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Schönschein


Viktor



Lena sieht zufrieden aus, die Eröffnungsfeier ihres kleinen Geschäftes war ein großer Erfolg. Nach den ganzen Turbulenzen, Anträgen, Ämtern, den nötigen Umbaumaßnahmen, dem Ärger die richtige Ware zu ordern. Alles geschafft, erfolgreich ihr Konzept vorgestellt, sogar einen mürrischen Banker zum lachen gebracht. Nur ihren Freund konnte sie nicht mehr zum lachen bringen, er ging. Er schloss die Tür an einem Tag, wo sie ihn doch so brauchte. Lenaus Haustür, stieg in sein Auto und stand nie wieder vor dieser Tür.
Lena schüttelt sich, ja ich hab doch schon viel erreicht. Bin doch erst 27 Jahre, hab jetzt meine kleine eigene Welt, ja ich kann es schaffen.
“Allein, na ein netter Mann wäre nicht schlecht,” meldet sich eine Stimme in ihrem Kopf. “Blödsinn, den braucht sie nicht“, zischt die Stimme aus der Kopfabteilung Erinnerung.


Die Wunschabteilung lacht, “ na den letzten brauchte sie nun wirklich nicht “. Erinnerung meldet sich
jetzt laut, “den meine ich auch nicht!” “Moment mal“, mischt sich Lena ein,” was geht jetzt hier ab, was soll das?” “Was das soll“, sagt Erinnerung zynisch, “das weißt Du nicht!” Wunschabteilung flüstern verlegen “Viktor”. “Meine Güte, Ihr spinnt doch alle, das liegt Jahre zurück.” wert sich Lena.
“Ach, ja und warum weiß es dann die dumme Wunschabteilung auch.” schimpft die Erinnerung. “Nun komm schon erzähl es ihr genau , wie es war, dann hört sie mal wie bescheuert erst Abteilung Vernunft ist.” “Was, die Vernunftabteilung? “Die kenn ich kaum, hab einfach zu wenig mit der zu tun,” hallt es ganz aufgeregt aus der Abteilung Wunsch.”
Kein Wunder, zischt es aus der Erinnerung, “ Vernunft zerstört uns noch alle, stellt sie fest und schreit: “Los jetzt Lena, erzähl es! “Auch mir.” kommt es noch von ihr leise nach. Lena stützt den Kopf. Ihre Gedanken fliegen wild durcheinander.
“Also gut, aber dann ist Ruhe.”


23 Lenze, in der Firma, in der ich arbeite bin ich fast das Mädchen für alles, heute steht das Problem: Wir brauchen neue Etiketten natürlich in bester Qualität und natürlich fast geschenkt. Nach vielen immer gleichlaufenden Gesprächen, endlich eine Telefonstimme mit den passenden Antworten. Hoppla, was für eine Gesprächsführung, was für eine warme Stimme. Was für ein Mann!
Wunschabteilung unterbricht ganz auggeregt: ”Ja, ja ich bin gleich verliebt”.
“Schuss jetzt, sonst erzähl ich gar nichts mehr”, schimpft Lena.
Diese Stimme, ich bin wie hypnotisiert. Sehe ihn vor mir, schön, stark mit verzauberten Augen sieht er lächelnd in meine und gleich küsst er mich. Genug, er wird vermutlich schon an die 40 Jahre sein, absolut nicht dein Typ und außerdem verheiratet und mindestens 3 Kinder haben. Ihre Zuhörer stöhnen auf, aus der Abteilung Vernunft kommt ein höhnisches Lachen. ”Ruhe jetzt!”


Diese wunderbare Stimme machte mir den Vorschlag, einfach mal vorbei zu kommen und dann könnte man doch viel besser über das geschäftliche reden. Ein guter Vorschlag.
Der Tag kam. Lena ganz ruhig bleiben, mach dir nichts vor, geht sowieso voll daneben, denk dran, über 40 und 3 Kinder mit dickem Bierbauch. Ja, er kann kommen. Ich hörte wieder diese wunderbare Stimme:
”Ich habe einen Termin mit Frau Lena Lensen, mein Name ist Viktor Stern” Oh je, sitze oder liege ich schon auf meinem Schreibtisch?
Ich sitze. Mein Bürostuhl zittert, komisch denke ich, hat er doch noch nie gemacht.
Die Tür geht auf. War es wirklich die Tür oder war es der samtrote Theatervorhang, der zur Seite schnellte.
Er war da, stand da, mitten im Rahmen. Jetzt fangen auch noch die Wände an zu vibrieren. Hilfe ein Erbeben. Ich bin verloren, rettet mich! Seine Augen, sein Lächeln, sein großer, starker Körper.
Es hämmert in meinem Kopf.


