Vorgeschichte
Der unheilvolle Donner vermischte sich mit dem Brüllen der Riesenechse. Kanonenschüsse ertönten. Das Krachen von Holz verschmolz mit dem Geräusch brechender Knochen. Ein einziges Chaos tobte im finsteren Wasser. Hier und da konnte man den Todesschrei eines Menschen hören wenn er von einer dieser gewaltigen Kräfte zermalmt wurde.
Drei Schiffe waren im Meer aufeinander getroffen und eröffneten unverzüglich auf ihre Art und Weise das Feuer. Stolz flatterten die Fahnen der drei Schiffe im Wind, bis sie gemeinsam mit ihren gigantischen Holzgefährten untergingen. Der Krieg breitete sich aus.
Leratiss war eines der wenigen Länder, das vom Krieg verschont blieb. Es war nicht besonders groß, besaß kaum Reichtümer, noch nicht einmal ihre eigenen Waffen oder Soldaten. Den Bewohnern war es ein Rätsel, wieso ausgerechnet ihr Heimatort vom Krieg verschont blieb, wo doch so viele kleinere, unschuldigere Orte dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Manchmal jedoch, in den hintersten Ecken, an Orten, wo nicht einmal mehr die Sonne ihr Licht hinwerfen möchte, munkelt man, dass das Land einen Schutzgeist habe, der über die Städte wache und die Menschen davor beschütze, Opfer der vielen Katastrophen jener Zeit zu werden. Die Menschen glaubten insgeheim daran, doch niemand wagte es darüber zu reden.
Zu jener Zeit kämpften drei mächtige Nationen um die Alleinherrschaft des Kontinents, wobei sie nicht darauf achteten wen sie dabei mit ihren Waffen in Mitleidenschaft zogen. Alles was zählte war der Sieg.
Shianril, das Land der tausend Vulkane und Feuerseen, machte sich die Kraft der Drachen zu Nutze. Ob nun Eis- oder Feuerdrache: Diese Nation hatte es sich zur Aufgabe gesetzt mit Hilfe der geflügelten Reptilien zu kämpfen.
Ortiais war die Nation der Berge und Wüsten. Man setzte sehr viel auf ein Gleichgewicht zwischen Verteidigung und Angriff. Viel Training und Kraft waren notwendig um die schweren Steinrüstungen, die jeder Soldat am Körper trug, im Kampf effektiv zu verwenden, und den Gegner mit dem Gewicht simpel und einfach zu zerquetschen.
Suimang war das Land der Meere und Flüsse. Dieses Volk hatte gelernt sich das Wetter zu Eigen zu machen. Sie konnten gewaltige Stürme heraufbeschwören, Überflutungen mit ihren verheerenden Regengüssen anrichten. Die Stärksten unter Ihnen konnten sogar Blitze auf ihren Feind herabrauschen lassen. Suimangs Soldaten verstanden es Kämpfe schnell und ohne viel Kompromiss zu beenden.
Leratiss hingegen war, trotz seiner Größe als eigenständiges Land, keine Bedrohung für die Nationen. Die Welt hatte sich scheinbar abgewandt von ihm, um sich den wirklichen Problem zu widmen.
Umgeben von unzähligen großen Wäldern, am Rande des Landes, befand sich eine der kleinsten Städte. Die Leute tauften sie Diapdra.
Immer wieder hörte man schauerliche Gruselgeschichten von Leuten die in besagte Wälder gingen und nie mehr auftauchten. Die Menschen mieden sie aus Angst vor gefährlichen Kreaturen die dort angeblich hausten. Werwölfe, Dämonen, Gespenster. Ja, sogar vor Vampiren hatten diese Leute Angst. Aberglauben und Misstrauen beherrschte das ansonsten so friedliche Fleckchen Erde.
Nur eine Familie, welche nahe diesen Wäldern lebte, schien davon nichts mitzubekommen. Sie führten ein einfaches Leben, fern von Misstrauen und Furcht jener Zeit. Den Krieg, welcher nicht weit von ihrem Zuhause tobte, erwähnten sie nie. Zu Liebe der Kinder.
Kapitel eins: Das Mädchen mit den gelben Augen
Wieder einmal plagte sie derselbe Traum. Sie wusste einfach nicht was er bedeutete, wieso er dauerhaft wiederkehrte. Und wieso ihr diese ganze Szene so bekannt vorkam. Schweißgebadet und schwer keuchend wachte sie jedes Mal davon auf. Ein Wald, zwei Wölfe. Ein Schwarzer mit gigantischen, Fledermausartigen Schwingen und ein Weißer mit ebenso riesigen, beinahe leuchtend weißen Flügeln. Sie kämpfen erbost miteinander, doch schienen sie gleich stark zu sein. Und als beide zum finalen Schlag ansetzten, Anlauf nehmen, mit gefletschten Zähnen aufeinander zuspringen, sich eine tiefe blutige Wunde zufügen und dann mit zitternden Beinen zum Stehen kommen, endet der Traum plötzlich und Melaara findet sich mit weit aufgerissenen Augen und schnell schlagendem Herzen in ihrem Zimmer wieder. Von nichts anderem als der wohltuenden Stille und Finsternis wurde sie willkommen geheißen.
Langsam und schwer atmend setzte sie sich auf. „Schon wieder dieser Traum…“, dachte sie und wischte sich mit dem Handrücken den restlichen Schweiß von der Stirn. Ihr Zimmer lag fast vollkommen im Dunklen, lediglich das fahle Licht des Mondes strömte durch das kleine Fenster in das Zimmer und gab allem einen dunkelgrauen Schimmer. Darunter auch der großen Beule unter der Decke, im Bett nebenan. Ihr Bruder hatte sich zusammen gerollt und war unter der Decke nur noch ein kleines weißes Häufchen. Er lag mit dem Rücken zu ihr. Seine rötlich-braunen Haare lugten unter der Decke hervor und waren vollkommen durcheinander. Melaara lauschte wie Takeo, ihr gleichaltriger Bruder, neben ihr ruhig atmete. Erleichtert seufzte sie. Oftmals schon hatte sie im Traum gewimmert oder sogar geschrien und dabei das gesamte Haus aufgeweckt. Obwohl Takeo oft erst dann aufwachte, wenn ihn seine Eltern versuchten wachzurütteln.
Eine Weile lehnte sie sich an die Wand und starrte stur aus dem Fenster hinaus. Man konnte nicht sehr viel erkennen, außer ein paar kleinen Sternen die am Himmel funkelten und dem kaum sichtbaren, weißlichem Licht des Mondes.
Das Haus war am Rande der Stadt Diapdra und hatte hinter dem kleinen Garten einen riesigen Wald. Die Leute in der Stadt tauschten Gerüchten darüber aus, dass in diesen Wäldern allerlei Dämonen, Geister, Monster und andere Kreaturen hausen würden, von denen man sich nachts lieber fernhalten sollte.
Von solchen Spukgeschichten hielt Melaara nicht viel. Schon als sie klein war, war sie immer im Wald herumgetollt. Und auch jetzt, als siebzehn-jähriger Teenager, liebte sie es die Geheimnisse und Mysterien um diese Wälder zu erkunden. Takeo war da allerdings anderer Ansichten. Er glaubte fast alles was man ihm erzählte, weshalb er es vermied den Wald zu betreten.
Langsam wühlte sie ihre Beine unter der Decke hervor und stand auf. Vorsichtig tastete sie sich voran zum Ausgang des Zimmers. In der Nacht, wenn sie wieder einmal aufwachte, war ihr Zimmer dunkel und deprimierend. Daher zog sie es vor entweder in der Küche auf Nahrungssuche zu gehen, oder sich im winzigen Computerzimmer in einem Buch zu vertiefen. Diesmal steuerte sie auf die Küche zu.
Das Haus war nicht sehr groß so dass man sich hätte verlaufen können. Nur das allernötigste war vorhanden. Ein Zimmer für die Kinder, ein Zimmer für die Eltern, Küche und Bad und dann noch ein winziges Computerzimmer.
Vorsichtig tastete sie nach dem Lichtschalter in der Küche. Als sie ihn schließlich fand ging er mit einem leisen Klicken an. Ihre Augen brauchten eine Weile bis sie sich das grelle Licht gewöhnt hatten. Dann nahm sie gelassen ein Glas aus einem der Einbauschränke und ging zum Kühlschrank um etwas Milch einzuschenken.
Nachdenklich presste sie sich das Glas an die Stirn. Die Kühle wirkte beruhigend und linderte die sich immer weiter ausbreitenden Kopfschmerzen.
Der immer wiederkehrende Traum ließ ihr keine Ruhe. Das dumpfe Hämmern machte sich in den Schläfen breit und verteilte sich langsam auf dem ganzen Kopf. Melaara wusste, dass sie jetzt bestimmt nicht mehr einschlafen konnte. Lesen, war ihr im Moment auch zuwider. Das Mädchen befürchtete, dass die Kopfschmerzen danach nur noch schlimmer werden würden. Stattdessen schlich sie sich, zusammen mit ihrer Milch, in das Computerzimmer, welches sonst eigentlich nur ihr Vater benutzte. Doch auch sie war mit der Technik vertraut. Ihre Mutter und Takeo überhaupt nicht. sie waren, im wahrsten Sinne des Wortes, technikfeindlich. So gut wie alles technologische was den beiden in die Hände viel wurde auf irgendeine Art und Weise zerstört oder unbrauchbar gemacht. Das war wohl auch der Grund, warum sich Melaaras Mutter Sayo mehr mit Kochen und Stricken beschäftigte und Takeo mehr mit sportlichen Aktivitäten draußen.
Als der PC mit einem surrenden Geräusch anging tauchte er das ganze Zimmer in ein fahles, helles Blau. sie klickte auf den Internet-Button und fing mit der Suche nach der Bedeutung des Traums an. Sie versuchte es mit allerlei Begriffen: “Wölfe in Träumen“, „Traumdeutung“, „Wolfstraum“ „Wolfskampf“. Zwar zeigte ihr das Internet allerlei Seiten, wo Wölfe in Träumen vorkamen, doch diese beschrieben nur, dass wenn man von einem Wolf träume, dies bedeute man fühle sich bedroht. Oder wenn man einen besiege, man einen Rivalen vertreiben würde.
Sie rümpfte die Nase über diese Spekulationen und schüttelte nur ungläubig den Kopf. Bedroht fühlte sie sich sicherlich von niemandem. Rivalen hatte Melaara auch keine. Nun ja, mit Ausnahme vielleicht der blöden Gören in ihrer Schule.
Die ganze Sucherei brachte ihr letztlich nur noch mehr Kopfschmerzen. Sie träumte von genau zwei Wölfen. Einem großen Schwarzem und einem eher zierlichem Weißen. Weder wurde sie von einem angegriffen, noch hat sie einen besiegt noch kam da ein ganzes Rudel vor. In jedem Traum kämpften sie verbissen miteinander, in einem dunklen, Melaara unbekanntem, Wald.
Doch bevor sie weiter denken konnte machte jemand das Licht hinter der Braunhaarigen an. Automatisch schreckte sie auf und drehte sich zur Tür um. Im Rahmen stand, mit mahnendem Blick, ihr Vater.
„Schon wieder?“, seine Haare waren zerzaust und standen in alle Richtungen. Ein paar Strähnen seiner blonden Stirnfransen fielen ihm ins Gesicht. Mit unerbittlichem Blick suchte er in ihren gold-gelben Augen, doch er fand sie nicht, denn sie hatte sich schon wieder dem Computer zugewandt. Mit der linken Hand stütze sie ihr Kinn ab und klickte sich weiter durchs Internet. “Ihr wollt ihr ja nichts sagen!“, schnaubte sie verächtlich. Sie konnte beinahe fühlen wie Vater ihr einen stinksauren Blick zuwarf. „Es gibt nichts zu sagen. Und jetzt geh ins Bett! Es ist mitten in der Nacht. Du wirst noch das ganze Haus aufwecken!“, seine Stimme schwoll langsam an und wurde immer lauter. Man konnte hören wie sehr er sich bemühte nicht allzu laut zu schimpfen. „Wenn hier einer wen aufweckt, dann bist das ja wohl du.“, meinte das Mädchen kalt. „Melaara, das ist bereits das vierte Mal diese Woche. Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht aufstehen und bis zum Morgen am Computer sitzen!“, langsam beruhigte er sich wieder, seine Stimme wurde sanfter und leiser. „Wieso nicht? Du machst es ja nicht anders.“, schloss Melaara, schaltete den Computer aus und ging in ihr Zimmer zurück. Scheinbar schien er ihr nicht zu folgen, Das Mädchen hörte keinerlei Schritte. Ihre Gedanken rasten als sie sich schlichtweg ins Bett fallen ließ, mit dem Gesicht voran. Sie vergrub es im Kissen, wobei sich ihre Wut immer mehr ihren Weg nach oben freikämpfte. In letzter Zeit war ihre Familie sehr anstrengend geworden. Vor allem wenn es um das Thema Wald hinter dem Haus ging. Oft schon hatte sie sich dorthin verkrochen. Nicht nur, weil sie dort gerne war und schon vieles erlebt hatte sondern auch, weil die Atmosphäre dort so mysteriös war. Etwas an diesem Ort zog Melaara förmlich magisch an. Es fühlte sich an als würde Etwas an ihr ziehen und sie in den Wald locken, dorthin, wo sie hunderte Augenpaare beobachteten die sie oft gar nicht wahrnahm. Doch viele davon konnte das Mädchen hören, oder sogar riechen.
Melaara wusste schon immer, dass sie und Takeo keine normalen Menschen waren. Und als sie eines Tages ein Mädchen namens Kayate traf, erhärtete sich dieser Verdacht.
An ihrer ersten Begegnung war vorläufig nichts ungewöhnlich gewesen. Diapdra war zwar eine große Stadt, doch am Rande, dort wo auch der Wald war, befand sich ein kleines Dorf, indem sie und ihre Familie lebten. Kayate war neu ins Dorf gekommen, hergezogen aus einem kleinen Vorort, welcher nahe Yaosale war und Diarem genannt wurde. Ziemlich verblüfft musste Melaara feststellen das Kayate doch tatsächlich von einer der schönsten Städte des Landes weggezogen war. Wieso bloß zog sie von dort weg? Es lag immerhin am Meer und dort eine Wohnung oder ein Haus zu bekommen war sicher nicht gerade billig. Vielleicht war ihr Wohnort zu teuer gewesen?
Kayate nistete sich jedenfalls in ein kleines, leer stehendes Haus nahe Melaara ein. Melaaras Eltern hielten es außerdem für nötig die neue Nachbarin zu begrüßen und freundlich aufzunehmen. Kayate war, genau wie Melaara, siebzehn Jahre alt und hatte beschlossen ebenfalls die gleiche, ortsansässige Schule zu besuchen. Niemand wusste ob sie eigentlich Verwandte hatte. sie kam allein. Und von ihrer Familie verlor sie nie ein Wort.
Der allererste Tag, an dem Melaara ihr begegnet war, war ein sehr verregneter und grauer Tag. Melaara hatte beschlossen die Neue zur Schule zu begleiten, oder eher da ihre Eltern sie drängten, und meinten sie müsse neue Freunde machen.
Am Morgen, circa eine Stunde bevor die Schulglocke läuten sollte, besuchte Melaara die Nachbarin. Diese öffnete, noch verschlafen und mit ziemlich zerzaustem Haar die Tür. Ein fast zu freundliches Lächeln aufgesetzt wollte die Braunhaarige wissen ob sie denn nicht zusammen mit ihr zur Schule gehen wolle. „Klar, ich mache sich nur schnell fertig. Komm doch rein.“ Als Melaara eintrat erblickte sie ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer: Eine große dunkelrote Couch, vor der ein kleiner Kaffeetisch mit Orchideen stand. Vor dem Tisch ein offener Kamin. Ein paar Holzscheitel lagen darin. Die Vorhänge bei den zwei großen Fenstern waren zugezogen und ließen die Atmosphäre noch verschlafener wirken. Verblüfft legte Melaara ihre Tasche neben den Tisch. Von außen schien es nur ein kleines Holzhäuschen zu sein, doch im Inneren schien es weitaus mehr zu bieten.
„Du kannst dich ruhig umsehen wenn du magst.“ rief das Mädchen ihr aus dem anderen Zimmer zu. „Ich werde noch eine Weile brauchen.“ „Stress dich nicht. wir haben ja noch Zeit.“, sie sah gelassen auf die Uhr. Sie hatten noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Melaara mochte es nicht sonderlich zu spät zu kommen. Oh, wie sie es hasste wenn sie sich im Unterricht verspätete und die Leute sie anstarrten. Mehr, als sie es schon für gewöhnlich taten.
Langsam machte Melaara sich daran in ihrer Langeweile die Räume zu erkunden. Als erstes landete sie in der Küche. Gegenüber ihrer Küche zuhause war diese hier der pure Luxus. sie war bestimmt doppelt so groß wie Melaaras, mit schön verzierten Theken und einem riesigen Esstisch ausgestatten. Selbst ein Kronleuchter aus Kristall baumelte von der Denke und lies den Raum funkeln. Eine Türe, gleich rechts neben ihr führte ins Bad, hinter der sie Kayate hören konnte, wie sie gerade herum polterte und sich bemühte flink fertig zu sein. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich noch eine Tür. Gespannt näherte sie sich ihr und öffnete sie mit einem lauten Quietschen. Es schien Kayates Zimmer zu sein. Sie entdeckte ein großes Doppelbett, daneben einen kleinen Tisch mit Wecker, Tischlampe und einer Vase mit vielen verschiedenen Blumen darin. Neben dem Tischchen, an der Wand, lehnte ein großer Holzschrank, ähnlich dem, den ihre Eltern im Schlafzimmer stehen hatten. Er nahm mit seiner Wuchtigkeit fast den ganzen Raum ein. Alles in allem schien das Haus ziemlich teuer und edel eingerichtet zu sein. „Sag mal Kayate.“, rief Melaara ins Bad. „Bist du eigentlich reich?“ Ein kleines Lachen ertönte. „Wie kommst du denn da drauf?“, fragte sie hörbar amüsiert. „Du hast so viele wirklich teuer aussehende Sachen. Beinahe ein Luxushaus.“ „Schwachsinn. Vieles von dem Zeug stand schon da, als ich gekommen bin. Das Einzige was ich ihr gekauft habe, war dieser Spiegel und das Tischchen mit dem dazu passendem Wecker. Das Doppelbett ist schon uralt. Genau wie alle anderen Sachen.“ „Und was musstest du für das alles hier zahlen, wenn ich fragen darf?“, jetzt wirkte sie sich selbst beinahe etwas zu neugierig. „Na ja…“, begann Kayate. „Es hat sich doch niemand beschwert das ich eingezogen bin, oder?“ sie schüttelte den Kopf, bis ihr bewusst wurde, dass Kayate sie gar nicht sehen konnte. „Ähm nein. Niemand hat sich beschwert.“ „Dann ist’s gut. Denn in diesem Haus hat, wie ich gekommen bin, niemand gelebt. Scheint so als wären die Besitzer einfach ohne ein Wort gegangen. Deshalb hab ich‘s mir hier erstmal gemütlich gemacht.“, antwortete sie gelassen. „Du meinst die Leute WISSEN gar nicht das du hier wohnst?“, Erstaunen und gleichzeitig Entsetzen schwang in Melaaras Stimme mit. Wie konnte sie einfach so in ein leer stehendes Haus gehen und sich dort einnisten? Vielleicht waren seine Besitzer ja nur auf Urlaub. Als sie diesen Gedanken laut zu Kayate sagte konnte diese wieder nur herzhaft lachen: „Mach dir mal keine Sorgen. Das Haus steht sicher nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen leer. Als ich ankam war es völlig heruntergekommen. Alles voller Spinnweben und Schmutz! Ich durfte das ganze Haus erstmal ein paar Tage lang säubern und aufpolieren, bevor ich überhaupt mal richtig hier wohnen konnte.“ Und gerade als Melaara zu einer neuen Mahnung ansetzten wollte, kam Kayate aus dem Badezimmer. Ihre Haare schwarz, seidig glänzend, strahlend weiße Zähne. Eingekleidet in grauer Jeans, grünem Trägerleibchen und darüber eine silbern-glänzende Felljacke mit Kapuze, die ihr nur bis zu der Hüfte reichte. Sie sah beinahe aus wie einer dieser Filmstars, welcher gerade von eine seiner Tourneen zurückkam und endlich mal Zeit hatte zu entspannen. Sie unterließ es sie noch einmal anzumeckern wegen ihres Hauses. Schon alleine weil es ihr furchtbar unhöflich vorkam sich mit jemandem zu streiten, der neu in der Nachbarschaft war. Außerdem schien sie sehr nett zu sein. „Wollen wir dann mal losgehen?“, fragte Kayate mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Das andere Mädchen nickte nur stumm und folgte ihr zurück ins Wohnzimmer, wo auch sie ihre Schultasche hatte stehen lassen.
Als sie gemeinsam zur Schule aufbrachen wusste Melaara erstmal nicht so genau worüber sie reden sollten, doch dann schoss ihr plötzlich wieder der Gedanke in den Kopf, warum Kayate wohl weggezogen war. „Warum bist du eigentlich nach Diapdra gekommen?“, fragte sie und spielte dabei mit einer Strähne rum die ihr ins Gesicht hing. „Es gefiel mir in Yaosale nicht mehr.“, antwortete sie knapp und mit fast ausdruckslosem Gesicht. „Wirklich? Ich meine… Ist Yaosale nicht DIE Stadt wo man das Leben führen kann, was man möchte?“, inzwischen hatte sie die braune Strähne hinters Ohr gestrichen und blickte zu Kayate rüber. Bei dieser Bemerkung rümpfte die Schwarzhaarige die Nase. „Nicht im Geringstem!“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Yaosale ist nicht das, wofür all die Leute es immer halten. Du hast zwar einen Ausblick aufs Meer… Aber das war’s dann auch schon. Jeden Morgen wirst du dann vom Fischgestank überrascht, sobald du die Haustür öffnest und zu tun gibt es auch kaum was. Zumal du nicht Fischer werden möchtest, und das würde ich lieber vermeiden. Wenn du einmal diesen furchtbaren Fischgeruch in der Nase hast, würdest du es vorziehen, irgendwo hin zu gehen wo es keine schuppigen Wassertierchen gibt.“ Die ganze Zeit hatte Kayate starr nach vorne geschaut, doch jetzt drehte sie sich zur Seite und bedachte Melaara mit einem breiten Lächeln. „Hier gibt es immerhin einen Wald. Dort gibt es sicher viel zu erleben, nicht wahr?“ „Na ja…“, begann Melaara zögernd und wandte den Blick wieder ab. „Nicht so viel wie du vielleicht denkst.“ Schlagartig veränderte sich Kayates Gesichtsausdruck. Der Spaß wich aus ihrem Gesicht und Ernsthaftigkeit schien sich breit zu machen. „Findest du? Wälder sind doch unsere Heimat oder nicht? Zumindest WIR sollten uns dort doch am Wohlsten fühlen.“ „‘Wir‘?“, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn und hielt inne. „Wer sind ‚Wir‘?“, hackte sie nach. Inzwischen waren sie bei der Schule angekommen. Die große Uhr, welche am Eingang des Gebäudes hing, begann laut zu läuten, wie eine Glocke, um den Schülern zu signalisieren, dass sie sich nun in ihre Klassenräume bewegen sollten. „Oh shit!“, rief Kayate. „Wir kommen zu spät!“ Schnell schaute sie mit vielsagendem Blick zu der Braunhaarigen. Sie würden in dieselbe Klasse gehen, das hatte man ihr bereits gesagt. Einen kurzen Augenblick sah sie fragend und herausfordernd in Kayates Augen um die Antwort zu finden, doch als sie die Dringlichkeit in ihren Augen sah seufzte sie nur genervt und lief hastig Richtung Schulgebäude. „Nun komm schon!“, rief Melaara, ohne sich umzudrehen. Kayate folgte aufs Wort und rannte stürmisch hinterher.
Kayate war im Laufe der Zeit Melaaras beste Freundin geworden. Beide waren immer einsam gewesen. Von so gut wie Jedem wurden sie verachtet. Die Außenseiter. Die Anderen. Doch zumindest Melaara hatte eine Familie die ihr unter die Arme griff, wenn es mal schlecht stand. Kayate musste alleine damit fertig werden. Doch es schien sie kalt zu lassen. Beinahe als wäre sie es gewohnt, von allen verachtet und gehasst zu werden. Melaara wusste nicht warum es so war. Sie spürte es bei fast jedem Menschen der ihr über den Weg lief. Diesen tiefen Hass und die Abneigung. Manchmal auch Angst.
Bei Takeo war es nie anders gewesen. Er wurde oft von anderen geschlagen, einfach nur, weil es den großgewachsenen Jungs Spaß machte einen wie ihn zu vermöbeln: einen kleinen, schmächtigen Jungen mit braunem, zerzaustem Haaren und einem rotem Halstuch, welches er von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte und niemals abnahm. Die Tatsache dass sie einige der Jungs schon mal ziemlich hart verprügelt hatte als sie ihrem Bruder zu nahe kamen, machte die Sache für ihn wohl nicht sehr viel besser.
Melaara selbst wurde nicht geschlagen, zumindest äußerlich nicht. Innerlich hatte sie schon viele schwere Verletzungen einstecken müssen. Sie wurde oft beschimpft, meistens als Hexe oder Monster. Sie konnte ihr nicht erklären warum. Die Menschen waren einfach so zu ihr, obwohl sie sie nicht näher kannten. Sie konnte sich genauso wenig erklären wieso sie in anderen Dingen, wie beispielsweise Sinneswahrnehmungen, den anderen weit überlegen war. Das Mädchen konnte besser riechen und auch hören als die anderen. Einen Hasen in zehn Meter Entfernung konnte sie mit ein wenig Anstrengung hören und auch noch riechen, als presse man ihn direkt an ihre Nase. Niemand wusste weshalb sie das konnte, und niemand war besser darin als sie. Bis Kayate kam.
Das große, schlanke, schwarzhaarige Mädchen musste ähnliches erdulden wie Melaara. Sie wurde von allen gehänselt und beschimpft. Doch es schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und war stets gut gelaunt.
Auch Kayate hatte all diese Fähigkeiten. Eines Tages fasste die Braunhaarige ihren Mut zusammen und sprach Kayate darauf an. Auf die Frage, warum sie so gut riechen und hören konnte grinste diese nur frech und lachte: „Was denn, das weißt du nicht? Ich dachte das wäre offensichtlich! Hat man dir denn nie gesagt was du bist und was du kannst?“
Mit diesen Gegenfragen hatte Melaara nicht gerechnet. Verwirrt schüttelte sie den Kopf: “Was… Was bin ich?“ Melaara wusste schon immer, dass ihr diesbezüglich ihre Eltern etwas verschwiegen. Sie konnte immer fühlen dass etwas an ihnen… anders war.
Kayate schüttelte ebenfalls ungläubig den Kopf. „Unfassbar, dass du so etwas nicht mitbekommst! Du musst das schon selbst rausfinden. Aber weißt du was? Lass uns beste Freunde sein.“, grinste sie. Immer noch verwirrt und angetan von ihrer Offenheit, stammelte Melaara nur ein verwirrtes „Okay.“
Obwohl Kayate oft zu Besuch bei war, konnte Melaara immer noch nicht aus ihr herausbekommen, was sie selbst war. Doch ihre Eltern schienen in ihrer Gegenwart…angespannter als sonst zu sein. Jeden Tag wenn Melaara sie sah, starrte sie ihr in die verwaschenen Olivgrünen Augen und versuchte, beinahe telepathisch, eine Antwort darin zu finden. Jedoch ohne Erfolg.
Melaara hatte es sich inzwischen schon wieder auf ihrem Bett bequem gemacht. Auf dem Rücken liegend, die Hände gefaltet wie zu einem Gebet, lag sie da und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal ohne Albtraum erwacht war.
Ihr Bruder seufzte laut und murmelte etwas Unverständliches dahin. Sie dachte, er hätte im Schlaf gesprochen, doch als er wiederrum etwas murmelte, diesmal lauter als zuvor, fragte sie leise in die Dunkelheit hinein, ob er wach sei. „Natürlich.“, kam prompt und immer noch halb gemurmelt die Antwort. „Du weißt genau, dass ich es merke, wenn du weggehst. Außerdem war dein Wälzen im Bett, als du wieder mal schlecht geträumt hast, nicht zu überhören…“ Verlegen setzte sie sich auf und zog ihre Beine, samt der Decke so nah es ging zu ihr heran. „Tut mir leid.“, murmelte sie, genauso wie er zuvor, in die Decke. „Ich wollte dich nicht wecken. Es ist nur…“ „Ja, ich weiß. Dieser Traum.“, unterbrach er sie schnell. „Er muss doch was bedeuten oder?“, fragte sie verlegen nach. „Ich weiß es nicht… Ich bin zurzeit selbst nicht gerade ganz klar im Kopf.“ „So kann es doch nicht weitergehen. Mit uns stimmt etwas nicht, Takeo. Das merkst du doch auch oder? Wir sind irgendwie… anders.“ Er seufzte und setzte sich schwermütig auf, das Bett ächzte unter seinem Gewicht. Er stand auf und kam zu ihr herüber. Dann legte er behutsam und vorsichtig einen Arm um sie und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Etwas verwundert erwiderte sie seine Geste und umarmte ihn. „Ich will wissen wieso wir so anders sind. Wieso wir… nicht menschlich sind. Takeo, du nicht auch?“ Sie spürte ein langsames Nicken an ihrem Kopf. „Wir müssen doch etwas tun um herauszufinden was wir wirklich sind. Weißt du, ich glaube die Antwort liegt im Wald. Irgendwo da drin, da muss doch-“„Nein, Melaara! Fang nicht wieder mit diesem Wald an! Dort ist nichts! Es ist nur ein Wald. Nicht ein Ort wo Mädchen wie du hingehen sollten.“, er packte seine Schwester fest an den Armen und hielt sie fest. Überrascht von seiner harten Reaktion sah sie ihm stur ins Gesicht. „Aber, ich weiß es. Irgendetwas ruft nach mir. Ich muss –„ Er ließ sie abrupt los und ging wieder zu seinem Bett hinüber. Sie hörte ein leises Plumpsen, als er sich ins Bett fallen ließ und sich dann das Kissen über den Kopf zog. „Gute Nacht, Schwesterherz.“ Für eine Weile herrschte Totenstille und betretenes Schweigen, als sie ihm ein leises „Nacht“ zurückgab und ihren Blick wieder starr aus dem Fenster wandern ließ.
Einige Stunden später, als sie Takeo wieder mit genau den leisen Atemzügen hörte, wie anfangs als sie aufgewacht war, stand sie leise auf und ging zur Kommode. Sie zog sich ihre kurze hell-blaue Hose aus und tauschte sie gegen eine Jeans aus. Über das weiße Unterhemd zog sie ein langärmeliges graues T-Shirt mit dazu passender Weste an und band sich dazu einen weißen flauschigen Schal um. Als sie fertig war schlich sie zum Ausgang des Hauses. Neben der Tür war ein Ständer mit Mänteln und Hüten darauf. Melaara nahm sich ihre graue Winterjacke, mit Kapuze und Fell daran, ihr Lieblingsteil, sowie die braunen Stiefel mit weißem Flaum an den Rändern, öffnete die Tür und schlich hinaus in die Finsternis.
Trotz der warmen und dicken Klamotten zitterte sie vor Kälte. Ihr Atem formte weiße Wolken in der Luft, welche in den Himmel aufstiegen und sich auflösten. Sie schlang die Arme um ihre Mitte, damit es wärmer wurde. Schritt für Schritt tastete sie sich in der Dunkelheit voran, welche nur wenig vom hellen Licht des Mondes durchbrochen wurde. Zielstrebig ging sie Richtung Wald hinter dem Garten. Ob Takeo wohl schon aufgestanden war und ihr hinterher lief? Nein, er würde wohl eher gerade ihre Eltern aufwecken. „Er traut sich nicht allein in den Wald“, sagte sie sich.
Zwei große knorrige Eichen bildeten den Eingang in den Wald. Darunter ein Weg aus braunen Kieselsteinen, der sich unter den Schatten der Bäume jedoch fast völlig verlor. Vertrocknete Blätter raschelten unter jeden ihrer Schritte. Aus Angst zu laut zu sein, ging sie wie auf Nadeln. Nach einer Weile kam sie sich jedoch extrem lächerlich vor. So weit wie sie schon im Wald war konnte ihre Familie sie doch gar nicht mehr hören, sofern sie nicht sowieso gerade dabei waren sich mit Taschenlampen, Rettungsseilen und Walkie Talkies auszurüsten. Abgelenkt von dem Gedanken bemerkte sie die hervorstehende Wurzel erst als sie schon darüber stolperte und fluchend den Sturz mit den Händen auffing. Warum zum Geier hat sie nicht daran gedacht eine Taschenlampe mitzunehmen? Es hätte die ganze Sache sicherlich vereinfacht.
Inzwischen war sie bereits etwa eine Stunde unterwegs. Sie wusste noch nicht einmal genau, wohin sie lief. Alles was sie wahrnahm, waren die Gerüche und Geräusche des Dickichts und alles was sie sah, waren die dunklen Schatten den die Bäume warfen, wobei sich gelegentlich mal ein Mondstrahl verirrte.
Plötzlich wurde der Weg breiter, die Bäume gingen auseinander, wie als verließe man einen Tunnel, und gaben die Sicht auf etwas Wunderbares frei: Ein riesiger See. Er lag auf einer Art flachen Ebene, von Bäumen umrundet. Wie hungrige Tiere reckten sie ihre knorrigen Arme in die Luft, als wollten sie den See greifen, doch er war zugleich so nah und dennoch zu weit weg. Erstaunt blieb Melaara stehen und blickte zum See. Der Mond spiegelte sich so stark in der Oberfläche des Wassers, das dieses beinahe die gesamte Ebene ausleuchtete. Der Mond brachte es zum Funkeln und Glitzern, machte es zu dem Einzigen was sich von dieser Finsternis so absetzte.
Langsam näherte sie sich dem See, wobei sie die Arme sinken ließ, die sie die ganze Seit fest um sich geschlungen hatte. Melaara hatte sich nie erinnern können, dass in dem Wald ein See war. Andererseits, kam sie auch nie so weit in den Wald hinein um ihn wirklich zu erkunden. Ihre Eltern merkten sehr schnell, wenn sie verschwunden war. Und selbst wenn sie es nicht merkten, Takeo hätte es bemerkt und wäre ihr nachgegangen.
Nun stand sie am Rande des Sees und blickte in ihr eigenes Spiegelbild. Ihre sonst so gelben Augen leuchteten nicht wie sie es immer taten, wenn sie in einen Spiegel sah. Sie waren bläulich, verwaschen und sahen müde und fast schon deprimiert aus. Langsam hockte sie sich hin und tauchte einen Finger ins Wasser. Die Wellen breiteten sich immer weiter über den See aus, bis sie schließlich im tiefen Blau untergingen. Die Kühle des Sees rüttelte sie wieder etwas wach. Schnell zog sie, wenn auch etwas unsicher, den Finger zurück. „Was mache ihr hier eigentlich?“ Bedauernd sah sie zum Mond und fühlte einen Stich in ihrem Herzen. „Was bin ich?“, fragte sie mit wehmütiger Stimme und erwartete beinahe als würde er ihr eine Antwort geben.
Noch bevor sie weiter in ihre Gedanken versinken konnte, hörte sie hinter ihr ein Rascheln. Sie hatte sich vorher oft eingeredet, dass ihr jemand folgte, hatte es dann aber schließlich doch nur als „Der Wind raschelt durch die Bäume“ abgetan. Doch nun war sie sich sicher. Jemand war ihr gefolgt. Im Schatten konnte sie die Gestalt sehen, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Die Person war zu klein als das es ein Mensch hätte sein können. Was war das was da stand? „Wer ist da?“, rief sie und stand blitzschnell auf, die Muskeln angespannt, um jederzeit die Flucht ergreifen zu können. Eine Weile rührte sich die Gestalt nicht, doch dann, unsicher, so als würde sie mit sich selbst ringen, trat sie aus dem Schatten. Sie erwartete kein menschliches Gesicht, doch das was ihr da gerade entgegenblickte hatte ganz sicher menschliche Augen. Vor lauter Schreck machte sie einen Schritt nach hinten und rutschte auf dem bereits taunassen Gras aus. Geschockt blickte sie hinüber zu der Gestalt. Olivgrüne Augen funkelten in der Dunkelheit. Schwarzes, seidig glänzendes Fell wehte leicht in einem plötzlichem Luftzug. Spitze Ohren, nur auf das Mädchen gerichtet, welches sich gerade unsanft auf ihre vier Buchstaben gepflanzt hatte. Ein Wolf. Es war ein zierlicher, schwarzer Wolf der sie ruhig anblickte und ihr gelassen entgegen kam. Ein Keuchen entfuhr ihr als das Tier in ein leichtes Traben verfiel und schon nach kurzer Zeit die Entfernung überwältigt hatte und neben ihr am See saß. Gelassen blickte das Wesen sie an, während sie noch halb unter Schock stand und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Nach einer Weile wandte das schwarze Getier seinen Blick gen Wasser zu.
„Du hast es also noch immer nicht herausgefunden, was?“, erklang plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. „Wer…wer hat das gesagt?“, hektisch und nervös wanderte ihr Blick umher. „Hier…ist doch niemand außer einem…“ „Wolf, ganz richtig.“, das schwarze Ungetüm drehte seinen Kopf plötzlich in ihre Richtung und fixierte sie mit den verwaschenen, olivgrünen Augen. „Eigentlich solltest du es von alleine bemerken. Oder zumindest wäre es die Pflicht deiner Eltern es dir zu sagen.“, ertönte die Stimme wieder. Melaaras Augen wurden immer größer. Ungläubig starrte sie den Wolf an. „Nein, die Wölfin.“, verbesserte sie sich selbst in Gedanken. „Es ist eine sie.“ Es klang als wäre es ein Mädchen, in etwa in ihrem Alter. „Erkennst nicht mal die Stimme und Augen deiner besten Freundin, wie?“ Das Tier sah irgendwie empört aus. Die Wölfin schnaufte eingeschnappt. „Beste…? Ka…Kayate?“, brachte sie endlich hervor. Erst jetzt merkte sie dass sie die Luft angehalten hatte. Zittrig atmete sie aus. „Wieso…bist du ein…?“ „Das bin nun mal ich. Das…“, die Wölfin stand auf und ließ die Brust stolz anschwellen, den Schweif hoch erhoben. „Das ist mein wahres ich.“ Ein kleines Funkeln war in ihren Augen zu sehen. „Du bist…“„...absolut wunderschön, elegant, atemberaubend?“ Die Schwarze sah aus als würde sie grinsen. Ein kleines, wölfisches Lächeln. „Aber…wie?“, stammelte Melaara. Die Wölfin sah das Mädchen eine Weile schweigend an. „Das ist mein wahres ich.“, wiederholte sie lediglich. Plötzlich war in den Augen der Wölfin Unsicherheit zu erkennen. „Auch du…du hast auch ein wahres Ich. Du hast es nur noch nicht entdeckt.“ Melaara erblickte erstaunt in die wölfischen Augen. „Ich…Ich kann mich auch in einen Wolf verwandeln…?“ „Das habe ich nicht gesagt. Jeder hat ein anderes wahres ich. Jeder hat eine…wahrhaftige Seele. Bei den Einen kann es sein, dass dies die Seele eines Menschen ist. Andere wiederum mögen vielleicht Krähen sein. Und wieder andere vielleicht sogar Drachen! Jeder hat seine wahrhaftige Seele.“ Die Wölfin setzte sich wieder hin und sah ins Wasser des Sees. Ihre ansonsten so gespitzten Ohren sanken langsam und schmiegten sich eng an ihren Körper an, als sie beinahe wehmütig wieder zu ihr sah. „Aber…es ist eigentlich die Pflicht der Eltern dieses Wissen weiterzugeben. Ich dürfte dir das hier alles gar nicht sagen…“ Plötzlich schien sich Melaaras Starre zu lösen. Kayate wollte ihr das alles zeigen und nun vielleicht einfach wieder verschwinden und sie damit alleine lassen? „Nein, nein, nein! Ich…Ich habe schon immer gemerkt das ich anders bin… und schon immer wollte ich wissen was ich bin. Bitte zeig mir wie ich mich in mein wahres ich verwandeln kann!“ Die Wölfin zögerte etwas, bis sie schließlich seufzte. „Es ist eine reine Konzentrationssache. Die erste Verwandlung ist die schwierigste, weil man sich erstmal dessen bewusst wird was man eigentlich ist. Danach kannst du es eigentlich nach deinem freien Willen lenken.“ Die Wölfin hob eine Pfote und deutete auf das Wasser im See. „Sieh dein Spiegelbild an. Was siehst du?“ Das Mädchen sah zuerst verwundert zu Kayate, doch dann widmete sie ihren Blick dem See. Zuerst sah sie nur die Spiegelbilder von ihr und der Wölfin darin. Doch nach einiger Zeit schien sich etwas zu verändern. Hinter ihnen tauchten Schatten auf. Schemenhafte Gestalten. Sie versuchte sich einzureden, dass sie es sich nur eibildete. Das war verrückt. Einfach nur verrückt! „Und?“, wollte das Wolfsmädchen neben ihr wissen. „Was siehst du?“ „Dich und mich.“, wollte sie ihr weißmachen. Nein, wollte sie sich selbst weißmachen. „Lügnerin. Du siehst noch etwas anderes, oder?“ Den Blick starr auf das Wasser nickte sie. „Schatten“ „Diese Schatten sind die wahrhaftigen Seelen. In deinen Augen sind sie noch verschwommen, doch konzentrierst du dich erst einmal auf sie nehmen sie Gestalt an und offenbaren dir dein wahres ich. Nicht jeder sieht was sie wirklich sind. Wesen mit einer tierischen Seele spüren es manchmal. Vor allem Wolfseelen sind da sehr empfindlich. Diejenigen mit einer menschlichen Seele spüren es nicht. Nun, zumindest glauben das alle. Aus irgendeinem Grund haben die mit einer Menschseele einen unbändigen Hass auf diejenigen mit einer Tierseele – auch wenn sie gar nicht wissen was eine Tierseele ist.“ „Genug geredet!“ sie sprang plötzlich auf. „Erzähl mir später mehr darüber aber jetzt möchte ich mich verwandeln!“ Die Wölfin schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. „So ungeduldig…Wirst wahrscheinlich zu einer kleinen, ständig nervös zuckenden Amsel!“ Belustigt sah sie Melaara an. „So, und nun konzentriere dich aufs Wasser.“
Angestrengt starrte sie wieder und wieder auf den See und auf den dunklen Schatten, der sie langsam immer mehr umgab. Die Kälte, die sie sonst die ganze Zeit umgeben hatte, verschwand allmählich immer mehr. Eine angenehme Wärme legte sich um sie. Eine, die sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Sie war vertraut. Angestrengt dachte sie über diese Vertrautheit nach. Und mit einem Mal fiel es ihr wieder ein. Als würde ein grauer Schleier aus Nebel endlich verschwinden. Der eine Abend, an dem ihre Eltern ihr DIESE Geschichte erzählt hatten. Die Geschichte, die ihr noch, bevor sie sie erzählten, vertraut vorkam und währenddessen sich die genau gleiche Wärme um Melaara legte wie jetzt in diesem Augenblick.
Als sie um die 5 Jahre alt war, hatte man ihr und ihrem Bruder eine unheimliche Geschichte erzählt. Nun, so ganz unheimlich war sie nicht. Sie war grausam, handelte von Schatten, Monstern und Krieg, doch zugleich erzählte sie von Frieden und Liebe. Und von Vergebung. Eines Abends saßen sie alle vor dem Kamin. Draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Der Strom war ausgefallen und ihre Eltern mussten sich etwas einfallen lassen um ihre Kinder zu beschäftigen. So erzählten sie ihnen Geschichten. Eine davon, handelte von einem Wolfsmädchen. Mit unheilvoller Stimme begann ihre Mutter zu erzählen: “Vor langer, langer Zeit, wo unser Land, lediglich aus kleinen Dörfern bestand, in der Zeit der Samurais, lebte einmal ein Mädchen. Es war kein normales Mädchen. Sie war nämlich halb Mensch und halb Wolf. In der Gestalt eines schlanken Mädchens mit dunkelbraunen Haaren und smaragdgrünen Augen reiste sie durch das Land und besiegte allerlei Bösewichte. Sie war eine richtige Heldin! Wenn sie gegen die Schurken kämpfte, verwandelte sie sich in eine stolze Wölfin mit strahlend weißem Pelz und großen weißen Flügeln. Zwar vermied sie es Andere zu töten, doch mit ihren rasiermesserscharfen Zähnen konnte sie ihren Gegnern in Windeseile die Kehle durchbeißen.
