Kapitel 1
„Scheiße!“
Ein Knall.
Und noch einer.
Gemurmel, Flüche.
Die Luft biss, der Atem gefror förmlich, da hatte er noch nicht ganz die Lippen hinter sich gelassen.
Die Autotür flog zu. Knall. Ein, zwei Tritte gegen Stoßstange und Radkappe. Knall.
„Scheiße.“
Dann absolute Totenstille. Weiß, Weiß, nur Weiß.
Totenstille und Weiß und eine Isolierung aus Abermillionen winzigsten Eiskristallen die jeden Ton an diesem Morgen gierig verschlangen.
Unten der Schnee, oben diese unfassbar schweren, dunkelgrauen Winterwolken, die auch den letzten Sonnenstahl unerbittlich aufhielten und wie in Angriffsposition schon den nächsten Schneesturm ankündigten. Am Horizont verschmolzen die beiden Komponenten zu einer bedrohlichen, hellgrauen Masse.
Eden hievte ihre Bücher wieder aus dem Wagen, schulterte ihren löchrigen Rucksack und stapfte leise fluchend zurück durch die Einfahrt zum Haus, ihre mehr oder weniger stabile Laune sowie den offenbar vollkommen kaputten Kühler hinter sich lassend.
Es war Januar, und, so beschloss Eden, definitiv einer der kältesten Morgende seit Menschengedenken. „Die Sache mit der Erderwärmung haben die wohl vergessen und sind stattdessen direkt zur Eiszeit übergegangen.“, dachte sie beim Versuch möglichst viel Schnee von ihren Schuhen zu trampeln, bevor sie den Eingang erreichte. Das Gesicht tief in den dunkelvioletten Wollschal vergraben fingerte sie den Haustürschlüssel hervor und warf, kaum dass aufgeschlossen war, ihren Rucksack mitsamt Büchern in Richtung Schuhregal.
„Ed?“
„Vergiss es.“
„Was?“
„Vergiss es!“
„Was, es
?“
„Den Wagen, Dad. Nach wie vor. Tot. Nada.“
„Dann nimm den Bus, der nächste müsste doch in... wie spät ist es?“
„Ich bin eh schon zu spät, der Wagen ist Schrott und es ist sibirisch da draußen. Die werden in der Schule heute auch ohne mich auskommen, Dad.“ verkündete sie und hatte bereits einen Fuß auf dem Treppenabsatz. „Ed. Eddie, komm bitte mal her.“
Eden drehte sich um. Als sie aufblickte, fand sie ein Paar schläfriger Augen, die sie vom gegenüberliegenden Wandspiegel her anschauten. Schon lange hatten sie an kindlicher Wachheit und Ehrfurcht verloren, nur der äußere Glanz war geblieben; wie Scherben grünen Glases in einer Regenpfütze auf die die Sonne fiel. Das hatte mal jemand zu ihr gesagt. Aber das war lange her.
In letzter Zeit war das Glas verkratzt, das Wasser trüb und die Sonne wollte sich auch nicht so recht sehen lassen.
Ihr blick fiel auf ihre kleine Nase, den etwas zu großen Mund, der trotz der eher vollen Lippen schnell zynisch und verkniffen wirkte. Die dunklen, immer etwas unwirsch vom Kopf abstehenden Haare, der lange, blasse Hals auf dem sich schnell eine hellblaue Ader abmalte, wenn sie nervös oder aufgeregt war.
Ein Seufzer. Dann kämmte sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und wandte sich in Richtung Küche, in der ihr Vater schwer damit beschäftigt war, die Einzelteile des zuvor auseinandergenommenen Spülkastens wieder zusammenzusetzen.
Eden blieb im Türrahmen stehen, warf einige Blicke zwischen sich auf dem Esstisch befindlichen Kleinteilen und ihrem Vater hin und her, bis dieser schließlich aufsah und sagte „Spülbecken. Irgendwas stimmt mit dem Rohr nicht.“
Eden schwieg.
„In letzter Zeit geht hier auch alles kaputt, bald fällt dir das Haus unter'm Ar.. unter'm Hintern zusammen.“ fuhr er schließlich fort.
Sie lachte leise. Die Art und Weise, mit der ihr Vater immer versuchte, Kraftausdrücke zu vermeiden war faszinierend für sie. Vor allem, weil sie genau wusste, dass er ausgezeichnet fluchen konnte – und wollte. Aber „nicht vor den Kindern, meine Güte“ hatte ihre Mutter immer gesagt. Und er hielt sich immer noch daran; auch jetzt, wo sie fort war. Er hatte immer auf sie gehört, war nie dominant oder „der Herr im Haus“ gewesen. Er war rücksichtsvoll und geduldig, das stand fest. Trotz allem hat er sich nie gegen seine Frau gewandt, auch wenn es ihm gegen Ende zusehends schwerer fiel.