Ruhig, ruhig Lena, eine Erscheinung, so was gibt es nicht. Auf einmal war das Zimmer zur Sauna mutiert, diese Hitze. Unsicher schaue ich ans Fenster, dicke Regentropfen prasseln auf die Glasscheibe.
Das Thermometer zeigt strikt 3 Grad. Komisch ich hätte jetzt was anderes erwartet. Durchhalten, standhaft bleiben, nur keine Schwäche zeigen. Diese Hitze.
“Ja, ja und “, regt es sich aufgebracht in der Wunschabteilung. Nichts. ”Wie nichts?” kommt es ungläubig vom Wunsch.
Erinnerung mischt sich ein, “na eben nichts, unsere Lena hat sich mal wieder mit Abteilung Vernunft verbrüdert!” “ Das kann ich nicht glauben, lispelt Wunsch traurig. ”Ruhe!” ruft Lena schon wütend, “sonst erzähl ich überhaupt nichts mehr!”

“Pst, stimmt, da war noch was“, meldet sich Abteilung Erinnerung. “Weiter!”
Viele Telefonate folgten, viele Treffen folgten vielen Nächten. Unsere Nächte waren wunderbar, den Morgen mochte ich nicht. Ich sehe seine Blicke, nach rechts und links schauend, keiner sollte uns sehen.


Lena, was beschwerst du dich, wusstest doch, das er eine Freundin hat. Hör doch auf, bist doch selber Schuld, alles nur nichts verbindliches.
Hast du ihm jemals gesagt, ich liebe dich. Nein, das hast du nicht, erzählt Lena weiter. Gute Schauspielerin, Rolle Eisblock auf Abenteuerexkursion.
Ich hätte es nicht so weit kommen lassen sollen. An einem Samstag im Juli mitten in der Nacht, unser Liebesspiel war kein Spiel, es war Kampf und mein Bett war das Schlachtfeld. Ich bin ein schwacher Gegner, ich will nicht kämpfen, sieht er nicht wie ich die weiße Fahne schwinge.
Mein altes Bett hat sich wieder beruhigt. Bett, ich verstoße dich, morgen wirst du vernichtet, ab mit dir in die Müllpresse. Du bist schuldig, überführt und zum Tode verurteilt. Basta!
“Was soll nun aus uns werden?” Ich schrecke auf, aha jetzt kommt wohl deine Verteidigung. Zu spät, es ist für dich aus. Die Müllhalde wartet schon.
Wieso eigentlich mit uns? Mit dir ist es aus.


Mit uns, ich stutze, strenge meinen Kopf an, doch das Bett antwortet nicht mehr.
Wir wohnen doch viel zu weit auseinander, sind beide Ortsgebunden durch die Firmen.
Höre ich und verstehe nur Bahnhof, seit wann wohnt mein Bett so weit weg von mir?
Na, und überhaupt, eine Firma hat es nun auch noch? Eine Gänsefarm vielleicht? Ich muss grinsen. Du bist eine sehr schöne Frau. Ja, ja alles klar, der letzte Versuch sich bei mir einzuschmeicheln. Nichts da, ab auf den Müll!
Vielleicht sollte ich heiraten und auch Vater werden. Jetzt reicht es, ich glaube mein Urteil hat mein Bett um den Verstand gebracht. Ich überlegte, gibt es eine Psychiatrie für alte Betten? Quatsch lohnt nicht, die Müllpresse freut sich. Jetzt ist es stumm, gut denke ich, es hat aufgegeben.
Schon bald wirst du einen netten Mann kennen lernen und mich vergessen. Was? Wer spricht da mit mir. Ich zittere. Bitte Bett, sag das du das bist! Mein Inneres ist kurz vor dem Siedepunkt. Viktor, ich hasse dich! Höre ich mich sagen und doch klingt es, wie: Viktor, ich liebe dich.