Die Menschen damals, hassten sie dafür. Sie sahen nicht die guten Absichten hinter ihren Taten. Mit scharfen Schwertern und Fackeln in der Hand vertrieben, sie sie aus ihrem Land, mit der Begründung sie sei vom Teufel persönlich geschickt worden, und würde Unheil über die Welt bringen. Traurig und enttäuscht von den Menschen, ging sie, ohne dass man jemals wieder etwas von ihr hörte.“ „Was für eine traurige Geschichte, Mama!“, schluchzte Melaara. “Die Geschichte ist doch noch nicht zu Ende!“, meinte ihr Vater mit einem sanftem Lächeln auf den Lippen. Gebannt schauten Takeo und sie zu ihrem Vater der nun begann weiterzuerzählen: “Die weiße Wölfin ging, doch jemand anderes kam. Ein Mann mit langen, schwarzem Haar und gelben Augen. Auch er war, genau wie das Mädchen, ein Wolfsmensch. Doch er war das genaue Gegenteil von ihr. Sein Pelz war nicht so strahlend weiß, wie das des Mädchens. Er hatte keine großen weißen Flügel. Er war schwarz, so schwarz und finster wie die Nacht selbst. Er war kein Held. Der Mann säte Chaos und Leid im Land. Brachte die Menschen dort zur Verzweiflung und tötete jeden der sich ihm in den Weg stellte. Viele Samurais kamen um den Mann aufzuhalten, doch niemand konnte ihn besiegen. Er war zu stark. Er hatte die Kraft der Finsternis auf seiner Seite und verschlang damit alles und jeden. Die Menschen beteten, dass jemand komme um ihnen zu helfen. Und eines Tages, kam tatsächlich jemand.“ „Die weiße Wölfin?“, vollendete Takeo fragend den Satz. „Ganz recht.“, Sayo nickte stolz. „Das Wolfsmädchen war zurückgekehrt. Stolz breitete sie ihre Flügel aus und stellte sich dem schwarzen Wolf in den Weg. Wütend knurrte dieser und verlangte, dass sie das Land verließe, oder er würde sie töten. Und das gesamte Land mit ihr. Und so entbrannte ein wilder Kampf zwischen den Beiden. Verbissen versuchten sie einender die Kehle durchzubeißen. Man hörte Knurren, sah weiße Zähne aufblitzen, Blutbefleckte Pelze und verletzte, jedoch immer noch kämpfende Wölfe. Der Kampf zog sie lange hin. Drei ganze Tage und drei Nächte kämpften sie verbissen gegeneinander, ohne dass auch nur einer von Beiden Schwäche zeigte. Doch am dritten Tag, als der Vollmond hell über Beiden schien, neigte sich der Kampf dem Ende zu. Die weiße Wölfin – ihr sonst so strahlend weißer Pelz hatte sich vor Blut rot gefärbt – lag schnaufen und hechelnd am Boden. Ihr Widersacher, der schwarze Wolf, stand ihr gegenüber. Doch auch er musste sich einige Wunden zugestehen. Dennoch stand er felsenfest auf dem Boden und wartete darauf der weißen Wölfin den Todesstoß zu geben.
Die Menschen hatten sich inzwischen um die beiden Wölfe gescharrt und verfolgten gespannt den Kampf. Doch niemand wagte es einzuschreiten, aus Angst dabei sein Leben zu lassen. Nur ein Junge, er war ungefähr im Alter des Mädchens, traute sich und trat neben die weiße Wölfin, welche sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er kniete sich zu ihr herab und umarmte sie vorsichtig. ‚Ich weiß, dass du es schaffen kannst, weiße Wölfin. Sie glauben an dich. Ich glaube an dich‘, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann ließ er sie ebenso vorsichtig los wie er sie angefasst hatte und trat achtsam ein paar Schritte zurück. Und plötzlich, erstaunt von der Liebe des Jungen, begannen die Menschen zu jubeln. Sie jubelten für die weiße Wölfin, baten sie um Verzeihung und beteten dafür, dass sie den Kampf gewinnen würde. Tränen rannen über die Wangen des Wolfsmädchens. Sie lächelte. Dann wandte sie sich an ihren Gegner, welcher sie hasserfüllt anfunkelte. Beide hoben ihren Kopf und heulten so laut wie es ihre Kräfte noch erlaubten. Dann liefen sie, mit gefletschten Zähnen, aufeinander zu. Beide sprangen wutentbrannt den jeweils anderen an und fügten sich schließlich eine letzte tiefe, sowie alles entscheidende Wunde zu. Sie kamen zu stehen.“ Angespannt hielten die Kinder die Luft an und warteten darauf wie die Geschichte enden würde.
„Doch der schwarze Wolf schwankte, verlor sein Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Seine starren Augen blickten gen Himmel. Der Vollmond spiegelte sich in ihnen. Er hatte den Kampf verloren.“ „Jaaa! Hurra!“, jubelten die Kinder fröhlich. „Jedoch…“, begann Teshi, ihr Vater. Das Jubeln verstummte. „Die weiße Wölfin setzte ein letztes Mal zu einem ausgelaugten, müden Siegesheulen an, bevor auch sie zusammenbrach.“ Ein erschrockenes Keuchen entwich den Kindern. „Zwar lebte sie noch, doch ihr Atem war flach, ihr Herz wurde immer leiser. Der Junge, welcher ihr zusammen mit den anderen Menschen Kraft gegeben hatte, kam zu ihr gelaufen. Mit Tränen in den Augen kniete er sich zu ihr. ‚Du darfst nicht sterben, weiße Wölfin‘, schluchzte er verzweifelt. Langsam öffnete das Mädchen ihre Augen. ‚Er war meine dunkle Seite. ‘, sprach sie langsam und so leise, das sie kaum jemand verstand. Alle Leute blickten erschrocken zum schwarzen Wolf. Er löste sich auf! Winzige kleine Teilchen, wie Asche, stiegen gen Himmel, und wurden vom Wind verweht, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. ‘Ich war getrieben von Hass und Wut. Von der Angst und der Verzweiflung. Daraus entsteht die Dunkelheit. Jedoch… Ohne Schatten, gibt es kein Licht, und ohne Licht, gibt es keinen Schatten. ‘, das Mädchen und schloss erneut die Augen. Ihr Herz hörte auf zu schlagen. Und langsam, genau wie es bei dem schwarzen Wolf passiert war, löste sie sich auf. Es begann bei den Flügeln, und Verbeitete sich über den ganzen Körper bis sie verschwunden war.“, beendete der Vater die traurige Geschichte. „Wie furchtbar“, wieder begann die Kleinen zu schluchzen. „So soll die Geschichte nicht enden!“, schmollte Melaara damals. „Das ist nicht das Ende der Geschichte. Noch nicht.“, sprach ihr Vater. „Die Geschichte endet damit, dass die Menschen sie als Göttin verehrten. Sie errichteten eine Statue, tief verborgen in einem finsteren Wald, von dem bis heute niemand weiß wo er sich befindet. Die Statue war so rein, hell und weiß, wie der der Wald dunkel, finster und ohne Hoffnung war. Und noch heute erzählen sich manche Menschen, dass sie fühlen, dass die weiße Wölfin noch unter uns ist. Sie wacht über uns, achtet darauf, dass sie in Frieden leben können. Und manche, die, die in den hintersten Ecken leben, wo keiner sie hören kann, munkeln, dass die weiße Wölfin zurückkehren wird, um den schrecklichen Krieg, der zurzeit zwischen den drei Nationen tobt, aufzuhalten.“ „Ich hoffe sie kommt bald!“, Takeo hatte ein breites Grinsen aufgesetzt. Melaaras war nicht weniger klein. Ihre Eltern lachten darauf hin freudig und schickten sie danach ins Bett. Niemand außer Melaara scheint sich heute noch an diese Geschichte zu erinnern.
Genau wie damals, saß sie fasziniert da und horchte auf dass, was um sich war, auf das Pochen ihres Herzens. Genau wie damals, funkelten ihre Augen vor Neugier. Genau wie damals, fühlte sie sich wie die weiße Wölfin. „Genau wie damals, genau wie damals.“, hallte es in ihrem Kopf immer und immer wieder.
Der Schatten umrahmte das Mädchen bereits und begann nun damit sich über ihrem gesamten Körper zu erstrecken. Er nahm langsam Gestalt an.
Wolfsohren und Schweif waren zu erkennen. Ihr wurde heiß, ihre Muskeln spannten sich immer mehr an, ihr Herz schlug so schnell und so laut wie noch nie zuvor.
Der Schatten schlang sich um ihren Hals.
Dann schloss sie die Augen. Alles um ihr herum wurde schwarz und gewann gleichzeitig an Intensität.
Der Schatten schlang sich um ihr Gesicht. Sie spürte es.
Sie konnte den Hasen, der nicht weit weg saß und die ganze Szene beobachtete, vor ihrem inneren Auge sehen. Den Fuchs, der sich einige Kilometer weiter entfernt gerade in einem Haufen Blätter wälzte, hören. Den Hirsch, der noch weiter im inneren des Waldes sein Geweih an einen Baum rieb, riechen.
Der Schatten nahm sie vollkommen ein.
Ein Wolfsgesicht war zu erkennen. Spitze Krallen stachen aus den Pfoten hervor. Wolfsohren zuckten und nahmen Geräusche auf. Eine Schnauze, die Nasenlöcher weit geöffnet, sogen Gerüche auf.
Ein weißer Pelz strahlte im fahlen Mondschein. Ein weißer Wolf hob seinen Kopf gen Himmel, öffnete sein Maul und gab ein langgezogenes, hohes Heulen von sich.
Eine neue Wölfin war geboren. Eine mit gelben Augen, weißem Pelz und dem Herz einer Kriegerin. Eine Wölfin namens Melaara.
Und hiermit beginnt unsere Geschichte.
Kapitel zwei: Die weiße Wölfin
Verwirrt sah Kayate die Wölfin an, welche nur wenige Meter vor ihr hockte. „Hey! Deine Eltern sollten das doch nicht rausbekommen! Sei leise! Das halbe Dorf wird dich hören!“, rief sie verärgert. Melaara öffnete langsam ihre Augen, es waren ihre gelben Augen, die in die Dunkelheit hinaus blitzten. „Ich…ich konnte es nicht unterdrücken.“, versuchte sie sich aus der Schlinge zu ziehen. Mit skeptischem Blick musterte Kayate die neue Wölfin. Etwas unbehaglich unter Kayates Blick warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild im See: Weißes, schimmerndes Fell, gelbe Augen die funkelten und strahlten. Sie war ungefähr gleich groß wie Kayate, vielleicht ein bisschen größer. Sie hatte einen langen und sehr eleganten buschigen Schweif, der im Moment angespannt hin und her wedelte. Eine Wölfin beinahe wie aus Schnee und Eis. „Wir sollten von hier verschwinden und nach Hause gehen. Ich glaube das reicht für heute erstmal.“ „Ich will noch nicht heim!“, protestierte sie. „Ich habe gerade erst rausgefunden, was ich wirklich bin! Zeig mir mehr!“ „Du wirst große Probleme bekommen, wenn dich deine Eltern finden. Oder mich…“, Kayate schauderte leicht. Wenn ihre Eltern sie dabei erwischten, wie eine eigentlich Fremde ihrer Tochter eigentlich verbotene Dinge beibrachte, würde sie in Schwierigkeiten geraten. „Ich werde dir ein andermal mehr zeigen. Aber im Moment ist es keine gute Idee. Wenn deine Eltern dich in deiner Wolfsform sehen, könnten sie dich für immer einsperren!“ Hastig schüttelte sie den Kopf. „Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Nie mehr!“ Plötzlich bahnte sich eine Idee in ihrem Kopf an. „Ich will weg von hier.“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. Kayate fiel beinahe die Kinnlade runter. „W-Was?! Was redest du denn für einen Unsinn!“ „Du kannst mich nicht aufhalten.“ sie stand auf und trappte vorsichtig ein paar Schritte zurück, dann entblößte sie ihre Zähne und knurrte Kayate wütend an. Es fühlte sich merkwürdig gut an sich wie ein Tier zu verhalten und nicht angestarrt zu werden deswegen. War sie wütend kroch meist ein Knurren in ihr hoch, doch sie unterdrückte es, die Menschen würden sie ja doch nur auslachen. „Ich habe Zähne und Krallen und kann schnell laufen. Wer soll sich mir in den Weg stellen?“ Die schwarze Wölfin rollte mit den Augen. „Ich zum Beispiel.“ Mit einem schnellen Sprung, den sie nicht kommen sah, hatte sich Kayate bereits auf sie geworfen, drückte sie zu Boden und ließ ihr kaum noch Luft. „Du magst zwar herausgefunden haben, wie du dich verwandelst, doch das bedeutet noch lange nicht, dass du auch weißt, wie man damit umgeht. „ Vorsichtig stand die schwarze Wölfin auf, jedoch immer noch über die Weiße gebeugt, damit sie ja keinen Gegenangriff starten konnte. „Ich wollte dir eigentlich beibringen mit deinen neuen Fähigkeiten umzugehen. Aber da du weglaufen willst, ist das wohl kein allzu kluger Schachzug, was?“ Die Weiße starrte eindringlich in Kayates Augen. „Bitte.“, flehte sie. „Ich bin bereits siebzehn, in einem Jahr wäre ich so oder so gegangen. Was macht es für einen Unterschied ob ich jetzt, oder in einem Jahr gehen kann? Bring mir bei, was ich wissen muss um sich selbst zu verteidigen. Was muss ich wissen, um ein Wolf zu sein?“
Kayate wandte sich von ihr ab um sie aufstehen zu lassen. „Zu Allererst, das Menschen uns hassen.“ sie drehte sich noch einmal um und fixierte Melaara mit ernstem Blick. „Wenn du damit beginnst herumzustolzieren und jedem zu erzählen, was du bist, landest du, ehe du dich versiehst, auf einem Labortisch und wirst von irgendwelchen verrückten Wissenschaftlern seziert!“ „Ich würde den Menschen niemals sagen, was ich bin.“, gab sie mit genauso erstem Tonfall zurück. Melaara wurde unsicher. „Aber…woran erkenne ich denn die, die eine menschliche Seele haben?“ „Das riechst und fühlst du, glaub mir. Es ist aber auch nicht all zu klug allen Tierseelen zu sagen was du bist. Bis auf ein paar Ausnahmen merken die ohnehin welche Seele du hast, aber viele sind schlecht darin das zu deuten. Und Wölfe sind gefürchtet. Wir werden immer noch als gefährlich angesehen und mit der Dunkelheit in Verbindung gebracht. Auch Krähen und Füchse sind bei den meisten nicht sehr beliebt. Und Menschen scheinen auch meist einen sehr großen Hass gegenüber diesen Seelen zu haben. Und das obwohl viele noch nicht einmal wissen das Tierseelen existieren.“
Plötzlich begannen Kayates Ohren zuckten. Auch Melaaras Ohren zuckten und sie konnte hören weshalb Kayate so aufgeschreckt war: Jemand kam mit schnellen Schritten aus dem Wald auf sie zu. Er oder sie war noch weit weg, dennoch brachte es Anspannung unter die Wölfe. „Melaara, es geht mir nicht darum, dass du deine Identität vor allen geheim hältst. Es geht mir viel mehr um deine Familie. Und auch ein klitzekleines bisschen um mich. ich meine, was sollte ich denen sagen, wenn du auf einmal, ohne irgendwas zu sagen, verschwindest? Die werden sicher sofort auf mich schließen, da ich neben deiner Familie die Einzige Tierseele hier im Dorf bin.“ „Dann komm mit mir! Es würde außer meiner Familie niemandem auffallen, wenn wir nicht mehr da wären. “Entgeistert schaute die schwarze Wölfin zu ihr. „Du bist verrückt.“ Doch der Gedanke, von hier zu verschwinden, schien ihr zu gefallen. „Als wolltest du nicht von hier weg…“, begann sie erneut. „Außer mir, meinen Eltern und meinem Bruder, kann dich niemand leiden. Sie hassen dich, genauso wie sie mich und Takeo hassen. Wieso sollen wir uns das bieten lassen und nicht einfach nach einem besseren Platz suchen?“ „Es gibt überall menschliche Seelen, Melaara. Man wird uns überall hassen.“
Das Rascheln aus dem Wald, war inzwischen deutlich angeschwollen und kam immer näher. Melaara konnte bereits wittern wer da auf sie zukam. Es war Takeo. Er verströmte Panik. Sein Angstschweiß war bis hierher zu reichen. Offensichtlich war er alleine in den Wald gegangen und hatte seinen Eltern nicht Bescheid gegeben, ganz zur Erleichterung seiner Schwester. “Ich verschwinde jetzt. Wenn Takeo mich entdeckt sind wir geliefert. Und du solltest dich auch zurückverwandeln.“ „Wie mache ich das?“, beinahe panisch sah sie zu Kayate die ihr schon den Rücken zugedreht hatte und Richtung Wald lief. „Konzentriere dich auf deine menschliche Gestalt. Fühle und sehe sie in deinem Inneren. Du machst das schon.“, mit diesen Worten, lief die schwarze Wölfin tiefer in den Wald und verschwand schnell in der Finsternis.
Verwirrt blieb Melaara am Platz hocken und versuchte sich auf das zu konzentrieren was Kayate ihr gerade eben erzählt hatte: Auf ihr menschliches Dasein. Doch es war viel schwieriger als erwartet. Ihre Ohren nahmen immer wieder Geräusche auf. Ihre Nase fremde und neuartige Gerüche. Alles was vorher uninteressant war, wurde jetzt umso interessanter. Sie wollte sich nicht zurückverwandeln. Aber sie wusste, dass wenn sie es jetzt nicht tat, vielleicht nie wieder die Chance dazu hätte. Sie atmete so tief sie konnte ein, schloss die Augen und rief das Bild des Mädchens mit dem Namen Melaara in ihr auf. Verschwommen, wie das Spiegelbild im Wasser sah sie es vor ihrem geistigen Auge. Das Bild des Mädchens wurde immer klarer. Sie öffnete schlagartig die Augen und sah an ihr hinunter. Kein weißes Fell, keine Pfoten, stattdessen aber Hände, Beine, ihr menschlicher Körper. Das Rascheln wurde lauter und war nun nur noch wenige Meter entfernt. Sie kniff die Augen zusammen und spähte zu dem Weg von dem sie gekommen war. Schnaufend, kam ihr Takeo entgegen. Seine Haare waren komplett durcheinander und hingen ihm wild ins Gesicht. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er rang angestrengt nach Luft. Vermutlich war er den ganzen Weg gelaufen. Er hatte seine blaue Jeans an, sowie schwarze Turnschuhe. Die schwarze Winterjacke mit Kapuze und Fellkragen daran schien schwer wie Blei an seinem Körper zu kleben. „Me-Melaara“, brachte er schnaufend hervor. Er kam stürmisch auf sie zugelaufen. Als er schließlich genau vor ihr stand umarmte er seine Schwester wild. Sie stieß ein verwirrtes Jauchzen hervor. „Du… Du bist nicht sauer?“, fragte sie vorsichtig. „Oh doch! Und wie sie sauer bin!“ Er löste sich aus der Umarmung und sah ihr mit ernstem Gesicht entgegen. „Aber ich bin viel erleichterter darüber, dass alles mit dir in Ordnung ist.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie war froh, dass Takeo nicht allzu wütend war. Und noch glücklicher war sie als er erzählte er habe ihre Eltern nicht aufgeweckt. „Wir sind es inzwischen ja schon gewohnt, dass du öfters Mal im Wald verschwindest. Und außerdem schien Vater ohnehin schon wütend auf dich zu sein.“ „Ja, er hat mich mal wieder am Computer erwischt.“ „Hab ich mitbekommen. Jetzt lass uns zurückgehen. Es ist unendlich kalt. Nebenbei…“, jetzt widmete er seinen Blick auf den See, welcher hinter ihr in majestätischer Stille lag. „Seit wann gibt es hier einen See? Der ist mir noch nie aufgefallen.“ „Na ja, so tief hab ich‘s ja auch noch nie in den Wald geschafft. Ihr seid ja alle ziemlich gut im Fangen.“ sie grinste auf einmal unheimlich breit. „Und dieser See hat‘s wirklich in sich.“ Verwirrt sah er zu ihr: „Wie meinst du das?“ Sie schwieg. Das Mädchen war sich nicht sicher ob sie es ihm zeigen sollte. Einerseits hatte er es ja verdient, genauso wie sie, rauszufinden, was er wirklich war. Jedoch war sie nicht sicher wie Takeo es verkraften würde. Immerhin lebte er beinahe glücklich und zufrieden in seiner „Alles ist Bestens“- Welt und hatte sich auch nie wirklich darum gekümmert, dass er anders war. So arrangiert für dieses Thema hat er sich zumindest nie.
Unsicher sah sie ihn an. „Willst du eigentlich wissen was du bist? Ich meine…“ sie zögerte. „Du weißt dass du kein… kein Mensch bist, oder?“ Ihr Bruder sah sie zuerst verwirrt und dann fast etwas verärgert an. „Ich glaube, wir wollen doch alle wissen was wir sind und wo unser Platz in dieser Welt ist.“, antwortete er gedankenverloren. „Das heißt also du willst es wissen?“ Der Satz hatte fast mehr etwas von einer Feststellung als von einer Frage. Takeo näherte sich vorsichtig und unsicher dem See. Er musterte sein eigenes Spiegelbild sehr präzise. „Wenn du weißt was wir sind, dann zeig’s mir doch.“, in seiner Stimme lag ein Hauch von Herausforderung. Als könne er nicht glauben, dass seine Schwester tatsächlich herausgefunden haben sollte, was auch er schon immer wissen wollte. Noch immer zögerte sie. Überlegte wie sie ihrem Bruder seine andere Hälfte zeigen sollte. Vielleicht genauso wie Kayate es ihr vorgemacht hatte?
Sie setzte sich gelassen an den See und blickte in ihr eigenes verwaschenes Gesicht. „Setz dich.“ Takeo tat das was sie sagte. „Schau unsere Spiegelbilder an. Was siehst du?“ Während er angestrengt in den See sah, konzentrierte auch sie sich auf den Schatten der hinter ihr im Wasser lag. Diesmal dauerte die Verwandlung nur halb so lange. Sie hatte nur wenige Sekunden ins Wasser gesehen und war schon wieder eine Wölfin geworden.
Genau wie es bei ihr war, schaute Takeo verstört auf und blickte in ihre Richtung, doch diesmal war sie es die ein wölfisches Lächeln auf den Lefzen hatte und nicht Kayate.
Alles spielte sich genauso ab wie zuvor bei ihr: Zuerst der Schock, dann die Verwunderung, die Einsicht, die Fragen und zum Schluss die eigene Verwandlung. Überrascht musste sie feststellen das Takeo dies bei weitem besser zu verkraften schien als sie. Als er bereits das zweite Mal in den See sah, erfolgte seine Verwandlung um einen Hauch schneller als ihre. Er tat sich bei allem sichtlich leichter. Auch er war zu einem Wolf geworden. Ein zierlicher rot-brauner Wolf. Die Augen feuerrot, mutig, und doch noch kindlich. „Ja, das ist Takeo.“, lächelte Melaara als sie ihn in seiner wahrhaftigen Gestalt sah. Dieser sah noch immer verwundert an seinem Körper entlang. Hob die Pfoten. Schnupperte in die Luft. Sah wieder und wieder erstaunt in den See hinein.
Die ganze Nacht lang hindurch tollten sie am See herum, rauften miteinander, oder versuchten kleinere Tiere, wie Hasen oder Wühlmäuse, zu erschnüffeln und zu fangen. Jedoch ohne Erflog. Zwar waren sie Wölfe und ihre Nasen, ihre Schnelligkeit und ihre Fänge trugen sicherlich dazu bei gute Jäger zu sein, doch sie waren darin ziemlich erbärmlich. Als Melaara versuchte einen kleinen braunen Feldhasen zu fangen, machte der, kurz vor dem See, eine scharfe Linkskurve und ließ sie somit geradewegs in den See segeln. Triefendnass und knurrend kroch sie heraus. Takeo machte sich dementsprechend lustig darüber, mit Sätzen wie: „Einen Hasen bekommt sie nicht, vielleicht ja einen Fisch?“, oder „Vielleicht ist deine wahre Seele ja doch ein Fisch. Oder ein Wal!“. Sie beachtete ihn gar nicht. Denn auch ihr Bruder war im Moment nicht wirklich besser im Jagen und Fährten verfolgen.
So ging es die ganze Nacht lang hindurch, bis der Mond langsam verschwand und der Sonne den Himmel freiräumte. Die Sterne verblassten und der Himmel veränderte seine Farbe von einem dunklen Blau Ton zu einem strahlendem, wolkenlosen, Hellblau gemischt mit dem Orange-Gelb der Morgensonne.
Sie lagen zusammengerollt in ihrer Wolfsgestalt am See.
Verschlafen öffnete die weiße Wölfin ihre Augen und blinzelte dem Sonnenlicht entgegen. Das erste was ihr in den Sinn kam war, wann sie wohl eingeschlafen war und wie angenehm weich das Gras sich unter ihrem Körper anfühlte. Doch diese Gedanken hielten nicht für lange. Als sie merkte wie hoch die Sonne bereits stand, riss sie ruckartig ihrem Kopf hoch, was auch Takeo erwachen ließ. „Schwester…?“, fragte er, noch total verschlafen. Er schien zu denken es sei immer noch tiefe Nacht, da er nur wenige Momente später seinen Kopf wieder auf die Pfoten legte. „Takeo!“, unsanft sprang sie Takeo an um ihn zu wecken „Takeo, es ist bereits Tag!“ „Unsere Eltern!“ Jetzt schien es, dass auch aus Takeo jegliche Müdigkeit entwichen war. Panisch hob er seinen Kopf um sich umzusehen und ihre Aussage zu überprüfen. „Wenn sie merken, dass wir fehlen wird das riesen Ärger geben! Steh auf!“, sie schubste und zwickte ihn so lange, bis er endlich schweren Herzens aufstand. „Ich hoffe sie sind noch nicht wach!“, die Ohren angelegt schluckte er heftig. Schon lief er los. Obwohl er schmächtig war, war er ein sehr flinker Läufer. Mit seinen Pfoten schwebte er förmlich über dem Boden. Seine Schwester tat es ihm gleich. Die große Spanne auf der Ebene, zwischen See und Waldrand, überwindeten sie in Windeseile. Als sie den Waldrand erreicht hatten - sie hatte inzwischen die Führung übernommen - drehte sie sich noch einmal um und blickte, beinahe sehnsüchtig, zum See zurück. Takeo drängte sie weiter.
Auch als sie im Wald waren, der von Wurzeln, dicken Ästen und allerlei anderen Dingen waren, die es einem Menschen schwermachen würden zu laufen, hatten sie keine Problem und glitten förmlich übers Unterholz. Jedoch schien ihr Bruder langsam müde zu werden. Er hechelte schnell und sie konnte sehen wie seine Hinterbeine leicht zitterten. Die weiße Wölfin verlangsamte den Lauf ein wenig. Erschöpft, jedoch dankbar, sah er zu ihr hinüber. „Halte durch. Wir haben es gleich geschafft.“, tröstete sie ihn. Er nickte nur stumm.
Langsam wurde der Weg wieder begehbarer. Das Unterholz war nicht länger ein Unterholz, sondern ein kleiner schmaler Weg, der von braunen Kieselsteinen gebildet wurde. Die Weiße konnte schon die Äste der knorrigen Eichen sehen, die sowohl Ein- als auch Ausgang bildeten. „Wir sollten uns wieder zurückverwandeln.“ Takeo kam langsam zum Stehen. Ein kleiner Stich flammte auf in ihrem Herzen. Sie wollte sich noch nicht verwandeln. Sie wollte noch weiter herumtollen. ihre Schnelligkeit austesten, kleine Tiere jagen, versuchen neue Gerüche in ihr aufzunehmen und ihnen Namen zu geben. Aber was blieb ihr für eine andere Wahl? Sie wusste nicht wie ihre Eltern wohl reagieren würden, wenn sie ihre Tochter als weißen Wolf wiederfänden. Zwar wusste sie bereits, dass wohl auch sie Wölfe waren, doch es war offensichtlich, dass sie ihren Kindern ihre wahren Seelen nicht zeigen wollten. Sie wollten sie als Menschen haben.
Hin und her gerissen nickte sie einfach nur unsicher und verwandelte sich, genau wie Kayate es gestern Nacht getan hatte, mit einem geschmeidigem Sprung zurück in einen Menschen. Takeo versuchte es ihr nachzumachen, landete jedoch am Ende weitaus weniger elegant mit seinem menschlichen Hintern auf dem Waldboden. Ein Schmunzeln huschte über Melaaras Mund und sie wollte gerade damit beginnen, sich über seine Landung lustig zu machen, als sie den scharfen Blick ihres Bruders sah. Sie hatte weder Lust noch Zeit einen Streit anzufangen.
Sie gingen geduckt unter den Eichen hervor. Die Geschwister hatten sich zwar wieder in Menschen verwandelt, doch nichts desto trotz: der Wald war ein Tabu. Würden Teshi und Sayo sie entdecken würde das Fragen aufwerfen. Unangenehme Fragen, solche, die sie lediglich mit Lügen hätten beantworten können. Takeo war einer der schlechtesten Lügner. Man konnte ihm an seinen Augen die Lügen ablesen. Der Grund dafür war das er meistens hektisch in alle Richtungen schaute, oder sehr oft blinzeln musste. Doch Melaara war darin auch nicht sehr viel besser. Immer wenn sie log, fing sie zu lachen und zu feixen an. Sie vermieden es zu lügen.
Sie schlichen ums Haus herum, ohne auch nur einen Piep von sich zu geben. Als sie die Vordertür erreicht hatten stiegen sie die kleine Treppe rauf, welche zu einer Mini Veranda führte. Melaara drehte sich zu ihrem Bruder um. „Die dürfen davon nichts erfahren, ok? Noch nicht.“ Takeo nickte eifrig. Dann gingen sie ins Haus.
Schon als sie den ersten Schritt ins Haus machte wurden sie herzlichst begrüßt. Freundlicher als sie es erwartet hatten. Ihre Mutter stand vor ihnen. Sie trug Geschirr in den Händen und hatte ihre langen, schwarzglänzenden Haare zu einem Pferdeschanz zusammengebunden, der ihr über die rechte Schulter hing. „Wo wart ihr denn?“, fragte sie mit einem verwirrten, aber nicht unfreundlichen Ton. „Wir waren im Garten und haben ein bisschen gespielt.“, erklärte die Braunhaarige. Und dies war ja auch nicht gelogen. Sie waren im Garten. Und sie haben miteinander gespielt.
Takeo schien ebenfalls ziemlich ruhig. Er schien komplett entspannt und ausgeglichen, so wie er da im Flur stand. „Wir haben schon gefrühstückt und sind dann raus in den Garten, weil wir euch nicht wecken wollten.“ „Wie lieb von euch.“, Sayo lächelte, dieses gewisse Lächeln, welches sie immer hatte: ein trauriges, melancholisches. Auch wenn die gesamte Familie eine noch so tolle und schöne Zeit hatte, ihre Mutter schien immer eine gewissen Traurigkeit in ihrer Ausstrahlung zu haben, die sie wie einen Wolf wirken ließ. Melaara war es noch nie aufgefallen, aber ihre Mutter schien ihr Wolfsdasein nie wirklich zu verstecken. sie war, genau wie sie, gerne im Wald und liebte die Natur über alles. Während sie mit ihr sprach kam sie ihr wie ein völlig neues Wesen vor. Sie war nicht mehr eine Frau, welche sich um ihre Kinder kümmerte, in ihren Augen, war sie nun eine starke Wölfin und sie stellte ihr vor, wie es wohl wäre, Seite an Seite, auf vier Pfoten, auf einer großen Wiese, mit ihr um die Wette zu laufen.
Erst jetzt nahm sie den Schatten hinter ihrer Mutter war. Es war diese Art von Schatten, die sie und Takeo bereits am See gesehen hatten, diese Dunkelheit, die sich über einen legte, bevor man erkannte, was man wirklich war. Und jetzt umgab er Sayo, ihre Mutter. Sie sah nicht mehr in das Gesicht, welches sie jahrelang kannte. Im Moment sah sie das Gesicht einer schwarzen Wölfin, genau wie Kayate. Jedoch mit dem Unterschied, dass nicht Kayates olivgrüne Augen sie anfunkelten, jedoch die silbernen Augen ihrer Mutter. Sie hatte sich nicht in eine Wölfin verwandelt. Jedoch sah sie halb in das Gesicht ihrer Mutter und halb in das Gesicht ihrer wahren Seele.
Melaara musste einen verblüfften Eindruck gemacht haben, denn Sayo lachte leicht und fragte dann was denn so spannend wäre. „Äh, ah…“, stammelte sie zuerst vor sich hin. „Nichts, nichts“, sie schüttelte schnell den Kopf. Sayo musterte ihre Tochter noch einen Augenblick bevor sie dann Richtung Küche ging. Sobald sie außer Hörweite war legte Takeo seiner Schwester eine Hand auf die Schulter und schaute sie mit ernstem Blick an: „Du darfst dich nicht so verlieren. Wir wussten doch, dass sie Wölfe sind. Scheint irgendwie in unserer Familie zu liegen.“ Sie sah, beinahe beschämt, zu Boden. „Ich weiß… ich war nur so… überwältigt.“ Er ließ seine Hand von ihrer Schulter gleiten. „Noch ist nicht die Zeit, Nerven zu verlieren. Wir werden es ihnen sagen, wenn die Zeit gekommen ist. Bis dahin müssen wir uns zurückhalten.“ Takeo drängte sich an ihr vorbei und wollte ebenfalls Richtung Küche gehen, als sie ihn an der Hand packte und zurückhielt. „Und wann wird diese Zeit gekommen sein?“, Unsicherheit. „Ich will hier nicht eingesperrt sein. Das war ich lange genug. Ich will fort von hier.“ Verzweiflung hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Doch bevor er etwas antworten konnte kam auch schon Teshi, der Vater dazu. Schnell ließ sie Takeos Hand los. Sie spürte den Blick ihres Vaters auf ihr. „Stimmt was nicht? Wieso steht ihr denn hier alle im Flur rum?“, Teshi schien Takeo aus seiner Starre zu reißen. Er wuschelte seinem Sohn durch die Haare und warf auch Melaara ein sanftes Lächeln zu. Es schien als hätte er ihr die Aktion heute Nacht bereits verziehen.
Auch um Teshi hatte sich das seltsame Dunkel gelegt. Und schon nach kurzer Zeit war ein weiteres Wolfsgesicht zu erkennen. Es war das Gesicht eines Wolfes mit smaragdgrünen Augen und einem Gold-gelben Fell, mit weißer Musterung am Bauch und an der Schnauze. Es war beeindruckend, wie sehr sich Teshi und Sayo unterschieden. Melaaras Vater war ein so heller, strahlender Wolf, als würde mit seinem Kommen, sofort der Tag und die Wärme der Sonne eintreffen. Sayo war das genaue Gegenteil. Mit ihr kamen die mondlose Nacht und ein stürmischer, und erfrischender Regen, der einen für immer verzaubern konnte.
Sie wandte ihrem Blick gen Boden damit sie ihn nicht genauso anstarren würde wie ihre Mutter zuvor. Er schien sich darum auch nicht weiter zu kümmern. „Wir werden heute in die Stadt fahren.“, begann er. „Eure Mutter hat da gestern einen neuen Antiquitäten Laden entdeckt, bei dem sie unbedingt ein paar Sachen kaufen möchte.“ In seiner Stimme konnte man hören, dass er von der ganzen Idee nicht sonderlich begeistert war. „Wir werden wohl erst gegen Abend wieder zurückkommen. Stellt bis dahin bitte nichts an.“ „Wir doch nicht.“, gab Melaara trocken zurück, blickte auf und lächelte müde. „Pizza ist im Kühlschrank, genug für eine ganze Fußballmannschaft.“, gesellte sich Sayo dazu. „Aber kommt ja nicht auf den Gedanken hier eine Party zu veranstalten!“, bemerkte der Vater. „Wir werden vielleicht zu Kayate rübergehen. Wir haben noch was mit ihr zu besprechen.“ Takeo sah seine Schwester etwas verwundert an. Doch sie hatte längst einen Plan. Zumindest war ein Teil des Plans, das Mädchen zur Rede zu stellen und sie darum zu bitten ihnen mehr über die wahrhaftigen Seelen zu erzählen.
„Besprechen?“, wiederholte ihr Vater. „Was denn?“ „Schule“, antwortete sie kurz und knapp. Mit einem misstrauischen Grinsen schaute ihre Mutter sie an. „Dann viel Spaß beim ‚lernen‘.“, kicherte sie, während sie bei dem betonten Wort „lernen“ zwinkerte. „Wir gehen dann mal.“, Teshi drängte sich an ihnen vorbei und griff nach seiner braunen Lederjacke, während auch Sayo sich ihre weiße Jacke, mit Kapuze und grauen Flaum daran, schnappte. Ihr Vater war bereits zur Tür hinausgegangen und wartete schon ungeduldig. Doch Sayo nahm sich die Zeit, ihre Kinder noch einmal beide ausgiebig mit besorgtem Gesicht zu mustern und dann ein kleines Auf Wiedersehen winkte.
Eine ganze Weile war es still im Haus. So still, dass die Luft stickig zu sein schien und einem den Atem raubte. Takeo drehte sich so schnell zu ihr um, dass diese heftig erschrak und erstmal einen Sprung zurückmachen musste. „Was sollte das?!“, flog er sie scharf an. Zuerst verstand sie nicht ganz was das nun sollte und starrte ihn einfach nur überrumpelt an. „Wie kommst du auch nur auf den Gedanken von hier wegzuwollen?“ Jetzt endlich verstand sie was er wollte. Bevor ihr Vater kam, hatte sie ihm erzählt wie gerne sie von hier wegmöchte. Es schien ihn sehr aufgebracht zu haben, sie konnte fühlen wie sein Herz schnell und voller Wut klopfte und wie das Blut durch seinen Körper rauschte und ihn erhitze. „Willst du denn nicht weg? Was wenn unsere Eltern uns nicht erlauben unsere neue Seite auszuleben? Ich verstehe nur einfach nicht wieso sie uns nichts von diesen wahrhaftigen Seelen erzählt haben, aber wenn sie es uns schon nicht sagen wollten, werden sie es sicher auch nicht gestatten das wir uns in dieses Thema vertiefen.“ Er hielt ihren Blick mit seinen Augen fest. Sie hielt ihm stand und konnte in seinen rötlichen Augen das gleiche sehen, was sich auch in ihren Augen befand: den Willen nach Freiheit. „Es sind unsere Eltern.“, sagte er, wie als müsse er sich selbst noch davon überzeugen. Er senkte seinen Blick und wirkte somit noch kleiner als er es sonst schon ist. Mitleid machte sich in ihr breit. Sie wollte ihren Bruder nicht verletzen. Und auch ihre Eltern wollte sie nicht einfach so verlassen, als ob sie sie nie gekannt hätte. Aber der Ruf in ihr, das was in ihr war und ihr sagte sie solle frei sein, dorthin gehen, wo sie wollte und nicht wo ihre Familie wollte, war so stark, dass ihr Kopf zu zerbersten schien. Und zum ersten Mal schien sie die Chance dazu zu haben. Takeo schien es jedoch nicht viel anders zu gehen.
Melaara wusste genau, dass auch er diesen Drang nach Wildheit hatte. Den, den sie gerade erst letzte Nacht entdeckt hatten.
Sie verbannte das Thema erstmal aus ihren Gedanken, drehte sich um und wollte das Haus verlassen. „Wohin gehst du?“, Takeo machte einen Schritt näher in ihre Richtung, unschlüssig ob er ihr folgen sollte. „Zu Kayate. wir müssen lernen, schon vergessen?“ „Lernen?“, wiederholte er. „Wieso wiederholst du immer alles! Du bist ein Wolf und kein Papagei!“ Diese Bemerkung schien ihn leicht zu kränken, jedoch wusste sie nicht, ob es nicht einfach nur an dem Grund lag, dass er es nicht gewohnt war „Wolf“ genannt zu werden. Doch das war nun mal seine wirkliche Seele. „Du willst doch sicher auch lernen wie man besser jagt, Fährten liest und was wir vielleicht sonst noch so alles können, oder? Vielleicht weiß Kayate ja sogar mehr darüber warum unsere Eltern es uns nicht erzählen wollten.“ „Natürlich, aber ich verstehe nicht wie Kayate damit im Zusammenhang steht, und noch weniger, warum du ihr erzählen willst was wir sind! Schließlich sollten wir das niemandem erzählen.“ Ach ja… Takeo wusste ja nicht wie sie überhaupt herausgefunden hatte was sie war. „Du hast es noch immer nicht begriffen? Was glaubst du denn wie ich herausgefunden habe, dass es diese speziellen Seelen überhaupt gibt?“, in ihrer Stimme lag eine Herausforderung. Takeos Augen weiteten sich vor Schreck, Neugier und schließlich auch deswegen, weil er verstanden hatte worauf sie hinauswollte. „K-Kayate, sie hat auch eine Tierseele?“, fragte er ungläubig. Doch anstatt ihm eine Antwort zu geben, war sie bereits auf der Straße und auf dem Weg zu Kayates Haus. „Hey, warte auf mich!“, rief er empört. Rasch schloss er die Haustür hinter sich und lief ihr nach.
Nach wenigen Minuten standen sie vor dem Holzhaus welches Kayate gehörte. Plötzlich dachte Melaara wieder an den ersten Tag zurück, an dem sie dieses Haus betreten hatte. Es war eine wundervolle Erinnerung an ihre erste richtige Begegnung. Doch jetzt im Moment erkannte sie dieses Haus nicht wieder. Damals wirkte es so unfassbar gemütlich, sowohl von außen, wie auch von innen. Auf einmal jedoch kam ihr der Gedanke, wie Kayate, als schwarzer Wolf durchs Haus streifte, die olivgrünen Augen aus der Dunkelheit heraus glühend.
Ein Schauer lief über ihren Rücken. Sie hatte keine Angst vor Wölfen, ganz im Gegenteil. Lediglich der Gedanke in einem alten Haus wie diesem von einem schwarzen Wolf angegriffen zu werden, versetzte sie in leichte Panik. Für einen Bruchteil der Sekunde dachte sie an den Traum den sie immer hatte. Als der weiße und der schwarze Wolf gegeneinander kämpften. Hatte Kayate etwas damit zu tun? Ihre Gedanken wanderten wie verrückt herum und blieben letztlich wieder an den schauerlichen Gedanken hängen, wie Kayate als Wolf durchs Haus schlich. Ihr Puls beruhigte sich schnell wieder, als sie daran dachte, dass auch sie niemandem auf die Nase binden wollte, was sie wirklich war und dann sicherlich nicht in ihrem eigenen Haus als Wolf herum streifen würde.
Takeo blieb hinter ihr stehen als sie dreimal fest gegen die Haustür klopfte. Schon nach kurzer Zeit konnte man ein lautes Poltern im Inneren des Hauses hören, danach Kayates gedämpfte Stimme die durchs Holz drang: „Komme schon, komme schon.“ Als sie die Tür öffnete entfuhr ihr ein erstauntes „Oh!“. Die braunhaarige entgegnete nur mit einem fast gelichgültig wirkendem „Hi.“ „Was gibt’s?“, fragte sie beinahe scheinheilig. „Das weißt du genau.“, Melaara machte ein ernstes Gesicht. Kayate sah etwas unsicher zu Takeo, bevor sie sich dann an die Seite der Wand lehnte. Mit einer Hand deutete sie ins Haus. „Kommt rein.“
Melaara zögerte keinen Augenblick und trat ein, während ihr Bruder noch eine Weile etwas unschlüssig an der gleichen Stelle verharrte. Doch als seine Schwester bereits im Dunkel des Hauses zu verschwinden drohte, beeilte er sich ebenfalls schnell ins Haus zu gelangen.