„Dad, hör zu, der Wagen..“ begann sie, „Und wir schreiben Bio erst nächste Woche, die Carlssen hat den Test verschoben weil-“
„Schatz, ich weiß, dass der Wagen Mist ist aber ich kann nicht zaubern und ich möchte, dass du heute zur Schule gehst. Nimm den Bus, zur zweiten Stunde schaffst du es noch.“ stellte ihr Vater fest, der inzwischen einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Ich bringe den Wagen so bald es geht in die Werkstatt, versprochen.“ In seiner Stimme lag eine große Menge an schlechtem Gewissen.
„Gut.“ Das klang böser, als es gemeint war.
Das passierte oft in letzter Zeit; dieser vorwurfsvolle Unterton, der wahrscheinlich verletzender war, als Eden beabsichtigte.
Der Mann legte den Schraubenzieher auf den Tisch, rieb sich mit der Hand durch das Gesicht und seufzte. „Es ist für uns alle nicht leicht und ich tue, was ich kann. Aber bitte, versuch nicht auch noch hier gegen den Strom zu schwimmen. Dein Bruder macht es mir schon schwer genug.“
Ja, das tat Vince wirklich. Seit ihre Mutter fort war, hatte er sich verändert. Das hatten sie zwar alle, ihr Bruder jedoch trug es am deutlichsten nach außen. Früher war er der Inbegriff eines Musterschülers gewesen, unauffällig, beinah ein Mitläufer. Nervig, ja, aber das hatten kleine Brüder wohl so an sich. Jetzt kamen fast jede Woche Anrufe von der Schule. Meistens Lappalien, manchmal dumme Streiche, oft beunruhigende Testergebnisse, ein Mal eine Prügelei, bei dem er einem Klassenkameraden die Nase gebrochen hatte.
Das war nicht Vince, das war jemand, etwas anderes. Irgendetwas in ihm.
Irgendetwas, das ebenso in seinem Vater und Eden selbst wütete. Jedoch schienen diese es um einiges besser unterdrücken zu können. Oder runterschlucken. Betäuben, festhalten, umklammern. Nicht töten. Nein, es töten war unmöglich. Dafür war der Schmerz zu groß. Noch.
In der Zwischenzeit hieß es warten, innehalten. Zusammenhalten, obwohl jeder der Drei den Anschein machte, als wolle er lieber mit sich selbst und diesem schwarzen Loch in der Magengegend allein sein.
„Gut, also.. Ich geh dann.“ tat Eden kund und versuchte dabei zu lächeln.
Ben stand vom Tisch auf und kam auf seine Tochter zu um sich in einer etwas unbeholfenen Umarmung von ihr zu verabschieden. „Wir schaffen das. Wir schaffen das schon.“ murmelte er ihr mehr ins Haar als gen Ohr während er mit seiner großen Hand über den Rücken rieb.
„Und jetzt los, sonst kommst du noch später.“
Er drückte Eden einen Kuss auf die Stirn und wandte sich wieder dem Spülbecken zu. Oder dem, was noch davon übrig war.
Den Tränen nahe und sich auf die Unterlippe beißend hob sie Bücher und Rucksack auf und eilte nach draußen um dort einem der vereisten Terrassenpfeiler einen Tritt zu verpassen. Zwar tat dieser ihr wohl mehr weh als dem Ziel ihrer Verzweiflung, doch das war in diesem Moment egal.
Egal war in der letzten Zeit sowieso viel gewesen; Schule, Freunde (die wenigen, die sie hatte), Nachbarn, Essen. Sogar der Nahrungsaufnahme konnte und wollte sie kaum noch Aufmerksamkeit schenken. Nicht, dass sie jemals eine großartige Esserin gewesen wäre, aber nun wollte ihr Körper nichts mehr so recht von außen an sich heran – oder in sich herein – lassen.
Inzwischen hatte sie schon die Hälfte der Straße hinter sich gelassen und erkämpfte sich den völlig verschneiten Weg zur Bushaltestelle. Vorbei an den Häusern, die zu dieser Jahreszeit immer besonders tot wirkten. Besonders lebhaft und einladend war Cedar City nie für sie gewesen, im Winter jedoch empfand sie es als schlimmer denn je.
Vorbei an kargen, grauen Bäumen, noch kärgeren Vorgärten und vorbei an diesem Haus mit einem halb zugenagelten Fenster, welches schon so lange leer stand, wie Eden sich zurückerinnern konnte. Es strahlte alles andere als Gemütlichkeit aus, noch wirkte es, als hätte jemals irgendjemand darin gewohnt, und doch hatte es Eden immer schon zum Lächeln gebracht. Es war das einzige Haus in der Gegend, so fand sie, das ein Gesicht hatte. Vielleicht wegen des schiefen Vordachs und diesem merkwürdig vernagelten Fenster, welches immer aussah, als hätte das Haus ein Auge geschlossen und die Augenbrauen zusammengezogen. Wie eine alberne Grimasse.