Dann bewegt sich mein altes Bett, ich höre nur traurig die Worte, du brauchst mich doch gar nicht. Du verstehst gar nichts! Stille, fürchterliche Stille.


Stille, mein Telefon klingelt, ja hier Frau Lena Eisblock, alles im grünen Bereich, wie geht es so Viktor, schön mal was von dir zu hören. Oh, ach schau, na und, interessant, ja, bei mir auch, kann nicht besser sein. Hallo Lena, was mache ich da.
Lena sag ihm endlich das du ihn liebst. Nein, macht er doch auch nicht. Na und, du quälst dich schon so viele Wochen, so kannst doch nicht weiter machen, wirbeln meine Gedanken. Nein, mach ich nicht! Wenn er auch so fühlen würde, fängt er an.
Sei nicht so stur, nein niemals, mein Stolz ist die Berliner Mauer, kein Klassenfeind kann da durch. Die Mauer steht schon lange nicht mehr, sag es jetzt! Ach du fährst weg, ja ich auch, na dann, ich wünsch dir ein schönes Weihnachtsfest. Machs gut. Mein Zeigefinger drückt auf die rote Taste und mein Telefon schweigt.


Lena verstummt. “Ich mag nicht mehr erzählen.”

Aus der Wunschabteilung hört man es schluchtsen. Erinnerung stöhnt.
Da schreit die Vernunft: “ Ruf Viktor an!”


Mia

Es ist acht Uhr am Morgen, Laura steht in ihrer neuen Küche, die Küche gehört zu ihrem neuen Haus, das Haus gehört zu einem kleinem Dorf , das Dorf gehört zu Nordfriesland, Nordfriesland gehört zu Schleswig-Holstein, Schleswig-Holstein gehört zu Deutschland. Laura gehört zu keinem. Sie steht gern in ihrer neuen Küche, gelungen, richtig war die Entscheidung auf Hängeschränke zu verzichten und das Ceranfeld über Eck, die Cremfarbe der Küchenteile und die Arbeitsplatte im kaffeebraunen Holz harmonieren so schön zur ausgesuchten hellbraunen Wandfarbe. Überhaupt ist ihr Haus sehr schön geworden, alles hat sie in warmen und fröhlichen Farben. Laura sieht aus ihrem Küchenfenster, den Ausblick mag sie besonders. Nichts als Weite ohne ein Ende oder Hindernis, kein Baum, kein Hügel nur das weite Feld, Schnurgerade verläuft die Feldebene und der weißbläuliche Himmel verspricht gutes Wetter.


Kaffee, denkt sie und füllt den Wasserbehälter der Maschine, schön ist es das es jetzt Kaffeemaschinen für eine Tasse gibt, früher hat sie sich immer zu viel Kaffee gekocht und hat ihn immer weg schütten müssen, sie mag keinen abgestandenen Kaffee. Langsam summt die Maschine vor sich hin und füllt ihren Lieblingsbecher. Sie schaut nach der Schachtel “Rauchen kann tödlich sein!” und greift nach der vorletzten Zigarette. Egal denkt sie, irgend wann höre ich auf damit, irgend wann, nur nicht heute. Die Tasse ist halb leer und die zweite Zigarette brennt. Laura steht immer noch vor ihrem Fenster und sucht den Tag für sich zu planen. Es gelingt ihr nicht, sie könnte Fenster putzen, doch das hat sie vor vier Tagen schon, Wäsche ist auch gemacht, sie könnte sich auch in ihr Auto setzen und irgendwo hin fahren. Wohin fahren, fragt sie sich, ist doch alles egal. Wieder summt die Kaffeemaschine, der leere Becher füllt sich zum zweiten mal. Sie greift zur tödlichen Schachtel öffnet die Schranktür bei der Spüle und versengt diese in den eingebauten Mülleimer.


Ihr Blick geht zu ihrem Handy, sie mag dieses Teil nicht mehr besonders, seit dem dort die Zeichen für SMS Nachrichten nicht viel gutes verheißen. Überhaupt hat sie kaum noch Nachrichten, selten Gute aber auch nur noch wenig Schlechte. Das Handy zeigt keine Nachrichten, nur auf die Datumsanzeige starrt sie und weiß heute in einem Monat wird sie 40 Jahre.