Als Kayate die Tür schloss, schien es, als sperre sie alles andere ebenfalls aus. Das Wohnzimmer lag vorerst in vollkommener Finsternis, bis Kayate endlich einen Lichtschalter anmachte und an der Decke ein altes flackerndes Licht anging. Sie setzte sich auf den kleinen Couchtisch vor dem Kamin und bedeutete ihnen es sich auf der Couch bequem zu mache. Als sie Beide, etwas verkrampft, da saßen, musterte Kayate zuerst Melaara und dann Takeo. Eine gefühlte kleine Ewigkeit.
„Du hast es ihm erzählt?“, fragte sie schließlich an das andere Mädchen gewandt. Diese nickte. „Er ist mein Bruder. Alles was ich weiß, darf auch er wissen.“ Sie konnte spüren wie Takeo sie anlächelte.. „Und was wollt ihr nun von mir?“ „Wir wollen das du uns mehr von der ganzen Sache erzählst. Mehr über diese speziellen Seelen. Und über Wolfsseelen. Wir wollen wissen zu was wir alles in der Lage sind.“, sprach Takeo das erste Mal in der ganzen Zeit. „Ich?“, fragte Kayate entgeistert. „W-Wieso ich? Ihr müsst das alles selbst lernen!“ „Meine Schwester hat mir erzählt, dass du auch eine Wolfseele hast. Und das du um einiges länger davon Bescheid wusstest als wir. Du weißt was es ausmacht solch eine Seele zu haben, wie man damit umgehen kann.“ Kayate schüttelte ungläubig den Kopf. „So viel wie du mir weismachen willst kann ich nicht. Ich kann euch beibringen wie man die wölfischen Fähigkeiten besser einsetzen kann. Ich kann euch das Jagen beibringen, oder vielleicht wie man kämpft, aber alles andere müsst ihr schon selbstrausfinden.“, bei diesem Satz lag ihr Blick vor allem auf Melaara. Fragend sah sie sie an. „Was haben wir denn noch für Fähigkeiten?“ „Manche haben welche, manche nicht. Die Einen wissen wie’s geht, die Anderen müssen es lernen…“ „Sprich nicht in Rätseln.“, beschwerte Melaara sich. „Was ich damit sagen will…“, begann Kayate erneut. „Ich weiß nicht, wer welche Fähigkeiten hat, wie sie funktionieren, wie man sie alle erlernen kann. Ich habe schon Wölfe mit Flügel gesehen, oder Füchse die ihre Gestalt ändern konnten. Auch schon Krähen die Elemente beherrschen konnten.“ „Wie finden wir denn dann heraus welche Fähigkeiten wir noch haben?“, wollte Takeo wissen. „Wie gesagt; Ich weiß es nicht. Zumal ich kein solcher Wolf mit speziellen Fähigkeiten bin, also wieso fragt ich mich das?“, sie wirkte ein wenig genervt. Für sie schien es ziemlich anstrengend zu sein, den Neuankömmlingen ihre Welt und die Dinge zu erklären, welche eigentlich vollkommen offensichtlich zu sein schienen. Doch nichts war offensichtlich. Immer wieder gab es neue Dinge, die Melaara und Takeo erkunden konnten und immer neue Sachen, die sie noch zu lernen hatten. Und Kayate konnte ihnen dabei vielleicht helfen. So leicht würden sie sie diesmal nicht davonkommenlassen lassen. Sie würden sich nicht abwimmeln lassen. „Also gibt es auch solche die keine Fähigkeit haben?“ Kayate nickte schweigend. „Sie können sich in ihre tierische Form verwandeln, und vielleicht ein paar Vorteile daraus ziehen, wie zum Beispiel einen besseren Geruchssinn, oder Gehörssinn. Doch das war‘s dann auch schon.“
Eine beinahe unendliche Zeit herrschte Schweigen und Kayate wurde von zwei Paar Wolfsaugen unerbittlich fixiert. Auch sie schien zu wissen, dass sie diesmal so einiges zu erklären hatte. Doch schien sie ihr Wissen nicht ohne weiteres preiszugeben. „Was wollt ihr von mir?“, wiederholte sie noch einmal monoton. „Unsere Fähigkeiten kennenlernen. Jagen, Fährten lesen… Die Dinge die ein Wolf können muss.“, antwortete Melaara gelassen. „Und eure Eltern?“ „Die werden nichts erfahren. Noch nicht. wir sagen es ihnen, wenn die Zeit reif ist.“, Takeo tauschte einen vielsagenden Blick mit seiner Schwester aus, diese nickte, leicht, kaum merkbar. „Ich kann euch aber nichts zeigen, wenn wir nicht an einem Ort sind, an dem wir alleine sind.“ “Was ist mit dem Wald?“, warf die Braunhaarige ein. „Unsere Eltern sind heute, bis abends, in der Stadt. Wir könnten in den Wald gehen.“ Kayate musterte sie eine Weile. Die Schwarzhaarige hatte ihre Arme inzwischen vor ihrer Brust verschränkt und wirkte so nun noch ernster. „Ein Tag wird jedoch nicht genug sein, um euch alles beizubringen. Zwar besitzt ihr all die Sinne und Fertigkeiten eines Wolfes, doch da niemand sie euch jemals gezeigt hat wie sie funktionieren, werdet ihr alles von vorne lernen müssen. Quasi wie ein Welpe.“ Melaara wusste nicht, ob Kayate sie provozieren wollte, oder ob sie einfach nur versuchte sie aufzuhalten, auf jeden Fall machte ihr Gerede sie wütend. „Wir sind keine Welpen!“, rief sie aufgebraust. Vermutlich etwas zu laut und zu hart als, dass es tatsächlich nötig gewesen wäre. „Wir müssen eben nur lernen uns zu erinnern!“ Kayate war sichtlich überrascht von ihrem Übereifer. Das überraschte Gesicht verwandelte sich jedoch schon sehr bald in ein Lächeln. Es war kein freundliches Lächeln, so wie man es von Kayate kannte. Mehr wie Zähne fletschen. Es wirkte geradezu grausam als sie zu sprechen begann: “Schön. Aber es wird nicht leicht für euch werden.“
Wenige Stunden später befanden sie sich in jenem Wald. Am Tag wirkte alles viel freundlicher, als im Vergleich zu dem fahlen Mondlicht. Die Sonne ließ den See noch viel mehr funkeln. Überall im Wasser waren Lichtreflektionen, so viele, und so funkelnd, dass man glauben konnte sie wären lebendig. Kayate hatte sich am Ufer, genau in der Mitte des Sees hingestellt und ihr Gesicht zum Waldrand gerichtet. Doch sie schaute auf die beiden Wölfe, welche wartend vor ihr standen. Ein weißer und ein brauner, ihre Muskeln angespannt und bereit, jederzeit loszulaufen.
Ruhig und gelassen, als wären gar keine Raubtiere, sondern nur zwei Menschen vor ihr, begann sie zu sprechen: “Es gibt noch sehr viele Dinge, die ihr lernen müsst. Aber gleichzeitig müsst ihr euch im Klaren sein, dass ihr keine richtigen Wölfe seid. Ihr seid nur halbe Wölfe. Halb Wolf, halb Mensch. Ihr müsst, auch wenn ihr gerade an der besten Beute nagt, die ihr jemals gefangen habt, daran denken, dass ihr immer noch halb Mensch seid.“ Die Tiere nickten, den Blick gespannt auf das Mädchen gerichtet das vor ihnen stand, die Ohren weit aufgerichtet. Sie fuhr fort: “Nun gut. Ich werde euch das beibringen, was ich weiß. Und zwar in der Reihenfolge, wie es auch richtige Wölfe lernen. Wenn ein Wolf auf die Welt kommt, ist er taub und blind. Er muss seine Sinne im Laufe der Tagen und Wochen schärfen. Ihr seid, so könnte man das sagen, erst vor ein paar Tagen auf die Welt gekommen. Natürlich sind eure Sinne weitaus ausgeprägter als wie die eines Welpen, schließlich seid ihr ja schon viel älter. Dennoch, eure Sinne sind noch lange nicht so stark wie die eines Wolfes in eurem Alter.“ Beim letzten Satz warf sie ihnen einen grinsenden und vielsagenden Blick entgegen. Leise schnaubte die Weiße: “Tussi“ Die Schwarzhaarige ignorierte es gekonnt. „Wir werden also damit beginnen, eure Sinne etwas zu schärfen. Beginnen wir mit der Nase. Wir werden jetzt wohl erstmal Verstecken spielen.“ Die Schwarzhaarige grinste ein wenig und verwandelte sich dann in ihre schlanke Wolfsgestalt. Ihr schwarzes Fell schimmerte geschmeidig im Sonnenlicht, während ihre Augen vor Aufregung funkelten. „Folgt mir erstmal. Hier am See ist Verstecken spielen für euch zu einfach.“ Sie ging um den See herum, auf den Waldrand zu, tiefer in den Wald hinein. Nach einiger Zeit waren sie wieder von dichten Bäumen umringt. Kayate hatte sie in einen besonders schwierigen Teil des Waldes geführt: die Bäume standen so dicht beieinander, dass man kaum geradeaus gehen konnte, das Sonnenlicht fiel so unpassend durch die Baumkronen, dass man immer wieder unvorhergesehen stark geblendet wurde und für einen kurzen Moment die Orientierung verlor. Selbst Kayate war in diesen Mischmasch aus Bäumen nur sehr schwer auszumachen. „Wolfsaugen sind nicht sehr viel besser als das menschliche Auge. Das ist auch der Grund warum wir uns mehr auf unseren Geruchs- und Gehörssinn verlassen. Ihr werdet jetzt die Augen schließen und am besten zehn Minuten oder so warten.“ „Zehn Minuten?!“, rief Takeo entsetzt. „Da bist du ja schon über alle Berge!“ „Ich habe euch doch gesagt, dass es nicht einfach sein wird. Es SOLL ja auch gar nicht einfach sein, sonst lernt ihr ja nichts. Außerdem, wenn ihr eure Nasen benutzt sollte es ein leichtes sein mich zu finden. Vor allem…“, jetzt deutete sie mit ihrer rechten Pfote auf ihre Beine. “Wozu hab ihr so starke Läufe, wenn ihr sie nicht benutzt?“ sie drehte sich um und warf ihnen einen nicht deutbaren Blick zu. „Augen zu. Die erste Prüfung beginnt.“ Wie ihnen gesagt wurde schlossen sie die Augen und konnten am Rascheln der Blätter und Büsche hören, wie Kayate davon sauste.
Geduldig, wie es ihnen aufgetragen wurde, warteten sie zehn Minuten lang. Die Zeit schien kaum zu vergehen. Die Aufregung hatte sie inzwischen gepackt. Sie konnte es kaum abwarten los zustürmen und die neue Welt zu erkunden. Auch Takeo schien langsam von ihrem Übereifer etwas abzukriegen. Seine Ohren zuckten wie wild und nahmen jedes noch so kleines Geräusch auf, sein Körper war zum Zerbersten angespannt, auch er konnte es scheinbar kaum erwarten loszulegen. Melaara hatte tatsächlich nicht erwartet, dass er so offen war für diese neue Welt.
„Das müssten jetzt zehn Minuten gewesen sein.“, ein Zittern mischte sich in ihre Stimme, darin spiegelte sich ihre Neugierde und Ungehaltenheit. Auch ihr Bruder öffnete geschwind seine Augen. Auf diesen Satz schien er gewartet zu haben und stürmte im Zick Zack zwischen den Bäumen hindurch. „Dann los!“, rief er ihr über die Schulter nach hinten zu.
Auch sie tat es ihm gleich und lief geschmeidig, wie ein Wiesel durch die vielen Bäume. Plötzlich jedoch hielt sie an. „Takeo!“, rief sie zu ihrem Bruder, welcher daraufhin ebenfalls abbremste und zu ihr zurücklief. „Was denn? Ich will laufen!“, Ungeduld und beinahe Zorn ließen seine Stimme zittern. „Unsere Aufgabe ist es unsere Nasen zu benutzen. Nicht unsere Läufe.“ Beinahe bedauernd senkte sie den Kopf und begann am Boden zu schnuppern. „Nicht nur unsere Läufe. Noch nicht.“, fügte sie kaum hörbar hinzu. Zögernd folgte Takeo dem Beispiel seiner Schwester und begann seinen Kopf zu senken und eine Fährte aufzunehmen. Der Geruch der Erde mischte sich mit all den Tieren, die hier vorbeikommen waren: Ein paar Eichhörnchen, ein Wiesel, ein Hase. Auch ein Fuchs war zu riechen. Doch von dem Duft eines Wolfes war keine Spur. „Ich kann sie nicht riechen.“, winselte Takeo enttäuscht. „Ich auch nicht. Aber wir dürfen nicht aufgeben.“ Immer mit der Nase am Boden trabten sie zwischen den Bäumen hindurch, immer darauf fixiert Kayates Spur aufzunehmen. Sie versuchten sich in Erinnerung zu rufen wie Kayate roch. Sie roch immer nach Wald, nach Wiese. Aber vor allem duftete sie nach Holz. Nach altem, von Staub bedecktem Holz. Die Weiße sog die Luft so tief sie konnte ein und versuchte all den Gerüchen einen Namen zu geben. Und tatsächlich mischte sich etwas darunter was wie Kayate zu riechen schien. Mit dem Geruch in ihrer Nase, bildete sich vor ihrem geistigen Auge, das Bild von Kayate. Von da an war sie sich sicher: sie hatte eine Spur gefunden. Begeistert und schwanzwedelnd rief sie Takeo zu sich und verkündete die frohe Botschaft. Mit strahlendem Gesicht legte er seinen Kopf auf ihren Hals, was einer Umarmung glich. „Gut gemacht, Schwester.“, jubelte er, jedoch so leise wie er konnte. Vielleicht konnte Kayate ihn hören und würde dann unbemerkt noch weiter davonschleichen.
Konzentriert folgten sie der Fährte tiefer in den Wald, sie bewegten sich so leise wie Schatten.
Nach einer kleinen Ewigkeit der Fährtenverfolgung, fanden sie sich auf einer kleinen Lichtung wieder. Am anderen Ende der Lichtung befand sich ein großer Baumstumpf, auf dem sich ein Zusammengerolltes, Schwarzes Etwas befand. Der schwarze Wollknäuel bedeckte fast den ganzen Stumpf und lag im Schatten, den die Blätter der Bäume gerade noch so warfen. Das Etwas bewegte sich kaum merkbar, sanft auf und ab. Es atmete. „Kayate!“, rief Takeo und das schwarze Ding zuckte unweigerlich zusammen. Langsam stellten sich zwei spitze Ohren auf, die vorher vollkommen angelegt und somit nicht zu sehen waren. Dann blickte ein Kopf mit zwei verschlafenen Augen in ihre Richtung. Die olivgrünen Augen waren beinahe vollkommen geschlossen. Kayate rollte sich auf dem Baumstumpf auf den Rücken und streckte faul ihre vier Beine in die Luft, während sie gähnte. „Glückwunsch. Ihr habt mich gefunden…“, murrte sie. Melaara lief ungebremst auf die schwarze Wölfin zu und schubste sie mit einem großen Sprung von ihrem Schlafplatz runter. „Aufwachen!“, rief sie übermütig und stellte sich über die andere Wölfin. Mit einem breiten Grinsen zog sie spielerisch und sanft an Kayates Ohr. Diese strampelte und grunzte zufrieden dabei. „Schon gut, schon gut!“ Die schwarze Wölfin befreite sich geschickt und warf die Andere von sich runter. Danach schüttelte sie den Schlaf aus ihrem Pelz und schien wieder komplett munter zu sein. „Scheint als wären eure Nasen gar nicht Mal so übel.“, grinste sie zufrieden. Stolz plusterte Takeo sein Fell ein wenig auf. “Aber ihr habt ja gerade erst begonnen“, Kayate streckte sich, machte sich lang und zeigte ihre eindrucksvollen Krallen, die beim Strecken noch länger und gefährlicher wirkten als sonst. „Jetzt fängt das Training erst richtig an!“, rief sie.
Mehrere Stunden lang befanden sie sich im gleichen Abschnitt des Waldes und spielten das gleiche Spiel unzählige Male, um ihre Nasen zu trainieren. „Wenn ihr einen Geruch länger riecht, kann es sein, dass ihr die Fährte irgendwann nicht mehr wahrnehmen könnt. Man gewöhnt sich sozusagen daran.“, behauptete die schwarze Wölfin. Immer wieder wechselten sie zwischen den Versteckten und den Suchern ab. Kayate jedoch hielt sich bei jedem Mal Suchen zurück und gab lediglich Tipps zur Fährtenaufnahme. Die Zeit verflog rasch und bald war auch schon die Dämmerung eingekehrt. Die Sonne verschwand langsam hinter einem Haufen Wolken und tauchte mit ihren letzten wärmenden Sonnenstrahlen alles in ein tiefes Orange.
Sie waren inzwischen zum See zurückgekehrt. Die Sucherei war anstrengend gewesen, und so lagen die Beiden Geschwister dicht beieinander, erschöpft und versuchten hechelnd zu Luft zu kommen. Kayate jedoch schien beinahe gar nicht ermüdet. Trotz des vielen Laufens hechelte sie kaum und schien auch nicht wirklich müde zu sein. Sie stand auf und setzte sich den Geschwistern gegenüber. Diese hatten bereits alle Viere von sich gestreckt und lagen auf dem Bauch. Gespannt und erschöpft sahen sie zu ihr. „Von dem bisschen Laufen seid ihr schon erschöpft?“, fragte sie, beinahe hochnäsig. „Ich sehe schon. Ausdauer Training wird bei euch wohl auch eine große Rolle spielen.“
Melaara hasste es wenn ihre Ausdauer auf die Probe gestellt wurde. Zwar konnte sie, wenn sie wollte, Spitzengeschwindigkeiten erreichen, doch das Tempo hielt sie nie sehr lange durch. Sie hatte sich erhofft, dass es auf vier Beinen leichter und schneller gehen würde, doch so erschöpft wie sie jetzt im Moment war, hatte sie sich wohl geirrt. Das Alles schien nicht eine Sache der Verwandlung und der Kraft der Gedanken zu sein, es hatte mit Training zu tun. Training und viel Übung. Für einen Moment kam in ihr der Gedanke hoch, wieder einfach nur ein Mensch zu sein. Ohne Wolfskräfte, einfach nur Melaara. Schnell schüttelte sie sich um den Gedanken loszuwerden. „Ich hab so viel auf mich genommen“, sagte ihr ihre innere Stimme. „Ich darf und werde jetzt nicht aufgeben!“
Mit einem so heftigen Ruck, dass sowohl Takeo als auch Kayate etwas erschraken, stand sie auf und sah beide entschlossen an. „Dann lass uns trainieren.“, sagte sie mit fester Stimme zur schwarzen Wölfin. „Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben.“ Kayate schien sichtlich überrascht, von ihr zu sein. Mit einem herausfordernden Lächeln stand sie auf und drehte ihnen den Rücken zu. „Wenn das so ist… Zeigt mir doch was ihr draufhabt.“, und mit diesem Satz streckte sie ihre Läufe und spurtete einige Meter weit blitzschnell davon. Noch während sie lief, drehte sie sich plötzlich auf nur einer Pfote so geschickt und elegant um und blickte in ihre erstaunten Gesichter. Sie beugte ihren Oberkörper nach unten und wackelte ein wenig mit dem Hinterteil. Eine Weile verstanden Takeo und seine Schwester nicht, was das sollte, doch dann kam Takeo der Gedanke, dass Hunde die spielen wollen die gleiche Haltung einnahmen wie die schwarze Wölfin. Sie lud zum Spielen ein. „Sie will, dass wir sie fangen.“, noch immer lag er auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt, doch langsam schien Kayate auch in ihm die Neugierde zu wecken und er stand langsam auf. Die Weiße wartete gar nicht auf ihren Bruder und stürzte los zu Kayate. Die schwarze Wölfin drehte sich auf der Stelle um und spurtete davon. Sie war nur einen Hauch schneller als Melaara und ebenso nur noch wenige Wolfslängen von ihr entfernt. Sie war sich sicher, dass sie Kayate fangen könnte, doch dann spürte sie schon, wie ihr Lauf sich verlangsamte und ihre Lungen zu schmerzen begannen. Hechelnd und mit zitternden Beinen wurde sie immer langsamer bis sie schließlich zum Stehen kam. Als Kayate merkte, dass sie nicht mehr verfolgt wurde – die weiße Wölfin hatte angehalten und Takeo beobachtete immer noch gespannt die Situation – blieb sie ebenfalls stehen und drehte sich mit einem halb enttäuschtem halb wütendem Gesicht zu ihnen um. „Was war DAS denn?!“, schnaubte sie. „Ich hätte erwartet, dass ihr wenigstens ansatzweise an mich herankommen würdet. Zeigt mal ein bisschen mehr Einsatz, sonst wird das nie was! Das ist ja eine reine Enttäuschung, und ihr wollt Wölfe sein?“ Wut schäumte in Melaara auf. „DU bist es gewohnt so lange und schnell zu laufen. Wir sind nur, wie sagtest du? Welpen. Welpen, die erst alles wieder erlernen müssen. Du hast selbst gesagt, dass wir nicht alles an einem Tag lernen können“, zu ihrer Überraschung, war Takeo derjenige, der Kayate diese Worte knurrend entgegen geschleudert hatte. Kayate beachtete ihn gar nicht und ließ seine Worte regelrecht abperlen, wie Wasser an einem Regenschirm. „Wölfe sind auf Ausdauer gepolt. Das ist ihre Natur.“, ihre Worte klangen eiskalt und verächtlich. Mit angespanntem Körper stand sie da und beobachtete sie. Sie schien auf etwas zu warten. Melaara hatte inzwischen wieder ihrem Atem gefunden und startete einen erneuten Versuch. Diesmal, entschlossener als zuvor, spurtete sie auf die schwarze Wölfin zu. Diese machte wieder Kehrt und ließ sich einfach im Staub zurück. Doch diesmal blieb die Weiße nicht nach kurzer Zeit stehen. Ihre Läufe flogen praktisch über die Wiese. Die ganze Anspannung schien plötzlich wie verflogen. Sie wusste selbst nicht woran es lag. Vielleicht an Kayates Worten. Vielleicht aber auch daran, dass sie neuen Mut gefasst hatte, als ihr Bruder sie so verteidigt hatte. Beinahe mühelos lief sie über die kleine Ebene und kam der Flüchtenden immer näher. Als sie nur noch knapp eine Wolfslänge von ihr entfernt war setzte sie zum Sprung an um sie endgültig zu erwischen. Doch genau in dem Moment, in dem sie abgesprungen war, machte Kayate eine scharfe Rechtskurve und sie landete, mit der Schnauze voran, in hohem Bogen, in einem Busch. Kayate hatte sie unbewusste zum Waldrand gelockt. Sie hatte noch nicht einmal gemerkt wo sie eigentlich war. Alles was sie wahrgenommen hatte, war der Geruch der schwarzen Wölfin und das Gefühl wie ihre Beine sich immer schneller und stetig voran zu ihrem Ziel trieben.
Als sie sich endlich aus dem Busch befreit hatte und mit grimmigem Gesicht zur schelmisch grinsenden Kayate hinüber trottete, lachte diese nur herzhaft: „ Du solltest dein Ziel zwar nie aus den Augen lassen, doch auch nicht deine Umgebung. Wenn du Pech hast, macht das nächste Reh, das du jagst, ne scharfe Linkskurve und du landest im hohen Bogen in einem Distelstrauch.“ Der Gedanke daran über und über mit Disteln bedeckt zu sein gefiel ihr gar nicht und sie schüttelte sich unwillkürlich, was Kayate nur noch mehr zum Lachen brachte.
„Schwester…“, Takeo seufzte ein wenig und deutete mit seiner Schnauze zum Himmel. Die Sonne war inzwischen fast schon ganz verschwunden und die Nacht brach herein. Auch Kayate musterte misstrauisch den Himmel: “Tja, eure Eltern werden bald kommen. Wir sollten nach Hause gehen.“ Melaara rümpfte, beinahe angewidert die Nase. „Ich will nicht.“, sagte sie trotzig und ließ sich auf den Boden plumpsen. Ihre Freunde betrachteten sie entnervt. Kayate stellte sich hinter sie und begann damit sie anzuschieben. Takeo tat es ihr gleich. Die Weiße krallte sich fest in den Boden, doch die Erde war zu locker weshalb sie keinen Halt fand. „Lasst mich gehen!“ Zwar wusste sie, dass sie keine Chance gegen die Beiden hatte, dennoch tat sie alles Wolfsmögliche um zu entkommen, jedoch ohne Erfolg. Letztendlich fand sie sich wieder vor ihrem eigenen Zuhause wieder. Inzwischen hatten sich alle wieder Menschengestalt angenommen. Melaara hatte sich anfangs zwar strikt geweigert, musste dann aber doch nachgeben, da sie ihrem Dorf immer näher kamen und somit das Risiko entdeckt zu werden somit immer größer wurde. Langsam kam schon der kleine Garten in Sicht. Die Sonne war nun komplett verschwunden und hatte dem Mond die Aufgabe überlassen, die Welt mit Licht zu erfüllen. Der Mond war beinahe voll und spendete somit genügend Licht um alles perfekt auszuleuchten. Die Braunhaarige schätzte, dass sie wohl in ein zwei Nächten Vollmond haben würden. Sie fragte sich ob er ihnen vielleicht mehr Stärke oder dergleichen verleihen würde.
Alle blieben vor der Eingangstür des Hauses stehen. „Dann geh ich mal. Wir sehen uns.“, lediglich mit einem Winken verabschiedete sie sich und war so schnell verschwunden, wie sie als Wolf laufen konnte. „Und jetzt?“, wollte Melaara von ihrem Bruder wissen. „Wie und jetzt?“ „Ich will nicht einfach ins Bett gehen oder auf unsere Eltern warten. Ich bin viel zu aufgeregt! Ich möchte gerne so viel mehr über unsere wahre Seite erfahren!“, rief sie glückserfüllt. „Aber nicht mehr heute. Es ist spät. Und findest du nicht, wir haben heute schon genug gelernt? Mir raucht der Schädel. Ich geh jetzt ins Bett.“ Er ging ins Haus und machte gar nicht erst das Licht an. Sie konnte noch seinen dunklen Schatten von außen vernehmen, als er sich müde in sein Bett fallen ließ. Eine Weile stand sie unschlüssig da und starrte einfach nur zum Mond und zu den Sternen hinauf. Erst jetzt bemerkte sie, dass Takeo sie anscheinend mit der Müdigkeit angesteckt hatte. Ihr fiel es schwer die Augen offen zu halten, ihr Körper fühlte sich wie Blei an und ihre Beine zitterten leicht unter ihrem Gewicht. Gähnend begab auch sie sich ins Bett. Nur wenige Momente später was sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Diese Nacht hatte sie wieder einen Traum. Er war anders als die Träume zu vor. Unheimlicher, dunkler. Und doch so real. Sie träumte davon, dass sie angekettet war, in einem dunklen Raum den sie nicht kannte. Der Raum war nur durch eine kleine Glühbirne an der Decke von schwachem, flackerndem Licht durchströmt. Im Raum selbst befand sich nichts außer einer schweren Eisentür mit einem kleinen Fenster gegenüber von ihr. Die Wände waren aus Stein, als hätte man sie in eine Höhle geschlagen. Blut rann über ihren Körper: sie hatte schwere Verletzungen überall, als hätte man sie mit einer Peitsche geschlagen oder mit einem Messer verletzt. Sie keuchte und atmete schwer. Plötzlich hörte sie eine tiefe, grollende Stimme.
Wehre dich! Bekämpfe sie! Lass keine Gnade walten!
Im selben Moment öffnete sich die schwere Eisentür und ein Mann in einem weißen Kittel kam herein. Er hatte zerzauste blonde Haare, eine Brille sowie eine große Narbe im Gesicht. In der Hand hielt er ein Klemmbrett mit angebundenem Stift. „Dann wollen wir mal sehen…“, sprach er gedankenverloren und kam immer näher. „Diesmal wirst du ein braves Mädchen sein, nicht wahr? Du weißt ja was sonst passiert.“, seine Stimme war bedrohlich ruhig und jagte Melaara eine Heidenangst ein, gleichzeitig fühlte sie, wie die Wut in ihr hochkroch, als sie begriff, dass sicherlich der Mann an diesen Verletzungen Schuld war. Er kramte einen Schlüssel aus einer der Taschen an seinem Kittel hervor und schloss damit die schweren Eisenketten auf, die sich an der Wand festhielten. Als die schweren Ketten mit einem Rascheln auf den Boden fielen, hörte sie wieder die gleiche Stimme wie vorher, diesmal jedoch wütender und aggressiver als zuvor.
Jetzt! Töte ihn! Zeige ihm, dass man einen Wolf nicht einsperren kann!
Beinahe als wäre sie in Trance, machte sie einen großen Satz nach vorne, verwandelte sich dabei in ihre Wolfsgestalt und drückte ihre Pfoten so fest auf den Brustkorb des Mannes, dass dieser kaum noch atmen konnte. Knurrend und zähnefletschend stand sie über ihm, das Fell gesträubt, die Augen weit aufgerissen vor Wut. Ihre Stimme und die grollende Stimme in ihrem Inneren vermischten sich, als sie zu sprechen begann: “Na, was wirst du jetzt tun? Antworte mir, schwächlicher Mensch!“ Der Mann starrte sie mit furchterfülltem Gesicht an und zitterte am ganzen Leib, soweit sie es zuließ. „Ich werde euch zeigen, dass die erbärmlichen Menschenseelen keine Chance gegen die Zähne und Krallen von uns Wölfen haben. Und schon gar nichts gegen unseren Stolz!“, knurrte sie erbost und drückte die Krallen ins Fleisch des Mannes, der vor Schmerz und Angst laut aufschrie. Um es noch unerträglicher zu machen biss sie ihm mit aller Kraft in seine Schulter, als dabei ein lautes Knacken ertönte knurrte sie zufrieden. Sie hob ihn hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Er prallte hart ab und lag zucken und schwer keuchend am Boden. Das Blut des Mannes schmeckte herrlich. Süß, sauer und salzig zugleich. Gierig schluckte die Wölfin es hinunter. Der Mann richtete sich schwer auf und drehte sich mit entsetztem Gesicht zu ihr um. Blut rann von seiner Schulter und von seinem Kopf und tropfte auf den Boden. Immer noch knurrend und voller Wut kam sie langsam auf den Menschen zu, hypnotisiert von dem Blut das sich langsam als Lacke auf dem Boden verteilte. Er rollte sich wie ein kleines Bündel zusammen und zitterte vor Angst. Einerseits erfreute Melaara dieser ehrfürchtige Anblick. Und gleichzeitig wusste sie nicht mehr ob es richtig war was sie da tat. Alles wirkte als würde sie es nur noch durch einen grauen Schleier der Wut sehen. Es lähmte sie, schien ihren Körper förmlich zu kontrollieren.
Als sie schließlich erneut über ihm stand – er sah sie traumatisiert an und wartete nur noch auf den finalen Biss in die Kehle – sprach die andere Stimme wieder.
Bring es zu Ende. Er ist nur ein Mensch. Er hat es verdient. Alle menschlichen Seelen haben es verdient.
Sie schluckte das restliche Blut hinunter, welches sich in ihrem Maul befand. Doch diesmal schmeckte es anders als zuvor. Nicht mehr so süß, sondern viel mehr bitter und säuerlich. Zögernd starrte sie auf den Schwächlichen unter ihr. „Aber er kann sich nicht wehren…“, antwortete sie der anderen Stimme in ihr.
Er ist Beute! Töte ihn!
Wie ein Blitz durchzuckte sie ein wilder Impuls und ließ sie ihren gefährlichen Kiefer öffnen und der Kehle des Mannes immer näher kommen. Sie versuchte es nicht zu tun. Wehrte sich gegen ihren Körper, der sich immer näher zur Kehle bewegte. Ihr Kopf sagte ihr, dass es falsch war was sie tat, genauso wie ihr Herz, doch ihr Körper wollte nicht auf sie hören, bewegte sich außerhalb ihrer Kontrolle. Noch einmal durchfuhr sie ein Impuls, wie ein elektrischer Schlag und sie schloss blitzschnell die Zähne um den Hals des Mannes. Dieser gab ein erstickendes, gurgelndes Geräusch von sich, während das Blut aus seiner Kehle strömte. Die Augen vor Angst weit aufgerissen, zuckte er wie wild und versuchte sich verzweifelt aus ihrem Griff zu befreien. Ohne Erfolg. Langsam entschwand das Licht aus seinen Augen und er hörte auf sich zu bewegen, bis er schließlich in ihrem Maul erschlaffte. Mit einem Knurren löste sie sich von dem Mann und ließ seinen Körper gleichgültig auf den Boden fallen.
Spürst du nicht, wie gerecht das ist? Wie gut die Dunkelheit und die Wut sich in deinem Herzen anfühlen?
Sie starrte auf den leblosen Körper. Blut tropfte aus ihrem Maul, direkt auf den Toten. Melaara war entsetzt. „Es fühlt sich nicht gut an…“, flüsterte sie verzweifelt. „Ich… ich habe einen Menschen getötet…“
Einen der dich verletzt und beinahe getötet hätte. Er verdient den Tod!
„Niemand verdient den Tod!“
Jede Menschenseele verdient den Tod!
„Nein!“, plötzlich wurde ihr Körper von einem schmerzhaften Pochen und Ziehen durchströmt. „Aaargh!“ sie schrie und winselte, krümmte sich auf dem Boden vor Schmerzen. Ihr Kopf fühlte sich an als würde er jeden Moment zerbersten. „Ich bin kein Monster!“, schrie sie so laut, dass es in der ganzen Höhle widerzuhallen schien, obwohl sie in ihrer Wolfsgestalt war, der nichts weiter als ein Knurren und Winseln entwich. Niemand konnte sie hören.
Die Dunkelheit in deinem Herzen macht dich zu dem was du bist. Jeder hat Finsternis in seinem Herzen, die niemals verschwindet und uns zu dem macht was wir sind: Wölfe!
Selbst die grollende Stimme in ihrem Inneren schien Schwierigkeiten haben zu sprechen. Auch sie wurde von Schmerz erfüllt.
Finsternis ist des Herzens wahre Macht!
„Die Finsternis wird mich niemals besiegen!“, schrie sie gequält kratzte mit den Pfoten so fest über den Stein, dass sie zu schmerzen und zu bluten begannen. sie stemmte sich gegen den Boden und kam schließlich zu stehen, wenn auch noch immer zitternd und von Schmerzen durchzogen.
Gib auf! Du kannst die Dunkelheit nicht unterdrücken!
„Und wie ich das kann!“ schrie sie ein letztes Mal, bevor sie plötzlich in Dunkelheit gehüllt wurde. Wie schwarze Flammen umgab sie die Finsternis. Der Schmerz wurde so unerträglich, dass sie dabei war das Bewusstsein zu verlieren. Das Letzte was Melaara wahrnahm war als sich das schwarze Feuer von ihr entfernte und zu einer Gestalt wurde. Ein knurrendes schwarzes Wolfsgesicht mit roten Augen starrte ihr entgegen, umgeben von dem Schatten eines männlichen Gesichts mit mittellangen schwarzen Haaren. Die grollende, dunkle Stimme, die zuvor aus ihrem Inneren kam, kam nun aus dem Mund des Unbekannten vor ihr: „Ronin. Der Samurai ohne Meister. Dein Schatten und dein Anderes Ich. Der andere Teil deiner Seele. Werde stärker, Melaara. Sonst wird die Dunkelheit über das Licht triumphieren.“ Sein Gesicht war eiskalt und drohend. Das smaragdgrüne Paar Augen starrte ihr wütend entgegen, fixierte sie, bevor sich ihre Augen langsam schlossen und sie schließlich ganz das Bewusstsein verlor und ins schwarze Nichts taumelte.
Melaara erwachte, wie sie aus fast jedem Traum erwachte: Keuchend, mit weit aufgerissenen Augen, zitternd und voller Angst. Ihr Bruder hatte sie mit seinen Händen fest an der Schulter gepackt. Schweiß rann über seine Stirn, und die Angst stand ihm so stark ins Gesicht geschrieben, wie sonst noch niemals zuvor. „Schwester!“, rief er verzweifelt und erleichtert zugleich. Er ließ sie langsam los, immer noch wachsam und vorsichtig, als könnte sie jeden Moment zerbrechen. „Du hast nur schlecht geträumt…“ Er nahm seine Schwester vorsichtig in den Arm. „Ein Traum...“, wiederholte sie zögernd. Es war mehr eine Frage an sie selbst. War es wirklich ein Traum? „Ronin…“ „Was?“ Ihr Bruder sah sie verdutz an. „Der Samurai ohne Meister.“ Er starrte sie vollkommen fassungslos an und musste wohl denken, dass sie nun komplett den Verstand verloren hätte. Er fuhr ihr sanft durchs Haar. „Ich glaube du hast dir aus Versehen, beim schlechten Träumen den Kopf gestoßen.“ Er untersuchte sorgfältig ihren Kopf auf Wunden. Als er jedoch keine finden konnte strich er ihr noch einmal vorsichtig durchs Haar. „Versuch zu schlafen. Es war nur ein schlimmer Traum.“, versuchte er sie zu beruhigen und ging zu seinem Bett zurück. Ihre Eltern waren scheinbar noch nicht zurückgekommen. Sonst wären sie längst ins Zimmer gekommen um zu sehen wer da so schreit als wäre er oder sie gerade dabei sich qualvollen Schmerz zuzufügen. Melaara machte ihr keine Sorgen. Wahrscheinlich verbrachten sie den Abend noch in einem Restaurant oder bei Freunden.
„Nur ein Traum…“, wiederholte sie, als müsse sie sich selbst noch davon überzeugen und legte sich vorsichtig mit dem Kopf aufs Kissen. Wie gewohnt starrte sie aus dem Fenster. Und wenn sie nicht solche Panik gehabt hätte und diesen Traum nicht vorher gehabt hätte, hätte sie schwören können, dass sie einen Mann mit smaragdgrünen Augen und schwarzen Haaren vor ihrem Fenster stehen sah, der sich in die Nacht flüchtete.
Der nächste Morgen begann wie jeder andere. Melaara wachte früh auf und machte sich für die Schule fertig. Takeo tat es ihr gleich. Nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg zu Kayate, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Mit ihren Eltern hatte die Braunhaarige kaum ein Wort geredet. Sie wusste nicht ob es daran lag, weil sie müde vom gestrigen „Training“ war, oder weil sie befürchtete man könne aus ihrer Stimme eine Wölfin sprechen hören.
Melaara war noch halb in Trance, selbst als sie vor Kayates Tür standen und im langweiligem Unterricht saßen. Bald standen die Weihnachtsferien vor der Tür, das war auch der Grund, weshalb ihre Schule heute eine kleine Klassenfeier veranstaltete. Zugleich fand auch in der Schulaula eine Feier statt. Diese bestand jedoch lediglich aus einem Gottesdienst, wo das einzig „Feierliche“ daran, die Lieder waren. Melaara liebte Weihnachten, und vor allem den Winter sehr. Der Tag im Winter an dem der erste Schnee fiel, war für sich der Tag an dem die Weihnachtswunder begannen: der Duft nach Keksen, nach Zimt, nach den Nadelbäumen und natürlich der Geruch nach Schnee. Alles davon versetzte sie jedes Mal in neue Entzückung. Dieses Jahr war alles noch einmal einen Hauch mehr besonders. Würde sie den Schnee schon Tage vorher spüren, bevor er fiel? Was den Winter und Weihnachten betraf fühlte sie sich immer wie ein kleines Kind, doch bei diesen Gedanken dies alles als Wölfin wahrzunehmen… Ihr Herz pochte mindestens doppelt so schnell als sonst.
Der Gottesdienst erstreckte sich über zwei, scheinbar endlos lange, Stunden. Als das „Ding-Dong“ einer scheinbar großen alten Glocke endlich ertönte, rappelte sie sich auf und ging gemeinsam mit ihren Mitschülern in die Klasse zurück. ihre Schule war sehr groß und man konnte sich, zumindest wenn man neu hier war, sehr leicht verlaufen.
Ihr Klassenzimmer lag ganz am Ende des Ganges im Erdgeschoss. Als der Gottesdienst endlich vorbei war, schleppte sie sich, zusammen mit Kayate und Takeo, in die Klasse. „Ich hasse Gottesdienste...“, Kayate hatte ihre Arme hinter ihrem Kopf verschränkt und lief gelangweilt neben den Anderen her. „Ich hätte heute viel lieber frei gehabt und ein wenig… trainiert.“, antwortete Takeo, beinahe flüsternd. Die schwarze Wölfin warf ihm einen ernsten Blick zu, wandte ihn jedoch schnell wieder ab. Sie wusste ebenso gut wie Melaara, dass Takeo niemals etwas ausplaudern würde.
Plötzlich spürte Melaara, dass sie jemand von hinten anstarrte. Die Blicke bohrten sich beinahe in sie. Sie drehte sich leicht, um zu sehen wer hinter ihnen war. Drei Mädchen schlichen hinter den Freunden her. Eines mit langen blonden Haaren, eines mit roten lockigen und ein drittes mit glatten braunen. Immer wieder sahen sie sich an und kicherten hinterlistig, bevor sie wieder zu ihnen sahen. Wie kindisch musste man den bitte sein um in diesem Alter noch ein derartiges Verhalten zu zeigen? Melaara verdrehte die Augen. Das Mädchen mit den roten Locken war Sydra. Das, mit den Braunen, Kelia und das Mädchen mit den blonden Haaren Leiko. Diese drei waren die beliebtesten Mädchen der Schule. Sie wurden von allen angehimmelt. Aber genau so sehr, wie sie beliebt waren, genau so arrogant waren sie auch. Wenn sich ihnen jemand in den Weg stellte wurden sie gnadenlos schikaniert und fertig gemacht. Sie hatten schon zahlreiche Schüler dazu gebracht, die Schule zu wechseln. Leiko war so etwas wie die Anführerin der drei. Die anderen Beiden folgten ihr auf Befehl und taten alles was Leiko ihnen sagte. „Schoßhündchen. Kleine keifende Chihuahuas.“, ging es Melaara durch den Kopf. Die Beschreibung schien perfekt auf sie zu passen.
In letzter Zeit hatten sie es vor allem auf Melaara und ihre Freunde abgesehen. Schon am ersten Tag, konnte sie diese Mädchen nicht leiden. Sie schienen sich immer für etwas Besseres zu halten als die Anderen und als sie ihnen erzählte sie seien genauso wie alle anderen, war sie zum Opfer der Barbies geworden. Leiko und die Anderen stellten sich vor der gesamten Klasse bloß, erzählten fiese Gerüchte, oder baten sogar einige Jungs darum sich und ihrem Bruder zu verprügeln. Melaara selbst musste noch nicht einmal Verletzungen bei einem Kampf einstecken. Selbst wenn sie gegen Jungs kämpfen musste die doppelt so groß waren wie sie, konnte sie sich mit ihrer Schnelligkeit und vor allem wütenden Beiß- und Kratzattacken davor schützen verletzt zu werden. Ganz zu schweigen von ihrem Tritt in die Weichteile.
Nach einigen dieser Attacken, weigerten sich sogar berüchtigte Prügelknaben sich ihr auch nur zu nähern. Bei ihrem Bruder sah das anders aus. Takeo versuchte meistens gar nicht erst sich zu wehren. Er war ohnehin zu klein und hatte kaum Kraft. Ihren Eltern erzählten sie nichts davon. Sie sagten sich selbst immer und immer wieder vor, dass dies ihre Sache sei und sie selbst damit zurechtkommen müssen, was ihnen bisher auch einigermaßen gelang.
Als die Mädchen weiterhin hinter ihnen tuschelten und flüsterten durchzuckte Melaara ein Impuls. Wut. Genauso wie gestern Nacht im Traum, spannten sich ihre Muskeln plötzlich an. Sie dachte an die vielen Male, an denen sie von den Mädchen bloßgestellt wurde. Die Wut bahnte sich langsam ihren Weg nach oben, doch Melaara verdrängte ihn einfach mit einem tiefen, genervten Seufzen. Sie wollte nicht enden wie letzte Nacht im Traum. Innerlich jedoch, gefiel ihr der Gedanken daran, über einem der Mädchen zu stehen. Mit gefletschten Zähnen, knurrend, bereit ihnen das Leben aus dem Körper zu reißen. Ein kleines grausames Grinsen schlich über ihre Lippen. Schnell schüttelte sie den Kopf und verscheuchte den Gedanken. „Ich bin kein Monster.“, sagte sie zu sich selbst. Es war nicht mehr als ein Flüstern, beinahe, als hätten sie zwar ihre Lippen bewegt, jedoch fehlten die Wörter. Kayate und Takeo mussten es bemerkt haben, denn sie starrten sie mit etwas verwundertem Ausdruck an, sagten jedoch nichts.
