Queen-Film.

Etwa in der Mitte von „Priscilla“, schrillte mein Handy.

Ich tastete, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen, neben mir über den Boden und musste feststellen, dass das Schrillen vom Schreibtisch kam.

Sollte es halt schrillen.
Argh! Und wenn es was Wichtiges war?

Egal.

Und wenn es Eisen war?

Verdammter Mist!

Ich hob ab, kurz bevor sich die Mailbox einschaltete. Erst, als es zu spät war, fiel mir ein, dass Eisen nie aus Jux angerufen hatte, wieso sollte er jetzt?

Außerdem – ein Blick reichte – war es meine Mutter.

„Ja?“ Ich klang so begeistert, wie „los conquistadores“ als sie entdeckten, dass Amerika schon bevölkert war.

„Lachs oder Lachscreme?“

„Äh … Eis oder Eiscreme?“

„Nein“, ich hörte sie kurz lachen. „Du spinnst doch manchmal. Ich meinte, was magst du lieber: Lachs oder Lachscreme?

„Bring doch gleich Kaviar mit. Lachs.“

„Ich bin nur grad einkaufen und wollte Fisch besorgen, war mir aber nicht mehr sicher, was du lieber ...“

„Zu nett. Kannst du bitte auch Champagner und Trüffel mitbringen?“

„Haha. Alles klar. Wie war die Schule? Ist das Referat gut gelaufen?“

„Gut und ja.“

„Sehr schön. Ich bin in einer Stunde da. Soll ich noch was mitbringen?“

„Tee. Lavendel-Tee.“

Damit fand die telefonische Konversation ein Ende. Hin und wieder kam es vor, dass sie sich nach meinen Wünschen erkundigte, das hieß in der Regel, dass der Tag halb so anstrengend gewesen war, wie sonst. Was noch doppelt so anstrengend war, wie der Tag eines Extrem-Bungee-Springers, der vergessen hat, das Seil zu befestigen und nun feststellen muss, dass man beim Bungeespringen nicht viel Zeit auf „Was wäre wenn ...“ verschwenden sollte, wenn einem der Boden sehr schnell entgegen rast und keine Anstalten macht, auszuweichen. In so einem Fall sollte man eilig zu Gott oder einem guten Bestatter finden – je nachdem, was einem im Leben wichtiger ist.

Zwei Stunden später – Zeit war noch nie ihre Stärke, was einiges erklären dürfte – kam sie. Ich hatte mich auf „Tootsie“ verlegt und lachte über Dustin Hoffmanns klägliche Versuche, ein Doppelleben zu führen, als sie den Kopf zur Tür herein steckte.

Ah, das war eines dieser Zweihundertjahresereignisse.

„Alles in Ordnung, Polly?“

„Hm.“

„Was siehst du da?“ Sie kam näher. Den Schreibtisch nahm sie gar nicht wahr. So was wird zwangsläufig zur Nebensache, wenn ein Mann, direkt daneben, versucht auf High-Heels die weibliche Psyche zu erkunden – und sei es nur im Film.

„Tootsie.“

„Ein wunderbarer Film.“

„Ja, zum Schreien.“

Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Mein Gott, musstest du unbedingt diese Kissen haben wollen?“, beschwerte sie sich.

Die Dinger waren nicht dafür geeignet, sich „rasch für einen Moment, mit einer halben Pobacke“ hinzusetzen.

„Die Wege einer geistig höheren Lebensform sind wunderbar.“
„Damit möchtest du mir sowohl klar machen, dass du kein Interesse an Gott, als auch kein Interesse an meiner Meinung bezüglich der Möblierung deines Zimmers hast, nicht wahr?“

„Du hast es scharfsinnig erfasst.“ Ich drehte den Kopf und lachte. „Aber keine Sorge, ich mach das nicht, weil ich rebellisch sein will – aus dem Alter bin ich wohl raus – ich mach das, weil man in diesen Kissen sterben könnte und es sogar Spaß machen würde, sie sind so bequem, wie ein Nadelbrett.“

„Ah und wie sieht die Erklärung dazu aus?“

„Nach einer Weile gewöhnt man sich an den Schmerz und braucht ihn sogar. Nun, wenn du eine Weile in einem Monsterkissen gesessen hast, gewöhnst du dich an die Rückbildung deiner gesamten Knochenstruktur und du brauchst dieses Ding, um zu existieren.“

„Oder um davon aufgefressen zu werden.“ Sie richtete sich auf. „Ich bleib beim altmodischen Stuhl. So, Abendbrot. Willst du auch was?“

„´n Tee.“

Sie brachte ihn mir und registrierte den Schreibtisch, weil sie die Tasse drauf abstellte.

„Sag mal, hattest du den schon vor unserem Umzug?“, kam es langsam und mit ausgeprägter Nachdenklichkeit.

„Nee, ist neu.“

„Aha. Hm.“ Keine weiteren Kommentare.

Ich hatte die Luft angehalten und ließ sie langsam entweichen, als sie aus dem Zimmer war.

„Aha. Hm.“ war eine sehr neutrale Bemerkung. So neutral, dass sie nicht zwingend gut sein musste.

Ich beendete den Film, als nebenan – oder über mir – ein Klavierakkord angeschlagen wurde. Ziemlich früh. Normalerweise begann das Konzert nicht vor elf. Normalweise bestand es nicht aus Tonleitern. Normalerweise …  konnte es mir egal sein.

Außerdem glaubte ich zu wissen, wer dahinter steckte. Über uns wohnte ein älteres Ehepaar, das genau die Art von Ehepaar war, das seit hundert Jahren verheiratet ist. Der Mann grüßte mich immer, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten und obwohl er mindestens zweihundert Jahre alt sein musste, benutzte er nie den Lift.

Es war reiner Zufall, dass mir eines Tages, nach einem dieser kurzen Treffen auf der Treppe, das Opernprogramm in die Hände fiel. Meine Eltern hatten es von ihrem letzten Opernbesuch mitgebracht und in der Küche liegen lassen. Ich hatte darauf gewartet, dass das Teewasser kochte und die Zeit damit totgeschlagen, das Programm durchzublättern. Dabei war ich auf ein Bild gestoßen. Der Mann, der darauf abgebildet war, musste entweder Großväterchens Zwillingsbruder, Klon oder Großväterchen selbst sein. In der Bildunterschrift war von einem bekannten Konzertpianisten die Rede.

Falls er es war, konnte ich mich glücklich schätzen. Was andere teuer zu kaufen hatten, bekam ich gratis, im Durchschnitt jede zweite Nacht …

Bei fortgeschrittener Stunde, setzte das altbekannte Herzschmerzkonzert ein. Ich hatte nie den Ehrgeiz gehabt, mich mit dem klassischen Klavierspiel auseinander zu setzen, aber ich hörte gern zu, wie ich auch dieses Mal feststellte.

XX

 

Ich hörte weniger gern dabei zu, wie „SiebzigProzentWassermensch“ sich stritt. Die Jungs machten aus einer Mücke eine Elefantenherde, meine Anwesenheit wurde großzügig ignoriert.