Nur eine Zahl, Geburtstagen gab sie nie eine besondere Bedeutung, schon gar nicht dem Feiern. Sie denkt an ihren 30. Geburtstag zurück, der hatte eine Bedeutung, alles war anders, sie gehörte zu Anton. Noch nicht lange, nur eine Hand voll Monat und ihr gehörte jetzt eine Hand voll Wochen ein kleines Etwas in ihrem Bauch. Dieser Geburtstag wurde gefeiert, sie wollte feiern, sie wollte zu Anton gehören und sie wollte dieses kleine Etwas in ihr. Laura hält ihren Lieblingsbecher Kaffe schützend mit beiden Händen, trinkt und schmeckt Bitterkeit, spürt wie ihre Augen mit Tränen kämpfen. Sie weiß das es nicht stimmt, nichts wollte sie, nicht mehr Anton und auch nicht dieses Etwas.


Weg wollte sie, weit weg. Damals fing alles erst richtig an. Dieser Krampf in ihrem Kopf, nichts war mehr frei, nichts sah schön aus, nichts gab ihr die Leichtigkeit. Was hatte sie verloren, fragt sich Laura immer noch vertieft in die Bilder von ihrer Geburtstagsfeier. Da sieht sie sich in Mitten der Geburtstagsgäste lachen während sich ihr Becher hebt in Richtung Mund.
Der Kaffe ist immer noch bitter, doch nicht wie sonst, es schmeckt ihr. Schluss mit den Sentimentalitäten denkt sie. Vergangenheit ist Vergangenheit, sagt sie sich und schüttet den Rest aus ihrem Becher in die Spüle. So, Laura, sagt sie laut zu sich selber, was fangen wir den heute mit dem Tag an?
Es ist anstrengend überlegen zu müssen, wie der Tag aussehen sollte. Laura hat sich selten darüber Gedanken machen müssen, ist immer ihre acht Stunden am Tag ins Büro gefahren und hatte danach Zeit für sich, für ihre Freunde.


An einem Sonntag sah sie ihr kleines Etwas zum ersten mal, Mia sollte sie heißen, warum weiß sie nicht, der Name war einfach da, so wie das kleine, blasse, blauäugige Mädchen mit den seidenfeinen goldigen Haaren. Laura staunte immer wieder, wenn sie die Kleine ansah, wie zart und fast schien ihre Haut durchsichtig.
Wie konnte dieses kleine Menschlein nun zu ihr gehören . Manchmal dachte Laura, die Kleine kommt von einem anderen Stern. Nichts an Mia konnte Laura von sich selber entdecken. Laura hatte schon immer dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, ihre Haut brauchte nur ein wenig Sonne und jeder der sie sah, dachte an Urlaub am Meer. Ihre Augen waren Groß und das Braun um die schwarze Pupille war kaum zu unterscheiden. Die Beiden hatten eine besondere Art miteinander um zu gehen. Lauras kleines Mädchen bekam ihr Fläschchen genau zur rechten Zeit, stillen kam nicht ein einziges mal in Lauras Gedanken vor, selten weinte Mia wegen Hunger, überhaupt schrie sie nur selten, nicht einmal eine nasse Windel gab Grund, denn die war auch sehr schnell gewechselt.


Dafür gab es viele stumme Tränen bei Laura, sie wusste nicht warum, immer war sie traurig, besonders wenn sie Mia in den Arm nahm. Sie hielt es dann nicht lange aus und legt die Kleine wieder in ihr Bettchen. Mia protestierte mit Geschrei nur wenige Tage lang, so kam es, dass sich das Kleine Menschlein von jedem Besucher freudig in den Arm nehmen ließ und die Bezeichnung Fremdeln kannten Laura und Mia nicht.

So rückte Mias erster Geburtstag in bedrohliche Nähe, dank einer Familienministerin gab es bis dahin eine Absicherung, die für ihr kleines Leben reichte. Nun lag der Antrag vom Amt für Soziales auf ihrem Schreibtisch. Hartz IV nennt man diese Errungenschaft und Laura sieht es als Bedrohung. Das sie sich doch für ihr kleines Menschlein entschieden hat, auch wenn die Trennung von Anton als beschlossen galt. Ein Kind ohne “Ernährer”, wie so schön ihre Mutter mal meinte, wenn auch eher aus Spaß als im festen Glauben an solche Strukturen.

