Heute war es soweit. Ich hatte auf diesen Tag schon viele Jahre gewartet. Ich hatte mich vorbereitet, aber ich wusste nicht, wie es ausgehen würde. Schon vor fast zwanzig Jahren hatte ich den Wunsch verspürt, das auszuprobieren, was ich heute durchführen würde. Ob es klappen würde? Ich hatte den Wecker auf halb sechs gestellt. Ich trank eine Tasse Milchkaffee, für ein Frühstück war es mir wie jeden Morgen zu früh. Ich zog meine dreiviertellange Laufhose an, das Laufshirt darüber und noch eine dünne Jacke darüber. Es war Ostersonntag, heute morgen um halb sieben würde bei uns in der Kirche der Ostergottesdienst gefeiert. Im Laufe des Gottesdienstes würde es hell werden und ich das Experiment starten, auf das ich mich mental schon so viele Jahre vorbereitet hatte. Meine Freundin hatte mir vorgeschlagen, dass es ein schönes Symbol wäre, meinen Lauf mit diesem besonderen Morgengottesdienst zu starten. Und die Idee hatte mir gefallen. Also ging ich in Laufhose und gut eingelaufenen Laufschuhen in den Ostergottesdienst. Gott würde heute wiedergeboren werden und ich einen meiner Lebensträume verwirklichen. Aber ob ich es auch schaffen würde? Ich wusste es nicht und vielleicht gerade deshalb nahm ich den Zauber dieses Morgens umso deutlicher wahr. Im Dunkeln ging ich in die Kirche, die Kerzen wurden an der Osterkerze entzündet. Alle außer mir waren feierlich angezogen, nur ich stand hier im Schein der Kerzen in Laufkleidung. Aber mir war es nicht peinlich, zumindest nicht, bevor ich, als ich die Kirche verließ, meinem Chef und seiner Frau gegenüber trat.
„Guten Tag, Herr Moosmann!“
„Guten Morgen, Frau Wehr.“
„Ich gehe heute noch laufen“, erklärte ich mein Outfit und drückte lächelnd seine Hand und die seiner Frau.
„Ach so. Viel Spaß!“
Mein Chef lief selber, ich hatte ihn schon oft im Wald getroffen. Aber sicher fand er es etwas eigentümlich, dass ich ausgerechnet am Ostermorgen in Laufklamotten in die Kirche ging. Ich hatte jedoch keine Zeit für Erklärungen zu verlieren. Durch den Gottesdienst war ich schon ein wenig später dran, als ich ursprünglich starten wollte. Ich drückte meine Freundin herzlich und sie wünschte mir gutes Gelingen.
„Wenn du Mittags Pause machen willst, dann ruf mich auf dem Handy an, wir kommen dann zu dir!“
„Danke! Ich freu mich drauf!“
Und so war es. Sie lies mich an diesem Tag nicht allein. Sie wollte mich, zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter, ein Stück weit an diesem Tag begleiten.
Ich ging ein paar Meter bis ins Wiesental, bis dorthin waren meine Muskeln wach und warm geworden. Dann lief ich los. Ich hatte in meinem Laufgurt eine Halbliterflasche stilles Wasser, mein Handy, ein Pflaster, ein Taschentuch und einen Müsliriegel. Ich lief locker und entspannt gefühlte hundert Meter. Dann wurde ich wieder langsamer und fiel wieder in einen schnellen Schritt. Das Runterbremsen war nicht so einfach, im Training lief ich ja bis zu fünfzehn Kilometer durch. Nach wieder gefühlten hundert Metern verfiel ich wieder in den lockeren Lauf. Ich fühlte mich, als ob ich ewig weiter laufen könnte, aber wieder zwang ich mich nach hundert Metern zum schnellen Schritt. Und so ging es weiter, den Hauptwanderweg 10 entlang. Es wurde heller, aber immer noch war mir kein Mensch oder Tier begegnet, ich war allein unterwegs mit einem alten Traum. Ich wollte heute hundert Kilometer laufen. Ein warmer Tag war für heute angekündigt, das konnte mir in die Quere kommen. Aber ich war optimistisch. Ich war gut vorbereitet. Ich lief jede Woche bis zu 30 Kilometer, aufgeteilt auf drei bis vier Trainingseinheiten. Ich hatte die Strecke gut präpariert mit vergrabenen Trinkflaschen und Müsliriegeln. Mit einem Freund war ich die Strecke letztes Wochenende mit dem Fahrrad abgefahren und hatte die Versorgung an gut merkbaren Stellen versteckt. Hinter einem umgestürzten Baum, unter einer schön aussehenden Wurzel und so weiter. Fünf Trinkflaschen und fünf Müsliriegel waren es gewesen. Wir hatten die Strecke bis zu den ersten 60 Kilometern präpariert. Danach würde ich mit dem auskommen müssen, was ich bei mir hatte. Die Strecke hatte uns schon auf dem Rad angestrengt, da es auch an diesem Tag ungewöhnlich warm geworden war. Und heute waren noch höhere Temperaturen angekündigt. An Ostern dreißig Grad! Aber ich wollte den Lauf nicht mehr verschieben, ich hatte zu lange darauf gewartet. Die Strecke war nicht einfach, es ging Hügel hinauf - die versuchte ich