Der Tag war nicht gut gelaufen. Zum ersten Mal in der Zeit, die ich auf diese Schule ging, hatte Eisen gefehlt und ich haderte lang mit mir, bevor ich ihm schrieb. Eine Antwort hatte ich bis zu jenem Zeitpunkt des Streits, nicht erhalten. Dementsprechend viel Nervosität hatte sich angesammelt, um zu gären und zu gedeihen.

„Man, fasst ihr euch jetzt alle mal in die Hose um festzustellen, ob ihr eure Eier noch habt? Was soll dieses dümmliche Gezänk?“, fuhr ich dazwischen, als eine Diskussion darüber entbrannte, warum Hannes sich keine Dreadlocks drehen lassen sollte.

„Harhar“, knurrte Lasse und ließ sich in einen fatboy fallen.

„Was habt ihr eigentlich für ein Problem?“, fuhr ich freundlicher fort.

Mir war nicht daran gelegen, sie sich einheitlich gegen mich verschwören zu lassen.

Die Jungs wechselten finstere Blicke. Hannes räusperte sich.

„Ich werd nach diesem Sommer nach Berlin gehen, um da zu studieren.“ Das erklärte schon eher die gereizte Stimmung. „Und ich hab´s den Jungs zu spät gesagt.“ Sein Zustand kam clean und nüchtern heut recht nahe.

„Erst im Januar hatten wir ´n Gespräch darüber und du hast nichts verlauten lassen“, brummte Lennart.

„Weil ich es da noch nicht wusste. Nur … geahnt hab“, verteidigte Hannes sich.

„Also, es bringt ja wohl gar nichts, wenn ihr dann die Zeit, die ihr noch habt darauf verwendet, auf Hannes rumzuhacken und nichts zu tun.“

Alle vier Köpfe wandten sich mir zu. Ich hob abwehrend die Hände. „Seht mich nicht so an. Ihr werdet doch einen vorübergehenden Ersatz finden, immerhin seid ihr ziemlich gut.“

Noch während ich die Worte aussprach, fiel mir der Ersatz ein. Ich hatte nur meine Zweifel, dass der Ersatz damit einverstanden war.

„Das sagt sich so leicht. Wir müssen … ´n Casting oder so veranstalten Ich hasse so was!“

Mike lächelte mich an und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Macht halt … macht halt was für eure Fans. Im Internet so ´ne Castingserie. Nehmt´s auf die Schippe, nehmt euch nicht so ernst, Himmelarschundzwirn!“

„Wir hätten es niemals so weit gebracht, wenn wir uns nicht ´n bisschen ernst nehmen würden, Fräulein Superschlau!“ Lasse bedachte mich mit einem äußerst feindseligen Blick.

Seit ich hergekommen war, hatten wir kein freundliches Wort miteinander gewechselt.

Ich beschloss, mich nicht reizen zu lassen. „So mein ich das nicht, das weißt du“, antwortete ich ruhig und die Anwesenheit der anderen sorgte dafür, dass er sich mit einem Schnauben begnügte.

„Ihr findet eine Lösung. Immerhin … ist es euch wichtig, oder?“

Hannes tat mir leid. Ihm durfte es nicht leicht fallen, die Band zurück zu lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass er studieren wollte. Dafür war er perfektes Material für den klassischen Dauerstudenten der Siebziger.

Um das Folgende auszusprechen, musste ich meinen ganzen Mut zusammennehmen.
„Ich wüsste jemanden, der euch helfen könnte.“

„So?“, fragte Lennart missmutig.

„Ehm … ja. Eh, Mike kennt ihn. Ich, äh, ich mein Eisen.“

Dass ausgerechnet Lasse bei diesem Namen aufhorchte, machte mich stutzig.

„Eisen? Der Freak aus eurer Klasse? Von dem Miky erst gestern erzählt hat?“
Ich kniff die Augen zusammen, als ich Mike fixierte. „Ich dachte, der Tritt gegen´s Schienbein war eindeutig! Du reißt zu oft deine tratschsüchtige Klappe auf.“

Lasse fing an zu lachen. Ich wartete ungeduldig, dass er sich fing.
„Was ist daran so lustig?“

„Ach, nichts. Miky meinte nur, die Mädels hätten gesagt, du wärst .. in … äh, vergiss es. Schon gut.“ Lasse grinste mich an und nichts erinnerte mehr an die unfreundliche Begrüßung.

„Können wir einfach mal außen vorlassen, dass ich mich mit ihm abgebe, im Gegensatz zu euch ignoranten Idioten ...“

„Hey, ich kenn ihn gar nicht. Das ist eine verleumdende Unterstellung!“, brauste Lennart auf und Lasse schloss sich dem mit einem zustimmenden Nicken an.

„Na schön! Ich meine damit also in erster Linie Miky! Wenn ihr wollt, frag ich ihn, ob er für Hannes einspringt. Ich weiß, dass er Schlagzeug spielt und zwar gut.“ Das war eine glatte Lüge. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sein Spiel war, er hatte es mir nie vorgeführt. Aber, wie heißt es doch so schön? No risk, no fun.
Außerdem war nicht klar, ob er überhaupt zusagen würde.

„Ist er denn wirklich son Freak, Miky?“, wandte Lasse sich Mike, der an der Wand lehnte und mich nicht aus den Augen ließ.

„Ich denke, das Risiko können wir eingehen. Frag ihn ruhig, Polly.“

Inzwischen hoffte ich, dass Eisen absagte. Der Gedanken, ihn mit Lasse in einem Raum zu wissen, war äußerst beunruhigend. Mike sollte bloß aufhören, so dämlich zu kichern!

„Ok, fangen wir dann jetzt endlich mit der Probe an oder unterhalten wir uns noch ´ne Runde darüber, dass unser potentieller Ersatz ein Freak ist?“, wollte Lennart wissen und lächelte süffisant.

Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten war der Rest des Abends, wenn kein voller, so ein befriedigender Erfolg.

Es überraschte mich, als Lasse nach der Probe zu mir trat, während ich damit beschäftigt war, den Inhalt meiner Tasche zu überprüfen.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

Ich sah auf.

„Wirklich, nur nach Hause bringen“, lachte er. „Ich hab das Auto meiner Alten. Ein freundschaftliches Angebot, sonst nichts. Ich versteh einen Wink mit dem Zaunpfahl.“

Ich hängte mir die Tasche über die Schulter. „Versteh mich nicht falsch. Ich mag dich. Aber momentan will … muss es bei der Freundschaft bleiben.“

Er nickte. „Ist ok. Wirklich. Du musst mir nichts erklären. Außerdem war klar, dass du früher oder später auch ...“

„Was?“, ging ich scharf dazwischen.

Jetzt lächelte er. „Hey, das war nicht böse gemeint.“

„Ahja und was war nicht böse gemeint?“

Mit verschränkten Armen starrte ich zu ihm hoch. Das Lächeln vertiefte sich, als er sich vorbeugte und mir in die Augen sah.

„Es ist nicht böse gemeint, wenn ich sage, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis du jemanden findest, mit dem du Sex und alles andere haben willst. Außerdem, so was geht vorbei. Und sollte dann noch Interesse bestehen … meld dich. Falls ich dann frei bin. Und selbst wenn nicht … meld dich trotzdem. Also, soll ich dich jetzt fahren?“

Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, wütend auf ihn zu sein – schon gar nicht in Anbetracht der Tatsache, dass sein Angebot mir einen zehnminütigen Laufmarsch ersparte.