Lauras Mutter hat ihr vorgelebt, zwei Kinder zu erziehen und voll berufstätig zu sein.
Doch da gab es eine Mauer und Laura und ihre Familie lebten hinter der Mauer. Mauer, Laura hat nie eine solche Mauer in ihrer Kindheit gesehen, heute noch wird sie wütend, wenn ein Wessi ihr sagen will, das sie doch gelitten hätte und jetzt froh sein könnte in Freiheit zu leben. Sie ist gern in den Kindergarten gegangen, gern in die Schule und wenn sie nach 16 Uhr nach hause kam, freute sie sich auf ihre Sport AG. An die Kinderkrippenzeit kann sie sich nicht erinnern, aber an die Räume genau, stolz ist sie morgens mit ihrer Mutter und dem Kinderwagen, besetzt mit ihrer kleinen Schwester, dort angekommen, hat die vielen kleinen Krabbelbabys begrüßt, ihr Schwesterlein verabschiedet und ist danach zu ihrer Kindergartengruppe gewackelt, schön praktisch nannte das ihre Mutter immer, beide Einrichtungen direkt neben einander. Diese Einrichtung gibt es noch immer, aber Laura lebte nicht mehr in diesem neuen Bundesland, Arbeit gab es an der Westküste, Nordfriesland und dort lebte sie mit Mia.


Hier gibt es auch einen Kindergarten. Für Kinder ab 3 Jahren und die Öffnungszeit ist von 8.00 bis 12.30 Uhr. Toll, das löst alle Probleme antwortet Laura zynisch als sie die Auskunft erhält. Was wollen sie denn, kommt als Frage zurück, arbeiten, schreit jetzt Laura, nicht laut für den Fragesteller, nur wutlaut in ihrem Kopf. Sie hört noch, aber jetzt haben sie doch ein Kind, um nicht doch schreien zu müssen verlässt Laura die Amtsstube. Ihr Kopf droht zu platzen, Mia schaut mit ihren hellblauen Kulleraugen nach oben und greift nach den schwarzbraunen Haarstränen ihrer Mutter. Laura beachtet ihr Mädchen nicht, Hartz IV bedeutet Armut, richtige Armut. Nicht das Laura im Luxus gelebt hätte, aber sie konnte sich immer mal mit einem Extra sich und auch später mit ihrem Kind eine Freude machen. Jetzt heißt es, ihre Wohnung ist zu groß und zu teuer, da müssen sie sich schon was anderes suchen. Laura will sich nicht was anderes suchen, sie will wieder arbeiten. Sie würde nicht genug verdienen um für Mia eine Tagesmutter finanzieren zu können. Ihr Kopf wird gleich platzen. Gleich, gleich ist es so weit. Widerwillig füllt sie den Antrag vom Amt für Soziales aus.


Laura sitzt nervös auf einem Stuhl, so aufgeregt wie heute war sie noch nie zu einem Vorstellungsgespräch gekommen, bitte haben sie noch etwas Geduld, Herr Johannsen ist gleich für sie da, sagt ein freundlicher kleiner Mann mit rundem Gesicht. Sie blickt raus auf den langen grauen Flur, die Tür in diesem Zimmer steht offen.

Vor einem halben Jahr hatte Mia ihren zweiten Geburtstag. Laura ist auch seit vielen Monaten nicht mehr so traurig, viel haben die Beiden in den letzten Monaten geschmust, erst steif und unbeholfen, doch dann fingen beide immer an zu lachen, jetzt ist es eine Notwendigkeit wie essen und trinken, Mia besteht darauf auf Lauras Brust zu liegen und Laura fühlt sich dann vollkommen, der sanfte Druck lässt sie schweben und spürt für sich, das ist es, das ist das Glück.
Seit dieser Zeit fremdeln sie auch beide, Laura sieht es nicht gern, wenn die nette Nachbarin Mia hätscheln möchte und Mia selbst braucht nicht lange für ihren Protest, zurück zu Mama.