Als schließlich die Tür des Klassenzimmers in Sicht kam, drängten sich die drei Mädchen hinter ihnen vorbei und versperrten den Weg. Angespannt schluckte Melaara. Ich bin kein Monster.
Leiko stand in der Mitte. Die Hände auf den Hüften mit herablassendem Blick musterte sie die drei Freunde. Ihre braunen Augen funkelten arrogant, als sie zu sprechen begann: „Na Melaara? Alles klar?“ Ihre Stimme klang ganz und gar nicht freundlich. Wäre sie ein Wolf gewesen hätte ihr Fell sich wohl aufgestellt. Doch sie hatte nur eine Menschenseele. Niederer Mensch. Melaara starrte ebenso kalt und desinteressiert zurück. „Alles bestens.“, antwortete sie ruhig, doch warf allen drei Barbies ein wütendes Funkeln zu. Sie konnte spüren, wie ihre Freunde neben ihr, ihre Muskeln versteiften und die Mädchen ebenso wütend anstarrten. Kayate sah so aus, als hätte sie große Schwierigkeiten nicht zu knurren und auf die Anderen loszugehen. „Wirklich? Deine Haare sehen nicht so aus. Hast du dir ein Eichhörnchen auf den Kopf gesetzt?“, Leiko sprach laut genug, damit sich alle Köpfe zu ihr umdrehten und den „Showdown“ gespannt beobachten. Einige Schüler lachten nervös als sie die Bemerkung hörten. „Dein Make-Up sieht auch so aus, als hätte dich ein Clown geschminkt.“, warf Sydra ein. „Gibt’s die Hose auch in Normalgröße?“, sprach Kelia herausfordernd weiter. „Haltet Mal die Luft an Mädels.“, Kayate klang gefährlich ruhig. „Was willst du denn, Kräuterhexe? Als würden deine Haare besser aussehen.“, zischte Sydra ihr zu. „Zumindest besser als die Haare einer verlogenen Hydra“, schnauzte sie zurück. „Die Hydra ist ein neunköpfiges schlangenähnliches Ungeheuer der griechischen Mythologie. Wenn es einen Kopf verliert, wachsen an dessen Stelle zwei neue.“, prahlte Kayate. „Kann man jetzt leider nicht von dir behaupten. Du kommst ja nicht mal mit einem Kopf klar. Drei Köpfe ohne Gehirn sind für das Allgemeinwohl auch einfach zu viel.“ Melaara fand diese Bemerkung äußerst passend, denn Sydra hatte in der Tat etwas Schlangen-ähnliches an sich. Selbst ihr Name klang nach Hydra. Kayate grinste zufrieden als Sydra die Zähne zusammen biss und ein und ein Schimpfwort zischte. Inzwischen hatten sich schon jede Menge Schüler um sie gescharrt. Beinahe alle standen hinter Leiko und ihrer Gang und feuerten sie an. „Willst du nicht zu deiner Wolfsmami zurückgehen?“, warf Kelia ein. Kayate zeichnete oft Wölfe und war fast in der ganzen Schule dafür bekannt, Wölfe über alles zu lieben. Genauso wie sie schimpfte sie sich spaßeshalber selbst als „einsamen Wolf“. Wie passend das doch war, wie Melaara erst vor kurzem rausgefunden hatte. Kelia und die anderen Beiden schien das nur recht zu sein und so machten sie sich zu jeder gegebenen Zeit über sie lustig. „Wenigstens hätte meine Mutter nicht mit so etwas wie dir zurechtkommen müssen.“, konterte Kayate. Die Zuschauer keuchten gespannt und warteten auf die passende Gegenantwort. „Zumindest HAT sie eine Mutter!“, rief ein Junge aus dem Publikum. Die Mädchen und auch die Schüler lachten laut. Kayate war ohne Eltern in diese Stadt gekommen. Obwohl sie erst sechzehn Jahre alt war, musste sie ganz für sich selbst sorgen. Sie sprach nicht viel von ihren Eltern. Das einzige was über sie bekannt war, war das sie angeblich in einem Gefängnis in Shianril gefangen gehalten wurden. Solch vagen Gerüchten schenkte jedoch kaum einer Beachtung.
Diesmal war es Kayate, die dem Jungen einen giftigen Blick zuwarf und ein Schimpfwort entgegen zischte, was ihn und den Rest der Schüler jedoch nur noch mehr zum Lachen brachte. „Lass sie gehen, Schwester. Diese Menschen sind unserer Aufmerksamkeit nicht würdig.“, wandte sich Takeo an sich. Melaara nickte nur stumm und warf Kayate ebenfalls einen vielsagenden Blick zu. Als diese noch einmal mit geballten Fäusten und beinahe gefletschten Zähnen die Mädchen vor ihnen anstarrte, packte sie sie sanft am Arm und zog sie aus der Menschenmasse raus. „Widerliche Menschenseelen…“, sie spuckte die Bemerkung den Mädchen förmlich ins Gesicht. „Du bist auch ein Mensch!“, rief Kelia spottend nach. „Ja, aber wenigstens einer mit Gehirn“, murrte sie. Sie kümmerten sich gar nicht mehr darum. Melaara war das alles schon gewohnt. Ihre Klasse hatte sie ebenfalls schon lange abgeschrieben. Sie hasste ihre Mitschüler genau so sehr, wie sie sie hassten.
Als sie sich durch die Menschenmassen drückten, die immer noch wie wilde Tiere johlten und aufstampften vor Lachen, bemerkte die Braunhaarige, das ein Lehrer in Mitten des Auflaufs stand. Sie kannte den etwas älteren Herren mit Brille und grauen zerzausten Haaren nicht, doch sie wurde wütend. War es nicht die Aufgabe eines Lehrers solche Aufstände zu verhindern? Als sie an ihm vorbei kam, warf sie dem ebenfalls feixenden Lehrer einen tödlichen Blick zu und schüttelte herablassend den Kopf. Ob er wohl nicht verstanden hatte, dass all diese Bemerkungen nicht freundlich gemeint waren? Natürlich hatte er das verstanden. Doch er war nur ein Mensch. Genauso dumm wie alle anderen.
Sie waren endlich am Ende des Ganges in der Klasse angekommen und gingen, beinahe locker zu ihren Sitzplätzen. In der letzten Reihe, in der äußersten rechten Ecke, war Melaaras Sitzplatz. Nur sie, Kayate und Takeo saßen dort. Von allen anderen wurden sie gemieden wie die Pest. Das war ihr nur recht so. Sie hatte keine Lust sich mit irgendwelchen Menschen anzufreunden. Schon gar nicht, wenn die Möglichkeit bestand, dass die Freundschaft nur auf Lügen aufbauen könnte. Melaara hatte es schon einmal erlebt. Damals, als sie mit Kelia befreundet war. Sie waren einmal beste Freunde gewesen, bis Leiko und Sydra kamen. Sie erzählten Gerüchte über sie und ließen nichts unversucht um Kelia für sich zu gewinnen. Letztendlich hatte Kelia ihnen nachgegeben und Melaara hintergangen. Noch immer erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie mit Kelia ausgemacht hatte, sich vor ihren Stammladen zu treffen. An diesem Tag hatte sich alles verändert. Als Kelia schließlich, selbst nach mehreren Stunden Wartezeit nicht auftauchte und auch am darauffolgenden Tag nicht mehr mit ihr sprach, wusste sie, dass es vorbei war. Melaara hatte ihr Herz verschlossen und wollte es für niemanden, außer für ihren Bruder, öffnen. Kayate jedoch schien ein Schlupfloch gefunden zu haben. Sie war aufgetaucht und Melaara hatte sofort das Gefühl ihr Vertrauen schenken zu können. Nun verstand sie auch warum. Wolfsseelen schienen zusammenzugehören, auf eine Art und Weise die sich ihr noch nicht ganz erschloss. Langsam jedoch, wurde dies alles zu Nichte gemacht und sie hatte Sorge auch Kayate an die drei anderen zu verlieren. Letztendlich fasste sie den Schluss, dass es nicht so bleiben konnte. Sie wollte nicht miterleben müssen, wie sie Kayate oder Takeo verlor. Sie wollte nicht miterleben, wie sie weiterhin von den Mädchen und dem Rest der Diapdra Golden School ausgelacht und gehasst wurde. Sie wollte etwas ändern, wollte fort und alles vergessen. Und sie wollte es bald tun. Ihre Entscheidung stand fest. Niemand konnte sie mehr ändern. Sie würde es schaffen. Mit ihren neu gewonnenen Fähigkeiten konnte sie alles schaffen. Außerdem hatte sie den Stolz gefunden. Den Stolz der eine Wolfsseele ausmachte, der wie ein großes Feuer zu brennen schien, und sie am Leben hielt. Und bald würde sie diesen Stolz benutzen um eine Veränderung herbei zu führen.
Kapitel 3: Neue Welten
Ihre letzten Tage verliefen genau wie jeder andere. Mit dem Unterschied das ihre Gedanken sich nur um eines drehten. Das Mädchen wartete geduldig die Zeit ab bis die Nacht zum Aufbruch nahte. Die Welt schien tief und fest zu schlafen, als das Mädchen sich in jener Nacht darauf vorbereitete zu verschwinden. Sie war nicht sicher, ob Freunde oder Familie an jenem Tag gemerkt hatten, was sie vorhatte, doch Takeo schien an diesem Tag besonders auf sie aufzupassen und Kayate warf immer wieder schüchtern einen Blick zu ihr, wenn sie gerade nicht hinsah. Selbst die Schüler und die Lehrer schienen zu spüren, dass ein Abschied nahte und waren fast freundlich.
Als sie sicher war, dass alle eingeschlafen waren, und auch sicher nicht aufwachen würden schlich sie sich aus dem Bett, hinüber zur Kommode. Sie hatte neben ihrem Bett, einen braunen Rucksack stehen gehabt, in den sie nun hastig, jedoch vorsichtig, ihr Gewand einpackte. Sie nahm nur das allernötigste mit. Am Ende hatte sie zwei Hosen, ein T-Shirt, einen Pullover, eine Weste sowie eine warme Decke eingepackt. Der Rucksack war bereits ziemlich voll, doch sie wagte es nicht eine größere Tasche mitzunehmen. Es würde ihre Mobilität wahrscheinlich sehr einschränken. Es fehlte nur noch das Essen, welches sie noch am Abend vorbereitet hatte. Am Abend gab es leckere Brötchen zu essen, da Kayate zu Besuch war. Sie hatte extra einige Brötchen zu viel gemacht, die niemand aß und sie „bedauernd“ in den Kühlschrank gestellt. Sie schlich in die Küche und stopfte die in Alufolie gewickelten Brötchen so wie eine große ein Liter Wasserflasche in den Rucksack und bewegte sich zur Haustür. Sie hatte sich vor dem Schlafen gehen nicht umgezogen und trug nun ein lila Kleid, welches von einer weißen Schleife an der Hüfte zusammengebunden war. Darunter trug sie ein Paar dicke, schwarze Leggins.
Das Kleid war an den Seiten geöffnet und ließ ihr somit genügend Beinfreiheit zum Laufen und Kämpfen. Schließlich hatte Kayate ihnen noch am selben Tag gezeigt, wie sie ihre wölfischen Fähigkeiten auch in menschlicher Form verwenden konnten. Sie konnte sich nun viel schneller bewegen und ebenso kräftige und verheerende Faustschläge und Tritte austeilen.
Inzwischen hatte sie ein Paar Turnschuhe in ihren Rucksack gepackt und ihr selbst ein etwas älteres Paar angezogen. Dann zog sie ihr noch einen längeren, warmen Wintermantel an, hängte sich den Rucksack um und öffnete die Tür. Ein kühler Windhauch griff nach ihr und lockte sich in die Dunkelheit hinaus. sie schlich hinaus in die Finsternis und drehte sich noch einmal zögerlich um, um in ihr vertrautes Heim zu blicken. Ein letztes Mal dachte sie an all die schönen Dinge, die ihr hier passiert waren und für einen kurzen Augenblick, dachte sie daran umzukehren. Doch sie schüttelte entschieden den Kopf, verdrängte den Gedanken schnell wieder aus ihrem Kopf, drehte sich um und lief weg, fort von ihrem Haus, fort von Kayate, fort von Diapdra.
Während sie durch die Nacht spurtete, stellte sie sich ihr die Gesichter meiner Familie vor, wenn sie den Zettel lesen würden, den sie ihnen hinterlassen hatte. Sie war nicht gerade der Typ für große Abschiedsworte. Also schrieb sie lediglich, dass sie auf eine Reise gehen wollte. Es sei ok so, denn sie habe einiges gelernt in letzter Zeit, sie würde sich gegen jeden Feind ohne Probleme behaupten können. Takeo würde auf die Knie fallen und sein Gesicht in den Händen vergraben, damit niemand sehen konnte dass er weinte. Doch seine zuckenden Schultern würden ihn verraten. Sayo würde sich an ihren Mann lehnen und ihren Kummer in ihn hinein schluchzen und Teshi würde einfach nur ungläubig den kleinen, schäbigen Brief anstarren. Er würde nicht wütend werden, auch nicht total panisch. Er würden seufzen und versuchen die Ruhe zu bewahren, bevor er dasselbe auch seiner noch übrigen Familie raten würde. Dann würde er Takeo fragen, ob er etwas ahnte. Und sie war sich nicht sicher wie die Geschichte dann weiterlaufen würde. Zwar kannte sie ihrem Bruder sehr gut, doch seit er herausgefunden hatte, dass er ein Wolf war, hatte er sich verändert. Er war mutiger und unvorhersehbar geworden. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie die Geschichte weitergehen würde. Entweder er würde ihren Eltern sagen, dass er herausgefunden hatte, was sie wirklich waren und er die ganze Zeit Bescheid wusste, dass seine Schwester hier unglücklich war, oder er würde still sein, den Kopf schütteln und so tun als hätte er nichts gewusst. In beiden Fällen jedoch würde es damit enden, dass sich alle auf die Suche machen würden. Doch da sie inzwischen schon den Rand der Stadt erreicht hatte, und genau in diesen Moment auf die vielen funkelnden Lichter Diapdras schaute, würden sie sie nicht mehr finden und verzweifelt aufgeben müssen. Ihr fiel ein, dass Takeo sich ihr vielleicht anschließen könnte. Vielleicht würde auch er einen solchen Brief schreiben und sich dann selbst und alleine auf die Suche nach ihr machen, ganz zum Unglück ihrer Eltern. Doch wenn hier jemand alleine machen konnte was er wollte, dann war das Kayate. Sie würde höchstwahrscheinlich alles stehen und liegen lassen, wenn sie erfahren würde, dass sie weg war. Kayate würde alle ihre Sachen packen und die Verfolgung aufnehmen, wie ein Spürhund der Polizei. Schließlich war es allen, bis auf ihr und Takeo egal wenn Kayate verschwinden würde. Man würde sich wohl für ein, zwei Tage wundern, wo die aufgekratzte Verrückte abgeblieben war, doch auch diese Stimmen würden schnell verschwinden.
Sie hatte einen hohen Hügel erklommen und blickte ein letztes Mal auf ihre Heimatstadt, bevor sie sich endgültig umdrehte und in der Nacht verschwand.
Sie hatte sich in ihre tierische Seite verwandelt und ließ sich von ihren Pfoten hinter den Wald tragen, der am Stadtrand wuchs. Erstmals wunderste sie sich was eigentlich mit den Anziehsachen und dem Rucksack passiert war. Sie war eine reine Wölfin, mit nichts am Körper als ihrem weißen Pelz. Scheinbar verschmolzen alle Klamotten und Gegenstände am Körper einfach mit der tierischen Seele. Die Weiße hatte das Gefühl dass all ihre Sachen noch an ihrem Körper waren. Das Gewicht schien kaum spürbar an ihrem Körper zu haften. Ihr Rücken fühlte sich schwerer an als sonst.
Der Wald durch den sie lief war nicht im Geringsten wie der hinter ihrem Haus. Er war heller, ließ mehr Mondschein hindurch und war auch von weniger Wurzeln, die aus der Erde hervorstanden, verunstaltet. Doch gleichzeitig war er auch unheimlich. Er gab nicht diese Wärme und dieses heimliche Gefühl von sich wie Zuhause. Eine Bedrohung und unheimliche Stille schien von ihm auszugehen. Doch glücklicherweise, war dieser Wald auch nicht so groß wie der den sie sonst kannte. Nach einem Lauf, der gerademal eine halbe Stunde gedauert hatte, fand sie sich an einem Strand wieder. Die von Mondlicht beschienenen blassen Wellen kräuselten sich und schlugen mit leisem Rauschen auf den Sand auf und rissen etwas davon mit sich ins tiefe Meer zurück. Zögernd schritt sie zum Wasser und betrachtete danach eingehend ihre eigenen Pfotenabdrücke im nassen Sand. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war. Sie drehte sich schlagartig um und sah einem Paar smaragdgrüner Augen entgegen. Unbeholfen stolperte sie ein paar Wolfslängen zurück. Ein großer schwarzer Wolf starrte ihr aus funkelnden Augen entgegen. Kurz glaube sie, dass es vielleicht Kayate war, doch Kayate war bei weitem nicht so groß und ihre Augen hatten nicht diesen bedrohlichen Glanz. Der Geruch des Anderen kam ihr bekannt vor. „Weiße Wölfin.“, begann der Wolf zu sprechen. Seine Stimme klang rau, jedoch nicht alt. Er sah furchterregend aus, so wie er sich musterte. „Wer… bist du?“, ihr Fell sträubte sich ein wenig als sie ihre Muskeln anspannte. Sie hatte zwar erwartet auf ihrer Reise bestimmt noch mehr Wölfen zu begegnen, doch das gleich außerhalb Diapdras einer auf sie zu warten schien, damit hatte sie nicht gerechnet. Der schwarze Wolf senkte seinen Kopf, die Augen immer noch auf die weiße Wölfin fixiert. „Du erinnerst dich nicht an sich? Schande!“, beinahe klang es als wäre er enttäuscht. Auf einmal kam ihr die Idee, dass es vielleicht der Mann aus ihrem Traum sein könnte. Krampfhaft versuchte sie sich an seinen Namen zu erinnern. Es war verrückt. „Ronin?“ Der Wolf zog seine Lefzen zu einem kleinen grausamen Lächeln nach oben. Ein kurzes bestätigendes Knurren kam aus seiner Kehle. „Die Finsternis in deinem Herzen. Deine andere Seite. Der Samurai ohne Meister.“, wiederholte er, als sei er direkt aus dem Traum hierher gewandert. Einfach nur verrückt. „A-Aber du warst doch nur ein Traum! Wie kannst du echt sein!“ Wieder stolperte sie ein paar Schritte nach hinten, die Augen weit aufgerissen, das Fell gesträubt vor Angst. „Was willst du?“, brachte sie als jämmerliches Wimmern heraus. Elegant trat der Wolf einen Schritt näher. Sie drängte sich weg von ihm, die Ohren leicht angelegt und den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, so wie es ein unterwürfiger Wolf es bei einem höherrangigem Tier machte. „Ich will stärker werden.“, seine Augen funkelten blutrünstig als er sprach. „Und die Finsternis kann nur stärker werden wenn das Licht nicht mehr existiert.“ Er lachte mit drohenden scharfen Zähnen. „Leider jedoch, bin ich noch zu schwach. Genau wie du.“ Inzwischen schlich Ronin um sie herum, was sie nur noch nervöser machte. Ungeduldig verfolgte sie jede seiner Bewegungen. „Wie heißt es doch so schön? ‚Ohne Licht keine Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht.‘ Aber ich werde mich damit nicht begnügen. Ich werde eine Möglichkeit finden, wie die Dunkelheit auch ohne das Licht existieren kann. Du solltest besser auch nach einem Weg suchen. Denn wenn ich stark genug bin, dann werde ich kommen. Ich werde kommen und das ach so helle Licht aus deinem Körper befreien und zerstören.“ „Du willst mich töten…“, flüsterte sie schockiert, fragend. „Uns ist es bestimmt zu kämpfen. Du und ich, wir sind gemeinsam eine Seele. Alleine, sind wir nichts weiter als gebrochene Seelen. Und wir wissen beide von den Legenden der gebrochenen Seelen.“ „L-Legenden?“ Der Schwarze Wolf schnaubte verärgert und scheuchte Melaara noch weiter zurück Richtung Wasser. „Weglaufen wird dir nichts bringen. Ich finde dich, egal wo du bist. Deine Freunde werden dir nichts nützen. Ich habe dich beobachtet. Dich und deine kleine Familie. Oh, und natürlich auch die kleine schwarze Wölfin die dir alles beigebracht hat. Doch selbst alle gemeinsam werdet ihr mich nicht besiegen können. Nur das Licht kann gegen die Finsternis gewinnen. Oder auch verlieren.“ Er drehte sich Richtung Wald, aus dem er gekommen war. „Lebewohl, weiße Wölfin. Fürs erste. Wir werden uns wiedersehen. Es wäre besser du bist auf unser nächstes Aufeinandertreffen vorbereitet.“ Er knurrte sie mit einer tiefen grollenden Stimme an und verschwand schließlich in einem schnellen Lauf im Wald. Sein schwarzer Pelz und seine smaragdgrünen Augen waren in kürzester Zeit von der Dunkelheit verschlungen. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Zeit von zwei bedrohlich funkelnden Augen beobachtete wurde.
Keuchend und mit zitternden Beinen stand sie im Sand und starrte an die Stelle, an der Ronin zuletzt war. Sie hatte sich den Mann letzte Nacht vor ihrem Zimmer also doch nicht nur eingebildet. Ronin war tatsächlich aus ihrem Traum entsprungen. Er war real geworden. War er wirklich ihre andere Seite? Sie war…wie nannte er es noch gleich…Eine gebrochene Seele…? Verzweifelt schaute sie zum Mond hoch, der sein fahles Licht auf die Erde warf. Sie unterdrückte ein Heulen und wandte sich wieder in die Richtung, in die sie ursprünglich gehen wollte. Das alles warf nur noch mehr Fragen auf als es das Auftauchen von Kayate damals tat. Dann spurtete sie gedankenverloren los.
Während sie weiterlief, dachte sie über Ronins Worte nach. Sollten sie eines Tages wirklich miteinander kämpfen müssen? Sie wusste nicht recht wie sie reagieren sollte. Einerseits, fürchtete sie sich vor einem Kampf mit dem Schwarzen. Doch andererseits, spornte er sie an. Sie wollte nun umso stärker werden und die Dunkelheit in ihrem Herzen bekämpfen. Und vor allem wissen was ihr Platz in dieser Welt war. Sie hatte das Gefühl, dass das Schicksal noch viel für sie geplant hatte.
Der Sand flog in die Luft als sich ihre Pfoten davon lösten und ließen sie aussehen, als wäre sie ein kleiner Sandsturm, der über den Strand fegte. Links von ihr erstreckte sich das ewige, weite Meer. Rechts von ihr war der Wald. In weiter Ferne, hinter dem Wald, inmitten von Diapdra ragte Queradorm in den Himmel. Der Turm in dem der König Diapdras lebte. Selbst von einer solchen Entfernung wirkte es gigantisch.
Plötzlich stieg ihr mit dem Wind ein vertrauter Geruch in die Nase und noch bevor sie den Kopf nach vorne drehen konnte, um zu sehen wer vor ihr stand, bremste sie schon ab und stand danach Schnauze an Schnauze mit einer schwarzen Wölfin. Olivgrüne Augen funkelten ihr abenteuerlustig entgegen als sie mit aufgestelltem Fell und zurückgezogenen Lefzen zur Seite sprang. „Du kannst mich nicht wieder zurückbringen“, knurrte sie die andere Wölfin an. Diese lächelte nur schelmisch und ließ ihren Schweif elegant hin und her wedeln, so wie sie es am Tag ihrer ersten wahren Begegnung getan hatte. „Ich habe nicht vor dich zurückzubringen“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Ich will mit dir gehen.“ Melaara fiel beinahe die Kinnlade runter. „Nun guck nicht so. Wölfe sind nun mal nicht dazu da immer am gleichen Ort zu bleiben. Und als Takeo mir heute erzählte hat, das du dich heute merkwürdig verhalten hast, wusste ich schon was Sache war. Aber das kam mir nur recht. Ich wollte ohnehin von hier verschwinden.“ „Aber… Damals hast du mich davon abgehalten!“, brach es verzweifelt aus ihr heraus. Kayate grinste: “Damals wusstest du ja auch noch gar nichts. Du warst ein Welpe! Das sieht heute ganz anders aus.“ War es denn nicht gerade mal eine gute Woche her als sie zum Wolf wurde? „Du hast so gut wie alles von mir gelernt, was man braucht um als Wolf zu Recht zu kommen, nicht wahr?“ Kayate drehte sich in die Richtung, in die Melaara zuerst lief. Sie blickte über die Schulter zu der verblüfften Weißen. Melaara stand immer noch wie angewurzelt da. Sie konnte kaum fassen was sich hier abspielte, es machte sie irgendwie wütend, doch zugleich war sie froh, dass Kayate sie begleiten wollte. „Worauf wartest du? Ich dachte du willst Abenteuer erleben?“ Die weiße Wölfin nickte hastig bevor sie nachdenklich dreinblickte und den Kopf schief legte. „Ich weiß eigentlich gar nicht wohin ich gehen will.“ Kayates Augen wurden groß und sie blickte die andere Wölfin voller Entgeisterung an. „Du bist weggelaufen und weißt noch nicht mal wohin?“ Selbst Melaara merkte wie dumm sie gewesen sein musste einfach so in die Welt hinauszustürmen ohne zu wissen wohin. „Na umso besser!“, rief die schwarze Wölfin begeistert aus. „Dann werden wir eben überall hin reisen müssen, um herauszufinden was du willst!“ Kayate nahm die Pfoten in die Hand und lief los ohne sich nochmal um zu drehen. Melaara folgte ihr. Kayate lachte die weiße Wölfin nicht aus und hielt sie auch nicht zurück. Sie schien sich wirklich von Herzen zu freuen, mit ihr auf eine vielleicht endlos lange Reise zu gehen.
„Also wenn ich die Karte richtig im Kopf habe“, begann Kayate zu erzählen als Melaara sie endlich eingeholt hatte. „Haben wir zwei Möglichkeiten Leratiss zu verlassen.“ Jetzt drehte sie sich endgültig um und setzte sich vor ihr in den Sand. „Entweder, wir schwimmen durchs Meer nach Suimang, oder wir nehmen den Landweg. Um den zu erreichen müssen wir jedoch Yaosale durchqueren.“ Sie hatte die Karte mit ihren Pfoten in den Sand gezeichnet. „Ich schätze um den Landweg zu erreichen bräuchten wir so um die zwei Tage. Da würde der Wasserweg sicher schneller sein. Aber ich mache mir Sorgen, dass wir nicht so weit schwimmen können. Immerhin ist das eine ziemlich weite Strecke.“ Schnell schüttelte Melaara den Kopf. „Ich bin für den Landweg. Wer weiß was da alles im Meer herumschwimmt!“ Die schwarze Wölfin grinste. „Außerdem wissen wir ja noch nicht mal was uns auf der anderen Seite erwartet!“, fügte sie schnell hinzu, um nicht ängstlich zu wirken.
„Oh doch! Auf der anderen Seite ist eine kleine Stadt. Das weiß ich.“ „Ich bin trotzdem für den Landweg.“ „Na dann los!“ Noch bevor sie etwas sagen konnte hatte Kayate schon mit der Pfote über die Karte gewischt und fegte erneut durch den Sand Richtung Yaosale. Etwas zögernd stand auch Melaara auf und lief der Anderen hinterher. Es dauerte nur wenige Momente bis sie sie eingeholt hatte. „Bist ganz schön schnell was? Lass ihnen ein Wettrennen machen!“, grinste Kayate und steigerte schon ihr Tempo. Schnaubend schüttelte Melaara den Kopf und spannte die Läufe umso mehr an. Kayate war schnell, jedoch lange nicht so schnell wie sie. Im langgezogenen, schnellen Laufschritt holte sie die schwarze Wölfin in null Komma nichts ein, überholte sie dann und rannte nur noch schneller.
Bald schon wich der Sand hohem Gras. Für einen Menschen war es bestimmt schon schulterhoch. Doch die Wölfe kümmerten sich nicht darum. Sie stürzten hinein ins Gras, ließen sich von den vielen Düften umgarnen, das Gras an ihren Pelzen vorbeihuschen. Genossen das Rascheln des Grases, wenn sie mit voller Geschwindigkeit hindurch rasten, oder den Wind welcher mit ihnen darüber brauste. „So frei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt!“, rief sie Kayate glücklich über ihre Schulter zu. Zumindest glaubte sie dass sie noch hinter ihr war. Sie konnte sie nicht mehr sehen. Nur noch der leichte Geruch sowie ein leises Rascheln nicht weit hinter ihr, verriet ihr das Kayate ganz in der Nähe war. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte schnellte Kayate auch schon an ihr vorbei. Sie hechelte, offenbar bereitete ihr der Lauf ziemliche Schwierigkeiten. „Schon müde?“, schnaubte sie, jedoch ebenfalls erschöpft. „Anhalten!“, brachte diese nur hervor. Etwas in Kayates Augen hatte sich verändert. Sie waren ernst. Sofort verlangsamten sie ihren Lauf. „Was ist los?“, nervös schnupperte sie in die Luft. Der Geruch von Menschen kitzelte ihre Nase. „Wir sind vor den Stadtmauern vor Yaosale.“, erklärte Kayate und lies sich langsam und immer noch außer Atem auf den Boden fallen. Nicht weit vor ihnen war das Gras bereits verschwunden und gab die Aussicht auf einen kleinen steinernen Platz mit Brunnen und großer Mauer dahinter frei. In die Mauer war eine riesige steinerne Tür geschlagen, die sich bestimmt nicht so leicht öffnen ließ. Auf der Mauer, genau über dem Tor, waren zwei Männer postiert. Sie waren nicht bewaffnet und trugen nichts anderes als eine Art Leinen-Shirt und eine Lederjacke darüber. „Sie scheinen nicht gefährlich zu sein… Ob sie uns wohl reinlassen?“ Kayate zuckte mit den Schultern als sie sich aufrichtete und dabei in einen Menschen zurückverwandelte. „Vergiss nicht, dass die Nationen im Krieg zueinander stehen. Wir könnten Gefahr laufen als Spione angesehen zu werden. Aber lass es uns versuchen. Sonst müssen wir eben schwimmen.“ Melaara schauderte bei dem Gedanken.
Für einen Moment zögerte sie, doch dann trat sie aus dem Gras heraus und sah selbstsicher, beinahe herausfordernd zu den Wachen hoch. Melaara folgte ihr, jedoch nicht ganz so übermütig. „Wer ist da?“, rief einer der Männer hinunter. „Reisende. Aus Diapdra.“, antwortete Kayate fest. „Name und Alter?“, stimmte nun auch der andere mit ein. „Ich bin Kayate. Das dort ist Melaara. Wir sind beide siebzehn Jahre alt.“ Die Männer musterten sich einen Moment lang. „Seid ihr nicht etwas zu jung um ganz alleine umherzureisen?“ „Wir können sehr gut auf uns selbst aufpassen, die Herren. wir haben beide den Schwertkampf erlernt. Und wir sind zwei unerschrockene Abenteurerinnen.“ Der Eine schmunzelte leicht. Der Andere zögerte ein wenig. „Und woher sollen wir wissen, dass ihr tatsächlich aus Diapdra kommt?“ „Könnt ihr nicht, aber wir wollen hier auch nicht leben. Wir wollen lediglich die Stadt passieren, schickt uns meinetwegen Wachen hinterher, die uns aus der Stadt geleiten.“ Die beiden Wachen sahen einander wieder nachdenklich an. Dann zückte einer der beiden plötzlich einen kleinen Wasserbeutel, welcher zuvor an einem Gürtel an seinem Bauch hing. Er zog ihn auf und hielt konzentriert seine Hand darüber. Plötzlich ließ er seine Hand hochschnellen und das Wasser, welches zuvor im Beutel war folgte seiner Bewegung, schwebte nach oben, nur um dann in der Luft zu zerstreuen und als Regen auf die beiden Mädchen niederzugehen. Diese zuckten unwillkürlich zusammen. „Was-?!“ „Nur die Ruhe. Das dient dazu euch... im Auge zu behalten. Durchquert die Stadt so schnell es euch möglich ist, und stellt dabei keinen Blödsinn an, das würden wir merken.“ „Nun gut. Dann kommt rein.“ Mit diesen Worten verschwand der Eine hinter der Mauer und das Tor ging mit lautem Knirschen auf. Der Andere kam ihnen entgegen. „Wo wollen die Damen eigentlich hin, wenn mir diese Frage erlaubt sei.“ Schon setzte sich Kayate wieder in Gang. Melaara folgte ihr stumm. „Das wissen wir selbst noch nicht so genau.“, sagte sie. Der Mann hob eine Augenbraue. „Zuerst werden wir wohl nach Suimang reisen.“ Jetzt schien er ganz Ohr zu sein. „Wie ihr selbst sehen konntet sind wir selbst aus Suimang. Ob man es glaubt oder nicht, aber Leratiss hat wohl einige Wachen aus allen Nationen zu sich geholt um sich zumindest ein klein wenig zu verteidigen. Als könnte man‘s ihnen verübeln“ Nun gesellte sich der andere dazu. „Was wollt ihr überhaupt in Suimang? Ihr seid doch nicht tatsächlich irgendwelche Spione?“ Abwehrend hob Kayate die Hände. „Nur Reisende die Leratiss langsam satt haben!“, verteidigte Kayate. Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich wieder. Er strich sich seine bräunlich-roten Haare zurück und versuchte wieder gelassen zu wirken. Das kleine Lächeln, was von vielen unzähligen Falten umrahmt wurde, ließ ihn sympathisch wirken. „Kinder wie ihr sollten dennoch aufpassen wo sie hingehen. Der Krieg ist dort in vollem Gange. Gebt ja Acht auf euch.“ Er bat sie mit einer einladenden Verbeugung in die Stadt hinein. Sobald sie passiert hatten schloss sich die steinerne Tür wieder.
Die salzige Seeluft mischte sich mit dem Geruch der frisch gefangenen Fische. Melaara konnte nicht anders und nieste, als der Fischgeruch sich in ihrer Nase ausbreitete. Jetzt endlich verstand sie warum Kayate umgezogen war. Der Geruch war nach einiger Zeit nicht mehr zum Aushalten. „Halte durch… wir haben etwas mehr als die Hälfte geschafft.“, tröstete Kayate sie als es bereits wieder zu dämmern anfing. Sie waren die halbe Nacht durchgewandert und schon recht weitgekommen. Die Sonne versank hinter den aus Steingeformten Häusern. Der Asphalt schien zu glühen. Über ihnen flogen träge die Möwen. Immer wieder war ihr beinahe schallendes Gelächter zu hören. Irgendwann war Kayate der Kragen geplatzt und sie hatte sich einen Schuh ausgezogen und ihn nach einer Möwe geworfen, die sich einen Spaß daraus zu machen schien, Kieselsteine auf sie fallen zu lassen. „Diese Möwen sind ja noch schlimmer als Krähen!“, murrte sie. „Sind Krähen denn so schlimm?“ „Sie verstehen sich am besten mit Wölfen. Gleichzeitig haben sie aber auch Riesenfreude daran dir jedes Haar einzeln auszurupfen und nichts Besseres zu tun als irgendwelche Steine oder Pflanzen auf dich runterzuwerfen. Aber diese Möwen sind ja mindestens genauso nervig!“ Angestrengt blinzelte sie gegen die Sonne und zu den dahingleitenden Möwen. „Aber es muss toll sein so fliegen zu können!“, schwärmte sie verträumt. „Ja, so lange man keine Höhenangst hat.“ Schweigend überging sie Melaaras Kommentar. „Es muss die endlose Freiheit bedeuten.“ Plötzlich spürte die Braunhaarige Kayates Blick auf ihr. „Wünscht du dir Freiheit?“ Einen Moment schwieg sie, sah stumm in den Himmel. „Mehr als alles andere.“ Hart und fest. Überzeugend. „Was wünscht du dir am meisten?“ „Also…“, begann Kayate während sie sich streckte und gelangweilt gähnte. „Ich habe alles was ich brauche. Ich habe tolle Freunde, darf gehen wohin ich will… ich bin einfach frei. ich habe alles was ich immer wollte.“ „Aber du wolltest weggehen?“ sie nickte, den Blick jetzt ebenfalls zum Himmel gerichtet. „Ich bin noch nicht am Ziel! Ich bin glücklich, aber noch nicht am Ziel!“ Melaara legte den Kopf leicht schief. „Und dieses Ziel wäre?“ „Ich will die Welt sehen!“ Jetzt trafen sich ihre Blicke. „Ich habe bis jetzt nur Diapdra und Teile Suimangs gesehen! Ich will nach Ortiais… Und Shianril… Und hast du schon mal von der Insel Lyras gehört? Da will ich auch noch hin!“ „Lyras?“ „Es soll eine paradiesische Insel im Meer, nordwestlich von Suimang sein. Bisher hat noch niemand sie entdeckt und es ist eigentlich mehr oder weniger nur eine Legende. Aber angeblich soll dort die Statue der geflügelten weißen Wölfin stehen!“ Kayates Augen strahlten förmlich. „Aber eins nach dem anderen. Wo willst du jetzt eigentlich genau hin? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?“ Kayate machte sich bereits wieder auf den Weg während sie den Kopf schüttelte. „Zuerst nach Suimang… Aber dann…?“ „Hmm…“ Nachdenklich kratze sich Kayate am Kinn. „Hast du Lust zu segeln?“ Überrascht starrte sie Kayate an. „Segeln? Wohin?“ „Nach Lyras!“, strahlte Kayate und ging rückwärst weiter. „Wir könnten uns in Suimang ein tüchtiges Boot besorgen und dann auf die See rausfahren! Bitte! Ich will so gerne nach Lyras!“ Melaara runzelte misstrauisch die Stirn. Das Meer war ihr nicht so ganz geheuer. Und der Gedanke daran vielleicht tagelang umher zu segeln, bei einem Krieg und wer weiß wie vielen Seeungeheuern… Nein, es war ihr ganz und gar nicht geheuer. „Aber wir haben doch gar keine Ahnung wo Lyras liegt, nicht wahr?“ „Das denkst du!“, sie zwinkerte und stopfte dabei ihre rechte Hand in eine kleine Seitentasche ihres grünen, knielangen Kleides und holte eine zerknitterte Karte heraus. Jede Stadt, jeder Wald, jeder Berg und jeder Fluss waren darin eingezeichnet. Oben links, prangte eine Art Kompass. „Schau was in Nordwesten von Suimang aus ist!“ Tatsächlich war dort eine Insel eingezeichnet. Scheinbar mit schwarzer Tinte geschrieben stand der Name „Lyras“ daneben. Die Karte schien schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. Sie war zerknittert. Teilweise war die Schrift abgeblättert. Früher musste sie ziemlich edel ausgesehen haben. „Da müssen wir aber einige Städte durchqueren…Das wird nicht leicht werden!“ „Ach… wir haben Wolfsseelen! Meine Pfoten haben mich schon viel weiter getragen!“ „Das meinte ich nicht.“ Jetzt wandte Kayate den Blick von der Karte ab. Fragend schaute sie ihre wölfische Gefährtin an. „Ich meine den Krieg. Die Nationen… Was wenn wir mitten in den Krieg geraten?“ „Oh, das werden wir.“, sagte das Mädchen gelassen. „Aber wir sind stark.“ Kayate packte bereits die Karte wieder in ihre Tasche. „Und schnell. Und schlau ja auch. Wolfseelen werden nicht so leicht gefangen. Und schon gar nicht besiegt.“ „Aber ich möchte nicht kämpfen… Nicht töten. Ich bin kein Monster!“ Ihre Blicke trafen sich erneut. Kayates Augen drückten Verwirrtheit aus. „Niemand sagte dass wir kämpfen müssen. Wir haben starke Läufe. wir sind flink! Wenn wir attackiert werden dann laufen wir eben so schnell wie der Wind!“ „Aber man kann nicht immer davonlaufen…“ Plötzlich bemerkte Melaara, dass sie schon genauso wie Ronin sprach. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht kämpfen wollte. Dennoch konnte sie beinahe die furchterregenden Wolfsaugen spüren die sie von hinten anstarrten. Und gleichzeitig die Lust, diese grausame Lust anderen Schaden zuzufügen, Blut zu schmecken. Zu kämpfen. Eine Gänsehaut erstreckte sich über ihren Körper, obwohl es warm war. Sie schlang ihre Arme um sich und zitterte kaum merkbar. „Alles ok?“, Kayates erstauntes Gesicht rüttelte sie wieder wach. Sie nickte. „Lass uns einfach weitergehen…“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie einfach weiter. Für einen Augenblick blieb Kayate verwundert zurück, holte dann aber wieder auf und ging locker neben ihr her. „Also fahren wir jetzt nach Lyras?“, fragte sie irgendwann unvermittelt. „Wenn wir ein Boot finden… Wieso nicht?“ Sofort erhellten sich Kayates Züge und sie sprang ein paar Mal in die Luft und um Melaara herum, bevor sie prustend und keuchend vor ihr zu stehen kam. „Die legendäre Insel! Wir werden die legendäre Insel finden!“, lachte sie begeistert. Belustigt schnaubte die Weiße. „Wenn du dabei nicht vorher über Board gehst, kleiner schwarzer Welpe!“ „Das sagt ausgerechnet die, die vor wenigen Wochen noch nicht mal wusste, dass sie vier Pfoten und ein Fell hat!“
Inzwischen hatten sie fast ganz Yaosale durchquert. Doch die Dunkelheit senkte sich bereits wieder herab. Die Sterne funkelten und die Nacht hüllte die sonst so glänzende Hafenstadt in einen dunklen, undurchsichtigen Schleier aus Nebel. Vor ein paar Stunden brannten noch Laternen und ließen den gesamten Ort erstrahlen. Doch aus einem unerfindlichen Grund waren alle Lichter gelöscht. Selbst das des Mondes war kaum noch auszumachen. Auch in den Häusern brannten keine Lichter. Der Ort wirkte wie eine Geisterstadt.
„Und ich habe dir gesagt es wäre schlau gewesen einen Unterschlupf zu suchen! Jetzt müssen wir hier in totaler Finsternis herum laufen!“, beklagte die Braunhaarige sich als sie fast gegen eine Straßenlaterne lief. „Dann benutz eben deine Nase und deine Ohren, anstatt deiner Augen! Hast du etwa bereits alles vergessen was sie dir erklärt habe?“, schimpfte Kayate. Schmollend wand sich Melaara ab und schnupperte in die Luft. Vieles konnte sie nicht ausmachen. Den Geruch von Wasser… Sowohl von der See als auch vom Nebel. Nasse und modrige Häuser. Hin und wieder Mal den Geruch einer Ratte die vorbeihuschte. Die Fenster der Menschen waren geschlossen. Es war, als hätte es in Yaosale niemals menschliches Leben gegeben.
Sie gingen am Hafen entlang. Das Rauschen der Wellen hatte etwas Beruhigendes und Einschläferndes. Kayate schien ebenfalls müde zu sein. Ständig rieb sie sich die Augen und gähnte. „Sollten wir nicht irgendwo eine Pause machen?“, fragte sie vorsichtig. „Wir gehen schon seit fast zwei Nächten durch… Ich bin so verdammt müde…“ Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf. „Wer weiß was hier alles für Gestalten lauern… Wir sollten versuchen diese eine Nacht noch durchzulaufen. Morgen in der Früh können wir uns ja auf einem Feld oder der gleichen ausruhen. Aber nicht hier in der Großstadt.“
Plötzlich wich die unheimliche Stille etwas anderem: Glockenschlagen. Unheimlich und tief kündigte sie mit ihren Schlägen die Uhrzeit an. Mitternacht. Als das Geräusch der Glocke verstummte fingen die Laternen an aufzuleuchten. Das rötlich-gelbe Licht flackerte immer wieder auf und schien beinahe wieder aus zu gehen. Jede einzelne Laterne „entflammte“ sich auf dieselbe Art, bis die gesamte Stadt in dem Licht zu versinken schien. Schockiert starrte sie zuerst die gespenstischen Lichter an, dann sah sie hinauf zu den Fenstern der Menschen, wo sie für einen Hauch der Sekunde ein kleines Mädchen erkennen zu schien, die dann jedoch von einer Mutter sofort weggezogen wurde. Ihr Blick glitt wieder hinunter auf die Straße. Links von ihnen erstreckte sich das Meer, nicht mehr weit davor, wurde die Aussicht jedoch von einer Reihe Häusern beendet. Rechts befanden sich ebenfalls Häuser. Vor ihnen, eine lange gepflasterte Straße die sachte bergauf ging und auf einem hohen Berg, wo weitere Viertel sich erstreckten, zu enden schien. Eine große Mauer war auf dem Berg zu erkennen die sich wohl um eine Art Adelsviertel schlängelte.