„Woher willst du wissen, ob ich jemanden gefunden habe, mit dem ich Sex und alles andere haben will?“

„Hm, nur so eine Vermutung.“ Er zwinkerte mir zu, wie Eisen. Allerdings fehlte es seinem Zwinkern an Eisens Gelassenheit.

„Ich werd darauf keine Antwort geben.“

„Ist auch nicht nötig. Die Antwort wird sich früher oder später von selbst ergeben.“

Sollte es jemals eine Antwort geben.

 

Es war spät, als ich die Haustür aufschloss. Meine Eltern waren nicht da oder schliefen bereits. Ich räumte meine Tasche aus und als ich einen Blick aufs Handy warf, trat ich mir in den geistigen Arsch.

Eisen hatte angerufen. Das musste während der Probe passiert sein.

Halb zwölf. Rief man da noch zurück?

Ja.

Ich wählte seine Nummer und öffnete das Fenster, während ich wartet und das Tuten in meinen Ohren dröhnte.

„Hm...?“

Verdammt, hörte sich an, als hätte ich ihn geweckt.

„Hey, tut mir leid. Du hast angerufen und ich … hab ich dich geweckt. Entschuldige.“

„Ahwas“, gähnte er. „Was gibt’s denn?“

„Äh … dasselbe wollt ich dich fragen.“

Er schien wach zu werden und lachte verhalten. „Oh ja, du hattest mir geschrieben, warum ich nicht in der Schule war. Ich wollt nur Bescheid geben, das alles in Ordnung ist. Deine SMS hat sich besorgt angehört.“ Wieder lachte er.

Im Hintergrund raschelte es. Er musste aufgestanden sein, das sagte auch das Klappern von Türen.

„Besorgt? Nee“, behauptete ich und musste mich selbst Lügen strafen.

„Hm, ok. Ist bei dir alles klar?“

„Ja. Ehm … Und-und bei dir?“ Ich wiederholte mich. Das machte die Nervosität.

„Wie schon gesagt, bei mir ist alles in Ordnung. Ich brauchte ´ne kleine Auszeit.“ Das Geräusch einer Plastikflasche knatterte durch den Hörer. „Polly, wie kommt´s, dass du noch wach bist?“

„Ich war bei Mikes Band … jammen. Deswegen muss ich dich auch noch was fragen, aber das hat Zeit bis morgen.“ Nicht zum ersten Mal kam mir eine trotzige Idee bei dem Gedanken an die, am morgigen Tag steigende, Grillparty und jetzt setzte ich sie um. „Apropos, morgen, was hast du da vor?“

„Öh ...“ Erneut klapperten Türen und Bettzeug raschelte. „Bisher nicht viel. Warum?“

„Die veranstalten morgen eine Grillparty im Park.“

„Und mit „die“ meinst du sicher unsere toleranten Mitschüler?“, riet er.

„Genau. Ich würd mich freuen, wenn du dabei bist.“

„Oho. Haben denn die Herrschaften nichts dagegen?“, lachte er.

„Na und wenn schon. Außerdem veranstalten sie die für mich, als Nachgeburtstagsfeier. Da werd ich wohl sagen dürfen, wer kommen soll. Also?“

Eine ganze Weile blieb es still, am anderen Ende der Leitung.

„Ja“, sagte Eisen bedächtig. „Ok, ich bin dabei.“

Ich lächelte in die Nacht. „Fein. Und wehe du kommst nicht.“

„Na, was kann mir schon passieren?“

„Mein ewiger Zorn.“

„Oh, darauf will ich´s nicht ankommen lassen“, alberte er und ich stellte mir vor, wie das Grübchen auf seiner Wange tanzte. „Um wie viel Uhr soll ich da sein?“

Sie wollten um sechs anfangen. Am besten ließ ich ihnen ein bis zwei Stunden, um eine tolerantmachende Menge Alkohol zu heben.

„Zwischen sieben und acht, also abends.“

„Das hab ich mir fast gedacht, Pollylein. Gut. Ich komme, versprochen. Aber Geschenke erwartest du nicht, oder?“

„Hör bloß auf damit und hör auf, dich über mich lustig zu machen!“, schimpfte ich halbernst.

„Na gut. Dann penn ich jetzt und das solltest du auch. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht, Polly.“

Netter Ratschlag. Ich konnte nicht einschlafen. Über mir bearbeitete Großväterchen das Klavier und noch zwei Stunden, nachdem das Klavierspiel verstummt war, lag ich wach.

Mein Kopf malte sich von ganz allein den größten Mist aus und bis er die Güte hatte, aus Übermüdung die Klappe zu halten, war es halb fünf.

 

Kein Wunder, dass ich den halben Tag verpennte und erst gegen Mittag aufstand. Meine Eltern genossen die Vorzüge eines vollständig renovierten Balkons, als ich mich mit einem Kaffee zu ihnen gesellte.

Das Wetter war zum Abküssen und Maike hatte mir eine hysterische SMS geschrieben, in der sie verkündete, sie rechne mit meiner Anwesenheit, andernfalls würde sie sich den Wikipediaartikel über mittelalterliche Foltermethoden sehr genau ansehen.

„Was ist los, Polly? Du lächelst so fröhlich vor dich hin.“ Meine Mutter musterte mich.

Mein Lächeln verblasste. „Ah und wie soll ich eurer geschätzten Meinung nach gucken? Reuevoll?“

„Gibt es einen Grund, reuevoll zu gucken?“

Ich grinste meinen Vater an. „Nicht direkt. Na schön, mir geht’s einfach gut heute. Ist doch in Ordnung, oder?“

„Natürlich.“

Ich sah den schnellen Blickwechsel zwischen ihnen. Hätte ich nicht drauf geachtet, wäre er mir entgangen.

„Wie geht’s euch denn?“

„Oh, gut. Dieses Wochenende haben wir frei. Zumindest größtenteils“, gab meine Mutter bereitwillig Auskunft. Und schon wieder der Blickkontakt.

„Hrm“, machte mein Vater und versteckte sich hinter der Zeitung. Seine ihm Angetraute verdrehte die Augen und wandte sich mir zu.

„Polly, du hattest mich doch vor einiger Zeit wegen eines erneuten Umzugs gefragt, nicht war?“

„Jah ...“ Vor lauter Spontannervosität, ließ ich beinah die Tasse fallen.

„Wir können noch nichts Endgültiges sagen, aber es sieht so aus, als würden wir erst mal eine Weile hier bleiben. Sieh mal, immerhin machst du ja jetzt dein Abitur und es wäre nicht gut wenn … was ist los? Was hast du denn?“

Ich hatte die Tasse fallen lassen, starrte gen Himmel und murmelte: „Danke, welche göttliche Form auch immer zuhören mag. Danke!“

„Bist du übergeschnappt?“, ereiferte sie sich. „Ich mein, ich weiß, dass du nicht gern zu lang an einem Ort bist, weil du Schwierigkeiten hast, tiefere Freundschaften einzugehen, aber ich denke, dass es gerade deshalb nötig ist, dass du ...“

„Mama, vergiss es, ja? Geh davon aus, dass ich wahnsinnig erleichtert bin.“

„Äh ...“ Die beiden waren spätestens beim zweiten „Danke“ jeglicher Verwirrung anheimgefallen.

„Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass ich lieber umziehe, als gute Freundschaften zu schließen?!“

„Äh, ich fürchte, wir haben uns lieber das vorgemacht, als den Tatsachen ins Auge zu blicken“, kam mein Vater meiner Mutter zuvor. „Sieh mal, Liebes, wir hatten immer schon ein, äh, schlechtes Gewissen wegen … naja, für ein Kind ist es nicht leicht.“

„Umso schöner, dass ihr jetzt, wo ich kein Kind mehr bin, zu dieser Erkenntnis gekommen seid.“

Ich wusste, wie die folgenden Erklärungen aussehen würden und winkte ab, bevor sie anfangen konnten, sie zu geben. „Es ist ok, ja?“

„Aber, wie gesagt, die endgültige Zusage fehlt noch … wir gehen nicht davon aus, dass es Schwierigkeiten ...“

„Momentan reicht mir das, was ihr mir gesagt habt.“

Ich brauchte keine weiteren Erklärungen. Die Erleichterung ließ mich innerlich so laut singen, dass sie meinen Schädel füllte und ich nichts anderes hörte.

„Na schön, machst du bitte trotzdem die Sauerei weg?“, flüchtete meine Mutter sich in elterlichen Unmut.

Ich entfernte die Sauerei ohne Murren und machte neuen Kaffee.

„Sag mal, den Schreibtisch … hast du ihn dir deswegen gekauft?“, sprach sie mich später an. Manchmal brachte sie es fertig, eins und eins zusammenzuzählen und zu dem richtigen Ergebnis zu kommen, ohne, dass es ihre Arbeit betraf.

„So ungefähr.“

XXI

 

Aber bitte keine Gesänge, ja?,

 

hatte ich Maike noch geschrieben, bevor ich mich mit minimaler Verspätung am Abend auf den Weg machte.

Es überraschte mich zu sehen, wie viele Leute sich um den ausgewählten Platz tummelten. Die Wiese war, dank des schönen Wetters, überfüllt und es dauerte etwas, bis ich Maike und Lana entdeckte, die nach mir Ausschau hielten.

„Du bist da!“, kreischte Maike in einem Diskant, der Glas pulverisierte.

„Und gleich wieder weg! Hilfe!“

Die anderen begnügten sich mit einer, dem Ohr schmeichelnderen Tonlage.

„Ich hab allen verboten, dir zu gratulieren, es gibt keine Gesänge und keine Torten, wie du gesagt hast“, berichtete Lana mir. „Es war nicht leicht, das Maike gegenüber durchzusetzen.“

„Kann ich mir vorstellen. Danke dir.“

Das Beste an einer Grillparty im Park ist nicht das Grillen – wobei mir da gewisse Elemente widersprechen würden – sondern, meiner Meinung nach, die Sache an sich. Mit Leuten zusammen zu sitzen, noch weniger als nichts zu tun und das Leben als eine halbernste Witzfigur zu nehmen, über die man lachen kann.

In dem allgemeinen Trubel fiel mein gelegentlicher Blick aufs Handy nicht auf, bis ich neben Lasse landete. Die Jungs aus der Band waren natürlich da und einige der Leute, die ich damals auf Mikes Party flüchtig kennengelernt hatte.

„Na, warten wir auf etwas?“, fragte Lasse und schmatzte mir einen Kuss auf die Wange. „Oder betrachtest du nur gern hin und wieder dein Handy mit einem liebevollen Blick?“

„Pfff. Du solltest dir einen Maulkorb zulegen.“

Er grinste schief. „Ach, übrigens hab ich mit Thally gesprochen.“

„Ehwa?“

„Keine Sorge, nicht über uns beide. Ich hab ihr nur klar gemacht, dass Hannes auf sie steht und mir dabei nicht anmerken lassen, dass ich von ihrer, äh, nennen wir es fehlgeleiteten Sympathie für mich, weiß.“

„Und du meinst, das gelingt ausgerechnet dir?“

Statt einer Antwort, drehte er meinen Kopf nach links. Da hockten Hannes und Thally auf einer Decke und unterhielten sich. Hannes machte auch heute den Eindruck geistiger Klarheit.

Ich schob seine Hand zur Seite.

„Na, mal sehen, ob dieser raffinierte Plan klappt“, spöttelte ich und empfand den Anblick der beiden gleichzeitig als Erleichterung. Vielleicht fand tatsächlich eine Interessenverlagerung statt.

„Na schön und auf wen genau wartest du jetzt?“

Es gab einen Weg, meinen Handyblick zu erklären. „Na, ich wollt euch doch Eisen vorstellen. Falls er bei euch einspringt. Er kommt später vorbei.“

Lasse pfiff durch die Zähne und erhob sich. Bevor er ging, sank er ein letztes Mal in die Hocke.

„Ganz schön mutig von dir. So kommt´s, so kommt´s.“ Damit düste er ab. Ich hätte gern gewusst, was er damit meinte.

Gegen halb acht, konnte ich nicht mehr stillsitzen. Ich hatte mich zu jenen gestellt, die den Grill bewachten – als vegetarisch lebende Lebensform hatte ich kein größeres kulinarisches Interesse an dessen Belag – und suchte gelegentlich mit den Augen die Wege um die große Wiese herum ab.

Benzo hatte Roger mitgebracht und war damit beschäftigt, das Vieh vom Grill fernzuhalten.

„Ich hab vorhin Matthias getroffen, beim Herkommen“, verriet er mir und pfefferte einen Stock in die Menschenmenge auf der Wiese. Roger jagte ihm bellend nach, was Benzo Verschnaufpause verschaffte.

„Wie nett“, kommentierte ich.

„Jau. Er kommt nachher vorbei und bringt noch ´n bisschen Bier mit.“

„Oh, sehr nett.“

Benzo beugte sich näher, doch bevor er mich fragen konnte, was er fragen wollte, entdeckte ich Eisen.

Meine Kinnlade klappte herunter – um eine Sekunde später wieder hochzufahren.

Eisen slalomte, die Hände in den tiefhängenden Hosentaschen vergraben, um die, die Wiese bevölkernden, Menschenhaufen. Das Haar bildete einen Zopf, auf der Wange zeigte sich sein Grübchen und das lockere Hemd, mit hochgekrempelten Ärmeln, das er anstelle eines T-Shirts mit Spiderman-Aufdruck trug, sorgte, auf subtile Weise, für das Ende seiner Freakkarriere.

Und ich stand da und dachte: „Warum tut er das?“

Wo waren die Haare vorm Gesicht und das blöde T-Shirt mit dem noch blöderen Spruch drauf? Wo war jetzt das versteckte Lächeln?

„Is-ist das Eisen?“, brachte Maike hervor, die sich an ihrem Bier verschluckt hatte.

Ich überhörte sie und stieg über die Umsitzenden hinweg.

Eisen lächelte mir entgegen. „Hallo Polly.“

Ich war ihm nicht böse, ich war höchstens enttäuscht und eifersüchtig. Ohja, wahrscheinlich mehr eifersüchtig, als enttäuscht.

Maikes Tonfall hatte es verraten. Das steckt hinter Eisen? Verdammt, wieso wissen wir nichts davon?, hatte dieser Tonfall gesagt. Der Tonfall der Erkenntnis.

