Der Entschluss, die Geschichte meines Onkels zu erzählen fiel heute Abend, als ich die Kinder ins Bett brachte. Da erinnerte ich mich daran, wie schon viele Male zuvor, dass mein Onkel meine Kindheit und auch mein weiteres Leben prägte. Er war die wichtigste Bezugsperson, mehr Freund als Onkel.
Wir Kinder - ich hatte fünf jüngere Geschwister - nannten ihn Onkel Mitterbauer oder auch einfach den Onkel. Er lebte zusammen mit der Tante, Tante Mitterbauer in der Nachbarwohnung unseres Mehrfamilienhauses. Fast jeden Tag in meiner Kindheit ging ich auf den Flur und klingelte bei ihnen: Die Tür öffnete sich und ich trat ein, in die Welt von Onkel und Tante. Sie waren gar nicht verwandt mit uns. Ich weiß nicht, wann ich diese Tatsache erfahren habe, aber es hatte auch keine Bedeutung für mich. Sie waren und blieben Onkel und Tante Mitterbauer.
Was machte die beiden so besonders? Im Haus meiner Eltern lebten noch elf weitere Familien in unterschiedlich großen Wohnungen, neben und unter uns. Die Eltern meiner Mutter lebten im ersten Stock und wurden Oma und Opa genannt. Neben ihnen wohnten Tante Wiener und Onkel Gundram. Obwohl Tante Wiener meine Patentante war, hatte ich zu ihr gar keinen Bezug, auch nicht zu den „echten“ Verwandten. Sie waren einfach nur Oma und Opa, Tante und Onkel. Ich hatte kein Bedürfnis, sie jeden Tag zu besuchen und viel Zeit mit ihnen zu verbringen.
Was also war der Reiz von Onkel und Tante Mitterbauer? Für mich war es Franz Mitterbauer, der mich jeden Tag fragen ließ: „Ist der Onkel schon von der Arbeit zu Hause?“. Und sobald meine Mutter es zuließ, stürmte ich hinüber.
Eine der ersten Erinnerungen meiner Kindheit stammt aus dieser Zeit, ich war sicher nicht einmal vier Jahre alt: Ich schaute zum Onkel auf, der gerade von der Arbeit gekommen war und aus seiner Arbeitstasche eine alte Thermoskanne holte, mich anlächelte und sagte: „Den Schluck hier habe ich extra für dich aufgehoben.“ Er schenkte einen kleinen Schluck Pfefferminztee in den Trinkdeckel, reichte ihn mir und ich trank ihn wie das kostbarste Getränk der Welt. Dieser kleine lauwarme Schluck Pfefferminztee bedeutete für mich das größte Geschenk des Tages. Extra für mich aufgehoben, mir geschenkt, persönlich eingegossen und überreicht. Ich liebte den Onkel. Als ältestes Kind von damals vier Kindern (zwei kamen später noch dazu), war ich nur eine von vielen, die große Schwester, die vernünftig sein sollte, ein Vorbild. Beim Onkel war ich einzigartig. Ich war es wert, dass man mir einen Schluck Pfefferminztee aufhob.
Ich besuchte Onkel wahrscheinlich deshalb jeden Tag. Tante war auch immer da, aber sie spielte erst später eine wichtige Rolle in meinem Leben, als Kind hatte ich eher etwas Angst vor ihrer rauen, ruppigen, trockenen Art. Er, der Onkel, hatte Zeit für mich, er gab mir das Gefühl, dass ich willkommen sei. Er war, so komisch es vielleicht klingen mag, ein Freund. Er behandelte mich nie wie ein Kind, sondern wie einen Gleichberechtigten.
Ansonsten gab es in meinem Leben die jüngeren Geschwister, meine Eltern, die anderen Bewohner unseres Zwölf-Parteien-Hauses, die Verkäufer der zwei kleinen Läden in der Leistenstraße und der Nikolausstraße, das Nachbarmädchen Andy, die mit meinem Bruder befreundet war, und viele Bekannte und ein paar Freunde der Eltern. Ich kam erst mit sechs Jahren in den Kindergarten. Ich weiß nicht, ob meine Eltern dachten, es gäbe mit meinen Geschwistern ja genug Spielkameraden oder ob sie die Notwendigkeit eines Kindergarten nicht sahen oder einfach vor lauter Kindern und Arbeit nicht daran dachten. Waren es am Ende gar die Kosten für den Kindergarten, die sie scheuten?