Vor dieser Mauer bewegte sich etwas. Es war Dunkel, von Schatten eingehüllt, und es bewegte sich die Straße hinab. Unbeholfen und geschockt stolperte Melaara ein paar Schritte zurück und dabei gegen Kayate. Sie schien ebenfalls verängstigt. „Was… was ist das?“ Die Schwarzhaarige schüttelte zur Antwort lediglich den Kopf, wie in Zeitlupe. „Es sieht gefährlich aus… Wenn man genau hinsieht… Da sind Krallen… Fangzähne…“ „Wollen sie uns angreifen?“ „Woher soll ich das denn wissen?“ Kayate klang gereizt. Gereizt, eingeschüchtert, panisch. „Wir müssen dort durch. Auf dem Berg da oben ist der Ausgang von Yaosale.“ Sie ging ein Stück zurück und postierte sich genau neben dem ersten Haus, von wo aus sich eine kleine Treppe nach unten zum Strand befand, der hinter den Häuserreihen bei einer Klippe endete. „Wir werden hier warten. Vielleicht ziehen sie einfach an uns vorbei.“ Melaara stellte sich an die Seite ihrer Freundin und starrte ungeduldig die Straße hinauf. Die Schatten, die aus dieser Entfernung noch eine Art komplettes, zusammengeschmolzenes Gebilde zu sein schienen, trennten sich jetzt. Es waren einzelne schattenhafte Kreaturen die dicht aneinander gingen. Sie gingen gelassen und doch bedrohlich. Aufmerksam. Wie ein Wolf der gerade dabei war sich seine Beute auszusuchen. Darauf bedacht niemanden zu erschrecken und dennoch im richtigen Augenblick zuzuschlagen.
Sie besaßen große Pfoten. Beinahe Bärentatzen. Der Kopf sah nach Wolf aus. Eine lange, stachelige Mähne erstreckte sich von ihrem Kopf bis hinunter zu den Schultern. Ihr Fell war tiefschwarz und schien sich zu bewegen, als wäre es aus Schatten gemacht. Die Augen hatten keine Pupillen. sie leuchteten lediglich weiß. Ihre Hinterbeine waren jedoch alles andere als Wolfsähnlich. sie erinnerten beinahe an Vogelbeine, oder an die von Reptilien. Sie waren unnatürlich stark gekrümmt und besaßen ebenfalls große, scharfe Krallen die im Licht der Laternen Schwarz funkelten. Auch der Schwanz war eher reptilienähnlich: Lange, zur Spitze hin dünner werden, an dessen Ende sich eine Art Klinge befand, wie ein festgemachter Dolch.
Die Zähne waren gefletscht, die Krallen kratzen über den gepflasterten Boden. Bedrohliches Knurren war zu hören. Aber nicht ein solches was man einem Tier hätte zuordnen können. Tief und monströs. Sie waren größer als ein gewöhnlicher, ausgewachsener Wolf. Alleine an ihren Muskeln konnte man erkennen, dass man mit reiner Kraft hier keinen Kampf gewinnen konnte.
sie waren nur noch einige Meter von den Mädchen entfernt, kurz davor vorbeizugehen, sie nicht zu beachten. Bis plötzlich das Wesen an vorderster Stelle den Kopf hob und den Geruch der Luft einsog.
Noch bevor einer von ihnen sich bewegen konnte, gingen sie alle gleichzeitig auf die Mädchen los. Kreischend, brüllend und knurrend stürzten sie sich auf sie. Melaara wurde als erstes zu Boden gebracht. Eines der Wesen drücke sich mit seinen Pfoten fest gegen den Boden, raubte ihr die Luft. Entsetzt lag sie einfach nur da und starrte angsterfüllt zu ihrem Gegner hoch. Dieser war gerade dabei seinen furchtbaren Kiefer zu öffnen und ein Knurren entweichen zu lassen. Beinahe klang es belustigend, ja regelrecht triumphierend. „Melaara!“ Kayates Stimme. Sicher und kämpferisch. Im Augenwinkel konnte sie erkennen, dass sie sich in ihre Wolfsform verwandelt hatte und mit den Biestern wild kämpfte. Blut tropfte aus ihrem Maul und von ihrer rechten Flanke. Ihre Beine zitterten, so sehr, dass sie Angst hatte sie würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch die schwarze Wölfin stand drei der Monster gegenüber und knurrte sie tief aus ihrer Kehle an. „Steh auf! Du musst kämpfen!“, knurrte sie ihr zu, den Blick immer auf ihre Gegner gerichtet. Melaara wollte soeben protestieren als Kayate schon auf das Wesen welches auf ihr stand zu sprintete, einen Sprung machten und die Bestie mit einem Satz von ihr herunterriss. Die Braunhaarige wand sich, schwer atmend kam sie auf die Füße und verwandelte sich dann ebenfalls in ihre wahre Gestalt. Kayate hatte der Bestie, die ihrer Kameradin den Atem geraubt hatte, eine tiefe Wunde an der Flanke zugefügt. Das Wesen bewegte sich nicht mehr, stattdessen löste es sich in den Schatten auf. Schnell kam die Wölfin zurück gelaufen und war an ihrer Seite. Gemeinsam standen sie nun drei der Bestien gegenüber, die sie wutentbrannt anknurrten. „Ein Biss… Ein Biss und sie sind verschwunden. Aber ein Biss von ihnen… Dann breitet sich ein Gift in deinem Körper aus, was dich fast um den Verstand bringt.“ „Du… du wurdest verletzt.“ „Und das Gift sucht sich auch schon seinen Weg, ja. Aber so wahr ich eine Wölfin bin… Ich werde doch nicht gegen ein paar alte, schwarze Wischmopps verlieren!“, knurrte sie und gab dabei ein gurgelndes Geräusch von sich. „Versuch sie nur einmal zu beißen, dann sind wir sie los!“ Wiederwillig nickte die Weiße, starrte auf die blutende Wunde an Kayates rechter Flanke. Genau in dem Moment stürzten sich die Kreaturen erneut auf sie. Doch diesmal waren die Wölfe zu schnell. Mit einer eleganten Leichtigkeit wichen sie aus und schnellten zum Angriff vor. Die weiße Wölfin war schnell genug und erwischte eine der Bestien beim Bein. Die Kreatur jaulte und wollte gerade nach ihrem Nacken schnappen, als sie sich in dunklen Partikeln einfach auflöste und verschwand.
„Melaara! Pass auf!“ Sie drehte sich zu spät um und wurde wieder von zwei schweren Pranken gen Boden gedrückt. Die Pranken standen diesmal genau auf ihrer Kehle. Sie konnte die Zähne schon an ihrer Schulter spüren. Einen dumpfen Schmerz, der sich immer weiter ausbreitete und sich langsam durch den ganzen Körper erstreckte. „K-Kayate…“ Sie wand den Kopf nur leicht und sah, wie auch Kayate von einer der Bestien auf den Boden gedrückt wurde. Ihre Augen verloren langsam an Glanz. Das Leben entwich aus ihnen. „Nein!“ Melaara schrie, trat um sich, spürte wie der Scherz begann ihr den Verstand zu rauben. Und von einer Sekunde zur anderen war da noch etwas anderes. Eine Wärme die sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Mächtig und hell. Sie strömte durch ihren Körper und schien ihr neue Kraft zu verleihen. Sie heulte und knurrte gleichzeitig. Dann versank alles in einem gleißend hellen Licht.
Als sie es wagte die Augen wieder zu öffnen, stand sie in einem leeren, weißen Raum. Er wirkte endlos. Er schien keine Wände oder einen Boden zu haben. Melaara war in Wolfsform und sah sich verwundert um. Als ihr nach einem Moment bewusst wurde, das Kayate, die Wesen, ja einfach alles verschwunden war, begann sie zu rufen. „Hallo?! Ist da jemand?!“, ihre Stimme, oder zumindest ihre Gedanken schienen von überall her widerzuhallen. Es war still. Zu still. Und als sie glaubte diese Wärme, die sie empfunden hatte als sie gegen die Monster gekämpft hatte, würde verschwinden, hatte sich aber geirrt. sie nahm zu. Näherte sich scheinbar von hinten. Schlagartig drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine schlanke weiße Wölfin. sie hatte große, ebenso strahlende Flügel auf ihrem Rücken. Ihre Augen leuchteten Smaragd-grün und funkelten verspielt.
„Wer… Wer bist du?!“, sie versuchte selbstsicher zu klingen, doch das Zittern in meiner Stimme war deutlich zu hören. Die Lefzen der Wölfin zogen sich zu einem kleinen, schmalen Lächeln zurück. Der Blick der Wölfin wurde warm. Geradezu Mütterlich. „Wo… bin ich hier? Was ist das für ein Ort!“, verlangte sie zu wissen. Das Lächeln der Wölfin wurde nur noch breiter. „Dein Herz.“, erklang plötzlich eine seidene Stimme in ihrem Gedanken. Die Stimme der Wölfin. „Das hier.“, sie spreizte ihre Schwingen ein wenig und deutete mit dem Kopf in den weißen Raum um sich. „Das hier ist dein Herz. Noch ist es voller Licht. Seit Ronin es verlassen hat ist es noch viel heller als sonst.“ „Ronin? Woher weißt du von ihm!?“ Sie schien sie einfach zu überhören und sprach einfach weiter mit ihrer tiefen, samtweichen Stimme. „Doch er wird stärker. Jetzt kannst du ihn noch nicht fühlen. Aber mit jedem Tag wächst seine Macht. Und du musst auch stärker werden, weiße Wölfin, wenn du die Dunkelheit in deinem Herzen kontrollieren möchtest.“ „Sie… lässt sich nicht vernichten?“ Es klang mehr wie eine Feststellung. Sie wusste nicht warum, doch die Wölfin vor ihr erschien ihr irgendwie vertraut und doch unbekannt. Sie schüttelte als Antwort auf ihre Frage den Kopf und ließ ihn sinken. „Dunkelheit ist in jedem von ihnen. Man kann sie nicht endgültig vernichten. Nur lernen sie zu kontrollieren.“ „‘Ohne Licht keine Dunkelheit. Ohne Dunkelheit kein Licht‘“, zitierte Melaara. Stolz lächelte die Wölfin und nickte.
Plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und raste auf Melaara zu. Sie konnte nichts anderes tun als blitzartig ihre Augen zu schließen und zu versuchen sich klein zu machen. Eine plötzliche Hitze, wie tausend Sonnen, durchbrannte ihren Körper für einen Sekundenbruchteil. Kaum gespürt war das angenehme Gefühl auch schon wieder weg. Unsicher öffnete sie die Augen und blickte sich um. Die andere Wölfin war verschwunden. Auch die Wärme die mit ihr kam verschwand langsam.
„Nutze deine neuen Fähigkeiten weise. Nach und nach wirst du mehr von ihnen entdecken. Aber fürs erste… Genieße einfach das Gefühl der Freiheit und den Wind, wenn er durch dein Fell braust.“ Als die Stimme der Wölfin verhallte löste sich auch der Raum aus Licht auf. Langsam kamen die Finsternis und das Schummrige Licht der Laternen durch das Weiße hindurch und ließen es endgültig verschwinden, bis sie sich wieder in der Stadt Yaosale befand. Das Wesen stand nicht mehr länger auf meiner Brust und raubte ihr den Atem. Stattdessen lag es nicht weit von ihr auf den Boden und starrte erschrocken zu ihr hinauf. Ein kaum spürbares Gewicht lag auf ihrem Rücken und als sie sich umdrehte um ihn besser betrachten zu können wusste sie auch warum: Flügel. Mächtige, weiße Schwingen befanden sich auf ihrem Rücken. Genau wie die der weißen Wölfin.
Kayate wurde noch immer von einem der Wesen zu Boden gedrückt und starrte ungläubig auf die Flügel. Als sie ein wütendes Knurren ausstieß und gerade dabei war sich auf die Wesen aus Schatten zu stürzen, zogen die sich zurück. Einige winselten, andere knurrten, doch alle klemmten sie ihren Schwanz zwischen die Beine und flüchteten den Strand entlang, wirbelten dabei große Staubwolken auf und verschwanden in der Finsternis und Weite der Stadt.
Eine Weile starrten sie den Kreaturen regungslos hinterher als sie den Blick der schwarzen Wölfin auf ihr spürte. „Melaara…? Was…Was ist passiert…? Woher… Woher hast du deine Kräfte entdeckt?“ „Kräfte…?“, fragte sie verwundert. „Die…die Flügel.“ „Ah…nun…da war eine Wärme….und plötzlich war alles weiß…und dann…eine weiße Wölfin mit riesigen weißen Schwingen…“ Kayate lag erschöpft am Boden, erschöpft hielt sie den Kopf oben und lauschte Melaaras Geschichte. „Wie ungewöhnlich… unsere Rasse bekommt die Fähigkeiten normalerweise nicht….geschenkt… wir erlernen sie. Mit der Zeit sehen wir vor unseren Augen was unsere Fähigkeiten sind. Und mit jedem Tag wird das Bild klarer bis es Wirklichkeit wird.“ Ihre Stimme wirkte gepresst. Schweigend sah Melaara sie an. „Wer….wer war sie dann…?“ Die schwarze Wölfin schüttelte nur langsam und unwissenden den Kopf.
Gerade machte Kayate das Maul auf um etwas zu sagen, doch sie riss schlagartig die Augen beängstigend weit auf und begann am ganzen Körper zu zittern. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Kurz danach brach sie auch schon zusammen und verwandelte sich dabei zurück in einen Menschen. Regungslos lag sie auf dem Boden. „Kayate!“, rief die weiße Wölfin erschrocken, verwandelte sich zurück in einen Menschen und lief zu ihr. Vorsichtig legte sie einen Arm unter Kayates Nacken um sie ein wenig auf zu richten. „Mist…!“, zischte sie und versuchte verzweifelt das Mädchen irgendwie auf ihre Schultern zu hieven. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Flügel verschwunden waren. Nach kurzer Zeit trug sie sie Huckepack durch die dunklen Gassen der Handelsstadt. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn ihren Hals hinab und verschwanden unter ihrer Kleidung. Sie keuchte schwer als sie die kleinen Gassen meist bergaufwärts ging. Sie wusste nicht wohin sie eigentlich ging. In der Hoffnung jedoch, ein Gasthaus oder zumindest irgendein erleuchtetes Haus welches ihnen Rettung bringen konnte, versuchte sie ihre Augen offen zu halten. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub als sie sich an einer Kreuzung, an einer Hauswand anlehnte und Kayate völlig erschöpft neben ihr niederfallen ließ. Sie versuchte ihre Lungen dazu zu zwingen mehr Sauerstoff aufzunehmen. Sie zuckte zusammen als ein Fenster sich über ihrem Kopf öffnete. Ein alter Mann streckte seinen Kopf hervor und sah Richtung Strand, die beiden Mädchen schien er gar nicht zu bemerkten. Gelassen zündete er sich eine Zigarette an. Der Mann war circa um die 70, ein warmherziges, rundes Gesicht, geziert von vielen, vielen kleinen Fältchen. Sein kurzes graues Haar fiel in Strähnen herab als der Rauch seiner Zigarette in den Nachthimmel entschwebte. „S-Sir! Bitte! Bitte sie brauchen ihre Hilfe…!“, rief sie verzweifelt zu ihm hoch. Der Mann gab ein tiefes raues „Hm?“, von sich als er den Blick nach unten wandte und sie entdeckte. Er schwieg und hatte die Arme lässig auf der Fensterbank verschränkt, seine Augen jedoch waren ein Stück weiter aufgegangen als vorher. Jetzt nahm er die Zigarette aus dem Mund und pustete den Rauch aus der Nase wieder hinaus. „Zwei kleine Bettler Mädchen, wie? Verschwindet, ich gebe euch kein Geld.“, seine raue Stimme kratzte in ihren Ohren als er eine kleine Rauchfahne aus seinem Mund entweichen ließ. „Nein…! Nein, Sir, Wir…wir sind keine Bettler…! Wir sind Reisende! Und wir brauchen Eure Hilfe! Meine Freundin….Wir wurden angegriffen…! Sie…sie wurde vergiftet! Bitte, wenn Ihr uns nicht helft wird sie sterben!“ Der alte Herr steckte sich wieder nur seine Zigarette in den Mund. „Und was habe ich davon?“, meinte er, beinahe gelassen und stützte sich mit einer Hand am Kinn ab. Sie stieß ein grimmiges Knurren aus. „Vielleicht euer Leben, vielleicht kein Blut an den Händen, vielleicht das restliche bisschen eurer jämmerlichen Ehre!“ Belustigt pustete der Alte den Rauch aus und gab dabei ein so raues Geräusch von sich, bei welchem man nicht sagen konnte ob es ein Räuspern oder ein Lachen war. Er warf achtlos die Zigarette aus dem Fenster, schloss es und war dann verschwunden. Verzweifelt biss Melaara sich auf die Lippe und kniff müde die Augen zusammen. Sie konnte spüren wie Kayates Atem mit jeder Minute schwächer wurde. Bei Sonnenaufgang würde dieser vermutlich gar nicht mehr zu vernehmen sein.
Sie wollte so eben wieder aufbrechen, als sie hörte wie sich eine Tür nicht weit neben ihr öffnete. Verwirrt blinzelte sie gegen das Licht an. „Ich mag kleine taffe Dinger wie dich.“, rumorte die raue Stimme in ihren Ohren. Langsam war im Licht der Schatten des alten Mannes auszumachen. „Komm rein, schnell, schnell! Sonst wird Ruricy wieder böse weil die Kälte bei der Tür mitherein will!“
Etwas zögernd sah die Braunhaarige den alten Herrn an, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich von dem vorherigen, kühlen Steingesicht zu einem warmen, einladenden Grinsen entwickelt. Schnell und mit dankbaren und strahlenden Augen trat sie ein, wo ihr sogleich eine himmlische Wärme entgegenschlug. „Vielen, vielen Dank, alter Herr!“ „Clait. Mein Name ist Clait, Herr Gott nochmal, nicht alter Herr! Oder Knacker, oder Opa oder was euch Kindern sonst noch so einfällt!“ Das Zimmer in welchen sie sich befanden war anscheinend ein kleines Wohnzimmer, es war eine kleine Couch zu sehen, davor ein großer Kamin in dem ein warmes Feuer prasselte. Links und rechts des Kamins befanden sich Türen. Clait deutete auf die Rechte und brachte die beiden Mädchen somit in ein kleines Zimmer mit nur einem Bett und einem großem Lesestuhl. Erschöpft und mit einem Seufzen legte sie Kayate in das Bett und ließ sich auf dem großen Stuhl nieder. „Wir….wir wurden angegriffen…“, brachte Melaara erschöpft hervor. „Lurar.“, grollte Clait. „Gestalten des Schattens. Unheimliche Biester die nichts sehnlicher lieben als die Finsternis. Woher sie kommen…weiß niemand. Sie sind vor nicht allzu langer Zeit in unserer Stadt aufgetaucht, nachdem sie bereits an einigen anderen Orten Schaden angerichtet haben. Zerstörte Gebäude, verschlungen von den Schatten. Verletzte, die nicht mehr wagten zu sprechen nachdem sie diesen Kreaturen begegnet waren. Es scheint als würden sie einem Ziel folgen. Doch welches…? Niemand vermag das zu sagen. Das Gift in ihren Körpern welches ihre Klauen und Zähne umgibt macht einen wahnsinnig so heißt es. Es raubt einem so lange den Verstand, versetzt einen in die Welt der Finsternis und lässt einen nicht mehr klar sehen. Bis die Nacht vorbei ist und du in der Finsternis zergangen bist.“ Das Mädchen schluckte heftig. „Gibt…gibt es Rettung?“ Der Alte grummelte etwas in sich hinein. „Vielleicht. Wir werden sehen wie viel Licht in diesem Mädchen ist. Ist es genug, wird sie bis Sonnenaufgang wieder Dieselbe, das Gift verpufft einfach und wird sie nicht weiter betreffen. Hat sie jedoch zu viele Schatten in ihrem Herzen….“ Clait sah zu Boden. „Ich befürchte dann gibt es keine Rettung mehr.“
Mit diesen Worten bewegte sich Clait zum Ausgang des Zimmers. Ohne sich noch einmal umzudrehen stand er am Türrahmen. „Wenn was is‘, ruf mich einfach.“ Endlich war sie alleine mit Kayate im Zimmer. Diese lag schwer atmend im Bett. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie machte einen gequälten Gesichtsausdruck. Melaara seufzte nur und begann damit in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie hatte heute noch nicht viel gegessen und getrunken und war gerade auf der Suche nach ihrer Wasserflasche. Als sie sie gefunden hatte und aus der Tasche nehmen wollte durchzuckte sie ein plötzlicher, dumpfer Schmerz in der Schulter. Vorsichtig schob sie ihr Gewand ein wenig zur Seite. Schockiert starrte sie auf die Schulter. Das Mädchen hatte vergessen, dass auch sie von einer der Kreaturen gebissen worden war. Die Abdrücke der spitzen Zähne waren tief in ihr Fleisch gebohrt, doch es blutete kaum. Sie begann sich zu fragen warum sie nicht, wie Kayate, ohnmächtig im Bett lag. Zeigte das Gift noch keine Wirkung? Zu viele Fragen auf einmal. Erschöpft ließ sie sich in den Stuhl sinken. „Du bist das pure Licht. Ihr Gift ist wirkungslos bei dir. Die Finsternis wurde beinahe komplett aus deinem Herzen gebrochen. DU bist eine gebrochene Seele.“, hallte urplötzlich eine Stimme in ihrem Kopf wieder. Ruckartig setzte sie sich auf und sah sich hektisch um. Außer ihr und der schlafenden Gefährtin war niemand bei ihr. „Wer ist da?“, fragte sie hörbar erschöpft. Die Stimme kicherte. Sie war ihr vertraut und dennoch auch unbekannt. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Diese Stimme…sie war sanft und tief… Wie die Stimme der geflügelten weißen Wölfin. Verwirrt sah sie sich um. Eine solche weiß leuchtende Kreatur mit riesigen Flügeln konnte man doch nicht einfach übersehen. „Wo bist du?“ „Hier und da und überall und nirgendwo!“, lachte die Stimme. Etwas genervt zog sie die Augenbrauen zusammen. „Zeig dich!“ Schweigen kehrte in das kleine Zimmer ein. „Du sollst dich zeigen!“, verlangte sie. Doch die Stimme blieb stumm. Seufzend ließ sie sich wieder auf den Stuhl zurück fallen. „Gebrochene Seele…“, widerholte sie nachdenklich, drehte und wendete es in ihrem Gedanken als wäre es ein Gegenstand. „Das hat doch auch dieser Ronin gesagt…Was…ist denn eine gebrochene Seele…?“ Eine Weile dachte sie noch über diese Worte nach, doch schon nach kurzer Zeit fühlte sie wie sich die Müdigkeit immer mehr um sie legte. Die Finsternis empfang sie langsam und träge.
Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Holzplatten kämpfte sich kaum noch etwas Sonnenlicht. Ein Strahl schien genau in Melaaras Gesicht und kitzelte ihre Nase. Seufzend blinzelte sie langsam die Müdigkeit aus ihren Augen. Noch beinahe im Halbschlaf setzte sie sich auf und streckte sich erst einmal, bis ihr schlagartig Kayate einfiel. Schon war sie hellwach und starrte zum Bett hinüber. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen das es leer war. Geschockt sog sie die Luft ein und rannte aus dem Zimmer um den alten Herren zu suchen. „Clait…! Clait, wo bist du! Kayate…Kayate sie ist...“, sie stolperte halb über den Türrahmen in ihrer Eile und konnte gerade noch so vor Clait abbremsen der bereits auf sie zu warten schien. „Was soll denn der Radau?“ „Kayate…sie…sie ist verschwunden! Nicht mehr…in ihrem Bett!“, stammelte sie etwas außer Atem. Hinter Clait stand eine Tür weit offen und führte offenbar in die Küche. Sie konnte den Geruch von Brot, Marmelade, Pfannkuchen und noch allerlei anderen Leckereien, identifizieren. Und noch einen weiteren. Kayate. Der Duft von Kayate befand sich in der Küche. Vor lauter Panik hatte sie beinahe vergessen sich auf ihre wölfischen Fähigkeiten zu verlassen.
Gerade als sie einen Schritt auf die Küche zu machen wollte streckte ihr das andere Wolfsmädchen schon den Kopf entgegen. „Morgen, Melaara.“, mit einer Scheibe Toast im Mund, schenkte sie ihr ein offenes, putzmunteres Grinsen. Melaara schob die Lippe vor und warf ihrer Wolfsfreundin einen mörderischen Blick zu. „Weißt du was ich mir für Sorgen gemacht habe! Und du stolzierst hier einfach mir nichts dir nichts in die Küche von ‘nem Fremden runter!“ „Verzeihung Prinzessin, bekommst du halt nix vom Frühstück ab.“, motzte Kayate zurück. „Beruhigt euch, Ladies.“, Clait hob besänftigend die Hände. „Sie war sehr früh aufgewacht, meinte sie wolle dich nicht wecken, habe aber Hunger. Also hab ich ihr erlaubt die Küche zu benutzen. Sie hat mir erzählt ihr seid auf der Durchreise, also dachte ich, ein bisschen Proviant würde euch nicht schaden.“ Unsicher sah die weiße Wölfin von Clait zu Kayate, seufzte dann jedoch nachgiebig und bedankte sich bei Clait für die Vorräte. Nachdem sie Kayate nochmals gründlich durchgecheckt hatten, zogen sie weiter. „Lasst euch nicht von den Menschen erwischen, Wölfe.“, rief Clait ihnen nach als sie das Haus verlassen hatten. Verwirrt sahen sie zum Alten, doch der hatte bereits ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür geschlossen.
Gegen Mittag hatten sie bereits den Ausgang der Stadt erreicht. Als sie durch das Tor schritten, war alles was sie sahen rohe Wildnis. Rechts von ihnen befand sich eine weite Ebene. Außer Gras und hin und wieder ein paar Bäumen, die sich in der Ferne verloren war rein gar nichts zu sehen. Gerade vor ihnen befand sich ein Kliff. Die tobenden Wellen peitschten und rissen immer wieder Felsbrocken mit sich in die Tiefe. „So, mal schauen.“, Kayate nahm aus ihrer Seitentasche ihre Karte und faltete sie auf dem Boden auf. „Wir sind jetzt hier, am Rande von Yaosale.“ Sie deutete mit dem Finger auf den Punkt an dem sie sich befanden. „Hier befindet sich ein riesiger Landweg der nach Suimang führt. Und wenn wir diese Wildnis dort durchqueren würden, würden wir wohl sehr bald in Ortiais ankommen. Da wir aber ohnehin nach Suimang wollen, und uns in Ortiais erstmal nur eine riesige Wüste erwarten würde, schlage ich vor wir nehmen den Landweg.“ Die schwarze Wölfin wartete nicht auf eine Zustimmung sondern faltete schlichtweg die Karte wieder zusammen und steckte sie weg. „Dann mal los.“ Schon setzten sie sich wieder in Bewegung. „Sag mal…Wie lange ist es eigentlich her das wir Wölfe waren?“, begann Kayate auf einmal nachdenklich. „Hm? Öhm… Na als wir von den Lurar angegriffen wurden.“ „Ja…das stimmt…“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Entschuldige. ich hab grade nur gedacht…wir haben uns seit dem nicht mehr verwandelt. Ich frage mich ob du deine Flügel in Wolfsform behalten hast.“ Nachdenklich sah sie zum Himmel hoch. Als Melaara ihre Schwingen bekam, fühlte sie ein leichtes Gewicht auf ihrem Rücken. Doch seit sie wieder in ihrer menschlichen Form war, hatte sie dieses Gefühl verlassen. Sie zögerte nicht lange und gab ihrer wahren Seele nach. Schon stand sie als weiße Wölfin neben Kayate. Der Druck auf ihrem Rücken kehrte jedoch nicht zurück. Sie waren tatsächlich weg… Leicht enttäuscht begutachtete sie ihren Rücken „Konzentrier dich mal drauf. Vielleicht kannst du sie ja herbei rufen!“, meinte die andere Wölfin. „Keine Sorge, hier sieht uns schon niemand, wir sind weit genug weg von der Stadt.“ Melaara tat wie ihr geheißen und konzentrierte sich auf die einstigen Flügel. Sie stellte sich vor wie sie sie ausbreitete, wie der Wind durch die Federn brauste. Sie versuchte sich das Gewicht der Schwingen vorzustellen, doch sie konnte es einfach nicht auf ihrem Rücken wahrnehmen. Enttäuscht öffnete sie wieder die Augen und sah zu Kayate hoch. „Hm…kann man wohl nichts machen. Vielleicht erscheinen sie nur wenn bestimmte…Bedingungen erfüllt werden.“ „Bedingungen?“ „Ja. ich hab schon von Seelen gehört die ihre Kräfte erst nutzen konnten wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten. Zum Beispiel wenn sie in Gefahr waren. Oder wenn sie immense Angst hatten.“ Niedergeschlagen sah Melaara zu Boden. „Meine Kräfte sind also begrenzt…?“ sie seufzte. „Und ich dachte ich könnte dann frei wie ein Vogel durch die Lüfte gleiten“ Die setzte sich wieder in Bewegung und ging Richtung Landbrücke. Kayate folgte ihr. „Na ja…vielleicht kannst du das ja eines Tages. Vielleicht musst du deine Fähigkeiten einfach nur trainieren!“
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Inzwischen hatten sie schon ein gutes Stück der Landbrücke hinter ihnen gelassen. Die Brücke war eine riesige Felsformation die über das Meer führte. Tief unter ihnen konnte man die tobenden Wellen hören. Als sie etwa die Hälfte der Brücke erreichten näherte sich Kayate dem Rand und sah hinunter. „Also wenn du hier runterfällst hast du wohl mehr als ein paar Knochenbrüche…“ Sie erschauderte an der Höhe und winkte das andere Mädchen zu sich. Als sie neben ihr stand deutete sie nach unten zum Meer. Viele spitze und tödliche Felsen ragten überall aus dem tosenden Wasser heraus. Würde man hier hinunterfallen, würde man sterben. Selbst wenn jemand die Felsen mit purem Glück verfehlen würde – die Höhe würde wohl genügen um jemanden einfach zerbersten zu lassen. Die weiße Wölfin zitterte leicht und trat ein paar Schritte zurück. Schnell ging sie weiter. „Wenn du Höhenangst hast wirst du dich mit dem Fliegen da aber schwer tun.“ „Wenn ich weiß dass ich Flügel hab, die ich kontrollieren kann hab ich keine Angst. Aber so…So bin ich auch nichts weiter als ein wehrloser Mensch.“
Plötzlich zog etwas im Himmel ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war weit entfernt, jedoch noch erkennbar. Etwas flammte auf in der Ferne. Ein bedrohliches Zischen gab zu erkennen was es war. Sie konnte Flammen sehen, das abscheuliche Brüllen hören. Melaara sah zwei Paar gigantischer Schwingen die mit kräftigen Schlägen ihre Besitzer in der Luft hielten. Gebannt sah sie an die Stelle wo die beiden Bestien immer wieder auf einander stießen, sich die Zähne und Klauen ins Fleisch stießen. „Das sind…“, brachte sie nur hervor, bevor sie merkte das Kayate sie an der Hand genommen hatte und über die Brücke zog. „Drachen!“, rief Kayate. „Und sie kommen auf die Brücke zu!“ sie sah noch einmal zum Himmel hoch. Tatsächlich, die beiden Riesenechsen kamen in ihrem Gefecht der Brücke rasend schnell näher. Beide waren sie schwer verwundet doch in ihren feurigen Augen sah man ihnen die Ernsthaftigkeit dieses Kampfes an. Es waren beide Feuerdrachen. Man konnte es an ihrer Farbe und Musterung erkennen. Beide waren sie tiefrot mit schwarz-glänzenden bedrohlichen Krallen. Eine schwarze, flammenartige Musterung zierte die beiden Drachenkörper.
Die Ungetüme kamen dem Landweg immer näher, so lange, bis sie darüber hinwegrasten und die beiden Wolfsmädchen vom Luftzug beinahe weggeweht wurden. Nach einiger Zeit umkreisten sie sich bedrohlich und langsam in der Luft, bevor sie wieder an Geschwindigkeit zunahmen und aufeinander mit einem finsteren Knurren und Zischen aufeinander zurasten. Die beiden Wolfsmädchen hatten sich inzwischen wieder in ihre wahre Gestalt verwandelt und liefen mit voller Geschwindigkeit über die Brücke. „Das Ding ist nicht stark genug! Wenn die sich auf die Brücke werfen sind wir erledigt!“, rief Kayate komplett außer Atem.
Der Kampf in der Luft ging unerbittlich weiter. Einer der Beiden Feuerechsen schaffte es im Nahkampf sich in den Nacken der Anderen zu verbeißen. Diese kreischte und brüllte, versuchte loszukommen und ließ die gewaltigen Krallen immer und immer wieder über den Körper des Rivalen kratzen. Plötzlich hob die verbissene Feuerechse ihren Kopf und hob somit ihren Gegner hoch. Mit einer schnellen und kräftigen Kopfbewegung schleuderte sie sie mit voller Wucht auf die Brücke. „Pass auf!“ Mit einem lauten Krachen schlug das Tier mit voller Wucht auf die Brücke ein. Seine gigantischen Schwingen und sein Schweif, schlugen über die Brücke hinweg, genau auf die Wölfinnen zu. Noch immer liefen sie im vollen Tempo, doch die immer wieder neuerzeugten Luftströmungen der Drachen wehten sie immer ein paar Meter zurück und zwangen sie immer öfter als geplant Halt zu machen. Die Wölfe strengten ihre Läufe bis zum äußersten an und sprangen, gerade so, über den Schweif des Drachen. Sie wechselten zwischen ihrer menschlichen Gestalt und wahren Gestalt um den Flügeln und Klauen der Feuerechse zu entgehen. Ein Hieb mit der Pranke dieser Kreatur, welche beinahe vierfach so groß war wie die Wölfe, hätte ausgerecht um ihnen alle Knochen im Leib restlos zu brechen. Der Riesenechse entfuhr ein lautes Brüllen, bevor sie sich langsam wieder bewegte und versuchte aufzustehen. Die Wölfinnen entgingen den Klauen der gigantischen geflügelten Echse bevor sie nur wenige Augen blicke wieder einen lauten Knall direkt vor ihnen hörten. wieder einmal bremsten sie ab und machten eine scharfe Linkskurve um dem zweiten Paar Klauen des anderen Drachen auszuweichen. Auch er hatte sich auf die Brücke niedergelassen um seinen am Boden liegenden Rivalen den Todesstoß zu versetzen. Dieser gab nur noch ein mickriges Grunzen von sich und ließ seinen Schädel müde auf den felsigen Untergrund donnern. Genau als die zweite Riesenechse ein ohrenbetäubendes Brüllen von dich gab und zum letzten Schlag ansetzte ließ ein verhängnisvolles Knacken alle Anwesenden innehalten. Ein gigantischer Riss entstand unter dem totgeweihten Drachen und bahnte sich rasen schnell seinen Weg über den ganzen Landweg. Laut und krachend suchte er sich seinen Weg unter den beiden Drachen hindurch. Die Brücke brach mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auseinander. Der siegende Drache erkannte die Gefahr und breitete seine Schwingen beinahe gleichgültig aus. Als er abhob fegte ein orkanartiger Wind über die Brücke. Die Wolfsmädchen schafften es gerade so sich im felsigen Untergrund zu verkrallen und dem Wind standzuhalten. Doch sie spürten wie unter ihnen der Boden zerbröckelte. Felsbrocken brachen ab von der Brücke und versanken in der endlosen Tiefe im Meer darunter. Ein Bein der halb toten Riesenechse befand sich bereits in der Luft, und auch der Rest ihres Körpers folgte schnell. „Melaara! Lauf!“, rief Kayate panisch und spannte ihr Laufmuskeln an als der Wind nachgelassen hatte. Auch sie zögerte nicht lange und sprintete los, als sie sah dass neben ihr der Drache bereits in die Tiefe fiel. Die Brücke zerfiel mit ohrenbetäubendem Lärm und rasanter Geschwindigkeit. Die Wolfsmädchen liefen um ihr Leben, und hatten das Ende des Landwegs beinahe erreicht. Melaaras Muskeln brannten. Doch auch der Riss hatte beinahe die gesamte Brücke dazu gebracht einfach auseinanderzufallen. Immer und immer wieder konnte sie spüren wie sie es mit einem Schritt gerade so schaffte dem Fall in den Tod zu entgehen. Kayate ging es nicht anders. Es waren nur noch wenige Meter bis sie das Ende der Brücke erreicht hatten, doch in diesen Moment sah sie zu Kayate hinüber und erstarrte. Die Zeit verlangsamte sich und sie sah wie der Boden unter Kayates Pfoten wegbrach. Verzweifelt versuchte sie sich am noch stabilen Teil weiter vorne festzukrallen, doch auch diese brach wenige Sekunden später einfach unter ihren Füßen weg. Ihre Läufe fielen wertlos in die Tiefe. „Kayate!“ Die schwarze Wölfin fiel bereits mit dutzenden von Steinen und Felsen in die Tiefe. Todesangst und Apathie spiegelten sich in Kayates sonst so fröhlich, leuchtenden Augen wieder. Melaara kniff die Augen zusammen. Eine unbeschreibliche Angst machte sich in ihrem Inneren breit. Die Angst vor dem Tod? Die Angst davor Kayate sterben zu sehen? Die Angst davor alleine zu sein? Sie wusste es nicht, doch diese Angst sendete einen Impuls in ihre Muskeln. Sie verkrampfte sich. ihre Muskeln gaben ihr nicht länger die Kraft nach vorne zu laufen. Sie befehligten ihrem Körper stehen zu bleiben. Kayate nachzuspringen.. Runterzuspringen. Ihr Körper gehorchte. Und so fiel sie wenige Augenblicke später neben Kayate in die endlose Tiefe.
Doch etwas stimmte nicht. Obwohl sie unbeschreibliche Angst hatte, so erfüllte sie nicht diese Gleichgültigkeit, die Kayates Augen zu jenem Zeitpunkt prägten. Die Wölfin öffnete die Augen, und sah wie sie sich den spitzen Felsen und dem Meer immer schneller näherte. Neben ihr fiel Kayate. Sie schien bereits in Ohnmacht gefallen zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, friedlich, als würde sie schlafen. Für Melaara schien sich die Zeit zu verlangsamen. Eine bekannte Wärme erfüllte sie plötzlich wieder. Es war jenes Gefühl welches sie beim Angriff der Lurar auch verspürt hatte. Sie konzentrierte sich darauf und versuchte sich in Erinnerung zu rufen wie sie danach die Flügel besaß. Und tatsächlich; wenige Augenblicke später, kehrte auch das bekannte Schweregefühl auf ihrem Rücken zurück. Ihre Augen wurden groß und funkelnden voller Hoffnung als sie sich umdrehte um ihrem Rücken zu sehen: ihre Schwingen waren wieder da. Mit größter Mühe schaffte sie es die riesigen, weißen Flügel auszubreiten. Sogleich merkte sie wie der Wind sie nach oben hinweg zog, doch sie wehrte sich, versuchte die Flügel so zu steuern, dass sie Kayate auffangen konnte. Doch je mehr sie sich wehrte desto weiter wurde sie von ihrer Freundin entfernt. Panisch verschloss sie wieder die Augen und versuchte sich selbst zu beruhigen. Als ihr Herzschlag sich etwas verlangsamt hatte, legte sie die Flügel an und rauschte somit doppelt so schnell als vorher den tobenden Wellen entgegen. Kurz bevor sie aufschlug breitete sie die Schwingen wieder aus, flog zur Seite und sogleich wieder hinauf. sie schaffte es Kayate im Flug beim Nacken zu greifen und sie so auf ihrem Rücken zu ziehen das sie Halt fand. Das Fliegen wurde mit dem Gewicht der schwarzen Wölfin sehr viel anstrengender und anspruchsvoller. Verzweifelt schlug sie mit den Flügeln um an Höhe zu gewinnen, doch musste sie gleichzeitig auch noch den herab stürzenden Felsen der Brücke entgehen. Beinahe hatte sie den Felsvorsprung erreicht um wieder nach oben zu kommen und sich zu retten, doch in der Sekunde als sie sich schon in Sicherheit wiegte, verpasste sie es einem der größeren Felsen auszuweichen. Der Brocken rammte sich am rechten Flügel und brachte sich aus dem Gleichgewicht. Schmerzen durchfluteten ihre rechte Schulter. Verzweifelt versuchte sie das Gleichgewicht wiederzufinden, scheiterte jedoch kläglich. Ihre Krallen jedoch hatten es geschafft. Sie hatten sich fest in den kleinen Vorsprung gegraben und hielt die Wölfin an Ort und Stelle. Trotz brennender Muskeln zog sie sich auf den kleinen Felsvorsprung und ließ sich niederfallen. Komplett außer Atem lag sie keuchend auf dem kleinen Vorsprung der ihr, zumindest für den Moment, ein kleines bisschen Sicherheit gab. Zu spät erst merkte sie das Kayate von ihrem Rücken verschwunden war. Der kommende Schock jedoch ließ sie nur zum äußersten Rand des Vorsprungs krabbeln und nach unten sehen. Sie hätte schwören können, dass sie ein schwarzes Fellknäuel sah, welches daraufhin im Meer versank. Ihre Augen fielen langsam zu. Sie verlor das Bewusstsein und taumelte in die allesverschlingende Schwärze.
Kapitel 4: Abenteuer
Das erste was von ihren zuckenden Wolfsohren wahrgenommen wurde war das Geräusch der tobenden Wellen wie sie gegen eine Klippe schlugen. Der erste Gedanke; „Wo bin ich?“ Die erste Erinnerung; „Kayate!“
Ruckartig hob die Wölfin ihren Kopf und sah sich um. Noch immer lag sie auf dem kleinen Felsvorsprung am Rande der Klippe. Doch in dem Moment indem sie wieder zu Bewusstsein kam, begann auch der Vorsprung abzubröckeln. Rechtzeitig schoss das Adrenalin in ihren Körper und sie schaffte es mit einem großen Sprung Halt auf der felsigen Mauer zu finden. Ihr Herz raste wie verrückt, ihr Kopf schmerzte von den Erinnerungen, ihr Herz war verwirrt. Die waren Flügel verschwunden. Sie schaffte es, sich mit letzter Kraft nach oben an den Rand der Klippe zu schleppen. Erschöpft ließ sie sich wieder fallen und sah hinunter in den Abgrund zum Wasser und den spitzen Felsen. Von den Drachen war keine Spur mehr zu sehen, doch auch Kayate war wie vom Erdboden verschwunden. Jedoch befand sich auf den Felsen im Meer kein Blut. Hatte sie die Felsen verfehlt? sie riskierte einen Blick zu der nicht mehr existierenden Brücke. Hier und da fielen immer noch kleine Felsen hinunter ins Meer, doch der gigantische Landweg aus Stein war weg. Niemand konnte mehr den Landweg nach Suimang nehmen. Oder gar nach Leratiss. Erst jetzt erkannte sie das dies ihr einziger Weg war um je wieder nach Hause zu kommen. Verzweifelt legte sie die Pfoten über die Schnauze und blieb liegen.