„Hallo.“ Ich musste trotzdem lächeln. Er war hier. Weil ich ihn drum gebeten hatte, oder nicht?

„Möchten wir hier aus Sicherheitsgründen stehen bleiben, oder meinst du, wir können es in ihre Nähe wagen?“ Er legte einen Arm um mich und führte mich, ohne die Antwort abzuwarten, zurück.

Sie beglotzten ihn, wie ein seltenes Tier im Zoo. Das hatten sie früher auch, doch jetzt taten sie es mit dem Unterschied, das es ein hübsches seltenes Tier war, dessen Fell man gern streicheln wollte, weil es so schön glänzte. Der Vergleich mit dem Tiger fiel mir ein. Sie begannen sich zu fragen: Stimmt das, was man über Tiger sagt?

Der Erste, der das Schweigen brach, war Benzo. „Mein Alter, sei willkommen. Du hast nicht zufällig Lust Roger einzufangen? Macht nichts. Nimm dir ´ne Wurst.“

Die Anspannung löste sich in Gelächter auf, während Benzo lossprintete, um Roger davon abzuhalten, einen fremden Grill zu räumen.

Die anderen trauten sich näher und da Eisen mich losgelassen hatte, schlich ich davon, um Luft zu holen. Gut, dass Lasse zu weit weg saß, um mehr als dreckig zu grinsen.

Oh ja, alle wollten mit ihm reden. Ganz zufällig standen sie auf und schlenderten um ihn herum und stellten ihm Fragen und nutzten die Gelegenheit, ihm ein Bier zu bringen.

Irgendwann sah Eisen sich suchend um und als er meinem nachdenklichen Blick begegnete, lächelte er besorgt. Das wiederholte sich öfter, nur, dass ich die nächsten Male darauf achtete, den besorgten Blick nicht zu erwidern.

Nun, es war eine selbstsüchtige Sache, ihn für mich beanspruchen zu wollen, doch die anderen hatten nie Interesse an ihm gehabt, oder? Warum mussten sie damit ausgerechnet jetzt anfangen, wenn es mir so verdammt schwer fiel, nicht vor Eifersucht Gras auszurumpfen und wütend zu zerkrümeln?

„Ich konnte mich befreien. Man hat fast den Eindruck, sie leiden an Gedächtnisschwund.“

Plötzlich tauchte er neben mir auf und setzte sich, bevor jemand auf die Idee kam, ihn wegzuholen.

„Tut mir leid, dass ich nicht früher ...“ Er lächelte entschuldigend. „Übrigens haben sie mich gefragt, ob wir zusammen sind. Ich hab einfach mal ja gesagt. Sophia fing an, sich an mich ranzumachen.“

Meine Zunge fühlte sich wie Watte an und ich war mir sicher, dass ich nicht mehr als ein heißeres Krächzen zustande brachte, öffnete ich den Mund. Meine Lippen formten ein angestrengtes Lächeln.

„Verdammte Heuchler.“ Das war keine optimale Antwort, auf so eine Eröffnung. Die optimale Antwort, die durchaus auf meiner wattierten Zunge lag aber nicht herauskam, lautete: Ohja, wir sind zusammen. Gerne. Auf jeden Fall. Sophia ist eine dämliche Kuh, die ihre verdammten Griffel von dir lassen soll! Hey, was hältst du von der grandiosen Idee, tatsächlich was anzufangen? Nur wir beide, ganz unpersönlich?

„Ok ...“ Eisen musterte mich aufmerksam und einen Moment überlegte ich panisch, ob ich die optimale Antwort doch geäußert hatte, ohne es zu merken. „Du bist nicht zufrieden, oder?“, riet er ganz richtig.

„Was? Nein, nein … ich mein, ich freu mich, dass du da bist. Und … das mit dem Zusammensein geht schon klar, kein Problem.“

„Ja, aber du ärgerst dich, dass ich nicht als, hm, Freak gekommen bin. Nicht wahr?“ Scharf beobachtet, das musste man ihm lassen.

„Du bist nie ein Freak, nicht … für mich“, wich ich aus, ohne die Frage zu beantworten.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Na gut, na gut“, gab ich auf. „Es ist vielleicht komisch, aber … du siehst ja, wie sie sind. Es ist so verdammt … heuchlerisch.“

„Aber das ist mir egal, ok? Ich hab das doch schon mal gesagt: Es sollte dir auch egal sein. Ich bin froh, hier zu sein, weil du da bist. Ich bin hier, wegen dir, Polly, nicht wegen der anderen. Es ist mir völlig gleich, was sie denken, ok?“

Ich war unsicher. „Ja, natürlich. Tut mir leid, das ist albern.“ Und verriet nur zu deutlich, wie ich fühlte.

Eisen lächelte, hob die Hand und löste das Zopfgummi. Die dunklen Haare rutschten nach vorn, die Strähnen, die sein Gesicht bedeckten, strich er hinter die Ohren.

„Ich mag es auch lieber so“, erklärte er mit einem Augenzwinkern, dass mein Herz einen Salto machen ließ.

Rogers Nase schob sich wenige Zentimeter vor meinem Gesicht, ins Blickfeld.

„Börks!“

Ich rutschte zur Seite und Benzo plumpste unelegant zwischen uns.

„Na, Freunde. Hübsche Fris … ohnö, wo ist denn dein Zöpfchen, Eisen?“

Eisen gab ihm eine Kopfnuss und kraulte Roger, ungeachtet des Sabbers, den der Hund auf seiner Jeans verteilte, die Ohren.

„Kann man sich das vorstellen? Polly mag keine Hunde.“

„Bei Roger ist es auch schwer“, meinte Eisen diplomatisch und wischte sich abwesend die Hand an der Hose ab.

„Ich hör da so Gerüchte, dass ihr jetzt ein Liebespaar seid?“ Benzos Grinsen reichte für drei.

„Da hast du aber gut zugehört.“

Weil Benzo bei uns saß, sah Lana sich genötigt dazu zu kommen, um Eisen ausgiebig zu beglotzen. Dass er den Zopf aufgelöst hatte, störte nicht weiter. Seine blauen Augen waren  hervorragend zu sehen, so wie der Rest, den es, ihrer Meinung nach, zu sehen galt.

„Hallo“, verkündete Maike an meinem Ohr. „Wir müssen dringend reden.“

„Ach und worüber?“

„Über Tampons!“

Meinen Protesten keine Beachtung schenkend, zerrte sie mich von meinem Platz.

„Hatten wir also Recht, dass da was mit Eisen läuft?“

Ich befreite mich aus ihrem Griff und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach?“

„Mehr willst du dazu nicht sagen? Er hat es immerhin gesagt. Oder stimmt es nicht?“

Das Glitzern in ihren Augen, warnte mich vor.

„Natürlich stimmt es. Wieso sollte er es sonst sagen?“, fuhr ich sie an. So weit kam´s noch!

Die Augen wanderten zu meinem ehemaligen Sitzplatz. „Man, das hätte ich nie gedacht. Dass der so gut aussieht. Allmählich kann ich dich verstehen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, du verstehst es nicht! Darum geht’s nicht.“

„Nicht? Warum sonst solltest du mit ihm zusammen sein?! Ok, er scheint auch echt nett zu sein, aber … Ohman … guck dir diese Schultern an!“

Zähne zusammenbeißen war angebracht. „Kann ich wieder zurück zu meinem … Freund?“, zischte ich.