Vieles hat sich geändert, Laura ist perfekt in Widerspruchs- und sonstigen Amtschreiben geworden. Kennt mittlerweile besser die Gesetzestexte als ihre zuständige Sachbearbeiterin und in Bewerbungen schreiben entwickelt sie seit kurzem eine nie da gewesene Kreativität, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Sie könnte wieder arbeiten. Viele Probleme lösen sich von selber und die sich so nicht lösen lassen, müssen eben von uns gelöst werden. Ein Satz den Lauras Mutter an einem Wochenendbesuch sprach und erklärte ganz hoch offiziell, Kind ich werde ab nächsten Monat Hausfrau. Dein Vater und ich haben das beschlossen.
Ich kann dann für unsere kleine Mia da sein. Lauras Gesicht muss sich so verzogen haben, das ihre Kopffrage gleich mit beantwortet wurde. Selbstverständlich geht das nur, wenn wir auch hier her ziehen. Laura hört noch wie ihre Eltern erzählen, so und so haben wir uns das gedacht, doch ihre Gedanken kreisen, ich schaffe es, bin ich nicht schon zu lange aus dem Job raus, es gab so viel neues an Software, kann ich das noch.


Dann wird es wieder lauter um sie herum und hört auf die gute Stimme ihrer Mutter, Mia wird mit 3 Jahren auch in diesen kirchlichen Kindergarten gehen, was anderes haben die hier ja nicht im Westen, na ja, sagt sie, immer noch besser als gar keiner.
Kinder müssen nun mal unter Kinder.
Ein großer Abschnitt von Veränderungen begann, Lauras Eltern bauten ein neues Haus im Westen mit dem Verkauf ihres alten Hauses im Osten. Noch viele Jahre später gratulierte sich Lauras Vater zu diese Entscheidung, erstaunlich sagte er, wie Grundstückspreise in einem Badeort an der Ostesee so explodieren können, später fielen sie etwas, aber da wohnten Lauras Eltern längst im neuen Häuschen in Nordfriesland.

Laura öffnet die Glastür ihres Büros und geht den sonnengelben Flur entlang, vorbei an Herrn Klausen, der hat seine Tür immer offen, ist eine alte Angewohnheit, klar könnte er jetzt durch die neue Tür alles sehen, doch so findet er es schöner, man hört was so auf dem Flur einher geht. Laura winkt ihm zu, sie geht in Richtung Chefzimmer.

Herr Johannsen ist für Laura ein guter Chef, sie übergibt ihm die notwendigen Unterlagen und erinnert ihn daran, morgen nicht da zu sein, Einschulungsfeier von ihrer Tochter Mia. Na dann alles gute, ob ich das ohne sie schaffe, sagt er mit einem verschmitzen Lächeln und sie verabschieden sich mit Händedruck, schönen Feierabend, das wünsche ich ihnen auch. Laura lächelt, bis Montag.
Ach ist es nicht schön, nun ist unsere kleine Mia ein Schulkind, beendet Lauras Vater seine Ansprache. Laura blickt in die Runde und in Reihe klirren die Sektgläser. Es wird ein schöner Abend.


Ein schöner Tag, denkt sich Laura, genau wie wir uns das gedacht haben, Laura und Mia fahren die A 7 entlang, Richtung Hamburg. Laura ist eine gute Autofahrerin. Mia weiß, das man nicht laut im Auto sein darf und Mama soll auch nicht ständig genervt werden mit Fragen, wenn man Auto fährt. Darum fragt Mia ganz ruhig, Mama gibt es im Zoo auch Affen, klar gibt es Affen und große Elefanten, antwortet Laura, gleich Mia, gleich sind wir da. Laura ist froh über diesen Parkplatz.


Mama, Mama ruft Mia wild aufgeregt, zu lang war die Autofahrt, sieh doch Elefanten und lässt die Hand von Laura los und ihre kleinen Beine fliegen. Miiiiiiiiiaaaaaaaaa, lange hört sich Laura so schreien, manchmal wacht sie Nachts auf, weil ihr schreien so laut ist. Dann wiegt sie stundenlang ihr kleines blasses, blauäugige fest verknüllte Kissen und schaut aus ihrem Fenster bis der Morgen es erhellt. Dann steht sie auf, nimmt ihre Tabletten. Keinen Montag ist sie mehr den sonnengelben Flur entlang gegangen, keine Glastür hat sie mehr auf noch zu gemacht. Nur eines weiß Laura jetzt, sie kann keine Elefanten mehr sehen. Sie spürt nur ihre Mia, das seidenfeine goldige Haar wellt sich um ihre Hand, der sanfte Druck auf ihrer Brust lässt sie schweben. Laura sitzt an ihrem Küchentisch, es rollen ihr die Tränen, sie klappt ihren Laptop zu, sie steht auf, die Kaffeemaschine summt ihren Lieblingsbecher voll, sie sieht aus dem Fenster und weiß, sie heißt nicht Laura, sie hat einen anderen Namen, doch heute war sie Laura. Die Abendsonne zeigt ihre letzten Strahlen, das hat sie angefangen, an diesem Tag.