Scheinbar mehrere Stunden vergingen in denen sie sich kein Stück bewegte. Hin und wieder hob sie den Kopf um nach unten zum Meer zu sehen, in der Hoffnung Kayate dort zu entdecken, doch nie war es der Fall, und immer legte sie daraufhin die Pfoten wieder auf die Schnauze, um so ihrem Blick zu verhüllen. Die Realität zu verdrängen. Doch einmal war etwas anders. Ein Geräusch, ein Flattern, wie das eines Vogels, gar nicht so weit von ihr entfernt. Die Weiße hob den Kopf und spitze die Ohren, genau in diesem Moment rauschte etwas kleines Schwarzes vor ihren Augen vorbei. Panisch stolperte die sie ein paar Schritte zurück, nur um dann zu erkennen, dass das Wesen eine Art Krähe war, welche schon, als sie sich endlich umdrehte, bereits wieder einiges an Entfernung hinter sich gelegt hatte. Die Wölfin gab ein eingebildetes Schnaufen von sich als sie dem Vogel hinterher starrte, doch schon bald wurde ihr wieder klar in welcher Situation sie sich befand. Sogleich ließ sie den Kopf wieder hängen. Diesmal jedoch landete ihr Blick auf etwas anderem als dem eintönigen, kalten Fels. Scheinbar hatte die Krähe es fallen gelassen. Melaara senkte den Kopf um es besser begutachten zu können, dann wagte sie es daran zu schnuppern. Kayate Geruch klebte daran. Eine Karte. Kayates Karte. Sie verwandelte sich zurück in einen Menschen und ließ sich zusammen mit der Karte in ihren Händen auf den Rücken fallen. Sie hielt sie gegen das Sonnenlicht und studierte sie genau. Wo hatte Kayate sie bloß her? Sie war alt, zerknittert. An den Enden zerrissen, doch trotz allem noch lesbar. Das Mädchen schluckte einen Kloß hinunter als sie den Namen der Insel Lyras las und darüber nachdachte wie Kayate darüber gesprochen hatte diese Insel zu entdecken. Eine Weile bewegte sie sich nicht. Doch mit einem Mal fasste sie den Entschluss weiter zu gehen. Das Mädchen hatte eine Entscheidung getroffen. Sie wollte die Insel für Kayate finden. Die Karte faltete sie zusammen und steckte sie in die Taschen ihres Kleids. Zum ersten Mal sah sie nun was vor ihr lag. Sie wandte sich ab von dem zerstörten Landweg und in Richtung des Unbekannten. Verwundert riss sie die Augen auf, als sie sah welcher Weg vor ihr lag. Bisher hatte sie noch keine Zeit gehabt den Weg vor ihr zu erkunden, doch was sie hier vor sich hatte war zutiefst verwunderlich. Sie hatte eine riesige Steinwüste oder etwas Ähnliches erwartet, doch vor ihr lag etwas ganz anderes als Hitze und Trockenheit. In der Ferne konnte sie nur noch weiß erkennen. Der rötliche steinige Boden veränderte seine Farbe schon nach wenigen Metern zu einem eiskalten Weiß. Eis und Schnee. Vor ihr lag scheinbar eine gigantische Eiswüste. Unsicher faltete sie die Karte der schwarzen Wölfin noch einmal auseinander. Und tatsächlich; Suimang war komplett in weiß gezeichnet. Viele Flüsse schlängelten sich durch das vereiste Land. Es gab nur wenige wirklich große Städte in der vereisten Tundra. Ildorm war die Stadt die ihr am nächsten lag, wenn sie sich tatsächlich ein Boot mieten wollte um nach Lyras zu suchen. Doch die kleine Stadt lag einen langen Fußmarsch entfernt. Sie würde bestimmt 2 Tage unterwegs sein. Sorgfältig prüfte sie ihren restlichen Proviant. Clait hatte ihnen genug mitgegeben um einige Zeit lang zu überleben. Den Marsch würde sie also zumindest vom Proviant her mit Leichtigkeit schaffen. Im Endeffekt, hatte sie ihr doch etwas luftiges Kleid mit einem Wintermantel und einem dicken roten Pulli und schwarzer Jean darunter ausgetauscht. Sofort standen ihr die Schweißperlen auf der Stirn, doch sie wusste, dass dies bestimmt nicht lange so bleiben würde. Auch die Decke fand noch ihren Nutzen. Geschickt hatte sie den Stoff so geknotet, dass sie letztlich einen Mantel mit kleiner Kapuze wehend am Rücke trug. Den Rucksack packte sie darunter. Sie warf noch einen letzten Blick zurück, schüttelte dann jedoch den Kopf und lief los.
Schon nach kurzer Zeit war sie in einem starken Schneesturm gefangen. Der Wind ließ die Decke wie verrückt tanzen. Das Wolfsmädchen hatte die Arme um ihrem Körper geschlungen, doch auch dies schien kaum Wäre zu spenden. Vielleicht würde sie ja der Wolfspelz wärmen… Sofort als ihr die Idee kam verwandelte sie sich. Die Flügel waren wieder einmal verschwunden, jedoch schien es in wölfischer Gestalt tatsächlich wärmer zu sein. Schritt für Schritt wagte sie sich weiter in den Sturm hinein, doch schon bald hatte sie jegliches Gefühl für Zeit. Wärme und Kälte oder gar Orientierung verloren. Ihr Verstand begann damit ihr Streiche zu spielen. Immer wieder meinte sie, sie könne eine Gestalt in den Schneewehen sehen, doch als sie blinzelte und genauer hinsah war sie verschwunden. Ihr Verstand gaukelte ihr Stimmen und Gerüche vor. Die von Takeo, von Kayate, ihren Eltern. Doch wieder und wieder schüttelte sie den Kopf, versuchte sich auf die Realität zu konzentrieren. Und mit jedem Mal wurde es schwieriger die Halluzinationen loszuwerden, bis sie schließlich von Stimmen und Gerüchen begleitet wurde. Alle von ihnen raubten ihr den Atem, jede von ihnen flüsterte und tuschelte ihr etwas ins Ohr. Sie solle umkehren, hier würde sie sterben. Das Mädchen ignorierte es. Solange, bis sie schließlich die andere Wölfin direkt vor ihr nicht bemerkte und als schlichte Einbildung abtat.
Die Graue blieb stehen und sah die andere Wölfin verwundert an, als sie einfach gegen sie lief und an Ort und Stelle zusammenbrach. Melaara hob den Kopf. Eine graue Wölfin, die Pfoten mit einem schwarzen Punktemuster verziert. Sie trug etwas um den Hals. Es funkelte in einem dunkeln, verführerischen Rubinrot. Keine Halluzination. Sie nahm den Geruch in sich auf, doch wieder einmal konnte sie keinen Muskel bewegen. Frustrierend ergab sie sich der langsam näher kriechenden Dunkelheit.
„Du kannst doch nicht einfach eine Fremde aus der Sekure mitnehmen! Was ist wenn du hier eine Spionin angeschleppt hast? Bring nicht noch mehr Krieg in unser kleines Dorf!“, eine männliche Stimme. Tief, rau. Er war schon älter. Vielleicht so um die 60? „Aber…sie wäre dort sonst gestorben…“ Weiblich. Eine sanfte und tiefere Stimme. So um die 20. „Du setzt das Leben des ganzen Dorfes für eine Fremde auf dich!“ „Ist dir unser Dorf so egal?“ „Schmeißt sie raus, dann macht sie keinen Ärger mehr!“ „Ja, verbannt sie in die Eiswüste! In der Sekure wird sie ihren Fehler einsehen!“ Der Ärger und die Angst in der Luft waren förmlich auf der Haut zu spüren. Plötzlich herrschte Stille. Schritte näherten sich, und die angespannte Luft wurde von Ehrfurcht erfüllt. „Solange ich der Älteste bin, entscheide ich wer in die Verbannung geschickt wird. Und ich werde meine Enkelin nicht in der größten und gefährlichsten Eiswüste die es in Suimang gibt zurücklassen.“ Langsam wurde das Bild um Melaara herum klarer. Sie hatte die Augen geschlossen, doch die Gerüche gaben ihr ein Bild von der Situation. Sie lag wohl in einer Hütte, gemacht. Doch das Material aus der sie gemacht war, war geruchlos. Kalt. Bestand die Hütte etwa aus Eis? Ein Feuer brannte in der Mitte des runden Raumes. Jemand saß neben ihr. „Die Wölfin“, sagte ihr ihr Geruchssinn. „Sie hat mich gerettet.“ Vor dem Eingang hatte sich scheinbar eine Traube von Menschen gebildet, die nun jedoch zur Seite gingen um Platz für jemanden zu machen. Langsam wurde es still. Der Stimme und dem Geruch nach zu Folge war es ein sehr alter Mann. Bestimmt schon um die 80. Ein hartes „Klack“ ertönte und ließ das Wolfsmädchen wissen, dass er sich nur noch mit einem Stock fortbewegte. Seine Gelenke rochen beinahe säuerlich. Wäre er Beute gewesen… Melaara warf den Gedanken beschämt weg. „Rin… Wieso hast du sie hier her gebracht, Enkelin? Wieso hast du dich in der Sekure, der Wüste der Eisgeister, herumgetrieben und diese Fremde mitgebracht?“, wollte der Alte wissen. „Großvater…sie hat auch eine tierische Seele… Sie war in der Eiswüste…Ganz alleine und dem Tod nahe. Ich konnte sie da doch nicht einfach liegen lassen!“. Verzweiflung, Wut und Empörung in ihrer Stimme. Schockiert sogen die Personen draußen vor der Tür die Luft ein als das Mädchen von der tierischen Seele erzählte. Jetzt wo sie es erwähnte… Melaara bemerkte, dass einige Personen vor der Hütte eine spezielle Seele hatten. Da war der durchdringende Geruch eines alten Fuchses. und einer Säbelzahnkatze. Auch eine seltene Drachenseele mischte sich unter die verschiedenen Düfte. Es gab…ein ganzes Dorf mit wahrhaftigen Seelen…? Hier…? Vorsichtig öffnete Melaara die Augen. Sie konnte nicht sehr viel ausmachen, Alles war verschwommen und verwischt. Hier und da waren Farben, Schatten. Das Mädchen neben ihr. Rot-braune Haare. Ein hellblaues Gewand mit weißem Pelz darum. Es erinnerte beinahe an ein Gewand der alten Eskimos. „Rin…auch wenn sie Eine von uns ist – du kannst nicht einfach so Fremde aus der Sekure mitnehmen! Wir brauchen hier keine Spione! Der Krieg soll nicht auch noch zu uns kommen, oder möchtest du das?“ „Ich weiß, Opa. Nein ich möchte es natürlich nicht aber ich…ich konnte doch nicht einfach zulassen dass sie stirbt. Trotz allem wäre sie immer noch ein Lebewesen, oder nicht?“ Kurzes Schweigen erfüllte den Raum. „Wir werden sie gesund pflegen. Aber dann muss sie gehen. Wir können es nicht riskieren, dass sie uns verrät.“ Das Klacken des Stocks entfernte sich wieder und verließ das Haus. „Und nun kusch! Hört auf euch wie ein Rudel räudiger Straßenköter um das Haus meiner Enkelin zu scharen! Na los, trollt euch!“ Ein paar Sekunden passierte nichts, doch als der Älteste seinen Stock vielsagend in den Boden rammte, entfernte sich der Massenauflauf langsam. Schweigen machte sich in dem kleinen Häuschen breit. Lediglich das Knistern des Feuers durchbrach die Stille hin und wieder. Melaara richtete sich auf und blinzelte dabei die Verschwommenheit hinfort. Stechende Kopfschmerzen plagten sie. Sie spürte wie das Mädchen neben ihr ein kleines Stück vor ihr zurückgewichen war und sie schweigend und unsicher anstarrte. „Kein sehr nettes Dorf…“, brachte sie angestrengt hervor und schaffte es das Mädchen anzusehen und dabei zu lächeln. „Wölfische Seelen haben‘s wohl einfach nicht leicht, was?“ Das Mädchen mit dem Namen Rin fixierte sie noch ein wenig, bevor sie die Knie an sich zog und traurig den Kopf schüttelte. „Keine Sorge, ich bin kein Spion. Ich bin einfach nur auf einer Reise.“ Rin seufzte. „Woher kommst du?“, wollte sie wissen. „Leratiss. Diapdra ist meine Heimatstadt.“ Das Mädchen nickte nur. „Sag mal…wo genau bin ich hier?“ „Ildrine.“ „Ildrine…?“, besorgt öffnete sie die Karte und suchte nach dem Namen. Sie seufzte erleichtert, als sie feststellte, dass das Dorf gleich über Ildorm lag. Sie war somit Lyras noch näher als sie es ursprünglich vorhatte. Zufrieden faltete sie die Karte zusammen und steckte sie wieder weg. „Verzeih, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Melaara.“ „Ich bin Rin.“ Müde lächelte das rothaarige Mädchen. Erschöpft stand sie auf und nahm sogleich den Rucksack der nur wenige Meter vor ihr stand. „Wo willst du denn hin?“ „Ich werde meine Reise fortsetzen. Ich bin hier doch eh nicht willkommen.“ „A-Aber du bist doch noch gar nicht vollkommen gesund! Ich hab keine Ahnung wo du hinwillst, aber das nächste wirkliche Dorf liegt einen guten Tagesmarsch von hier entfernt! In deiner momentanen Verfassung schaffst du das nicht!“ „Ach was. Wölfe sind zäh. Gerade du solltest das doch auch wissen, oder nicht?“ „Ja aber...“ sie hob die Hand um das Mädchen zu unterbrechen. „Kein Aber. Im Moment habe ich nur ein Ziel. Und wenn ich dieses Ziel auch aus den Augen verlieren würde…nun, dann wüsste ich gar nicht mehr wohin ich gehen sollte. Außerdem…habe ich es ihr doch mehr oder weniger versprochen…“ Am Ende schien ihre Stimme ein wenig zu zittern. Ja, sie hatte es ihr versprochen…und sie würde es einhalten. „Dann werde ich dich begleiten.“ Verwundert sah sie zu dem Mädchen „Wieso? Wenn du mich begleitest, eine Fremde, die euch vielleicht verraten wird, dann werden sie dich garantiert aus dem Dorf werfen.“ Das andere Wolfsmädchen zuckte mit den Schultern. „Du als Wölfin solltest es doch wissen. Wir sind nicht gerade sehr beliebt. Außer meinem Großvater wünscht sich niemand, dass ich hierbleibe. Was hab ich also schon zu verlieren?“ „Vielleicht dein Leben? Der Krieg tobt im Moment ja anscheinend überall. Das wird also bestimmt keine kleine Bergwanderung.“ Rin nickte. „Ich bin genauso eine Wölfin und mindestens genauso stark wie du. Unterschätze mich nicht.“ Rins Augen spiegelten Selbstvertrauen wieder, genau wie die ihren, als sie ihre Sachen gepackt hatte und in eine fremde Welt lief. Nach einem kurzen Schweigen nickte die Braunhaarige. „Wenn du es unbedingt willst. Dann lass uns gehen.“ „Geh schon mal vor. Der Ausgang liegt einfach immer grade aus, bei einem großen Tor. Gar nicht zu verfehlen. Wir treffen uns dann da.“ Melaara nickte erneut und trat heraus aus der warmen Hütte, hinein in den Schnee und die Kälte. Vor ihr befand sich ein kleiner Weg, an dessen Ende man bereits das erwähnte Tor erkennen konnte. Das Dorf schien nicht sehr groß zu sein. Müsste sie schätzen, hätte sie behauptet dass hier maximal 15 der kleinen, aus Eis gemachten Hütten waren. Platz genug für etwa 40 bis 50 Leute. Sie konnte die Anwesenheit der anderen deutlich spüren, auch wenn nur wenige von ihnen tatsächlich zu sehen waren. Doch alle hatten sie etwas gemeinsam; die Aura die sie umgab, als die Wölfin an ihnen vorbeiging. Zwar konnte sie erkennen das alle von ihnen unterschiedliche Seelen hatten, doch die Aura der Nervosität, Angst und oft auch Hass, war bei allen deutlich zu vernehmen. Sie spürte wie eine Hunde Seele sie anknurrte, eine Vogel Seele ihr Gefieder aufplusterte und Abstand vor ihr suchte, eine Panther Seele fauchte und ihre Krallen über den Boden wetzte. Ungehindert ging sie zum Tor. Als sie dieses erreicht hatte lehnte sie sich ruhig dagegen und sah ins Dorf hinein. Sie spürte wie die Blicke abgewendet wurden, die vielen unterschiedlichen Seelen langsam zurückwichen und wieder ihrem Alltag nachgingen. Dann war da noch etwas anderes. Eine einzelne, kleine Seele bewegte sich langsam auf sich zu. „Bitte…pass mir gut auf meine Enkelin auf, Wölfin.“, sprach die Stimme eines schmächtigen, ergrauten Fuchses. Der alte Mann. Sie verwandelte sich in ihre tierische Gestalt, trat dem Alten entgegen und berührte seine Schnauze vorsichtig mit ihrer. Danach trat sie zurück und senkte den Kopf vor ihm. „Ich werde über sie wachen.“ Der Ergraute nickte zufrieden und trottete zurück in sein Dorf. Genau in diesem Augenblick lief ihr eine kleine, graue Wölfin fröhlich entgegen. „Los geht’s!“, rief diese sowohl aufgeregt als auch unsicher. Das Tor öffnete sich und gewehrte ihnen Zugang zu ihren neuen Abenteuern.
„Agh…Es ist kalt….Es ist einfach VIEL zu kalt! Ich packe das nicht mehr ich brauch ‘ne Pause!“, ein grauer Wolfshintern plumpste erschöpft in den Schnee. Wie zum Kuckuck hatte sie es geschafft so weit in die Eiswüste zu laufen und die weiße Wölfin aufzusammeln, wenn sie noch nicht einmal diese Strecke durchhielt? „Wir sind doch gerade mal ein paar Stunden unterwegs…“, schnaufte die Weiße sichtlich genervt als sie sich zur Grauen umdrehte. Diese ließ sich erschöpft in den Schnee fallen. „Trotzdem…“, jammerte Rin. Sie seufzte und verwandelte sich in Menschengestalt zurück. Dann öffnete sie den Rucksack und warf der Wölfin ein kleines Brötchen entgegen, welches diese freudig in einem Happen in der Luft auffutterte. „Ich habe dir gesagt das wird kein Spaziergang.“ „Ich wusste doch aber auch nicht das es SO anstrengend wird…““Wir ruhen uns 5 Minuten aus, danach gehen wir weiter. Es ist zu kalt um lange hier zu verweilen.“ „Nur 5 Minuten?“, quengelte Rin. „Nur 5.“ „Aber dann bin ich nach 10 Minuten doch wieder halb tot.“ „Dann beiß die Zähne zusammen und zeig mir ob du tatsächlich so taff bist wie du es vorher meintest.“, ungeduldig knurrte die Weiße.
Unsicher legte die Graue ihre Ohren etwas an und schluckte schwer, bevor sie sich trotzig in Bewegung setzte und voran tapste. „Worauf wartest du denn?“, fragte sie eingeschnappt. Melaara seufzte nur und verdrehte die Augen, bevor auch sie sich wieder in Bewegung setzte.
Die Reise war lang und beschwerlich. sie zogen von Ortschaft zu Ortschaft, doch war es überall dasselbe: Die Menschen betrachteten sie an jedem Ort mit Misstrauen. Hier und da trafen sie auf Tierseelen, doch auch diese betrachteten sie voller Verachtung, manche sogar mit Mitleid, doch niemand hielt sie auf, fragte wohin sie wollten. Sie beobachteten sie einfach nur mit diesen gewissen, angespannten Blicken, bis sie die Wölfe ihre Vorräte wieder aufgefüllt hatten und wieder von dannen zogen. Je weiter sie gen Meer zogen desto wärmer wurde es. Zwar befand sich um sie herum immer noch nichts weiter als eine gigantische Eis- und Schneewüste, doch die eiskalten Stürme ließen nach. Die Sonne kämpfte sich mit jedem Tag mehr durch die dichten Wolken, bis sie schließlich als Menschen umher wandern konnten.
Schwer keuchend und schwitzend stapften sie durch Schnee und Eis, welches das Sonnenlicht so erhellte, dass einem die Augen selbst noch weh taten wenn man sie geschlossen hatte. „Es ist nicht mehr allzu weit. Halte durch Rin, bald sind wir in Yura.“ Yura war neben Rain in Suimang die einzige richtige Hafenstadt, von der aus es ihnen möglich war nach Lyras zu segeln. Nach wenigen Stunden der Wanderung konnten sie auch schon das Glitzern des Meeres sehen. Erleichtern und erfreut stürmten sie der salzigen Seeluft entgegen, in der Hoffnung, dass sie den beschwerlichsten Teil der Reise nun hinter sich gelassen hatten.
Yura war etwas größer als Rins Heimatdorf. Der Ort erinnerte Melaara beinahe an Yaosale, wenn auch etwas kleiner. Doch die Häuser in Yura waren nun keineswegs mehr kleine Eishütten wie man es in vielen anderen Dörfern und Vororten der Fall war. Nein, diese hier waren prachtvoller. Sehr viel prachtvoller. Mehrstöckige Häuser, aus Eis gemacht, verziert mit Verschnörkelungen, großzügigen Balkonen glitzerten, funkelten, und reflektieren sie das Licht der Sonne. Das Licht der untergehenden Feuerkugel am Himmel und das Schillern und Glitzern des Meeres, alles getaucht in ein tiefes rot-orange baten ein Bild das jedem Künstler den Stoff für einzigartige Bilder und Träume geliefert hätte.
Der Hafen war nicht sehr weit entfernt. Er bot Platz für etwa 30 große und protzige Segel- und kleinere Fischerboote. „Aber….wie sollen wir denn da an eines ran kommen?“, meinte Rin verwundert als sie vor einem der Prachtexemplare standen, und sie ihrem kleinen Beutel voll Geld hochhielt. „Das können wir uns doch nie leisten…Geschweige denn…kannst du überhaupt segeln?“ Die Braunhaarige nickte. „Ein bisschen. Als ich ganz klein war haben meine Familie und ich immer kleine Segelturns in Yaosale gemacht. Als der Krieg kam wurde unser Geld jedoch knapp…Aber ich erinnere mich an ein paar Dinge. Es wird schon irgendwie gehen.“ Zuversichtlich lächelte sie, doch die Graue sah sich lediglich mit hochgezogener Augenbraue und einer wachsenden Sorge an. „Und wie kommen wir an ein Schiff ran?“ „Na, wir machen‘s wie die Piraten!“, lachte Melaara. „W-…Was?!“, rief Rin geschockt. „Na wir kapern eines!“ „Bist du gaga?! Die erwischen uns doch sofort!“ „Dann machen wir‘s halt in der Nacht mit einem eher kleineren Schiff. Hier gibt es doch auch mittlere Boote welche sich zu zweit locker segeln lassen!“ „Du musst vollkommen bescheuert sein… Ich glaube die lange Zeit als wir in der Eiswüste waren hat dir nicht gut getan, Mädchen.“ „Ich bin vollkommen bei Sinnen, Rin. Ich bin nur dazu gewillt ein Versprechen zu halten und mein Ziel zu erreichen. Unter allen Umständen.“ Eine Weile sahen sie einander schweigend und angespannt an. Melaaras Blick wurde sanfter. „Wir werden es heil und unversehrt zurück bringen. Wir borgen es uns nur für eine Weile.“, wollte sie ihre neue Gefährtin überzeugen. „Ich halte das nicht für richtig…“, meinte diese trotzig, doch ihr Blick senkte sich gen Boden. „Aber ich hab keinen Ort mehr zu dem ich zurückkehren könnte…“ „Das ist nicht wahr. Ich glaube dein Großvater würde dich immer wieder in seinem Dorf aufnehmen.“ „Nicht wenn der Rest der Bevölkerung dagegen ist.“ Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen, dann legte die weiße Wölfin felsenfest eine Hand auf Rins Schulter und lächelte sie breit an. „Wird schon schief gehen!“ Rin nickte einfach nur stumm und sah wieder zu Boden. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem warmen und versteckten Plätzchen um auf die hereinbrechende Nacht zu warten.
Das Wasser glitzerte verführerisch im Schein der Sterne und es Mondes. Die Boote schwanken sachte auf den Wellen des Meeres. Das Rauschen brachte einen in Versuchung zu träumen. Doch etwas durchbrach die träumerische Szenerie. Zwei kleine Kreaturen schlichen von Boot zu Boot und sahen es sich genau an. Zwei Paar verstohlene Wolfsaugen blitzen aufgeregt durch die Nacht, auf der Suche nach dem richtigen Boot, als auch auf der Hut nach anderen Wesen.
Ein mittleres, kleines Ding, mit schwarzen Segeln und einer riesigen Krähe mit ausgebreiteten Flügeln als Galionsfigur sollte es sein. Leise tapsten sie an Board und fingen an die Seile zu lösen und die Segel zu setzen. Schnell war das Boot seetüchtig und segelte langsam hinaus aufs dunkle, schwarze Meer. Die wölfischen Augen veränderten sich und sahen zurück zu der kleinen Hafenstadt. Zwei Mädchen standen nun auf dem Schiff und lächelten verschmitzt, als die Stadt immer kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Entgegen aller Erwartungen war es ein lauter Schrei und kein angenehmes Wellenrauschen, welcher Melaara weckte. „Rin…? Was ‘n los?“, rief sie, komplett schlaftrunken. Ihre Zunge bewegte sich schwer in ihrem Mund. Als Antwort bekam sie nur ein hysterisches Gekreische und einen Ruf nach Hilfe. Schnell rappelte sie sich auf und rannte in die Richtung aus der das Gekreische kam. Oben an Deck sah sie das Rin mit etwas kämpfte. Es flatterte wild, krächzte und kreischte, zog an ihren Haaren. Schwarze Schwingen schlugen durch die Luft und vermischten sich mit Rins wedelten Armen zu einem Gewirr aus Haaren, Federn und Armen. Melaara zögerte nicht lange, rannte unter Deck, schnappte sich den Rucksack und warf ihn mit voller Wucht auf das flatternde und krächzende Wesen, welches vom Gewicht und der Wucht des Rucksacks zu Boden geworfen wurde. Rin keuchte und machte sich schnell ihre vollkommen durcheinander gewordenen Haare zurecht, die ihr wild von überall abstanden. Der Angreifer lag, noch immer wild flatternd, unter dem Rucksack und versuchte sich krächzend zu befreien, jedoch erfolglos. Zwei Paar rötlich glänzender, wütend funkelnder Krähenaugen sahen zu ihnen herüber. „Was genau ist passiert?“, fragte sie das andere Mädchen. „Ich bin einfach nur an Deck gegangen um zu sehen wo wir sind und ob wir auch noch auf Kurs sind, und dann greift mich auf einmal dieses….dieses Unwesen da an!“, wütend zeigte sie mit dem Finger zu der Krähenartigen Kreatur. Das Tier sah einer Krähe zum Verwechseln ähnlich. Doch anstatt der breiten Schwanzfedern hatte es einen länglichen Schweif, an dessen Ende eine große, lange Feder prangte. Auch der Kopf war verziert mit zwei der Schweifartigen Fortsätze an dessen Enden wieder große Federn platziert waren. Der Rucksack lag auf dem Rücken des Wesen und erlaubte im somit lediglich mit dem Schweif wild umher zu schlagen sowie wehrlos mit den Flügeln zu flattern. „Wie könnt ihr es wagen mein Schiff zu stehlen?!“, hallte plötzlich eine arrogante weibliche Stimme in den ihrem Kopf wieder. „Wer…?“ „Das ist MEIN Schiff, hört ihr?! Und ihr beiden kommt hier einfach mitten in der Nacht an und KLAUT. MEIN. SCHIFF! Unverzeihlich!“ Die Stimme konnte nur von der krähenartigen Kreatur kommen. „Wie kann eine Krähe ein Schiff besitzen?“, meinte Melaara amüsiert. „Was fällt dir ein! Ich bin keine Krähe!“, schrie die Stimme laut in ihrem Kopf. „Wage es nicht mich mit einem Vogel zu vergleichen…!“, meinte die Stimme empört. „Mein Name ist Eneru! Und ich habe die Seele eines Aeroni! Und nicht die eines stickenden Aasfressers!“ Plötzlich, innerhalb eines Herzschlags, verwandelte sich das schwarze Federbündel mit dem Namen Eneru in ein menschliches Wesen. Ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren und tödlichen roten Augen packte den kleinen Rucksack der auf ihrem Bauch lag und schleuderte ihn Melaara mit voller Wucht entgegen. Sie konnte ihn gerade noch so mit einem lauten „Uff“, auffangen, taumelte jedoch ein paar Schritte zurück. „Und jetzt bringt mich gefälligst wieder zurück nach Yura! Ich hab doch schließlich einen Auftritt heute!“ „Auftritt?“, Rin sah sie ratlos an. „Jawohl, Auftritt.“, plötzlich strahlte das Gesicht des Mädchens vor Begeisterung. „Ihr habt noch nie von der großen Eneru gehört? Dem Mädchen mit der Aeroni-Seele, dem großartigem Ding das auf der Bühne mit ihrer schauspielerischen Glanzleistung und ihrer wunderschönen Ausstrahlung das ganze Theater zum Leuchten bringt? Ihr MÜSST von mir gehört haben!“ Mit ausfallenden Bewegungen und übertrieben großen Schritten tänzelte sie über das Deck des Schiffes und sonnte sich in ihrem eigenen Glanz. Ihr hellblaues, luftiges Sommerkleid flog dramatisch durch die Luft als sie abrupt stehen blieb und sich die Hand gegen die Stirn hielt als hätte sie Fieber. „Aber natürlich, wie könnten zwei Piraten wie ihr, auch je von so etwas Glanzvollem wie mir gehört haben? Aber wenn ihr Piraten seid wie komme ich dann nun zurück? Dieser Weg ist doch viel zu weit für meine kleinen Flügel! Aber wahrscheinlich suchen sie doch ohnehin schon alle nach mir! Ach, ich freue mich schon wenn ich gerettet werde und ihr bösen Wölfe eingesperrt werdet!“ Die beiden Wolfsseelen sahen einander nur mit zuckenden Schultern an. „Wie wär‘s wenn wir sie fesseln? Machen das nicht die echten Piraten so?“, ein schelmisches Funkeln spiegelte sich in Rins Augen wieder. Melaara zog nur die Mundwinkel verständnislos nach unten. „Keine Ahnung. Aber ich schätze so kann sie nicht wegflattern. Oder uns mit ihren schauspielerischen Leistungen über den Haufen rennen.“ Gesagt, getan. Melaara holte ein Seil Unterdeck hervor und band, mit Rins Hilfe, den widerspenstigen Aeroni an den Mast. „Das könnt ihr doch nicht machen!“, protestierte sie, bereits mit Tränen in den Augen. „Ich bin berühmt, hört ihr? Berühmt! So könnt ihr doch nicht mit einem Star umspringen! Ihr blödes Wolfs Piraten Pak!“ „Hör mal zu Prinzessin.“, begann die weiße Wölfin und stellte sich vor die Gefangene. „Wir sind keine Piraten. Nun ja keine echten. Lediglich zwei Mädchen mit einer Wolfseele, die hier gerade versuchen ihrem Ziel etwas näher zu kommen. Wenn du also nicht vorhast zu kooperieren, dann werden wir dich wohl recht bald auf einer einsamen Insel aussetzen oder dich einfach über Bord werfen, aye Matrose?“ Das Mädchen nickte nur stumm und verbissen. Zufrieden mit ihrer Reaktion wandte sich Melaara wieder an Rin. „Und? Sind wir denn auch noch auf Kurs?“ Schnell stieg das Mädchen die kleine Treppe hoch zum Ruder und warf einen Blick auf den daneben liegenden Kompass, sowie der ordentlich auseinander gefalteten Karte. „Aye, Aye, Kapitän Melaara!“, grinste sie breit. „Wir sollten laut der Karte in ein bis zwei Tagen auf der Insel sein.“ Zufrieden nickte die Braunhaarige. „Insel? Welchen Ort steuert ihr denn an?“ „Lyras.“ Ein belustigtes Schnaufen entfuhr Eneru. „Ihr wisst aber schon, dass niemand die Insel je gesehen hat? Na ja, niemand der heute noch lebt. Das sind doch alles nur alte Legenden, nichts weiter. Und ich wurde tatsächlich bei diesem halsbrecherischem Abenteuer entführt…“ „Sie existiert.“, die weiße Wölfin sprach mit unerhörter Zuversicht. „Sie existiert.“, wiederholte sie und sah Eneru dabei standhaft an. „Und wir werden sie finden.“ „Und dann? Was macht ihr wenn ihr sie dann entdeckt habt?“ Plötzlich lag jeglicher Fokus auf Melaara. Die beiden anderen Mädchen warteten auf eine Antwort. Rin knetete beunruhigt ihre Hände. „Ich…“, sie grübelte, doch weit kam sie mit ihrem Gedankengang nicht, als plötzlich ein verheerender Luft Stoß über das Deck zog und die beiden stehenden Mädchen beinahe außer Gleichgewicht brachte. Wind kam auf und ließ das Schiff in einem beunruhigenden schnellen Rhythmus hin und her schwanken. Erst jetzt bemerkte Melaara, dass das ansonsten so helle und freundliche Meer sich urplötzlich verfinstert hatte. Die Sonne war verschluckt von schwarzen Wolken. Die Segel flatterten wie verrückt im Wind, als würden sie jeden Moment hinaus aufs endlose Wasser gezogen werden. „Wo kommt denn auf einmal dieser Sturm her?!“, schrie Rin gegen den immer wilder werdenden Wind an. Noch bevor jemand etwas antworten konnte erübrigte sich Rins Frage; ein lautes Brüllen schallte über das Wasser. Nicht weit entfernt von ihnen konnte man gigantische, blaue, echsenartige Schwingen sehen. Doch neben dem Drachen war noch etwas anderes in der Ferne zu erkennen; Schiffe. Es waren gigantische Segelschiffe Suimangs und Shianrils, die sich bedrohlich im Wasser umkreisten. „Nicht schon wieder…“, Melaara sah angsterfüllend zu der Bestie in der Luft.
Starker Regen setzte ein, als Kanonenschüsse erklangen und der Drache noch einmal brüllte. Die Schüsse kamen vom Schiff der Nation Suimang. Bereits aus der Ferne konnte man erkennen wie sich die Schiffe näher kamen und ein Kampf auf ihnen ausartete. Eisstrahlen zuckten durch die Luft und trafen ihre Gegner meist mitten ins Herz. Auch das geflügelte Reptil scheute nicht davor gefrorenes Wasser auf die Feinde seiner Nation niedergehen zu lassen.
„Wir sollten abhauen. Und zwar schnell bevor wir da hineingezogen werden.“, die weiße Wölfin stand angespannt und nervös an der Reling. Zwar war es nicht dasselbe Tier, doch der Anblick des Drachens aus Shianril trieb ihr die Erinnerung an den Verlust von Kayate wieder zurück in den Kopf. Sie beeilten sich. Zogen die Leinen fest, versuchten mit den Segeln des Schiffes jeden noch so kleinen Lufthauch zu ihrer Flucht zu nutzen. Doch der Regen machte sie langsam. Der Kampf auf den beiden fremden Schiffen war noch immer deutlich zu vernehmen. Und sie kamen näher. Ebenso wie der Eisdrache der Feinde. „Wenn wir uns nicht beeilen treffen uns die Angriffe der Drachen!“, rief Rin panisch. Doch in der Sekunde als sie es aussprach war es soweit; Ein Regen aus riesigen, spitzen Eiszapfen ging auf das Schiff nieder, zerfetzte die Segel und trieb tiefe Löcher in die Seiten des Schiffes hinein. „Shit…“, fluchte die Braunhaarige und rappelte sich gerade wieder vom Boden auf als sie einen der Eiszapfen gerade noch so entkommen war. Ein weiterer ohrenbetäubender Kanonenschuss erklang. Doch diesmal war er nicht auf das Boot Shianrils gerichtet. Die Kugel kam auf das Schiff zugeschossen. In einem schnellen Hechtsprung brachten sie sich auf der anderen Seite des Schiffes in Sicherheit, doch der Schuss hatte einen großen Teil der Steuerbordseite in den tiefen Meeresgrund gezogen.
Keuchend kam sie wieder auf die Beine als der zweite Schuss ertönte und das Boot noch weiter verkleinerte. Ein Eisregen ging auf ihnen nieder. Schüsse erklangen. Das Gebrüll der Riesenechse schallte durch die Luft. Der Geruch von Schwarzpulver und Blut in der Nase und im Mund. Der weißen Wölfin wurde schwindelig. Ihre Beine gaben nach als ein weiterer Kanonenschuss erklang. Unheimliche Stille nahm plötzlich den Platz des Geschehens ein.
Ein sanftes Meeresrauschen weckte sie. Wellen strichen immer und immer wieder über ihre Beine hinweg, salzige Luft füllte ihre Lungen als sie sich aufsetzte und das dunkelblaue Wasser sich vor ihr ausbreitete. Sie war wohl an einem Strand. Und wieder einmal ohnmächtig geworden. Melaara seufzte. In letzter Zeit schien sie die Ohnmacht beinahe zu beherrschen. Vorsichtig sah sie sich nach links und rechts um. Keine Spur von Schiffen, oder von kämpfenden Drachen. Neben ihr bewegte sich plötzlich etwas. Ruckartig sah sie neben sich auf den Boden, nur um dort einen Knäuel aus schwarzen Federn vorzufinden. „Mein Schiff…“, krächzte eine bedauernde Stimme, als sich das Federbündel langsam entknotete und der Aeroni mit ausgebreiteten Flügeln, völlig erschöpft auf dem Rücken lag. „Mein schönes, schönes Schiff…“, schluchzte sie. „Was ist passiert? Wo ist Rin?“ „Wen interessiert schon das Wolfsmädchen! Diese Typen haben mir mein Schiff kaputt gemacht!“, ihre Trauer schien sich in Wut umzuwandeln. Das kleine Krähenartige Wesen kam schnell wieder auf die Beine, hüpfte und flatterte empört durch die Luft. „Ich will Rache! Jawohl!“ „Nicht bevor ich weiß wo Rin ist!“ Eneru gab ein komisches knurrendes Geräusch von sich und begab sich in die Lüfte. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war das Krähenwesen verschwunden. Melaara ließ sich wieder in den Sand fallen. Musste wirklich schon wieder jemand verschwinden? Zuerst Kayate und dann auch noch Rin. Sie schluckte einen Kloß hinunter. Etwas unschlüssig saß sie da, nicht sicher was sie nun tun sollte. Einerseits wollte sie Eneru nachlaufen, um nicht ganz alleine dazustehen in einer ihr fremden Welt, doch was war mit Rin? Wohin sollte sie gehen? Sie stand auf und klopfte sich den Sand von den Klamotten. Zum ersten Mal wand sie nun auch den Kopf nach hinten um zu sehen was hinter ihr lag. Sie keuchte erstaunt auf. Ein Urwald. Gigantische Bäume, dicht an dicht, überall hingen Lianen herab und schienen den Wald noch unwirtlicher werden zu lassen. Erst jetzt nahm sie all die Geräusche wahr. Das Krächzen von fremdartigen Vögeln, manchmal sogar das Brüllen eines Panthers und noch viele andere Geräusche und Gerüche die sie einfach nicht einordnen konnte. Und plötzlich war da etwas im Dickicht genau vor ihr. Goldene Augen starrten ihr aus der Dunkelheit entgegen. Und noch bevor sie aufschreien oder irgendwie anders reagieren konnte schnellte das Etwas mit gebleckten Zähnen auf sie zu. Alles was sie sah war ein großer schlanker Schatten und wenige Augenblicke hatte sie irgendwas im Nacken gepackt und raste mit ihr in den Urwald.