Auch dies mal schaute sie es im Vorbeigehen an, heute aber war die Grimasse nicht albern. Es sah aus, wie ein schmerzverzerrtes Gesicht. Gequält, traurig. Die an den Fensterbänken herunterhängenden Eiszapfen machten diesen Eindruck nicht unbedingt positiver.
Eden schüttelte den Kopf um diesen bedrückenden Gedanken wieder zu verwerfen. Albern. Ein trauriges Haus. Dass du auch immer alles überinterpretieren musst, sagte sie sich und stapfte weiter durch die beißende Kälte.
Doch kurz bevor sie die Haltestelle erreichte schweiften ihre Gedanken wieder ab. Wieder eines dieser seltsamen Gefühle, die sie in letzter Zeit öfter heimsuchten und mehr und mehr zu überrennen schienen.
Diese Angst, plötzliche, übermannende Angst. Panik.
Ihr Herz raste. Der Hals schnürte sich zu. Der Rucksack, nur halb geschultert, glitt ihr vom Arm auf den Boden. Vor ihr verschwamm alles. Bunte Punkte, graue Punkte, Lichter, Schatten, der Horizont eine verwischte Fläche. Sie drehte sich von der Straße weg, griff nach dem Laternenmast um irgendeinen Ankerpunkt zu haben. Die kahlen Äste des Gebüschs vor ihr kreisten umeinander, ihre Hände zitterten. Dieses schwarze Loch, dieses verdammte schwarze Loch, dachte sie noch, als der Schmerz in ihrer Magengrube unerträglich wurde und das Brustbein hinaufkroch, sich langsam ausbreitete.
Dann ging alles ganz schnell: Ihr Körper krümmte sich, beugte sich nach vorn und zog ihre Innereien heftig genug zusammen, dass sie sich übergab. Nach dem ersten Schwall Erbrochenem fiel sie auf die Knie. Ihr Körper wollte und wollte nicht aufhören, sich zusammenzuziehen und sie zum Würgen zu zwingen. Immer noch den Mast umklammernd versuchte sie zu atmen, fing jedoch nur fürchterlich an zu schluchzen. Zu dem grauenvollen Geschmack aus nichts außer Galle und schwarzem Kaffee gesellte sich nun das penetrante Salz der Tränen, die ihr das Gesicht herunter und direkt in ihren Mund liefen.
Sie weinte. Sie weinte und schnappte nach Luft, nur um ein grässliches Geräusch auszustoßen was dem Jaulen eines Hundes gleichkam. Sie weinte und versuchte, ihren zusammengesunkenen Körper zu beruhigen. Sie weinte und konnte nicht aufhören und sie weinte und wusste nicht warum, woher es kam, was es sollte, wann es aufhören würde. Ob es überhaupt jemals aufhören würde.
Es war nicht das erste Mal, dass Eden diese plötzlichen Panikattacken überfielen, dieses Ausmaß jedoch war ihr völlig Fremd. Herzrasen, ja. Zittern, ja. Weiche Knie und dieser schwarze Schmerz zwischen Magen und Brustbein, ja. Gerade den war sie seit geraumer Zeit gewöhnt.
Aber kein Erbrechen, kein Zusammen
brechen.
„Atmen, einfach nur atmen“ versuchte sie sich immer wieder zu sagen. Tränen.
„Nur atmen.“
Noch mehr Tränen.
Sie holte tief Luft und zog sich mit aller Kraft am Laternenpfahl hoch. Taumelte, schluchzte.
Schrie. Schrie irgendetwas unverständliches. Laute. Warf den Kopf in den Nacken und heulte. Das war kein Weinen, das war regelrechtes Heulen. Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen holte sie erneut Luft.
„Weiteratmen, weiteratmen, weiteratmen.“
Fest entschlossen, den nächsten großen Schluchzer herunterzuschlucken, strich Eden sich mit der Hand das Haar aus dem Gesicht und wischte mit einem Taschentuch Tränen und Speichel ab.
„Oh mein Gott.“ flüsterte sie. „Oh Gott.“
Jetzt bloß nicht wieder anfangen. Gerade hinstellen. Luft holen. Und gleich noch mal.
Immer noch stützte sie sich ab, versuchte jetzt vorsichtig den Rucksack aufzuheben, der nur wenige Zentimeter neben der Pfütze aus Gallenflüssigkeit und Mageninhalt lag.
Sie verschwendete nicht mal einen Gedanken daran, jetzt weiter zu gehen und sich in den Unterricht zu setzen, nein. Scheiß auf den Bus, scheiß auf Bio, scheiß sowieso auf alles. Heute nicht. Bestimmt nicht.
Nach wie vor schwummerig aber klar genug um geradeaus zu laufen kehrte Eden um. Vorbei an den scheiß Vorgärten, den scheiß Häusern, diesen scheiß Bäumen. Diese Straße, nur runter von dieser Straße. Den Blick gesenkt ging, nein lief, sie weiter. Einfach weiter, wobei ihr egal war, wo sie auskam.
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2010
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Widmung:
"One must still have chaos in oneself to be able to give birth to a dancing star." - Friedrich Nietzsche