Chris



Er mag seinen Namen nicht, Chris das ist wie Eike oder Bente, Mädchen und Jungen tragen diesen Namen.
Aber er sagt ihn, jedem sagt er diesen Namen, jedem der ihn hören will. Er ist groß, groß genug um nicht weibisch zu wirken, groß und kräftig. Jeden Tag besucht er das Fitnessstudio gleich nach dem Häuserblock um die Ecke, den Häuserblock mag er auch nicht, passt nicht in diese Straße, passt nicht in diese Gegend, oder passt die Autowerkstatt nicht hier her.

Jedenfalls liegt sein Studio günstig, gleich nach der Arbeit legt er los, es sind andere Bewegungen, nicht das über Kopf geschraube oder gezerre an den Autos, die Tag für Tag ankommen und wieder fahren wenn sie durch seine Hände gegangen sind.

Er ist fremd, alles ist ihm fremd hier, auch wenn er schon lange, zu lange hier lebt.


Mit seinen Arbeitskollegen kann er nicht viel anfangen, sie versteht er nicht oder sie verstehen ihn nicht.

Der Abend ist noch lang, sein PC ist ein guter Freund, seit geraumer Zeit verbringt er auf Chat.com viel Zeit. Manchmal zu viel Zeit, viel verlorene Zeit.

Doch er hofft, hofft für sich jemanden zu finden, der ihn versteht, der ihn noch stärker macht, es muss doch auch für ihn einen Menschen geben, der ihn erkennt, der ihn liebt.
Schnell verwirft er diese Gedanken, klar weiß Chris was Liebe ist, er hat wunderbare Eltern, er hat eine klasse kleine Schwester, die ist letzten Monat erst 26 Jahre alt geworden, er hat gute Freunde.
Nein, er wünscht sich andere Liebe, Liebe zu einer Frau, er mag Frauen, hat viele auch geliebt, doch nie hat eine Frau ihn auch verstanden.

Bald kommt sein 35. Geburtstag, heute am Sonntag hat er seine neue Bekanntschaft vom Freitagsbesuch in der Großraumdisco verabschiedet,


nichts war ihm an zu merken, nichts an seinem Verhalten zeigte, das es eine klare Lüge war, es war sehr schön mit dir, ich ruf dich an, hab ja deine Telefonnummer, hört er sich noch sagen.

Er küsste die kleine 24 jährige blond gefärbte schlanke Manja ein letztes mal und als die Tür von innen ins Schloss fiel, warf er ihre noch frisch geschriebenen Zeilen mit Telefonnummern und Adresse zerknüllt in den Mülleimer.
War er ein Lügner, nein er wollte es nicht, alles hatte sich gut angefühlt, er war gut gelaunt, wollte die Kleine, sie war süß, das fand nicht nur er so, war es das?

Hätte sie mich doch erkannt, hätte sie mich nicht so blöd gefragt, ach du bist KFZ Mechaniker, das klang für ihn schon wie ein Urteil, kannst du da auch noch mehr werden, wie viel verdienst du den da so, war mehr als das, es war ein Schlag ins Gesicht, er wollte nicht antworten, er wollte auch nichts mehr von sich erzählen, er wollte Sex, den hatten sie beide, viele Stunden, Stunden in denen er sich nicht allein fühlte, er war da, sie war da und nun war er froh das sie weg musste.


Der Mülleimerdeckel schließt sich.

Er geht zu seiner Lieblingsecke, drückt auf on, und es freut ihn, seine letzte Investition, das neue Gehäuse seines PC erstrahlt in hellblau, Plexiglas und viele kleine Lämpchen geben ihm ein kleines Lächeln. Die Maus findet sofort seinen Weg zu Chat.com.


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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2010

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