Die weiße Wölfin trat und schlug um sich. Verwandelte sich sogar in eine Wölfin um den Angreifer zu beißen und zu kratzen, doch die ständigen Lianen und Blätter welche ihr unaufhörlich ins Gesicht klatschten erschwerten es ihr auch nur den Kopf zu heben. Es war schnell, sprang leichtfüßig von Ast zu Ast, trotz ihres Gewichtes. Es hielt sie im Nacken fest, ob mit Zähnen, Krallen, oder einer menschlichen Hand konnte sie nicht deuten- Der Schmerz war nichts verglichen mit dem in ihrem Gesicht. Gut 10 Minuten bewegte sich ihr Angreifer grazil durch den Wald, bis er plötzlich abrupt anhielt und das Mädchen einfach vor sich auf den staubigen Boden warf. Eine Staubfahne wirbelte auf als sie aufschlug und hustend wieder auf die Beine kam. „Verzeiht mir, weiße Wölfin, dass ich euch so grob entführt habe, doch die Situation ließ mir keine andere Wahl.“ Seine Stimme klang rau und alt. Vorsichtig hob sie den Blick und zog überrascht die Augenbrauen zusammen. Trotz der rauen Stimme schien er nicht sehr alt zu sein. 25, 30 maximal. Sein mittellanges, schwarzes Haar hing von seinen Schultern. Er verneigte sich, hatte die Hände wie zu einem Gebet gefaltet. „Wer…wer bist du?“, brachte sie trotz ausgedörrter Kehle zustande. Ruckartig hob er den Kopf. Seine goldenen Augen glänzten verwirrt. „Ihr… Ihr erkennt mich nicht…?“ Beklommen schüttelte sie den Kopf. Trotz ihres Alters war Takeo das Einzige männliche Wesen zu dem sie je halbwegs engen Kontakt aufgebaut hatte. „Nein… Ich... wer...“, stammelte sie. „Ramon. Ich bin‘s doch…dein Ramon. Wie kannst du mich denn einfach vergessen haben?“ DEIN Ramon? Dem Wolfsmädchen wurde schwindelig. Urplötzlich kam er näher und kniete sich vor sie hin. Mit einer Hand strich er ihr über die Wange. Seine Augen lagen sanft auf ihr. Er kam näher. Ihr Atem vermischte sich fast. Ihre Wangen brannten. Bevor er noch näher kommen konnte gab sie ihm einen so harten Stoß das er ziemlich hart auf den Boden prallte. Schnell stand sie auf und nahm Abstand von ihm. Er sah sie entgeistert an als er sich vom Boden hochkämpfte. „Wie kannst du mich denn nur einfach vergessen haben, Taivori?!“, jetzt klang er empört. Moment mal. „Taivori“? Ich bin nicht Taivori.“ Er hielt in der Bewegung inne. „Was?“ „Ich bin nicht Taivori.“, wiederholte sie und wich noch weiter zurück bis sich die Rinde eines Baumes an ihrem Rücken schmiegte. „Aber das kann nicht…Du riechst… Wer bist du denn dann?“ Zum ersten Mal erkannte sie das auch um ihn ein verschwommener Schatten lag. In ihrer Panik hatte sie es nicht wahrgenommen, aber jetzt wurde es klarer. Er hatte also auch eine Tierseele? “Ich heiße Melaara.“ „Ich verstehe es nicht…Du riechst wie sie… Deine Aura ähnelt der ihren. Ihr seht euch sogar sehr ähnlich.“ Langsam wurde das Bild klarer. Sie erkannte die spitzen Zähne. Sie hatte mit einem Panther gerechnet, da er vorher am Strand in Windeseile bei ihr war. Die Gestalt war jedoch viel größer als ein Panther oder ein Wolf. Schwerfälliger. Wie hatte er sich so schnell bewegen können? Ein großer schwarz-weiß gefleckter Bär sah ihr aus goldenen, sanften Augen verwirrt entgegen. Panda. Er war ein riesig, großer Pandabär. „Warum hast du mich entführt?“, brachte sie nach einer ganzen Weile endlich nervös raus. „Weil ich dachte, du bist Taivori. Und weil ich dich so schnell wie möglich von diesem Aeroni wegschaffen wollte.“ Seine Hand machte eine wegwerfende Bewegung. „Von Eneru? Aber warum? Zugegeben… sie ist keine sehr angenehme Person aber…“ „Eine Verräterin.“ „Wie bitte?“, erstaunt sah sie ihn an. Ramon räusperte sich, sein Schatten und die kleinen Panda Ohren zuckten leicht. „Melaara, du hast noch nie etwas von den Aeroni gehört, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. Eine etwas seltenere Tierseele, hatte sie bisher angenommen. Seine Stimme klang herablassend als er erneut zu sprechen begann: „Sie sind bekannt dafür als Spione für die drei großen Nationen zu handeln. Sie liefern jeden zu ihrem eigenen Vorteil aus. Ihnen ist nicht zu trauen.“ Eneru, eine Verräterin? „Aber was sollte sie denn bloß mit mir anfangen?“ Der Panda schwieg und musterte die Wölfin von oben bis unten. „Vielleicht weil auch sie weiß wer du bist.“ Sie neigte den Kopf zur Seite. „Und wer bin ich?“ „Taivoris Re-„ weiter kam er nicht als ein lautes Rascheln plötzlich auf sie zukam. Der Geruch verriet ihr wer es war: Rin und Eneru. Wenige Augenblicke später stolperte Rin durch die Büsche heraus auf sie zu und hielt auf der Stelle an als sie den Panda sah. Ihre Augen wurden riesig. Als der Bär unvermittelt auf sie zustürmte, brüllend und mit gefletschten Zähnen presste sie sich auf den Boden. In ihrer Wolfsgestalt machte sie sich so klein es ging und klemmte die Rute zwischen die Hinterbeine. Doch Ramon steuerte nicht auf die Wölfin zu. Als er vor ihr stand verpasste er ihr einen so starken Schubs mit seiner großen Tatze, das Rin zu der weißen Wölfin kugelte. Schnell krabbelte sie hinter sie und sah den Bären schaudernd an. Eneru, die bisher auf Rins Rücken gesessen hatte, flatterte nun panisch und verloren durch die Gegend als Ramon mit seinen gewaltigen Pranken nach ihr schlug und drohte sie mit seinem Kiefer zu zerquetschten. Wild und empört krächzend schaffte sie es schließlich irgendwann auf den Ast eines Baumes, der für Ramon zu hoch war um die Gefiederte zu erreichen. Erst jetzt wachte die Weiße langsam aus ihrer Starre auf. Es ging alles viel zu schnell, sodass sie eine Weile einfach nur perplex dagestanden hatte. „Ramon! Hör auf! Eneru ist meine Freundin!“, rief sie und stürzte zu dem Bären der gerade dabei war den eher schmächtigeren Baum niederzudrücken auf dem Eneru saß. Knurrend sah er die andere Wolfsseele an. „Sie ist ein Aeroni!“, schnaubte er. „Und nur deswegen willst du mich umbringen?! Rassist!“, krächzte das Vogeltier leicht panisch. „Euresgleichen seid Verräter!“ „Du kennst sie doch nicht, woher willst du das wissen?!“, schrie die im Vergleich zum Panda schmächtige Wölfin neben ihm. „Ich weiß es!“, fauchte der Bär zurück. „Sie hat mich gerettet…“, meldete sich Rin nun langsam leise zu Wort. Auf dem Bauch kroch sie langsam näher. „Sie ist nicht böse. Nervig, aber nicht böse.“ „Vertrau uns doch.“ Ramon musterte die Wölfinnen und schließlich die Seele im Baum eine ganze Weile bevor er schließlich von Eneru abließ. „Ich werde ihr eine Chance geben.“, sagte er schließlich. „Aber ein kleiner Fehltritt und…“, knurrend sah er zu ihr. Eneru schluckte schwer, flatterte schließlich aber zurück auf Rins Schulter. „Eneru hat dich gerettet, Rin?“, Melaara sah zu den Beiden. „Ich war am Strand zwischen einigen schweren Bootsteilen eingeklemmt, das Wasser stieg immer höher und ich stand kurz vorm Ertrinken. Eneru hat mich zu rechten Zeit noch befreit.“ Stolz plusterte diese ihr Gefieder auf. „Wie auch immer. Was machen wir denn jetzt? Wir haben kein Schiff mehr. Und wir wissen noch nicht einmal wo wir sind.“ Unsicher begab Melaara sich in ihre menschliche Gestalt und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Lyras.“ Ihr Blick zuckte zu Ramon. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und band sich gerade die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Wie bitte?“, ungläubig machte Rin einen Schritt näher an ihn. Auch sie blickte ihm nun wieder aus menschlichen Augen entgegen. Eneru jedoch verblieb in ihrer anderen Form nervös zuckend auf Rins Schulter. „Ihr seid auf der Insel Lyras.“, wiederholte er. Es herrschte Schweigen. Lediglich die Geräusche des Urwalds durchbrachen es. Sie hatten es tatsächlich geschafft? So einfach? Die weiße Wölfin hatte Kayates Traum erfüllt. Ihr Versprechen gehalten. Einfach so. Sie stand wieder nur perplex da, doch Rin brach in schallendes Gelächter aus und tanzte um sie herum. „Wir haben‘s geschafft! Ich pack es nicht, wir haben’s tatsächlich geschafft!“ Eneru und Ramon betrachteten die Weiße beide mit Misstrauen. Skeptisch zog der Panda Mann eine Augenbraue hoch. „Früher oder später wärt sie doch sowieso hier gelandet. Was soll der Aufruhr?“ Rins kleiner Tanz endete, doch ein kleines Lächeln blieb. „Wieso bist du so sicher dass wir hier gelandet wären?“ Ramon nickte zu der Braunhaarigen. „Ihretwegen. Es ist ihr vorherbestimmt.“ „Vorherbestimmt?“, Melaara hatte ihre Stimme wieder gefunden. Er nickte. „Du riechst wie sie, hast die gleiche Aura wie sie, nein, du BIST sie. Du bist Taivori. Sie ist in dir. Du bist die weiße Wölfin. Du bist diejenige die alles verändern wird.“ Jetzt war sie es die verwirrt eine Augenbraue hochhob. „Verändern? Aber was denn?“ „Na…einfach alles! So beschreibt es doch die Legende.“ Als die Gruppe ihn wieder nur verständnislos ansah kam er kopfschüttelnd auf sie zu. „Den Krieg beenden, den Frieden bringen. Die Welt wieder auf die richtige Schiene bringen! Taivori hat ihnen eine friedliche Welt hinterlassen als sie ging, doch seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Nationen haben mit ihrem Krieg, eine Finsternis heraufbeschworen die ihre kühnsten Träume übersteigt und uns alle irgendwann verschlingen wird. Und somit liegt es nun mal an dir – Melaara, Taivoris Reinkarnation – die Welt wieder ins Reine zu bringen. So wie es die geflügelte weiße Wölfin schon einmal getan hat.“ Seine goldenen Augen funkelten aufgeregt als er sprach. „Die?!“, krächzte Eneru aufgebracht und flatterte plötzlich wild um Melaara um sie zu begutachten. „DAS soll die Reinkarnation von DER weißen Wölfin sein?!“ So wie sie es betonte schien auch Eneru die Legende zu kennen. „Sie ist es. Daran besteht kein Zweifel. Und nun folgt mir.“, der große Panda bewegte sich schwerfällig weiter in den Dschungel vor. Schweigend folgten sie ihm alle. Melaara wusste nicht was sie sagen sollte. Zuerst erfuhr sie, dass sie ihr eigentliches Ziel erreicht hatte, leichter als sie es sich hätte träumen lassen. Und nun, dass scheinbar die gesamte Last der Welt auf ihrem Schultern lag? Das war einfach zu viel auf einmal. Sie konnte Rins und Enerus Blicke auf sich spüren und ignorierte es, Stur starrte sie auf den Boden, versuchte wieder einen klaren Kopf zu kriegen. Es gelang ihr nicht.
Schon nach kurzer Zeit hatten sie eine Art Lichtung erreicht. Am Ende gurgelte ein kleiner Wasserfall und mündete in einen kleinen See. Inmitten des rundlichen Platzes befand sich eine riesige Statue. Darauf standen ein Mädchen sowie ein geflügelter Wolf. Das Mädchen ähnelte ihr. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihnen von der Seite mit einem verschmitzten Grinsen und einem Herausfordernden Lächeln entgegen. Ihre Haare waren länger als Melaaras. Die Flügel des Wolfes waren weit gespreizt. Er wirkte aus als würde er jeden Moment abheben. Der gesamte Platz strahlte eine unbeschreibliche Erhabenheit aus. Plötzlich dachte die Weiße wieder an den erwähnten Schrein aus der Geschichte. Er existierte tatsächlich. Nein, jene weiße Wölfin gab es wirklich. Und sie lebte in ihr…? „Wir müssen damit beginne zu trainieren.“ Ramon riss sich aus ihren Gedanken. „Trainieren?“ „Ich nehme an das du dein anderes dunkles Ich schon getroffen hast?“ „Anderes dunkles Ich?“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Du meinst Ronin…“ Der Panda nickte. „Eines Tages wirst du Ronin besiegen müssen. Aber auch die drei Nationen wieder zu vereinen wird nicht leicht werden. Und wenn sie sich nicht wiedervereinen, so wird diese Finsternis niemals enden. Du musst dazu trainieren. Nein… Eigentlich nicht nur du.“ Er sah zu Rin und Eneru. „Alle, die dich auf dieser Reise begleiten sollten trainieren und ihre Fähigkeiten ausbauen.“ „A-Aber ich will die doch gar nicht begleiten!“, warf Eneru sofort ein. „Ich bin doch eigentlich nur von denen entführt worden! Ich will einfach nur mein Schiff zurück und wieder nach Hause!“ „Das Schiff kannst du wohl abhacken.“, Rin verpasste dem Aeroni einen kleinen Schubs. Als Dank dafür hackte dieser ein paar Mal fest auf den Kopf des Mädchens ein. „Lass das! Ich sag doch nur die Wahrheit!“, knurrte Rin und verscheuchte Eneru indem sie sich schüttelte und nach ihr schlug. „Dem Aeroni werde ich sowieso nicht beim Trainieren helfen.“, arrogant ging Ramon hinüber zum kleinen Teich. Eneru schnaubte nur verächtlich und ließ sich auf einem Ast in der Nähe nieder. Ramons menschliche Seite nahm die Überhand und zeigte auf das kleine Fleckchen Wasser. „Dort wird euer Training fürs erste stattfinden.“ Sie alle traten näher heran. „Und was genau werden wir da lernen?“, Rin betrachtete das Wasser sowie den jungen Mann neben sich misstrauisch. „Ihr werdet eure Fähigkeiten ausbauen. Vielleicht neu entdecken. Aber fürs erste werdet ihr, oder viel eher Melaara, lernen mit der Dunkelheit in euch klarzukommen.“ „Aber…“, alle drehten sich zu der Weißen um. „Mir wurde gesagt dass, als Ronin sich verlassen hat, all die Dunkelheit mit ihm verschwunden wäre. Und das ich das pure Licht wäre!“ Es waren die Worte der weißen Wölfin. Taivoris Worte. „Wer auch immer dir das gesagt hat, hatte nur zum Teil Recht. Ja, als Ronin ging hat er den größten Teil der Finsternis aus deinem Herzen mit sich genommen. Doch in jedem Herzen gibt es Dunkelheit und in jedem Herzen gibt es Licht. So wie in deinem Herzen ein kleiner Funke der Finsternis übrig bleibt, so ist auch im Herzen deines Rivalen ein kleiner Funke des Lichts. Jeder von euch kann diesen kleinen restlichen Funken dazu benutzen eine eigene, unbeschreiblich mächtige Technik zu erlernen. Jedoch muss jeder von euch lernen diesen kleinen Funken zu beherrschen, ansonsten wird er euch überwältigen.“ Ramon trat näher an die Braunhaarige heran, legte ihr die Hände auf die Schultern und sprach mit einer so ernsten Stimme weiter, dass sie regelrecht erstarrte. Sein Blick fesselte das Mädchen. „Unterschätze diesen Funken nicht, Melaara. Er mag noch so klein sein, doch ist es die pure Dunkelheit. Wenn du nicht lernst es zu kontrollieren, wird es sich ausbreiten und dich irgendwann verschlingen.“ Er ließ sie los. „Geh in den Teich und konzentriere dich. Konzentriere dich auf diesen Funken der Dunkelheit. Nimm ihn an. Dann wirst du die Macht sehen die in ihm liegt. Sie wird versuchen dich zu überwältigen. Dich zu verschlingen und in die ewige Dunkelheit zu zerren. Wiederstehe dem! Und dann kappe die Verbindung! Kappe sie sobald du die Macht gesehen hast. Noch bist du nicht dazu in der Lage sie zu beherrschen.“ Sie schluckte schwer und sah zum Teich. Die vom Wasserfall entstandenen Wellen kräuselten sich und tanzten unheilvoll über die Wasseroberfläche. Zögernd machte sie einen Schritt vorwärts. Eine Hand hielt sie plötzlich zurück. Rin. „Du willst das doch nicht ernsthaft tun, oder?“ „Ihr bleibt keine Wahl. Wenn sie nicht lernt es zu kontrollieren werden wir alle bald vergangen sein.“, warf Ramon ein. „Und woher sollen wir überhaupt glauben dass DU hier nicht der Verräter bist? Vielleicht ist das alles eine Farce! Vielleicht bist du lediglich ein niederer Räuber und willst uns reinlegen um uns zu töten oder sonst was! Das alles ist doch komplett verrückt!“ „Mitnichten.“ „Das ist lächerlich. Beweis es doch!“ „Weiße Wölfin, hör nicht auf das Gerede dieses Wolfsmädchens.“ „Glaub dem alten Panda nicht, Melaara!“ „Melaara!“ Eneru stand schweigend daneben als die beiden wie wild auf sie einredeten. Ihre Stimmen machten das Mädchen wirr im Kopf. Sie weiß nicht wie lange sie da stand. Es fühlte sich wie mehrere Stunden an, in denen Ramon und Rin immer wieder ihrem Namen riefen und auf sie einredeten. Sie verstand es kaum noch. Da war nur noch ein wirres Stimmengeflüster. Es schmerzte in ihrem Kopf. Alles drehte sich.
Irgendwann riss sie sich los und rannte hinein in den kleinen Teich. Hinter ihr kreischte Rin beinahe panisch auf. In der Mitte des Teiches blieb sie stehen. Sie konnte spüren das irgendwer ihr nachlaufen wollte, doch noch bevor sie sich umdrehen oder gar anderweitig bewegen konnte verschwand plötzlich alles in einem gleißenden Licht. Reflexartig hielt sie sich schützend die Augen vors Gesicht.
Als sie sie langsam wieder öffnete erwartete sie ein nur allzu bekannter Ort. Überall nur strahlendes Weiß. Leere. Stille. Sie war an diesem Ort, den die weiß Geflügelte ihr Herz nannte. Doch die angenehme Wärme die sie das letzte Mal empfunden hatte war nicht da. „Taivori?“, rief sie in die Leere. Ein kaum wahrnehmbares Echo kam zurück. Ansonsten erhielt sie keine Antwort. Verloren sah sie sich um. Sah nach oben, nach unten. Drehte sich mehrmals um sich selbst. Nichts schien sich zu rühren. Da war nur Weiß. Überall. Doch plötzlich fing etwas ihren Blick. Ein kleiner schwarzer Fleck. Sie drehte sich um, um ihn genauer anzusehen. Obwohl er sich nicht vom Fleck rührte schien er lebendig. Er bewegte sich und als sie genauer hin sah wusste sie auch warum. Es schien eine kleine schwarze Flamme zu sein. Noch einmal sah sie sich kurz um, und ging dann zügig darauf zu. Ihre Schritte hallten von den nicht sichtbaren Wänden wieder, als würde sie durch eine Halle laufen. Als sie nur noch wenige Schritte von der Flamme trennten blieb sie stehen und hockte sich hin um das kleine Ding näher zu begutachten. Da war kein Holz was die züngelnde Flamme am lebend erhalten hätte können. Langsam streckte sie die Hand aus um nach ihr zu greifen. Keine Wärme. Melaara war sogar als würde ihr kühler. Das Dunkle berührte sie fast, als sie plötzlich etwas inne halten ließ. „An deiner Stelle würde ich sie nicht anfassen. Noch nicht.“ Neben ihr befand sich, wie aus dem Nichts erschienen, die weiß Geflügelte. Doch diesmal konnte Melaara ihre Ruhe bewahren, wenn ihr auch zu viele Fragen auf einmal durch den Kopf rasten. Die Geflügelte lächelte nach Wolfsart. „Ich hab dich schon erwartet. Ich hatte gehofft dass du zu Ramon finden würdest. Du hast wirklich bereits viel durchmachen müssen, kleine Wölfin. Obwohl ich bedauerlicherweise sagen muss, dass dies gerade erst der Anfang ist.“ „Du bist also wirklich…Taivori? Und ich bin deine Reinkarnation? Das klingt so über die Maßen verrückt.“ Die Wölfin leckte ihr zuversichtlich über den Arm. „Ja, das mag sein. Aber die Zeiten heute sind doch generell verrückt.“ Melaara starrte nachdenklich in Taivoris Augen. Zu viele Fragen auf einmal schwirrten ihr im Kopf umher. Sie hatte Probleme eine auszuwählen. Schließlich jedoch hatte sie sich entschieden: “Das bedeutet Ramon hat die Wahrheit gesagt, und ich bin dazu bestimmt unsere Welt vor der Finsternis zu retten? Und auch die Nationen wieder in Frieden zu vereinen?“ Taivori legte den Kopf schief. „Nun… Ramon übertreibt gerne manchmal. Und schließlich weiß auch er nur einen Teil, aber… Ja, es stimmt. Es gibt da diese uralte Legende die etwas in diese Richtung besagt aber… Jeder von euch… Von deinen Gefährten… hat in dieser Legende seinen ganz eigenen Platz. Nicht du alleine bist…‘die Auserwählte‘. Ihr habt alle euren Teil zu erfüllen.“ „Das heißt also… Eneru und Rin sind…“ „Und Ramon und Kayate. Das Schicksal hält für euch alle etwas bereit. Doch zu meinem Bedauern weiß ich nicht was. Die Legende ist alt. Älter noch als ich, und ich vermag nur einen Teil davon zu erzählen. Meinen Teil. Meine Gefährten und ich wurden auf der Reise getrennt. Vielleicht ist auch das der Grund, dass sich die Geschichte immer und immer wieder von vorne abspielt, den Grund dafür vermag ich nicht zu sagen.“ Melaara sah die Wölfin nur schweigend und aufmerksam an. Sie verstand kaum etwas von ihrem Geschwätz. Alles wurde nur noch verwirrender. „Gefährten? Ich…ich denke ich habe von deiner Legende gehört, Taivori, aber darin kamen niemals… Gefährten vor. Es hieß du warst allein.“ Die Wölfin sah zuerst das Mädchen und danach die pulsierende Flamme eindrücklich an. „Das war ich auch. Zu Beginn, kleine Wölfin. Doch wie gesagt: Nur ein kleiner Teil der eigentlichen Legende hat bis heute überlebt. Irgendwo da draußen muss es noch weitere geben. Ihr müsst diese Teile finden und zusammensetzen. Und noch wichtiger ist, dass ihr sie dann erfüllt. Jeder muss seinen Teil erfüllen.“ „Und wie sollen wir das machen?“ Die Wölfin seufzte niedergeschlagen. „Wenn ich das wüsste, meine Kleine. Damals war es meine Aufgabe die Finsternis zu vernichten. Sowohl die, die meiner selbst entsprang, als auch jene, die die Nationen zu jener Zeit plagten. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe. Scheinbar habe ich die endgültige Finsternis zu früh herausgefordert… und dabei mein Leben gelassen.“ „Etwas verstehe ich bei dem allem aber nicht…“ Zum ersten Mal während des Gesprächs stand Melaara auf und bewegte sich nachdenklich durch den Raum bevor sie wieder zur Wölfin blickte. „Wie sollen wir diese Legende je erfüllen? Es ist mir doch gar nicht mehr möglich.“ Stur starrte Melaara gen Boden. „Was meinst du?“ „Na…eine meiner Gefährten ist doch… Sie ist doch nicht mehr da.“ Die Wölfin neigte wieder den Kopf fragend zur Seite. „So? Wer denn?“ Wütend knurrte Melaara. „Du warst doch die ganze Zeit in meinem Herzen! Also hast du es doch auch gesehen, oder nicht?! Kayate! Ich rede von Kayate, verdammt!“ „Oh.“ Die Wölfin lächelte schelmisch. Melaara wäre ihr am liebsten an die Kehle gesprungen. „Da mach dir mal keine Sorgen, sie ist gar nicht so weit weg wie du glaubst.“ „W-Wie meinst du das?“ Aufbrausend stürmte Melaara auf die Wölfin zu und packte sie am Fell an den Schultern. „Heißt das sie ist noch am Leben?! Los antworte schon!“ Wild schüttelte sie das Tier, solange bis Taivori ihr mit ihren Hinterpfoten einen Stoß in den Magen gab und sie zurücktorkeln lässt. Zum ersten Mal bleckte die Wölfin die Zähne. „Sei nicht so ungeduldig! Zügle dich! Da! Sie was du angerichtet hast!“, Taivori deutet mit ihrem Kopf auf die Flamme hinter ihr. Sie schien gewachsen zu sein und noch schneller zu pulsieren als vorher. „Siehst du? Wenn du dich nicht zurückhalten kannst wird sie dich übermannen. Du kannst es noch nicht kontrollieren!“ Melaara ballte die Fäuste, rannte auf die Wölfin zu und schlug nach in blinder Wut. Diese wich mit einem federleichten Sprung und einem leichten Flattern der Schwingen kinderleicht aus, dennoch fletschte sie, genau wie nun das Mädchen, ihre Zähne. Ein tiefes Grollen kam aus der Kehle der Geflügelten. „Was weißt du denn schon?! Ich habe die einzige Freundin verloren die ich je hatte! Und jetzt soll ich auf einmal die Welt retten?! Oder soll ich sterben, genauso wie du?!“ Wieder und wieder schlug sie auf das Tier ein, doch die Wölfin duckte sich leichtfertig unter jedem Hieb hinweg. „Melaara! Hör auf! Du weißt nicht was du anrichtest!“ „Und wie ich das weiß! Die Dunkelheit wird mich übermannen! Soll sie doch! Ich werde sie beherrschen!“ Die Flamme hinter ihnen wuchs auf das dreifache an, zischend und pochen schien sie nach Melaara und der Wölfin zu greifen. „Ich..“ Wieder ein Hieb. „Werde...“, noch ein Schlag ins Leere. „Euch alle…“, die Flamme berührte das Mädchen beinahe. „…vernichten!“ Melaara vermeinte Ronins Stimme zu hören, welche sich mit ihrer eigenen vermischte. Nur wenige Augenblicke später spürte sie wie ein quälendes Brennen sich einen Weg durch ihren Körper bahnte. Verzweifelt schrie sie auf und nahm ein paar Schritte Abstand zu Taivori um nach hinten zu sehen. Die schwarze Flamme, nun ungefähr so groß wie Melaara, hatte sie erreicht, und schlang sich langsam um ihren Körper. Das Mädchen fiel auf die Knie und merkte wie sie von der Schwärze immer mehr nach hinten gezogen wurde. „Melaara…“, Taivori sah bedauernd zu ihr. „Hilf mir!“, kreischte das Mädchen und versuchte sich im Boden festzukrallen. Der weiße Raum schien zu Beben. Die Wölfin wackelte merkwürdig verschwommen vor Melaaras Augen. „Ich kann nicht. Die Finsternis würd die Überhand gewinnen. Und sei es auch nur für einen Moment…sie wird mich verschlingen... Geh voran mit Zuversicht. Du kannst die Legende erfüllen, ich weiß es. Das war unser letztes Treffen, kleine Wölfin. Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht mehr helfen konnte. Leb wohl, Melaara.“ Die Wölfin schien mit dem Raum zu verschmelzen. Wut, Verzweiflung und Trauer schlugen auf Melaara ein, als die Dunkelheit ihren Körper verschlang und der Raum aus Licht langsam zusammenbrach. Rins besorgte Augen blickten ihr bereits wieder entgegen. Doch Melaara konnte nichts anderes als schreien. Sie schrie so verzweifelt und laut wie es ihre Stimmbänder zuließen. Doch nach einiger Zeit erkannte sie ihre Stimme nicht mehr wieder. Es war kein menschlicher Schrei mehr. Er hatte sich mit etwas animalischem, gar monsterartigem vermischt und ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Melaara sah ihre zu Tode verängstigten Gefährten nur noch durch einen grauen Schleier, als ihr Körper, außerhalb ihrer Kontrolle, auf ihre Freunde mit gespreizten Klauen zuraste.
Kapitel eins: Das Mädchen mit den gelben Augen
Wieder einmal plagte sie derselbe Traum. Sie wusste einfach nicht was er bedeutete, wieso er dauerhaft wiederkehrte. Und wieso ihr diese ganze Szene so bekannt vorkam. Schweißgebadet und schwer keuchend wachte sie jedes Mal davon auf. Ein Wald, zwei Wölfe. Ein Schwarzer mit gigantischen, Fledermausartigen Schwingen und ein Weißer mit ebenso riesigen, beinahe leuchtend weißen Flügeln. Sie kämpfen erbost miteinander, doch schienen sie gleich stark zu sein. Und als beide zum finalen Schlag ansetzten, Anlauf nehmen, mit gefletschten Zähnen aufeinander zuspringen, sich eine tiefe blutige Wunde zufügen und dann mit zitternden Beinen zum Stehen kommen, endet der Traum plötzlich und Melaara findet sich mit weit aufgerissenen Augen und schnell schlagendem Herzen in ihrem Zimmer wieder. Von nichts anderem als der wohltuenden Stille und Finsternis wurde sie willkommen geheißen. Langsam und schwer atmend setzte sie sich auf. „Schon wieder dieser Traum…“, dachte sie und wischte sich mit dem Handrücken den restlichen Schweiß von der Stirn. Ihr Zimmer lag fast vollkommen im Dunklen, lediglich das fahle Licht des Mondes strömte durch das kleine Fenster in das Zimmer und gab allem einen dunkelgrauen Schimmer. Darunter auch der großen Beule unter der Decke, im Bett nebenan. Ihr Bruder hatte sich zusammen gerollt und war unter der Decke nur noch ein kleines weißes Häufchen. Er lag mit dem Rücken zu ihr. Seine rötlich-braunen Haare lugten unter der Decke hervor und waren vollkommen durcheinander. Melaara lauschte wie Takeo, ihr gleichaltriger Bruder, neben ihr ruhig atmete. Erleichtert seufzte sie. Oftmals schon hatte sie im Traum gewimmert oder sogar geschrien und dabei das gesamte Haus aufgeweckt. Obwohl Takeo oft erst dann aufwachte, wenn ihn seine Eltern versuchten wachzurütteln.
Eine Weile lehnte sie sich an die Wand und starrte stur aus dem Fenster hinaus. Man konnte nicht sehr viel erkennen, außer ein paar kleinen Sternen die am Himmel funkelten und dem kaum sichtbaren, weißlichem Licht des Mondes. Das Haus war am Rande der Stadt Diapdra und hatte hinter dem kleinen Garten einen riesigen Wald. Die Leute in der Stadt tauschten Gerüchten darüber aus, dass in diesen Wäldern allerlei Dämonen, Geister, Monster und andere Kreaturen hausen würden, von denen man sich nachts lieber fernhalten sollte. Von solchen Spukgeschichten hielt Melaara nicht viel. Schon als sie klein war, war sie immer im Wald herumgetollt. Und auch jetzt, als siebzehn-jähriger Teenager, liebte sie es die Geheimnisse und Mysterien um diese Wälder zu erkunden. Takeo war da allerdings anderer Ansichten. Er glaubte fast alles was man ihm erzählte, weshalb er es vermied den Wald zu betreten. Langsam wühlte sie ihre Beine unter der Decke hervor und stand auf. Vorsichtig tastete sie sich voran zum Ausgang des Zimmers. In der Nacht, wenn sie wieder einmal aufwachte, war ihr Zimmer dunkel und deprimierend. Daher zog sie es vor entweder in der Küche auf Nahrungssuche zu gehen, oder sich im winzigen Computerzimmer in einem Buch zu vertiefen. Diesmal steuerte sie auf die Küche zu. Das Haus war nicht sehr groß so dass man sich hätte verlaufen können. Nur das allernötigste war vorhanden. Ein Zimmer für die Kinder, ein Zimmer für die Eltern, Küche und Bad und dann noch ein winziges Computerzimmer.
Vorsichtig tastete sie nach dem Lichtschalter in der Küche. Als sie ihn schließlich fand ging er mit einem leisen Klicken an. Ihre Augen brauchten eine Weile bis sie sich das grelle Licht gewöhnt hatten. Dann nahm sie gelassen ein Glas aus einem der Einbauschränke und ging zum Kühlschrank um etwas Milch einzuschenken. Nachdenklich presste sie sich das Glas an die Stirn. Die Kühle wirkte beruhigend und linderte die sich immer weiter ausbreitenden Kopfschmerzen. Der immer wiederkehrende Traum ließ ihr keine Ruhe. Das dumpfe Hämmern machte sich in den Schläfen breit und verteilte sich langsam auf dem ganzen Kopf. Melaara wusste, dass sie jetzt bestimmt nicht mehr einschlafen konnte. Lesen, war ihr im Moment auch zuwider. Das Mädchen befürchtete, dass die Kopfschmerzen danach nur noch schlimmer werden würden. Stattdessen schlich sie sich, zusammen mit ihrer Milch, in das Computerzimmer, welches sonst eigentlich nur ihr Vater benutzte. Doch auch sie war mit der Technik vertraut. Ihre Mutter und Takeo überhaupt nicht. sie waren, im wahrsten Sinne des Wortes, technikfeindlich. So gut wie alles technologische was den beiden in die Hände viel wurde auf irgendeine Art und Weise zerstört oder unbrauchbar gemacht. Das war wohl auch der Grund, warum sich Melaaras Mutter Sayo mehr mit Kochen und Stricken beschäftigte und Takeo mehr mit sportlichen Aktivitäten draußen. Als der PC mit einem surrenden Geräusch anging tauchte er das ganze Zimmer in ein fahles, helles Blau. sie klickte auf den Internet-Button und fing mit der Suche nach der Bedeutung des Traums an. Sie versuchte es mit allerlei Begriffen: “Wölfe in Träumen“, „Traumdeutung“, „Wolfstraum“ „Wolfskampf“. Zwar zeigte ihr das Internet allerlei Seiten, wo Wölfe in Träumen vorkamen, doch diese beschrieben nur, dass wenn man von einem Wolf träume, dies bedeute man fühle sich bedroht. Oder wenn man einen besiege, man einen Rivalen vertreiben würde. Sie rümpfte die Nase über diese Spekulationen und schüttelte nur ungläubig den Kopf. Bedroht fühlte sie sich sicherlich von niemandem. Rivalen hatte Melaara auch keine. Nun ja, mit Ausnahme vielleicht der blöden Gören in ihrer Schule. Die ganze Sucherei brachte ihr letztlich nur noch mehr Kopfschmerzen. Sie träumte von genau zwei Wölfen. Einem großen Schwarzem und einem eher zierlichem Weißen. Weder wurde sie von einem angegriffen, noch hat sie einen besiegt noch kam da ein ganzes Rudel vor. In jedem Traum kämpften sie verbissen miteinander, in einem dunklen, Melaara unbekanntem, Wald. Doch bevor sie weiter denken konnte machte jemand das Licht hinter der Braunhaarigen an. Automatisch schreckte sie auf und drehte sich zur Tür um. Im Rahmen stand, mit mahnendem Blick, ihr Vater. „Schon wieder?“, seine Haare waren zerzaust und standen in alle Richtungen. Ein paar Strähnen seiner blonden Stirnfransen fielen ihm ins Gesicht. Mit unerbittlichem Blick suchte er in ihren gold-gelben Augen, doch er fand sie nicht, denn sie hatte sich schon wieder dem Computer zugewandt. Mit der linken Hand stütze sie ihr Kinn ab und klickte sich weiter durchs Internet. “Ihr wollt ihr ja nichts sagen!“, schnaubte sie verächtlich. Sie konnte beinahe fühlen wie Vater ihr einen stinksauren Blick zuwarf. „Es gibt nichts zu sagen. Und jetzt geh ins Bett! Es ist mitten in der Nacht. Du wirst noch das ganze Haus aufwecken!“, seine Stimme schwoll langsam an und wurde immer lauter. Man konnte hören wie sehr er sich bemühte nicht allzu laut zu schimpfen. „Wenn hier einer wen aufweckt, dann bist das ja wohl du.“, meinte das Mädchen kalt. „Melaara, das ist bereits das vierte Mal diese Woche. Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht aufstehen und bis zum Morgen am Computer sitzen!“, langsam beruhigte er sich wieder, seine Stimme wurde sanfter und leiser. „Wieso nicht? Du machst es ja nicht anders.“, schloss Melaara, schaltete den Computer aus und ging in ihr Zimmer zurück. Scheinbar schien er ihr nicht zu folgen, Das Mädchen hörte keinerlei Schritte. Ihre Gedanken rasten als sie sich schlichtweg ins Bett fallen ließ, mit dem Gesicht voran. Sie vergrub es im Kissen, wobei sich ihre Wut immer mehr ihren Weg nach oben freikämpfte. In letzter Zeit war ihre Familie sehr anstrengend geworden. Vor allem wenn es um das Thema Wald hinter dem Haus ging. Oft schon hatte sie sich dorthin verkrochen. Nicht nur, weil sie dort gerne war und schon vieles erlebt hatte sondern auch, weil die Atmosphäre dort so mysteriös war. Etwas an diesem Ort zog Melaara förmlich magisch an. Es fühlte sich an als würde Etwas an ihr ziehen und sie in den Wald locken, dorthin, wo sie hunderte Augenpaare beobachteten die sie oft gar nicht wahrnahm. Doch viele davon konnte das Mädchen hören, oder sogar riechen.
Melaara wusste schon immer, dass sie und Takeo keine normalen Menschen waren. Und als sie eines Tages ein Mädchen namens Kayate traf, erhärtete sich dieser Verdacht. An ihrer ersten Begegnung war vorläufig nichts ungewöhnlich gewesen. Diapdra war zwar eine große Stadt, doch am Rande, dort wo auch der Wald war, befand sich ein kleines Dorf, indem sie und ihre Familie lebten. Kayate war neu ins Dorf gekommen, hergezogen aus einem kleinen Vorort, welcher nahe Yaosale war und Diarem genannt wurde. Ziemlich verblüfft musste Melaara feststellen das Kayate doch tatsächlich von einer der schönsten Städte des Landes weggezogen war. Wieso bloß zog sie von dort weg? Es lag immerhin am Meer und dort eine Wohnung oder ein Haus zu bekommen war sicher nicht gerade billig. Vielleicht war ihr Wohnort zu teuer gewesen? Kayate nistete sich jedenfalls in ein kleines, leer stehendes Haus nahe Melaara ein. Melaaras Eltern hielten es außerdem für nötig die neue Nachbarin zu begrüßen und freundlich aufzunehmen. Kayate war, genau wie Melaara, siebzehn Jahre alt und hatte beschlossen ebenfalls die gleiche, ortsansässige Schule zu besuchen. Niemand wusste ob sie eigentlich Verwandte hatte. sie kam allein. Und von ihrer Familie verlor sie nie ein Wort. Der allererste Tag, an dem Melaara ihr begegnet war, war ein sehr verregneter und grauer Tag. Melaara hatte beschlossen die Neue zur Schule zu begleiten, oder eher da ihre Eltern sie drängten, und meinten sie müsse neue Freunde machen. Am Morgen, circa eine Stunde bevor die Schulglocke läuten sollte, besuchte Melaara die Nachbarin. Diese öffnete, noch verschlafen und mit ziemlich zerzaustem Haar die Tür. Ein fast zu freundliches Lächeln aufgesetzt wollte die Braunhaarige wissen ob sie denn nicht zusammen mit ihr zur Schule gehen wolle. „Klar, ich mache sich nur schnell fertig. Komm doch rein.“ Als Melaara eintrat erblickte sie ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer: Eine große dunkelrote Couch, vor der ein kleiner Kaffeetisch mit Orchideen stand. Vor dem Tisch ein offener Kamin. Ein paar Holzscheitel lagen darin. Die Vorhänge bei den zwei großen Fenstern waren zugezogen und ließen die Atmosphäre noch verschlafener wirken. Verblüfft legte Melaara ihre Tasche neben den Tisch. Von außen schien es nur ein kleines Holzhäuschen zu sein, doch im Inneren schien es weitaus mehr zu bieten. „Du kannst dich ruhig umsehen wenn du magst.“ rief das Mädchen ihr aus dem anderen Zimmer zu. „Ich werde noch eine Weile brauchen.“ „Stress dich nicht. wir haben ja noch Zeit.“, sie sah gelassen auf die Uhr. Sie hatten noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Melaara mochte es nicht sonderlich zu spät zu kommen. Oh, wie sie es hasste wenn sie sich im Unterricht verspätete und die Leute sie anstarrten. Mehr, als sie es schon für gewöhnlich taten. Langsam machte Melaara sich daran in ihrer Langeweile die Räume zu erkunden. Als erstes landete sie in der Küche. Gegenüber ihrer Küche zuhause war diese hier der pure Luxus. sie war bestimmt doppelt so groß wie Melaaras, mit schön verzierten Theken und einem riesigen Esstisch ausgestatten. Selbst ein Kronleuchter aus Kristall baumelte von der Denke und lies den Raum funkeln. Eine Türe, gleich rechts neben ihr führte ins Bad, hinter der sie Kayate hören konnte, wie sie gerade herum polterte und sich bemühte flink fertig zu sein. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich noch eine Tür. Gespannt näherte sie sich ihr und öffnete sie mit einem lauten Quietschen. Es schien Kayates Zimmer zu sein. Sie entdeckte ein großes Doppelbett, daneben einen kleinen Tisch mit Wecker, Tischlampe und einer Vase mit vielen verschiedenen Blumen darin. Neben dem Tischchen, an der Wand, lehnte ein großer Holzschrank, ähnlich dem, den ihre Eltern im Schlafzimmer stehen hatten. Er nahm mit seiner Wuchtigkeit fast den ganzen Raum ein. Alles in allem schien das Haus ziemlich teuer und edel eingerichtet zu sein. „Sag mal Kayate.“, rief Melaara ins Bad. „Bist du eigentlich reich?“ Ein kleines Lachen ertönte. „Wie kommst du denn da drauf?“, fragte sie hörbar amüsiert. „Du hast so viele wirklich teuer aussehende Sachen. Beinahe ein Luxushaus.“ „Schwachsinn. Vieles von dem Zeug stand schon da, als ich gekommen bin. Das Einzige was ich ihr gekauft habe, war dieser Spiegel und das Tischchen mit dem dazu passendem Wecker. Das Doppelbett ist schon uralt. Genau wie alle anderen Sachen.“ „Und was musstest du für das alles hier zahlen, wenn ich fragen darf?“, jetzt wirkte sie sich selbst beinahe etwas zu neugierig. „Na ja…“, begann Kayate. „Es hat sich doch niemand beschwert das ich eingezogen bin, oder?“ sie schüttelte den Kopf, bis ihr bewusst wurde, dass Kayate sie gar nicht sehen konnte. „Ähm nein. Niemand hat sich beschwert.“ „Dann ist’s gut. Denn in diesem Haus hat, wie ich gekommen bin, niemand gelebt. Scheint so als wären die Besitzer einfach ohne ein Wort gegangen. Deshalb hab ich‘s mir hier erstmal gemütlich gemacht.“, antwortete sie gelassen. „Du meinst die Leute WISSEN gar nicht das du hier wohnst?“, Erstaunen und gleichzeitig Entsetzen schwang in Melaaras Stimme mit. Wie konnte sie einfach so in ein leer stehendes Haus gehen und sich dort einnisten? Vielleicht waren seine Besitzer ja nur auf Urlaub. Als sie diesen Gedanken laut zu Kayate sagte konnte diese wieder nur herzhaft lachen: „Mach dir mal keine Sorgen. Das Haus steht sicher nicht erst seit ein paar Tagen oder Wochen leer. Als ich ankam war es völlig heruntergekommen. Alles voller Spinnweben und Schmutz! Ich durfte das ganze Haus erstmal ein paar Tage lang säubern und aufpolieren, bevor ich überhaupt mal richtig hier wohnen konnte.“ Und gerade als Melaara zu einer neuen Mahnung ansetzten wollte, kam Kayate aus dem Badezimmer. Ihre Haare schwarz, seidig glänzend, strahlend weiße Zähne. Eingekleidet in grauer Jeans, grünem Trägerleibchen und darüber eine silbern-glänzende Felljacke mit Kapuze, die ihr nur bis zu der Hüfte reichte. Sie sah beinahe aus wie einer dieser Filmstars, welcher gerade von eine seiner Tourneen zurückkam und endlich mal Zeit hatte zu entspannen. Sie unterließ es sie noch einmal anzumeckern wegen ihres Hauses. Schon alleine weil es ihr furchtbar unhöflich vorkam sich mit jemandem zu streiten, der neu in der Nachbarschaft war. Außerdem schien sie sehr nett zu sein. „Wollen wir dann mal losgehen?“, fragte Kayate mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Das andere Mädchen nickte nur stumm und folgte ihr zurück ins Wohnzimmer, wo auch sie ihre Schultasche hatte stehen lassen.
Als sie gemeinsam zur Schule aufbrachen wusste Melaara erstmal nicht so genau worüber sie reden sollten, doch dann schoss ihr plötzlich wieder der Gedanke in den Kopf, warum Kayate wohl weggezogen war. „Warum bist du eigentlich nach Diapdra gekommen?“, fragte sie und spielte dabei mit einer Strähne rum die ihr ins Gesicht hing. „Es gefiel mir in Yaosale nicht mehr.“, antwortete sie knapp und mit fast ausdruckslosem Gesicht. „Wirklich? Ich meine… Ist Yaosale nicht DIE Stadt wo man das Leben führen kann, was man möchte?“, inzwischen hatte sie die braune Strähne hinters Ohr gestrichen und blickte zu Kayate rüber. Bei dieser Bemerkung rümpfte die Schwarzhaarige die Nase. „Nicht im Geringstem!“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Yaosale ist nicht das, wofür all die Leute es immer halten. Du hast zwar einen Ausblick aufs Meer… Aber das war’s dann auch schon. Jeden Morgen wirst du dann vom Fischgestank überrascht, sobald du die Haustür öffnest und zu tun gibt es auch kaum was. Zumal du nicht Fischer werden möchtest, und das würde ich lieber vermeiden. Wenn du einmal diesen furchtbaren Fischgeruch in der Nase hast, würdest du es vorziehen, irgendwo hin zu gehen wo es keine schuppigen Wassertierchen gibt.“ Die ganze Zeit hatte Kayate starr nach vorne geschaut, doch jetzt drehte sie sich zur Seite und bedachte Melaara mit einem breiten Lächeln. „Hier gibt es immerhin einen Wald. Dort gibt es sicher viel zu erleben, nicht wahr?“ „Na ja…“, begann Melaara zögernd und wandte den Blick wieder ab. „Nicht so viel wie du vielleicht denkst.“ Schlagartig veränderte sich Kayates Gesichtsausdruck. Der Spaß wich aus ihrem Gesicht und Ernsthaftigkeit schien sich breit zu machen. „Findest du? Wälder sind doch unsere Heimat oder nicht? Zumindest WIR sollten uns dort doch am Wohlsten fühlen.“ „‘Wir‘?“, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn und hielt inne. „Wer sind ‚Wir‘?“, hackte sie nach. Inzwischen waren sie bei der Schule angekommen. Die große Uhr, welche am Eingang des Gebäudes hing, begann laut zu läuten, wie eine Glocke, um den Schülern zu signalisieren, dass sie sich nun in ihre Klassenräume bewegen sollten. „Oh shit!“, rief Kayate. „Wir kommen zu spät!“ Schnell schaute sie mit vielsagendem Blick zu der Braunhaarigen. Sie würden in dieselbe Klasse gehen, das hatte man ihr bereits gesagt. Einen kurzen Augenblick sah sie fragend und herausfordernd in Kayates Augen um die Antwort zu finden, doch als sie die Dringlichkeit in ihren Augen sah seufzte sie nur genervt und lief hastig Richtung Schulgebäude. „Nun komm schon!“, rief Melaara, ohne sich umzudrehen. Kayate folgte aufs Wort und rannte stürmisch hinterher. Kayate war im Laufe der Zeit Melaaras beste Freundin geworden. Beide waren immer einsam gewesen. Von so gut wie Jedem wurden sie verachtet. Die Außenseiter. Die Anderen. Doch zumindest Melaara hatte eine Familie die ihr unter die Arme griff, wenn es mal schlecht stand. Kayate musste alleine damit fertig werden. Doch es schien sie kalt zu lassen. Beinahe als wäre sie es gewohnt, von allen verachtet und gehasst zu werden. Melaara wusste nicht warum es so war. Sie spürte es bei fast jedem Menschen der ihr über den Weg lief. Diesen tiefen Hass und die Abneigung. Manchmal auch Angst. Bei Takeo war es nie anders gewesen. Er wurde oft von anderen geschlagen, einfach nur, weil es den großgewachsenen Jungs Spaß machte einen wie ihn zu vermöbeln: einen kleinen, schmächtigen Jungen mit braunem, zerzaustem Haaren und einem rotem Halstuch, welches er von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte und niemals abnahm. Die Tatsache dass sie einige der Jungs schon mal ziemlich hart verprügelt hatte als sie ihrem Bruder zu nahe kamen, machte die Sache für ihn wohl nicht sehr viel besser. Melaara selbst wurde nicht geschlagen, zumindest äußerlich nicht. Innerlich hatte sie schon viele schwere Verletzungen einstecken müssen. Sie wurde oft beschimpft, meistens als Hexe oder Monster. Sie konnte ihr nicht erklären warum. Die Menschen waren einfach so zu ihr, obwohl sie sie nicht näher kannten. Sie konnte sich genauso wenig erklären wieso sie in anderen Dingen, wie beispielsweise Sinneswahrnehmungen, den anderen weit überlegen war. Das Mädchen konnte besser riechen und auch hören als die anderen. Einen Hasen in zehn Meter Entfernung konnte sie mit ein wenig Anstrengung hören und auch noch riechen, als presse man ihn direkt an ihre Nase. Niemand wusste weshalb sie das konnte, und niemand war besser darin als sie. Bis Kayate kam. Das große, schlanke, schwarzhaarige Mädchen musste ähnliches erdulden wie Melaara. Sie wurde von allen gehänselt und beschimpft. Doch es schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und war stets gut gelaunt. Auch Kayate hatte all diese Fähigkeiten. Eines Tages fasste die Braunhaarige ihren Mut zusammen und sprach Kayate darauf an. Auf die Frage, warum sie so gut riechen und hören konnte grinste diese nur frech und lachte: „Was denn, das weißt du nicht? Ich dachte das wäre offensichtlich! Hat man dir denn nie gesagt was du bist und was du kannst?“ Mit diesen Gegenfragen hatte Melaara nicht gerechnet. Verwirrt schüttelte sie den Kopf: “Was… Was bin ich?“ Melaara wusste schon immer, dass ihr diesbezüglich ihre Eltern etwas verschwiegen. Sie konnte immer fühlen dass etwas an ihnen… anders war. Kayate schüttelte ebenfalls ungläubig den Kopf. „Unfassbar, dass du so etwas nicht mitbekommst! Du musst das schon selbst rausfinden. Aber weißt du was? Lass uns beste Freunde sein.“, grinste sie. Immer noch verwirrt und angetan von ihrer Offenheit, stammelte Melaara nur ein verwirrtes „Okay.“
Obwohl Kayate oft zu Besuch bei war, konnte Melaara immer noch nicht aus ihr herausbekommen, was sie selbst war. Doch ihre Eltern schienen in ihrer Gegenwart…angespannter als sonst zu sein. Jeden Tag wenn Melaara sie sah, starrte sie ihr in die verwaschenen Olivgrünen Augen und versuchte, beinahe telepathisch, eine Antwort darin zu finden. Jedoch ohne Erfolg.