eher zu gehen - und Hügel hinab. Manchmal hatte ich das Gefühl schwerelos zu fliegen, aber immer wieder bremste ich mich ab. Die Landschaft war schön, vor allem von den Aussichtspunkten, von denen ich weit ins Land blicken konnte. Es dauerte lange, bis ich dem ersten Menschen begegnete. Es war ein älterer Mann, der mit einem Hund spazieren ging . Ich grüßte freundlich, er grüßte freundlich zurück. Jetzt war ich an der Stelle angelangt, an der ich die erste Wasserflasche versteckt hatte. Ob ich sie finden würde? Nun, nicht sofort, es ist erstaunlich, wie anders alles aussieht, wenn man eine Woche später unterwegs ist. Aber ja, ich fand sowohl Flasche als auch den Müsliriegel. Ich hatte meine alte Wasserflasche schon ausgetrunken und in einem Abfalleimer entsorgt. Es war gerade Zeit für die neue Flasche gewesen. Hunger hatte ich eigentlich gar keinen, aber ich zwang mich zu dem kleinen Müsliriegel, ich würde meine Kraft heute noch brauchen. Ich hatte diesen Lauf nie alleine durchziehen wollen. Immer wieder hatte ich Freunde und Bekannte gefragt, ob sie mit mir laufen würden. Aber niemand hatte sich dazu bereit erklärt. Das war der Grund, warum ich den Lauf nicht schon lange gemacht hatte. Ich hatte Angst davor gehabt, diese große Strecke alleine zu laufen. Was wäre, wenn ich Kreislaufprobleme bekommen würde, mich ein Hund angreifen würde? Und ich war es nicht gewohnt, besondere Dinge alleine zu tun. Als Älteste von Sechs wollte ich solche Dinge mit jemand teilen. Aber ich hatte niemand gefunden. Vor einem halben Jahr war dann die Zeit gekommen, da ich meine Hoffnung auf einen Mitläufer oder eine Mitläuferin über Bord geworfen und meine Zweifel verbannt hatte. Wenn niemand mitlief, dann würde ich meinen Traum eben alleine verwirklichen! Ich plante alles genau. Die Strecke würde spätestens ab 11 Uhr, wenn es wärmer werden würde, größtenteils im Wald verlaufen - ich vertrug die Sonne nicht gut - , ich präparierte die Strecke mit Essen und Trinken, meine Freundin würde mich mit Mittagessen versorgen, ein Freund mich abends abholen. Ich war trainiert, guter Dinge. wann, wenn nicht jetzt?!
Ich lief und ging im stetigen Wechsel. Ich fand meine Trinkflaschen und Müsliriegel bis auf einen. Ich traf Menschen auf meinem Weg, mit denen ich mich hundert bis zweihundert Meter weit unterhielt. Auch das war eine Angst von mir gewesen: Ich alleine als Frau unterwegs, was wäre, wenn ich jemanden begegnen würde, vor dem ich etwas, was immer befürchten müsste? Doch ich war an diesem Tag locker und entspannt. Vorsichtig, aber auch euphorisch. Ich machte einen Lebenstraum wahr. Schon als Zwölfjährige, als ich in einem Abenteuerbuch gelesen hatte, dass Indianer locker hundert Kilometer an einem Tag zurücklegen konnten, indem sie abwechselnd etwa hundert Meter liefen und hundert Meter gingen, wollte ich dies einmal ausprobieren. Und heute war dieser Tag. Am späten Mittag rief ich meine Freundin an und machte mit ihr einen Treffpunkt für unser Mittagspicknick aus. Was war das für eine Freude, als ich ihre Tochter strahlend auf mich zulaufen sah. Auf meinem einsamen Weg kamen Freunde auf mich zu! Ich war im Glück, als das Mädchen ein Stück neben mir entlangrannte und auch mich einredete. Wir suchten einen schönen Platz für unser Picknick und aßen und sprachen und hatten eine schöne Zeit. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwa fünfzig Kilometer geschafft und wusste schon jetzt, dass ich die hundert wohl nicht mehr schaffen würde. Es war zu warm, ich hatte mit diesem Picknick zuviel gegesssen und wohl auch zu lange den Rhythmus unterbrochen. Aber es machte mir nichts aus. Der Tag war bereits jetzt so schön gewesen, dass ich wusste, dass ich ihn immer als Bereicherung meines Lebens empfinden würde. Ich schaffte noch etwa zwanzig Kilometer an diesem Tag. Am Spätnachmittag, ich war gut fünf Kilometer aus dem Wald heraus und in der vollen Sonne unterwegs - die ich nie gut vertrug - , da blieb ich in der Nähe eines kleinen Ortes stehen und rief meinen guten Freund an.
„Ich bin bei Enzweihingen, an einem Feldweg rechts, kurz vor dem Ort, hol mich ab.“
Ich ließ mich unter einem Apfelbaum im Schatten nieder und trank meine letzte Wasserflasche in Ruhe aus. Ich hatte siebzig Kilometer geschafft und empfand es als Gewinn, nicht als Versagen.
Texte: Bei Andrea Wehr
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2013
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