„Hm? Ohja... sicher.“

„Na, dafür, dass du ´n Freund hast, siehst du aber sehr unzufrieden aus“, hielt Lasse mich auf halbem Weg, an. „Und dass ist euer Freak? Sieht nicht wie ein Freak aus.“

„Normalerweise sieht er nicht so … so aus.“

„Hört sich ja fast so an, als hast du was dagegen?“

„Ich hab was dagegen, dass … ach, vergiss es.“

Eigentlich sollte ich gut drauf sein, mich des Lebens freuen und der Tatsache, dass ich die Anwesenheit dieser Menschen voraussichtlich ein weiteres Jahr ertragen durfte.

„Gehen wir ´n bisschen?“ Eisen erhob sich, als ich an die Decke trat. „Allein?“, setzte er hinten an, bevor jemand auf die Idee kam, sich anzuschließen.

Der Chor aus „Huis“ und „Ohs“ klang mir in den Ohren. Eisen drückte meine Hand und ich entspannte mich.

Nach einigen Schritten auf dem Weg, erreichten wir eine Bank, die weder voll Vogelkot, noch voll Mensch war. Er drückte mich behutsam auf die Sitzfläche und ging vor mir in die Hocke. Die Haare steckten wieder im Zopf. Nun, es war warm und so sicher angenehmer im Nacken …

Ich wusste, dass wir beobachtet wurden, doch als ich nach einer einzelnen Strähne griff, die er hinters Ohr geschoben hatte, überkam´s mich; es ließ mich vorbeugen und ihn küssen. Er erwiderte den Kuss, für genau eine Millisekunde und senkte dann den Kopf.

„Tschuldige“, hauchte ich und richtete mich auf.
„Nein, ist schon gut.“ Er fasste nach meiner Hand und hob sie rasch an die Lippen. „Ist schon gut.“

Warum hatte er dann aufgehört? Und es hatte sich so gut angefühlt …

Ich sah, wie er schluckte, bevor er sich neben mich setzte. Immerhin hatten unsere neugierigen Leute jetzt einen Beweis. Ganz toll!

Ich stützte die Arme auf die Knie und stierte meine verknoteten Finger an. Da, wo ich Eisens Hand durch den dünnen Stoff meines Oberteils auf dem Rücken spürte, prickelte meine Haut.

Das war´s dann. Ich würde ihn nie wieder sehen, sobald diese Sache hier vorbei war und auf ewig unglücklich sein.

„Lass uns später darüber reden“, beendete er unwillkürlich die Stille, wobei er so ruhig und sorglos klang wie eh und je. „Na komm, gehen wir zurück, bevor sie sich vor Unruhe in die Hose machen.“

Warum hatte ich mich dazu hinreißen lassen? Nicht nur unsere Leute hatten dadurch einen Beweis meiner Zuneigung erhalten.

Es war ein schwacher Trost, die Aussicht auf ein Gespräch dazu. Ich hörte bereits seine Worte: Hör mal, ich mag dich ja, aber nur als Freundin, so allgemein ...

 

„Na schön. Ich sag nichts mehr gegen ihn. Versprochen. Du magst ihn, dann ist es ok.“

„Was?“, lachte ich ungläubig, als Maike mir ihre Entscheidung offenbarte.

Wir standen mit Lana und Thally beim Grill und beobachteten Champions beim Verkohlen. Eisen wurde von Neugierigen umschwärmt.

„Erstaunlich, diese Toleranz. Dürfte dir wesentlich leichter fallen, jetzt, wo du weißt wie … er aussieht.“ Die bittere Ironie der drei Pünktchen entging ihnen.

„Nein, ich mein, allgemein. Na gut, du hast etwas recht. Aber … warum war er nicht schon immer so?“

„Ihr habt ihn nie angesprochen.“

„Naja, aber die Gerüchte …“

„Glaubt alle Gerüchte und in Kürze werden wir wieder ein Drittes Reich haben.“

„Das ist etwas drastisch, meinst du nicht?“ Lana runzelte die Stirn. „Es kann ja nicht jeder so tolerant sein, wie du.“

Ich lachte. Mein schweres Herz wurde leichter. Sie blieben mir. Ich hatte es tatsächlich geschafft, Freunde zu haben die ich mir nicht ausreden musste.

Maike gab mir einen Schmatzer auf die Wange. „Wir sind stolz auf dich. Und ja, wir nehmen uns ein Beispiel an dir. Nicht unbedingt in jeder Hinsicht.“ Ganz kurz schielte sie zu Thally rüber. „Aber in mancher.“

Ich befreite mich aus ihren Armen und grinste. „Na, dann fangt mal an damit, indem ihr Bier besorgt.“

 

Der Abend wurde lang und kühl. Die Wiese leerer und die Luft frischer, was nach der hitzigen Wärme gut tat. Bis man anfing zu frieren.

Ich hatte mich von Eisen fern gehalten, was kein Kunststück war, da er anderweitig Beschäftigung en mas fand. Ich bedauerte es, ja, aber das erleichterte es mir, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen.

Am Grill blieb es länger warm. Als die letzte Wärmequelle erlosch, begann das Dauerfrieren, das einige Schlaue mit Jacke und Parka bekämpften.

Ich hätte mir eine Jacke holen können, war aber zu faul und nahm hin, dass die Gänsehaut mein ständiger Begleiter wurde. Wenn es darum ging zu frieren, war ich schnell dabei. Wenn man zusätzlich bewegungslos herum sitzt, beschleunigt sich der Vorgang.

Weiche Lippen legten sich auf meine Schläfe und Eisen drückte mich an seinen angenehm warmen Körper.

„Frierst du?“, flüsterte er mir ins Ohr und ließ mich los, um sich neben mich zu setzen.

„Nein, ich tu nur so, um nicht aufzufallen“, klapperte ich.

Eisen lachte und zog mich zu sich. „Da ist aber eine ganz schlau.“

Auf meiner anderen Seite haute sich Lasse mit Gitarre auf die Decke, grinste mir breit zu und fing an zu klimpern.

„Ist ja furchtbar romantisch“, ertönte von irgendwoher Benzos skeptische Stimme. „Jaja, ist ja gut, ich komm schon.“

Lana fand das hier allerdings romantisch und es gefiel ihr nicht, dass Benzo ihre Meinung nicht teilte.

„Was ist mit dir? Brauchst du auch Romantik?“ Eisen piekste mit dem Finger gegen meine Nase.

„Himmelnein.“ Ich unterdrückte ein Gähnen. „Macht nur Schwierigkeiten so was.“

„Na, das hört man auch nicht alle Tage, aus dem Mund einer Frau“, mischte Lasse sich ein.

Ich schmiss ein paar Grashalme nach ihm, war mir aber nicht sicher, ob ich in der Dunkelheit traf.

„Hey, pass auf deine Freundin auf. Die wird handgreiflich!“, beschwerte er sich bei Eisen, der trocken lachte.

Er tat einfach so, als sei nichts geschehen. Nun, es hätte ebenso wenig gebracht, wenn wir nur noch stumm umeinander herumgeschlichen wäre – und es hätte die anderen misstrauisch gemacht und die frisch gewonnene Ruhe gestört.