Jedenfalls unterstützte auch dies natürlich die Besuche beim Onkel, denn schließlich übernahm er, als er früh in Rente ging die Funktion eines Kindergartens für mich. Ich spielte mit ihm, er erzählte mir Märchen und echte Geschichten, er bastelte mit mir, spielte Karten oder „Wolf und Schaf“ oder Halma und war einfach für mich da. Dass er älter war als ich machte mir nichts aus, ich dachte nie darüber nach. Ich nannte ihn auch nie einen Freund, er war der Onkel. Aber aus heutiger Sicht weiß ich: Er war mein bester Freund und das in der ganzen Kindheit.
Er hatte eine besondere Gabe: Er konnte kleine Dinge besonders machen, wie er es schon mit dem Schluck Pfefferminztee getan hatte. So gab es zum Beispiel ein kleines gelbes Aufziehküken, dass seinen Wohnort im alten Küchenbuffet hatte, rechts oben, daran erinnere ich mich noch heute. Ein paar Mal im Jahr, nicht oft, wurde auf unser drängendes Bitten die kleine gläserne Tür des Schrankes geöffnet. Wir standen unten und schauten erwartungsvoll nach oben. Wir beobachteten, wie der Onkel das Küken herausholte. Wahrscheinlich hielten wir die Luft an, auf jeden Fall waren wir so gespannt, dass wir an nichts anderes denken konnten. Es gab das Küken!
Er setzte es in die Mitte des leeren Küchentisches – die Tante war sehr ordentlich und der Haushalt spartanisch – und dann zog er es auf. Ganz langsam und behutsam mit einem kleinen silbernen Drehschlüssel. Wahrscheinlich hat er die Umdrehungen gezählt, bei ihm lief immer alles in einem Ritual ab.
„So, und jetzt pickt das Küken“, sagte er und ließ es los. Es tackerte los, wie es Auszieküken halt tun und pickte fiktive Körner vom Tisch und für uns Kinder war es das größte Erlebnis der Woche. „Nochmal Onkel!“, riefen wir und wenn wir Glück hatten, durfte das Küken noch eine Runde picken. Aber öfter als zweimal gab es auf keinen Fall, dann wurde es wieder in sein Zuhause, den Küchenschrank gestellt.
Ich habe eine Weile nach einem solchen Küken Ausschau gehalten, als Erinnerung, aber bis heute keines gefunden.
Ein anderes Ding jedoch habe ich mir zur Erinnerung gekauft: Ein Räuchermännchen aus dem Erzgebirge, der Heimat von Onkel und Tante. Sie kamen aus Sudetendeutschland nach dem Krieg, waren Vertriebene. In der Weihnachtszeit wurde das Räuchermännchen einmal angezündet und auch bei diesem Ritual durfte ich dabei sein. Die kleinen Kegel wurden wie Schätze in einer kleinen Dose verwahrt, überhaupt wurden die wenigen Dinge, die sie besaßen, wie Schätze behandelt. Sie waren noch einmal geflohen, aus der Ex-DDR und durch Krieg und Flucht ihr Leben lang arm geblieben. Nichts Anderes wurde nebenher gemacht. Wenn das Küken sprang oder das Räuchermännchen seine Pfeife rauchte, dann gab es nur das und man genoss den Augenblick, in dem es stattfand. War es beendet, wurde es wieder weggepackt.
Ich habe ihm nie gesagt, wie wichtig er mir war, wie viel ich von ihm gelernt habe. Ich hoffe, dass er es gespürt hatte, als ich noch jeden Tag kam. Als ich nicht mehr kam, weil ich das Leben außerhalb der Leistenstraße 20 entdeckte, dachte er hoffentlich nicht, dass sein Stellenwert gesunken war. Denn das war er nicht. Noch heute geht er mir jede Woche, manchmal täglich durch den Kopf. Viele kleine alltägliche Ereignisse erinnern mich an ihn. Ich hätte ihm gerne einmal gesagt, dass er der wichtigste Mensch meiner Kindheit war, aber das konnte ich nicht mehr. Als ich etwa einundzwanzig Jahre alt war, starb er schnell, an einem Herzinfarkt bei einem Kirchenbesuch. Ich konnte mich nicht mehr verabschieden. Ich hatte ihn kaum noch besucht, weil ich zu dieser Zeit bereits in Stuttgart studierte. Ich schrieb nicht, ich rief nicht an. Mit dem Tod konnten wir in der Familie nie gut umgehen. Trauerarbeit hatte ich nicht gelernt. Ich vermisse ihn und hoffe, dass er mich nicht so sehr vermisst hat, als ich ihn nicht mehr besuchen kam.
Texte: Andrea Wehr
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für den Onkel