XXII

Die Gruppe schrumpfte und ich sehnte mich nach meinem Bett. Umso stärker missfiel mir, dass ich blieb, weil Eisen nicht realisierte, dass ich im Fünf-Sekunden-Rhythmus gähnte.

Die Letzten die gingen, waren Maike und Ingo.

„War super chön“, versicherte sie mir. „Das wiederholen wir. Und morgen … oder sagen wir demnächst müssen wir dringend reden.“

Ich nickte, brachte ein Lächeln zustande und wandte mich, sobald die beiden außer Hörweite waren, Eisen zu.

„Was soll ...“

„Tut mir leid. Ich weiß, dass du müde bist und nach Hause willst. Aber ich dachte, wir sollten reden.“

Na schön, immerhin hatte er es gemerkt.

„Ja ...“ Das Herzklopfen kam zurück.

„Ich würd mit zu dir kommen, aber ich muss morgen früh zu Hause sein. Wir können´s ja schnell machen, wenn dir kalt ist oder ...“

„Ich kann auch mit zu dir, wenn ich da irgendwo pennen kann“, schlug ich leise vor.

Er zögerte. Der blöde Idiot zögerte!

„Gut. Dann müssen wir uns beeilen. Die Bahn kommt in zehn Minuten.“

In zehn Minuten kann viel passieren. Zum Beispiel kann es anfangen zu regnen. Wie aus verdammten Kübeln!

Wir waren bis auf die Knochen durchnässt, als wir die Bahn gerade so erwischten. Es hörte nicht auf, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als durch den strömenden Regen zu laufen.

Plötzlich lachte Eisen.

„Was soll das?“, fuhr ich ihn an.

„Ach komm … ist doch nur Regen.“ Er breitete die Arme aus, blieb stehen und sah nach oben. Völlig perplex hielt ich ebenfalls inne und betrachtete die skurrile Szene.

„Und ist doch nur eine Lungenentzündung, die man sich holen kann.“

Er senkte den Kopf und im Licht der Straßenlaterne, blitzten seine Augen synchron mit dem Grübchen. „Man lebt ohnehin nur einmal.“

Die Antwort darauf blieb mir im Hals stecken und schlug vor, ihm stattdessen um den Hals zu fallen.

Ich entschied mich fürs Weitergehen und Eisen folgte mir.

„Wenigstens müssen wir nicht leise sein. Mein Vater hat Nachtschicht!“, verkündete er, als er die Wohnungstür aufschloss und mich vortreten ließ.

„Na, super.“

Ich sah an mir herunter und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

„Kann ich duschen? Ich friere wie blöde.“

Eisen nickte. „Natürlich. Wo das Bad ist weißt du ja. Handtücher sind … Sekunde!“

Während ich mich meiner triefenden Kleider entledigte, besorgte er das Handtuch. Es war eine Wohltat unter die heiße Brause zu steigen und ich überlegte, hier die Ewigkeit abzusitzen, bis Eisen klopfte und fragte, ob ich eingeschlafen sein.

Seufzend kletterte ich aus der Wanne.

„Wenn du was zum Anziehen brauchst … ich kann dir ´n T-Shirt von mir geben.“

„Gute Idee. Und ´ne Boxer.“

„´ne Boxer?“

„Ja … äh … mein …“ Ich war wirklich bis auf die Knochen durchnässt gewesen und mein Höschen wollte ich jetzt nicht anziehen.

„Oh, verstehe … ok.“

Ich wickelte mich ins Handtuch, bis er beides gebracht hatte. Die Boxer war zu groß, das T-Shirt ohnehin, aber besser als nichts. Dass sein Geruch mich auf Schritt und Tritt begleitete, war schwerer zu ertragen.

Er kniete vorm Schreibtisch und suchte etwas in seiner Tasche. Als ich ins Zimmer kam, sah er auf und grinste.

„Oha, sehr sexy.“

„Kein Kommentar.“

„Ok.“ Er suchte weiter und ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl daneben.

Sein Haar, im Pferdeschwanz, war trocken, er musste es geföhnt haben. Seine Kleidung hing über der Heizung, er trug nur noch die Boxer. Da sie nicht nass war, musste es eine neue sein.

Dämlich, dass ich auf diese Details achtete.

Eisen sah auf. „Ähm, nichts für ungut, aber das macht mich grad ein bisschen nervös, wenn du mich so ansiehst.“

„Oh … äh ...“ Ich wurde rot. Nur das Licht am Bett brannte und das half mir, mein Rotwerden zu verstecken.

Eisen lächelte amüsiert und wühlte weiter. Was auch immer er da so intensiv suchte …

Sein Zopf befand sich direkt vor mir und ich konnte es mir nicht verkneifen danach zu greifen. Er hielt in der Bewegung inne.

„Was wird das?“

Ich antwortete nicht, löste das Band und beobachtete, wie der Zopf sich auflöste. Eisen drehte den Kopf und strich sich die Strähnen hinters Ohr. Mein Herz klopfte heftig und laut – wieder so ein Eskimofall. Er musste es einfach hören.

Statt auf mein übermenschliches Herzklopfen einzugehen, richtete er sich auf und zog mich neben sich auf den Boden. Davor hatte er etwas aus der Tasche geholt und hinter sich geworfen.

Für einen weiteren Augenblick hockten wir voreinander, der Schreibtischstuhl bohrte sich in meinen Hinterkopf.

Er wurde zur Nebensache, als Eisen mich küsste. Dieser Kuss hielt länger als eine Millisekunde und er gab mir Gelegenheit eine weitere Feststellung zu machen: Wenn Freaks so küssen, wollte ich nie wieder jemand anderen küssen – er schien sehr zu wissen, was er tat!

Auch, als er seine Finger an Stellen und Orte schob, die zu erreichen, durch das Tragen einer Boxershorts, erleichterte wurde.

Das fühlte sich alles einfach nur gut an, so gut, dass ich ohne Bedenken schwach wurde, aber ich wollte es ihm sagen. Ich wollte ihm sagen, dass ich mich in ihn verliebt hatte und dass ich ihn wirklich, wirklich wollte und ihn wirklich, wirklich … ach verdammt!

Zwischen zwei Küssen holte ich Luft und sammelte den Mut, den ich nicht hatte.

„Ich liebe dich ein bisschen.“

 Mein Herz tippte sich an die Stirn und fragte mich, wie es noch schneller klopfen sollte, ohne zu kollabieren. Und mein Verstand setzte sich die Schlaumeier-Brille auf und fragte: Ein bisschen? Wie kann man jemanden „ein bisschen“ lieben? Das ist doch nur die Angst davor, es zu benennen!

Ich ignorierte beide Parteien, denn Eisen hatte sich aufgerichtet und seine Hände auf meine Schultern gelegt.

„Stellt das ein Problem dar? Du hörst dich so an, als würdest du es bedauern.“, sagte er und dann lachte er und küsste mich wieder.

„Nein … ich ...“ Ich sank zurück. „Ich hab´s nur noch nie gesagt. Ich hab da keine Übung drin.“

Er umfasste mein Gesicht und zwinkerte mir zu. „Dann sag´s halt noch mal, dann übst du dich drin.“

„Du willst ja bloß, dass ich es sage.“

„Stimmt.“

„Ich … äh, liebe dich ein bisschen.“

„Ein bisschen?“

„Ja, ein bisschen.“

„Ein bisschen!“, stellte er fest, lachte wieder und wiederholte das Prozedere der Mund-zu-Mund-Angelegenheit.

Die nächste Unterbrechung veranlasste er. „Bin ich jetzt dran?“

„Wenn du willst ...“, stotterte ich.

Klares Denken war für diesen Abend schlafen gegangen. Die Situation war so neu für ich, dass ich erst lernen musste, damit umzugehen, ohne zu sterben.

„Ok… äh, ehrlich gesagt, sag ich das auch nicht so oft.“

Sämtliche Alarmglocken, in meinem Inneren, schrillten los. Jetzt würde kommen: Und ich kann´s dir gegenüber leider auch nicht behaupten. Mehr als Rummachen ist nicht drin.

„Also, viel mehr Übung, es zu sagen, als du, hab ich nicht, aber lass mal versuchen: Ich liebe dich auch. Ein großes bisschen.“

Er konnte ein Teufel sein, wie Lasse, was viel schlimmer war, weil es hier eine Rolle spielte. Das Grübchen tanzte über seine Wange und seine Augen verengten sich, als er leise lachte. Er lachte viel und es war jetzt ebenso nervös, wie zufrieden. Dass er nervös war, gab mir wenigstens die Gewissheit, nicht der einzige Mensch im Umkreis von zwei Metern zu sein, der fürchtete, sich zum Affen zu machen.

Ich erwiderte das Lachen, mit einer Mischung aus Erleichterung, Verwirrung und der Frage: Was jetzt?

„Können wir jetzt zu dem Teil übergehen, der mir keine Kopfschmerzen macht?“, bat ich.

Eisen stand auf und ich ließ mich von ihm hochziehen.

„Was hast du da gerade gesucht?“, fiel mir im unpassendsten Moment, sein Gekrame ein.

„Oh, die Kondome.“

„Die Kon … aber wie … hä?“ Was ich stammelte, zeugte von Intelligenz auf Urlaub.

„Du weißt schon, Kondome, diese kleinen Plastikdinger, die man sich übern Penis zieht, damit man nicht neun Monate später ...“

„Ich weiß, was Kondome sind, Doktor Sommer! Aber wieso hast du sie ausgerechnet gerade gesucht?“

„Naja, wollen wir keinen Sex haben? Ich dachte ...“ Eisen verstummte und grinste dreckig. Das konnte er auch. Bisher hatte er immer sehr nett gegrinste.

Wenn´s drauf ankam, konnte der werte Herr ganz anders sein, das war nicht zu übersehen.

Dass der „werte Herr“ mir eine Menge verschwiegen hatte, war klar. Je näher ich ihm kam, desto klarer wurde es.

Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Diese Sache war krank und machte irgendwie Spaß.

„Wann hast du die Dinger gekauft?“

„Bevor ich zur Wiese bin.“

„Und wieso?“

Eisen schmunzelte. „Na, weil ich dachte, dass wir Sex haben werden.“

„Seit wann weißt du, dass ich in dich verliebt bin oder auch nur irgendwas von dir will?“, seufzte ich.

„Oh, sicher war ich mir nie. Aber … naja.“ Er zuckte mit den Schultern und hob anschließend die Kondome auf. „Dein Kuss hat meinen Verdacht, naja, erhärtet. Natürlich kann ich das verstehen, wenn du warten willst. So was muss ich jetzt sagen, oder?“ Als ich entrüstet den Mund öffnen wollte, winkte er belustigt ab. „Schon gut. Das war ein blöder Witz.“ Mit deutlichem Ernst fuhr er fort: „Wenn du das möchtest, warten wir selbstverständlich…“

„Worauf? Dass ich wieder Jungfrau werden?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Nett gesagt.“

Ich lächelte matt, zog die Beine an und legte den Kopf auf die Seite. Sofort erinnerte er sich daran, dass ich verdammt müde war. Ich gähnte in meine Knie.

Eisen hatte die Kondome auf den Tisch neben dem Bett gelegt.

„Willst du schlafen?“, fragte er sanft.

„Ich weiß nicht ...“

„Es kann ja nicht schaden, ins Bett zu gehen. Was sich dann ergibt, ergibt sich. Oder musst du immer erst entscheiden, was passiert, bevor du ins Bett gehst?“, zog er mich auf. Ich streckte ihm die Zunge raus und rutschte vom Stuhl.

„Du hast recht.“

Er stand neben dem Bett und beobachtete mich dabei, wie ich die Decke zurück schlug und ein neuerliches Gähnen unterdrückte.

„Erinnerst du dich, als wir letztens hier lagen?“, sagte er dann.

„Ohja ...“ Ich erinnerte mich nur zu gut, besonders als er jetzt hinter mich trat. Eisen schob die Arme um mich und drückte sein Gesicht in meine Halsbeuge.

„Ohne dich reduzieren zu wollen … aber dein Arsch hat es mir echt schwer gemacht nicht mehr zu tun, als dich zu umarmen.“

Ich lachte leise. „Ach?“
Sein Becken berührte meinen Po und unterstrich auf sehr physische Weise, was er sagte.

Ich wandte den Kopf und als er meinen Blick erwiderte, zog ich ihn zu mir runter und damit war, sogar noch außerhalb des Bettes, entschieden, wie´s weiterging.

XXIII

Ich schlief in Armen ein und wachte in ihnen auf. Nämlich eine halbe Stunde, nachdem ich in ihnen eingeschlafen war und glaubte zu ersticken.

Es war heiß unter der Decke und wir waren nicht dazu gekommen, ein Fenster zu öffnen. Ich schlug die Decke zurück und befreite mich aus Eisens Armen. Anschließend aus dem Bett zu kommen, ohne ihn zu treten, erwies sich als schwierig, aber machbar. Ich öffnete das Fenster und zog, zwecks besserer Lufteinfuhr, das Rollo ein Stück hoch. Es knirschte unheilverkündend.

Eisen bewegte sich und brummte etwas.

Auf Zehenspitzen schlich ich zurück zum Bett und fand nach einigem Tasten mein Handy. Es lag auf dem niedrigen Tisch.

Halb vier vor Nachricht. Die Nachricht kam von Maike, sie wollte wissen, ob ich bei Eisen sei. Als ob sie das was anginge.

Ich legte das abhängig machende Kommunikationsmittel beiseite und machte mich daran, über Eisen zu steigen, der zu dicht am Rand lag, als dass ich mich da hätte wieder hinlegen können. Als ich rittlings auf ihm hockte, raunte er: „Kannst da gern sitzen bleiben“, gefolgt von einem Lachen.

Ich setzte meinen Weg fort, war aber inzwischen soweit abgekühlt, um mich auffordernd zu ihm hinzudrehen, zurück unter der Decke. Ein weiteres Lachen summte mir ins Ohr, als er mich an sich zog.

Impressum

Texte: J.C.E. Trebuen
Bildmaterialien: J.C.E. Trebuen
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All denen, die der Liebe lachend gegenüberstehen und sich doch manchmal fragen: "Und was wäre, wenn ich ...?"

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