Melaara hatte es sich inzwischen schon wieder auf ihrem Bett bequem gemacht. Auf dem Rücken liegend, die Hände gefaltet wie zu einem Gebet, lag sie da und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal ohne Albtraum erwacht war. Ihr Bruder seufzte laut und murmelte etwas Unverständliches dahin. Sie dachte, er hätte im Schlaf gesprochen, doch als er wiederrum etwas murmelte, diesmal lauter als zuvor, fragte sie leise in die Dunkelheit hinein, ob er wach sei. „Natürlich.“, kam prompt und immer noch halb gemurmelt die Antwort. „Du weißt genau, dass ich es merke, wenn du weggehst. Außerdem war dein Wälzen im Bett, als du wieder mal schlecht geträumt hast, nicht zu überhören…“ Verlegen setzte sie sich auf und zog ihre Beine, samt der Decke so nah es ging zu ihr heran. „Tut mir leid.“, murmelte sie, genauso wie er zuvor, in die Decke. „Ich wollte dich nicht wecken. Es ist nur…“ „Ja, ich weiß. Dieser Traum.“, unterbrach er sie schnell. „Er muss doch was bedeuten oder?“, fragte sie verlegen nach. „Ich weiß es nicht… Ich bin zurzeit selbst nicht gerade ganz klar im Kopf.“ „So kann es doch nicht weitergehen. Mit uns stimmt etwas nicht, Takeo. Das merkst du doch auch oder? Wir sind irgendwie… anders.“ Er seufzte und setzte sich schwermütig auf, das Bett ächzte unter seinem Gewicht. Er stand auf und kam zu ihr herüber. Dann legte er behutsam und vorsichtig einen Arm um sie und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Etwas verwundert erwiderte sie seine Geste und umarmte ihn. „Ich will wissen wieso wir so anders sind. Wieso wir… nicht menschlich sind. Takeo, du nicht auch?“ Sie spürte ein langsames Nicken an ihrem Kopf. „Wir müssen doch etwas tun um herauszufinden was wir wirklich sind. Weißt du, ich glaube die Antwort liegt im Wald. Irgendwo da drin, da muss doch-“„Nein, Melaara! Fang nicht wieder mit diesem Wald an! Dort ist nichts! Es ist nur ein Wald. Nicht ein Ort wo Mädchen wie du hingehen sollten.“, er packte seine Schwester fest an den Armen und hielt sie fest. Überrascht von seiner harten Reaktion sah sie ihm stur ins Gesicht. „Aber, ich weiß es. Irgendetwas ruft nach mir. Ich muss –„ Er ließ sie abrupt los und ging wieder zu seinem Bett hinüber. Sie hörte ein leises Plumpsen, als er sich ins Bett fallen ließ und sich dann das Kissen über den Kopf zog. „Gute Nacht, Schwesterherz.“ Für eine Weile herrschte Totenstille und betretenes Schweigen, als sie ihm ein leises „Nacht“ zurückgab und ihren Blick wieder starr aus dem Fenster wandern ließ. Einige Stunden später, als sie Takeo wieder mit genau den leisen Atemzügen hörte, wie anfangs als sie aufgewacht war, stand sie leise auf und ging zur Kommode. Sie zog sich ihre kurze hell-blaue Hose aus und tauschte sie gegen eine Jeans aus. Über das weiße Unterhemd zog sie ein langärmeliges graues T-Shirt mit dazu passender Weste an und band sich dazu einen weißen flauschigen Schal um. Als sie fertig war schlich sie zum Ausgang des Hauses. Neben der Tür war ein Ständer mit Mänteln und Hüten darauf. Melaara nahm sich ihre graue Winterjacke, mit Kapuze und Fell daran, ihr Lieblingsteil, sowie die braunen Stiefel mit weißem Flaum an den Rändern, öffnete die Tür und schlich hinaus in die Finsternis.
Trotz der warmen und dicken Klamotten zitterte sie vor Kälte. Ihr Atem formte weiße Wolken in der Luft, welche in den Himmel aufstiegen und sich auflösten. Sie schlang die Arme um ihre Mitte, damit es wärmer wurde. Schritt für Schritt tastete sie sich in der Dunkelheit voran, welche nur wenig vom hellen Licht des Mondes durchbrochen wurde. Zielstrebig ging sie Richtung Wald hinter dem Garten. Ob Takeo wohl schon aufgestanden war und ihr hinterher lief? Nein, er würde wohl eher gerade ihre Eltern aufwecken. „Er traut sich nicht allein in den Wald“, sagte sie sich. Zwei große knorrige Eichen bildeten den Eingang in den Wald. Darunter ein Weg aus braunen Kieselsteinen, der sich unter den Schatten der Bäume jedoch fast völlig verlor. Vertrocknete Blätter raschelten unter jeden ihrer Schritte. Aus Angst zu laut zu sein, ging sie wie auf Nadeln. Nach einer Weile kam sie sich jedoch extrem lächerlich vor. So weit wie sie schon im Wald war konnte ihre Familie sie doch gar nicht mehr hören, sofern sie nicht sowieso gerade dabei waren sich mit Taschenlampen, Rettungsseilen und Walkie Talkies auszurüsten. Abgelenkt von dem Gedanken bemerkte sie die hervorstehende Wurzel erst als sie schon darüber stolperte und fluchend den Sturz mit den Händen auffing. Warum zum Geier hat sie nicht daran gedacht eine Taschenlampe mitzunehmen? Es hätte die ganze Sache sicherlich vereinfacht. Inzwischen war sie bereits etwa eine Stunde unterwegs. Sie wusste noch nicht einmal genau, wohin sie lief. Alles was sie wahrnahm, waren die Gerüche und Geräusche des Dickichts und alles was sie sah, waren die dunklen Schatten den die Bäume warfen, wobei sich gelegentlich mal ein Mondstrahl verirrte. Plötzlich wurde der Weg breiter, die Bäume gingen auseinander, wie als verließe man einen Tunnel, und gaben die Sicht auf etwas Wunderbares frei: Ein riesiger See. Er lag auf einer Art flachen Ebene, von Bäumen umrundet. Wie hungrige Tiere reckten sie ihre knorrigen Arme in die Luft, als wollten sie den See greifen, doch er war zugleich so nah und dennoch zu weit weg. Erstaunt blieb Melaara stehen und blickte zum See. Der Mond spiegelte sich so stark in der Oberfläche des Wassers, das dieses beinahe die gesamte Ebene ausleuchtete. Der Mond brachte es zum Funkeln und Glitzern, machte es zu dem Einzigen was sich von dieser Finsternis so absetzte. Langsam näherte sie sich dem See, wobei sie die Arme sinken ließ, die sie die ganze Seit fest um sich geschlungen hatte. Melaara hatte sich nie erinnern können, dass in dem Wald ein See war. Andererseits, kam sie auch nie so weit in den Wald hinein um ihn wirklich zu erkunden. Ihre Eltern merkten sehr schnell, wenn sie verschwunden war. Und selbst wenn sie es nicht merkten, Takeo hätte es bemerkt und wäre ihr nachgegangen. Nun stand sie am Rande des Sees und blickte in ihr eigenes Spiegelbild. Ihre sonst so gelben Augen leuchteten nicht wie sie es immer taten, wenn sie in einen Spiegel sah. Sie waren bläulich, verwaschen und sahen müde und fast schon deprimiert aus. Langsam hockte sie sich hin und tauchte einen Finger ins Wasser. Die Wellen breiteten sich immer weiter über den See aus, bis sie schließlich im tiefen Blau untergingen. Die Kühle des Sees rüttelte sie wieder etwas wach. Schnell zog sie, wenn auch etwas unsicher, den Finger zurück. „Was mache ihr hier eigentlich?“ Bedauernd sah sie zum Mond und fühlte einen Stich in ihrem Herzen. „Was bin ich?“, fragte sie mit wehmütiger Stimme und erwartete beinahe als würde er ihr eine Antwort geben. Noch bevor sie weiter in ihre Gedanken versinken konnte, hörte sie hinter ihr ein Rascheln. Sie hatte sich vorher oft eingeredet, dass ihr jemand folgte, hatte es dann aber schließlich doch nur als „Der Wind raschelt durch die Bäume“ abgetan. Doch nun war sie sich sicher. Jemand war ihr gefolgt. Im Schatten konnte sie die Gestalt sehen, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Die Person war zu klein als das es ein Mensch hätte sein können. Was war das was da stand? „Wer ist da?“, rief sie und stand blitzschnell auf, die Muskeln angespannt, um jederzeit die Flucht ergreifen zu können. Eine Weile rührte sich die Gestalt nicht, doch dann, unsicher, so als würde sie mit sich selbst ringen, trat sie aus dem Schatten. Sie erwartete kein menschliches Gesicht, doch das was ihr da gerade entgegenblickte hatte ganz sicher menschliche Augen. Vor lauter Schreck machte sie einen Schritt nach hinten und rutschte auf dem bereits taunassen Gras aus. Geschockt blickte sie hinüber zu der Gestalt. Olivgrüne Augen funkelten in der Dunkelheit. Schwarzes, seidig glänzendes Fell wehte leicht in einem plötzlichem Luftzug. Spitze Ohren, nur auf das Mädchen gerichtet, welches sich gerade unsanft auf ihre vier Buchstaben gepflanzt hatte. Ein Wolf. Es war ein zierlicher, schwarzer Wolf der sie ruhig anblickte und ihr gelassen entgegen kam. Ein Keuchen entfuhr ihr als das Tier in ein leichtes Traben verfiel und schon nach kurzer Zeit die Entfernung überwältigt hatte und neben ihr am See saß. Gelassen blickte das Wesen sie an, während sie noch halb unter Schock stand und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Nach einer Weile wandte das schwarze Getier seinen Blick gen Wasser zu. „Du hast es also noch immer nicht herausgefunden, was?“, erklang plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. „Wer…wer hat das gesagt?“, hektisch und nervös wanderte ihr Blick umher. „Hier…ist doch niemand außer einem…“ „Wolf, ganz richtig.“, das schwarze Ungetüm drehte seinen Kopf plötzlich in ihre Richtung und fixierte sie mit den verwaschenen, olivgrünen Augen. „Eigentlich solltest du es von alleine bemerken. Oder zumindest wäre es die Pflicht deiner Eltern es dir zu sagen.“, ertönte die Stimme wieder. Melaaras Augen wurden immer größer. Ungläubig starrte sie den Wolf an. „Nein, die Wölfin.“, verbesserte sie sich selbst in Gedanken. „Es ist eine sie.“ Es klang als wäre es ein Mädchen, in etwa in ihrem Alter. „Erkennst nicht mal die Stimme und Augen deiner besten Freundin, wie?“ Das Tier sah irgendwie empört aus. Die Wölfin schnaufte eingeschnappt. „Beste…? Ka…Kayate?“, brachte sie endlich hervor. Erst jetzt merkte sie dass sie die Luft angehalten hatte. Zittrig atmete sie aus. „Wieso…bist du ein…?“ „Das bin nun mal ich. Das…“, die Wölfin stand auf und ließ die Brust stolz anschwellen, den Schweif hoch erhoben. „Das ist mein wahres ich.“ Ein kleines Funkeln war in ihren Augen zu sehen. „Du bist…“„...absolut wunderschön, elegant, atemberaubend?“ Die Schwarze sah aus als würde sie grinsen. Ein kleines, wölfisches Lächeln. „Aber…wie?“, stammelte Melaara. Die Wölfin sah das Mädchen eine Weile schweigend an. „Das ist mein wahres ich.“, wiederholte sie lediglich. Plötzlich war in den Augen der Wölfin Unsicherheit zu erkennen. „Auch du…du hast auch ein wahres Ich. Du hast es nur noch nicht entdeckt.“ Melaara erblickte erstaunt in die wölfischen Augen. „Ich…Ich kann mich auch in einen Wolf verwandeln…?“ „Das habe ich nicht gesagt. Jeder hat ein anderes wahres ich. Jeder hat eine…wahrhaftige Seele. Bei den Einen kann es sein, dass dies die Seele eines Menschen ist. Andere wiederum mögen vielleicht Krähen sein. Und wieder andere vielleicht sogar Drachen! Jeder hat seine wahrhaftige Seele.“ Die Wölfin setzte sich wieder hin und sah ins Wasser des Sees. Ihre ansonsten so gespitzten Ohren sanken langsam und schmiegten sich eng an ihren Körper an, als sie beinahe wehmütig wieder zu ihr sah. „Aber…es ist eigentlich die Pflicht der Eltern dieses Wissen weiterzugeben. Ich dürfte dir das hier alles gar nicht sagen…“ Plötzlich schien sich Melaaras Starre zu lösen. Kayate wollte ihr das alles zeigen und nun vielleicht einfach wieder verschwinden und sie damit alleine lassen? „Nein, nein, nein! Ich…Ich habe schon immer gemerkt das ich anders bin… und schon immer wollte ich wissen was ich bin. Bitte zeig mir wie ich mich in mein wahres ich verwandeln kann!“ Die Wölfin zögerte etwas, bis sie schließlich seufzte. „Es ist eine reine Konzentrationssache. Die erste Verwandlung ist die schwierigste, weil man sich erstmal dessen bewusst wird was man eigentlich ist. Danach kannst du es eigentlich nach deinem freien Willen lenken.“ Die Wölfin hob eine Pfote und deutete auf das Wasser im See. „Sieh dein Spiegelbild an. Was siehst du?“ Das Mädchen sah zuerst verwundert zu Kayate, doch dann widmete sie ihren Blick dem See. Zuerst sah sie nur die Spiegelbilder von ihr und der Wölfin darin. Doch nach einiger Zeit schien sich etwas zu verändern. Hinter ihnen tauchten Schatten auf. Schemenhafte Gestalten. Sie versuchte sich einzureden, dass sie es sich nur eibildete. Das war verrückt. Einfach nur verrückt! „Und?“, wollte das Wolfsmädchen neben ihr wissen. „Was siehst du?“ „Dich und mich.“, wollte sie ihr weißmachen. Nein, wollte sie sich selbst weißmachen. „Lügnerin. Du siehst noch etwas anderes, oder?“ Den Blick starr auf das Wasser nickte sie. „Schatten“ „Diese Schatten sind die wahrhaftigen Seelen. In deinen Augen sind sie noch verschwommen, doch konzentrierst du dich erst einmal auf sie nehmen sie Gestalt an und offenbaren dir dein wahres ich. Nicht jeder sieht was sie wirklich sind. Wesen mit einer tierischen Seele spüren es manchmal. Vor allem Wolfseelen sind da sehr empfindlich. Diejenigen mit einer menschlichen Seele spüren es nicht. Nun, zumindest glauben das alle. Aus irgendeinem Grund haben die mit einer Menschseele einen unbändigen Hass auf diejenigen mit einer Tierseele – auch wenn sie gar nicht wissen was eine Tierseele ist.“ „Genug geredet!“ sie sprang plötzlich auf. „Erzähl mir später mehr darüber aber jetzt möchte ich mich verwandeln!“ Die Wölfin schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. „So ungeduldig…Wirst wahrscheinlich zu einer kleinen, ständig nervös zuckenden Amsel!“ Belustigt sah sie Melaara an. „So, und nun konzentriere dich aufs Wasser.“ Angestrengt starrte sie wieder und wieder auf den See und auf den dunklen Schatten, der sie langsam immer mehr umgab. Die Kälte, die sie sonst die ganze Zeit umgeben hatte, verschwand allmählich immer mehr. Eine angenehme Wärme legte sich um sie. Eine, die sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Sie war vertraut. Angestrengt dachte sie über diese Vertrautheit nach. Und mit einem Mal fiel es ihr wieder ein. Als würde ein grauer Schleier aus Nebel endlich verschwinden. Der eine Abend, an dem ihre Eltern ihr DIESE Geschichte erzählt hatten. Die Geschichte, die ihr noch, bevor sie sie erzählten, vertraut vorkam und währenddessen sich die genau gleiche Wärme um Melaara legte wie jetzt in diesem Augenblick. Als sie um die 5 Jahre alt war, hatte man ihr und ihrem Bruder eine unheimliche Geschichte erzählt. Nun, so ganz unheimlich war sie nicht. Sie war grausam, handelte von Schatten, Monstern und Krieg, doch zugleich erzählte sie von Frieden und Liebe. Und von Vergebung. Eines Abends saßen sie alle vor dem Kamin. Draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Der Strom war ausgefallen und ihre Eltern mussten sich etwas einfallen lassen um ihre Kinder zu beschäftigen. So erzählten sie ihnen Geschichten. Eine davon, handelte von einem Wolfsmädchen. Mit unheilvoller Stimme begann ihre Mutter zu erzählen: “Vor langer, langer Zeit, wo unser Land, lediglich aus kleinen Dörfern bestand, in der Zeit der Samurais, lebte einmal ein Mädchen. Es war kein normales Mädchen. Sie war nämlich halb Mensch und halb Wolf. In der Gestalt eines schlanken Mädchens mit dunkelbraunen Haaren und smaragdgrünen Augen reiste sie durch das Land und besiegte allerlei Bösewichte. Sie war eine richtige Heldin! Wenn sie gegen die Schurken kämpfte, verwandelte sie sich in eine stolze Wölfin mit strahlend weißem Pelz und großen weißen Flügeln. Zwar vermied sie es Andere zu töten, doch mit ihren rasiermesserscharfen Zähnen konnte sie ihren Gegnern in Windeseile die Kehle durchbeißen. Die Menschen damals, hassten sie dafür. Sie sahen nicht die guten Absichten hinter ihren Taten. Mit scharfen Schwertern und Fackeln in der Hand vertrieben, sie sie aus ihrem Land, mit der Begründung sie sei vom Teufel persönlich geschickt worden, und würde Unheil über die Welt bringen. Traurig und enttäuscht von den Menschen, ging sie, ohne dass man jemals wieder etwas von ihr hörte.“ „Was für eine traurige Geschichte, Mama!“, schluchzte Melaara. “Die Geschichte ist doch noch nicht zu Ende!“, meinte ihr Vater mit einem sanftem Lächeln auf den Lippen. Gebannt schauten Takeo und sie zu ihrem Vater der nun begann weiterzuerzählen: “Die weiße Wölfin ging, doch jemand anderes kam. Ein Mann mit langen, schwarzem Haar und gelben Augen. Auch er war, genau wie das Mädchen, ein Wolfsmensch. Doch er war das genaue Gegenteil von ihr. Sein Pelz war nicht so strahlend weiß, wie das des Mädchens. Er hatte keine großen weißen Flügel. Er war schwarz, so schwarz und finster wie die Nacht selbst. Er war kein Held. Der Mann säte Chaos und Leid im Land. Brachte die Menschen dort zur Verzweiflung und tötete jeden der sich ihm in den Weg stellte. Viele Samurais kamen um den Mann aufzuhalten, doch niemand konnte ihn besiegen. Er war zu stark. Er hatte die Kraft der Finsternis auf seiner Seite und verschlang damit alles und jeden. Die Menschen beteten, dass jemand komme um ihnen zu helfen. Und eines Tages, kam tatsächlich jemand.“ „Die weiße Wölfin?“, vollendete Takeo fragend den Satz. „Ganz recht.“, Sayo nickte stolz. „Das Wolfsmädchen war zurückgekehrt. Stolz breitete sie ihre Flügel aus und stellte sich dem schwarzen Wolf in den Weg. Wütend knurrte dieser und verlangte, dass sie das Land verließe, oder er würde sie töten. Und das gesamte Land mit ihr. Und so entbrannte ein wilder Kampf zwischen den Beiden. Verbissen versuchten sie einender die Kehle durchzubeißen. Man hörte Knurren, sah weiße Zähne aufblitzen, Blutbefleckte Pelze und verletzte, jedoch immer noch kämpfende Wölfe. Der Kampf zog sie lange hin. Drei ganze Tage und drei Nächte kämpften sie verbissen gegeneinander, ohne dass auch nur einer von Beiden Schwäche zeigte. Doch am dritten Tag, als der Vollmond hell über Beiden schien, neigte sich der Kampf dem Ende zu. Die weiße Wölfin – ihr sonst so strahlend weißer Pelz hatte sich vor Blut rot gefärbt – lag schnaufen und hechelnd am Boden. Ihr Widersacher, der schwarze Wolf, stand ihr gegenüber. Doch auch er musste sich einige Wunden zugestehen. Dennoch stand er felsenfest auf dem Boden und wartete darauf der weißen Wölfin den Todesstoß zu geben. Die Menschen hatten sich inzwischen um die beiden Wölfe gescharrt und verfolgten gespannt den Kampf. Doch niemand wagte es einzuschreiten, aus Angst dabei sein Leben zu lassen. Nur ein Junge, er war ungefähr im Alter des Mädchens, traute sich und trat neben die weiße Wölfin, welche sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er kniete sich zu ihr herab und umarmte sie vorsichtig. ‚Ich weiß, dass du es schaffen kannst, weiße Wölfin. Sie glauben an dich. Ich glaube an dich‘, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann ließ er sie ebenso vorsichtig los wie er sie angefasst hatte und trat achtsam ein paar Schritte zurück. Und plötzlich, erstaunt von der Liebe des Jungen, begannen die Menschen zu jubeln. Sie jubelten für die weiße Wölfin, baten sie um Verzeihung und beteten dafür, dass sie den Kampf gewinnen würde. Tränen rannen über die Wangen des Wolfsmädchens. Sie lächelte. Dann wandte sie sich an ihren Gegner, welcher sie hasserfüllt anfunkelte. Beide hoben ihren Kopf und heulten so laut wie es ihre Kräfte noch erlaubten. Dann liefen sie, mit gefletschten Zähnen, aufeinander zu. Beide sprangen wutentbrannt den jeweils anderen an und fügten sich schließlich eine letzte tiefe, sowie alles entscheidende Wunde zu. Sie kamen zu stehen.“ Angespannt hielten die Kinder die Luft an und warteten darauf wie die Geschichte enden würde. „Doch der schwarze Wolf schwankte, verlor sein Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Seine starren Augen blickten gen Himmel. Der Vollmond spiegelte sich in ihnen. Er hatte den Kampf verloren.“ „Jaaa! Hurra!“, jubelten die Kinder fröhlich. „Jedoch…“, begann Teshi, ihr Vater. Das Jubeln verstummte. „Die weiße Wölfin setzte ein letztes Mal zu einem ausgelaugten, müden Siegesheulen an, bevor auch sie zusammenbrach.“ Ein erschrockenes Keuchen entwich den Kindern. „Zwar lebte sie noch, doch ihr Atem war flach, ihr Herz wurde immer leiser. Der Junge, welcher ihr zusammen mit den anderen Menschen Kraft gegeben hatte, kam zu ihr gelaufen. Mit Tränen in den Augen kniete er sich zu ihr. ‚Du darfst nicht sterben, weiße Wölfin‘, schluchzte er verzweifelt. Langsam öffnete das Mädchen ihre Augen. ‚Er war meine dunkle Seite. ‘, sprach sie langsam und so leise, das sie kaum jemand verstand. Alle Leute blickten erschrocken zum schwarzen Wolf. Er löste sich auf! Winzige kleine Teilchen, wie Asche, stiegen gen Himmel, und wurden vom Wind verweht, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. ‘Ich war getrieben von Hass und Wut. Von der Angst und der Verzweiflung. Daraus entsteht die Dunkelheit. Jedoch… Ohne Schatten, gibt es kein Licht, und ohne Licht, gibt es keinen Schatten. ‘, das Mädchen und schloss erneut die Augen. Ihr Herz hörte auf zu schlagen. Und langsam, genau wie es bei dem schwarzen Wolf passiert war, löste sie sich auf. Es begann bei den Flügeln, und Verbeitete sich über den ganzen Körper bis sie verschwunden war.“, beendete der Vater die traurige Geschichte. „Wie furchtbar“, wieder begann die Kleinen zu schluchzen. „So soll die Geschichte nicht enden!“, schmollte Melaara damals. „Das ist nicht das Ende der Geschichte. Noch nicht.“, sprach ihr Vater. „Die Geschichte endet damit, dass die Menschen sie als Göttin verehrten. Sie errichteten eine Statue, tief verborgen in einem finsteren Wald, von dem bis heute niemand weiß wo er sich befindet. Die Statue war so rein, hell und weiß, wie der der Wald dunkel, finster und ohne Hoffnung war. Und noch heute erzählen sich manche Menschen, dass sie fühlen, dass die weiße Wölfin noch unter uns ist. Sie wacht über uns, achtet darauf, dass sie in Frieden leben können. Und manche, die, die in den hintersten Ecken leben, wo keiner sie hören kann, munkeln, dass die weiße Wölfin zurückkehren wird, um den schrecklichen Krieg, der zurzeit zwischen den drei Nationen tobt, aufzuhalten.“ „Ich hoffe sie kommt bald!“, Takeo hatte ein breites Grinsen aufgesetzt. Melaaras war nicht weniger klein. Ihre Eltern lachten darauf hin freudig und schickten sie danach ins Bett. Niemand außer Melaara scheint sich heute noch an diese Geschichte zu erinnern.
Genau wie damals, saß sie fasziniert da und horchte auf dass, was um sich war, auf das Pochen ihres Herzens. Genau wie damals, funkelten ihre Augen vor Neugier. Genau wie damals, fühlte sie sich wie die weiße Wölfin. „Genau wie damals, genau wie damals.“, hallte es in ihrem Kopf immer und immer wieder. Der Schatten umrahmte das Mädchen bereits und begann nun damit sich über ihrem gesamten Körper zu erstrecken. Er nahm langsam Gestalt an. Wolfsohren und Schweif waren zu erkennen. Ihr wurde heiß, ihre Muskeln spannten sich immer mehr an, ihr Herz schlug so schnell und so laut wie noch nie zuvor. Der Schatten schlang sich um ihren Hals. Dann schloss sie die Augen. Alles um ihr herum wurde schwarz und gewann gleichzeitig an Intensität. Der Schatten schlang sich um ihr Gesicht. Sie spürte es. Sie konnte den Hasen, der nicht weit weg saß und die ganze Szene beobachtete, vor ihrem inneren Auge sehen. Den Fuchs, der sich einige Kilometer weiter entfernt gerade in einem Haufen Blätter wälzte, hören. Den Hirsch, der noch weiter im inneren des Waldes sein Geweih an einen Baum rieb, riechen. Der Schatten nahm sie vollkommen ein.
Ein Wolfsgesicht war zu erkennen. Spitze Krallen stachen aus den Pfoten hervor. Wolfsohren zuckten und nahmen Geräusche auf. Eine Schnauze, die Nasenlöcher weit geöffnet, sogen Gerüche auf. Ein weißer Pelz strahlte im fahlen Mondschein. Ein weißer Wolf hob seinen Kopf gen Himmel, öffnete sein Maul und gab ein langgezogenes, hohes Heulen von sich. Eine neue Wölfin war geboren. Eine mit gelben Augen, weißem Pelz und dem Herz einer Kriegerin. Eine Wölfin namens Melaara.
Und hiermit beginnt unsere Geschichte.
Kapitel zwei: Die weiße Wölfin
Verwirrt sah Kayate die Wölfin an, welche nur wenige Meter vor ihr hockte. „Hey! Deine Eltern sollten das doch nicht rausbekommen! Sei leise! Das halbe Dorf wird dich hören!“, rief sie verärgert. Melaara öffnete langsam ihre Augen, es waren ihre gelben Augen, die in die Dunkelheit hinaus blitzten. „Ich…ich konnte es nicht unterdrücken.“, versuchte sie sich aus der Schlinge zu ziehen. Mit skeptischem Blick musterte Kayate die neue Wölfin. Etwas unbehaglich unter Kayates Blick warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild im See: Weißes, schimmerndes Fell, gelbe Augen die funkelten und strahlten. Sie war ungefähr gleich groß wie Kayate, vielleicht ein bisschen größer. Sie hatte einen langen und sehr eleganten buschigen Schweif, der im Moment angespannt hin und her wedelte. Eine Wölfin beinahe wie aus Schnee und Eis. „Wir sollten von hier verschwinden und nach Hause gehen. Ich glaube das reicht für heute erstmal.“ „Ich will noch nicht heim!“, protestierte sie. „Ich habe gerade erst rausgefunden, was ich wirklich bin! Zeig mir mehr!“ „Du wirst große Probleme bekommen, wenn dich deine Eltern finden. Oder mich…“, Kayate schauderte leicht. Wenn ihre Eltern sie dabei erwischten, wie eine eigentlich Fremde ihrer Tochter eigentlich verbotene Dinge beibrachte, würde sie in Schwierigkeiten geraten. „Ich werde dir ein andermal mehr zeigen. Aber im Moment ist es keine gute Idee. Wenn deine Eltern dich in deiner Wolfsform sehen, könnten sie dich für immer einsperren!“ Hastig schüttelte sie den Kopf. „Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Nie mehr!“ Plötzlich bahnte sich eine Idee in ihrem Kopf an. „Ich will weg von hier.“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. Kayate fiel beinahe die Kinnlade runter. „W-Was?! Was redest du denn für einen Unsinn!“ „Du kannst mich nicht aufhalten.“ sie stand auf und trappte vorsichtig ein paar Schritte zurück, dann entblößte sie ihre Zähne und knurrte Kayate wütend an. Es fühlte sich merkwürdig gut an sich wie ein Tier zu verhalten und nicht angestarrt zu werden deswegen. War sie wütend kroch meist ein Knurren in ihr hoch, doch sie unterdrückte es, die Menschen würden sie ja doch nur auslachen. „Ich habe Zähne und Krallen und kann schnell laufen. Wer soll sich mir in den Weg stellen?“ Die schwarze Wölfin rollte mit den Augen. „Ich zum Beispiel.“ Mit einem schnellen Sprung, den sie nicht kommen sah, hatte sich Kayate bereits auf sie geworfen, drückte sie zu Boden und ließ ihr kaum noch Luft. „Du magst zwar herausgefunden haben, wie du dich verwandelst, doch das bedeutet noch lange nicht, dass du auch weißt, wie man damit umgeht. „ Vorsichtig stand die schwarze Wölfin auf, jedoch immer noch über die Weiße gebeugt, damit sie ja keinen Gegenangriff starten konnte. „Ich wollte dir eigentlich beibringen mit deinen neuen Fähigkeiten umzugehen. Aber da du weglaufen willst, ist das wohl kein allzu kluger Schachzug, was?“ Die Weiße starrte eindringlich in Kayates Augen. „Bitte.“, flehte sie. „Ich bin bereits siebzehn, in einem Jahr wäre ich so oder so gegangen. Was macht es für einen Unterschied ob ich jetzt, oder in einem Jahr gehen kann? Bring mir bei, was ich wissen muss um sich selbst zu verteidigen. Was muss ich wissen, um ein Wolf zu sein?“ Kayate wandte sich von ihr ab um sie aufstehen zu lassen. „Zu Allererst, das Menschen uns hassen.“ sie drehte sich noch einmal um und fixierte Melaara mit ernstem Blick. „Wenn du damit beginnst herumzustolzieren und jedem zu erzählen, was du bist, landest du, ehe du dich versiehst, auf einem Labortisch und wirst von irgendwelchen verrückten Wissenschaftlern seziert!“ „Ich würde den Menschen niemals sagen, was ich bin.“, gab sie mit genauso erstem Tonfall zurück. Melaara wurde unsicher. „Aber…woran erkenne ich denn die, die eine menschliche Seele haben?“ „Das riechst und fühlst du, glaub mir. Es ist aber auch nicht all zu klug allen Tierseelen zu sagen was du bist. Bis auf ein paar Ausnahmen merken die ohnehin welche Seele du hast, aber viele sind schlecht darin das zu deuten. Und Wölfe sind gefürchtet. Wir werden immer noch als gefährlich angesehen und mit der Dunkelheit in Verbindung gebracht. Auch Krähen und Füchse sind bei den meisten nicht sehr beliebt. Und Menschen scheinen auch meist einen sehr großen Hass gegenüber diesen Seelen zu haben. Und das obwohl viele noch nicht einmal wissen das Tierseelen existieren.“ Plötzlich begannen Kayates Ohren zuckten. Auch Melaaras Ohren zuckten und sie konnte hören weshalb Kayate so aufgeschreckt war: Jemand kam mit schnellen Schritten aus dem Wald auf sie zu. Er oder sie war noch weit weg, dennoch brachte es Anspannung unter die Wölfe. „Melaara, es geht mir nicht darum, dass du deine Identität vor allen geheim hältst. Es geht mir viel mehr um deine Familie. Und auch ein klitzekleines bisschen um mich. ich meine, was sollte ich denen sagen, wenn du auf einmal, ohne irgendwas zu sagen, verschwindest? Die werden sicher sofort auf mich schließen, da ich neben deiner Familie die Einzige Tierseele hier im Dorf bin.“ „Dann komm mit mir! Es würde außer meiner Familie niemandem auffallen, wenn wir nicht mehr da wären. “Entgeistert schaute die schwarze Wölfin zu ihr. „Du bist verrückt.“ Doch der Gedanke, von hier zu verschwinden, schien ihr zu gefallen. „Als wolltest du nicht von hier weg…“, begann sie erneut. „Außer mir, meinen Eltern und meinem Bruder, kann dich niemand leiden. Sie hassen dich, genauso wie sie mich und Takeo hassen. Wieso sollen wir uns das bieten lassen und nicht einfach nach einem besseren Platz suchen?“ „Es gibt überall menschliche Seelen, Melaara. Man wird uns überall hassen.“ Das Rascheln aus dem Wald, war inzwischen deutlich angeschwollen und kam immer näher. Melaara konnte bereits wittern wer da auf sie zukam. Es war Takeo. Er verströmte Panik. Sein Angstschweiß war bis hierher zu reichen. Offensichtlich war er alleine in den Wald gegangen und hatte seinen Eltern nicht Bescheid gegeben, ganz zur Erleichterung seiner Schwester. “Ich verschwinde jetzt. Wenn Takeo mich entdeckt sind wir geliefert. Und du solltest dich auch zurückverwandeln.“ „Wie mache ich das?“, beinahe panisch sah sie zu Kayate die ihr schon den Rücken zugedreht hatte und Richtung Wald lief. „Konzentriere dich auf deine menschliche Gestalt. Fühle und sehe sie in deinem Inneren. Du machst das schon.“, mit diesen Worten, lief die schwarze Wölfin tiefer in den Wald und verschwand schnell in der Finsternis. Verwirrt blieb Melaara am Platz hocken und versuchte sich auf das zu konzentrieren was Kayate ihr gerade eben erzählt hatte: Auf ihr menschliches Dasein. Doch es war viel schwieriger als erwartet. Ihre Ohren nahmen immer wieder Geräusche auf. Ihre Nase fremde und neuartige Gerüche. Alles was vorher uninteressant war, wurde jetzt umso interessanter. Sie wollte sich nicht zurückverwandeln. Aber sie wusste, dass wenn sie es jetzt nicht tat, vielleicht nie wieder die Chance dazu hätte. Sie atmete so tief sie konnte ein, schloss die Augen und rief das Bild des Mädchens mit dem Namen Melaara in ihr auf. Verschwommen, wie das Spiegelbild im Wasser sah sie es vor ihrem geistigen Auge. Das Bild des Mädchens wurde immer klarer. Sie öffnete schlagartig die Augen und sah an ihr hinunter. Kein weißes Fell, keine Pfoten, stattdessen aber Hände, Beine, ihr menschlicher Körper. Das Rascheln wurde lauter und war nun nur noch wenige Meter entfernt. Sie kniff die Augen zusammen und spähte zu dem Weg von dem sie gekommen war. Schnaufend, kam ihr Takeo entgegen. Seine Haare waren komplett durcheinander und hingen ihm wild ins Gesicht. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er rang angestrengt nach Luft. Vermutlich war er den ganzen Weg gelaufen. Er hatte seine blaue Jeans an, sowie schwarze Turnschuhe. Die schwarze Winterjacke mit Kapuze und Fellkragen daran schien schwer wie Blei an seinem Körper zu kleben. „Me-Melaara“, brachte er schnaufend hervor. Er kam stürmisch auf sie zugelaufen. Als er schließlich genau vor ihr stand umarmte er seine Schwester wild. Sie stieß ein verwirrtes Jauchzen hervor. „Du… Du bist nicht sauer?“, fragte sie vorsichtig. „Oh doch! Und wie sie sauer bin!“ Er löste sich aus der Umarmung und sah ihr mit ernstem Gesicht entgegen. „Aber ich bin viel erleichterter darüber, dass alles mit dir in Ordnung ist.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie war froh, dass Takeo nicht allzu wütend war. Und noch glücklicher war sie als er erzählte er habe ihre Eltern nicht aufgeweckt. „Wir sind es inzwischen ja schon gewohnt, dass du öfters Mal im Wald verschwindest. Und außerdem schien Vater ohnehin schon wütend auf dich zu sein.“ „Ja, er hat mich mal wieder am Computer erwischt.“ „Hab ich mitbekommen. Jetzt lass uns zurückgehen. Es ist unendlich kalt. Nebenbei…“, jetzt widmete er seinen Blick auf den See, welcher hinter ihr in majestätischer Stille lag. „Seit wann gibt es hier einen See? Der ist mir noch nie aufgefallen.“ „Na ja, so tief hab ich‘s ja auch noch nie in den Wald geschafft. Ihr seid ja alle ziemlich gut im Fangen.“ sie grinste auf einmal unheimlich breit. „Und dieser See hat‘s wirklich in sich.“ Verwirrt sah er zu ihr: „Wie meinst du das?“ Sie schwieg. Das Mädchen war sich nicht sicher ob sie es ihm zeigen sollte. Einerseits hatte er es ja verdient, genauso wie sie, rauszufinden, was er wirklich war. Jedoch war sie nicht sicher wie Takeo es verkraften würde. Immerhin lebte er beinahe glücklich und zufrieden in seiner „Alles ist Bestens“- Welt und hatte sich auch nie wirklich darum gekümmert, dass er anders war. So arrangiert für dieses Thema hat er sich zumindest nie.
Unsicher sah sie ihn an. „Willst du eigentlich wissen was du bist? Ich meine…“ sie zögerte. „Du weißt dass du kein… kein Mensch bist, oder?“ Ihr Bruder sah sie zuerst verwirrt und dann fast etwas verärgert an. „Ich glaube, wir wollen doch alle wissen was wir sind und wo unser Platz in dieser Welt ist.“, antwortete er gedankenverloren. „Das heißt also du willst es wissen?“ Der Satz hatte fast mehr etwas von einer Feststellung als von einer Frage. Takeo näherte sich vorsichtig und unsicher dem See. Er musterte sein eigenes Spiegelbild sehr präzise. „Wenn du weißt was wir sind, dann zeig’s mir doch.“, in seiner Stimme lag ein Hauch von Herausforderung. Als könne er nicht glauben, dass seine Schwester tatsächlich herausgefunden haben sollte, was auch er schon immer wissen wollte. Noch immer zögerte sie. Überlegte wie sie ihrem Bruder seine andere Hälfte zeigen sollte. Vielleicht genauso wie Kayate es ihr vorgemacht hatte? Sie setzte sich gelassen an den See und blickte in ihr eigenes verwaschenes Gesicht. „Setz dich.“ Takeo tat das was sie sagte. „Schau unsere Spiegelbilder an. Was siehst du?“ Während er angestrengt in den See sah, konzentrierte auch sie sich auf den Schatten der hinter ihr im Wasser lag. Diesmal dauerte die Verwandlung nur halb so lange. Sie hatte nur wenige Sekunden ins Wasser gesehen und war schon wieder eine Wölfin geworden. Genau wie es bei ihr war, schaute Takeo verstört auf und blickte in ihre Richtung, doch diesmal war sie es die ein wölfisches Lächeln auf den Lefzen hatte und nicht Kayate.
Alles spielte sich genauso ab wie zuvor bei ihr: Zuerst der Schock, dann die Verwunderung, die Einsicht, die Fragen und zum Schluss die eigene Verwandlung. Überrascht musste sie feststellen das Takeo dies bei weitem besser zu verkraften schien als sie. Als er bereits das zweite Mal in den See sah, erfolgte seine Verwandlung um einen Hauch schneller als ihre. Er tat sich bei allem sichtlich leichter. Auch er war zu einem Wolf geworden. Ein zierlicher rot-brauner Wolf. Die Augen feuerrot, mutig, und doch noch kindlich. „Ja, das ist Takeo.“, lächelte Melaara als sie ihn in seiner wahrhaftigen Gestalt sah. Dieser sah noch immer verwundert an seinem Körper entlang. Hob die Pfoten. Schnupperte in die Luft. Sah wieder und wieder erstaunt in den See hinein. Die ganze Nacht lang hindurch tollten sie am See herum, rauften miteinander, oder versuchten kleinere Tiere, wie Hasen oder Wühlmäuse, zu erschnüffeln und zu fangen. Jedoch ohne Erflog. Zwar waren sie Wölfe und ihre Nasen, ihre Schnelligkeit und ihre Fänge trugen sicherlich dazu bei gute Jäger zu sein, doch sie waren darin ziemlich erbärmlich. Als Melaara versuchte einen kleinen braunen Feldhasen zu fangen, machte der, kurz vor dem See, eine scharfe Linkskurve und ließ sie somit geradewegs in den See segeln. Triefendnass und knurrend kroch sie heraus. Takeo machte sich dementsprechend lustig darüber, mit Sätzen wie: „Einen Hasen bekommt sie nicht, vielleicht ja einen Fisch?“, oder „Vielleicht ist deine wahre Seele ja doch ein Fisch. Oder ein Wal!“. Sie beachtete ihn gar nicht. Denn auch ihr Bruder war im Moment nicht wirklich besser im Jagen und Fährten verfolgen. So ging es die ganze Nacht lang hindurch, bis der Mond langsam verschwand und der Sonne den Himmel freiräumte. Die Sterne verblassten und der Himmel veränderte seine Farbe von einem dunklen Blau Ton zu einem strahlendem, wolkenlosen, Hellblau gemischt mit dem Orange-Gelb der Morgensonne. Sie lagen zusammengerollt in ihrer Wolfsgestalt am See. Verschlafen öffnete die weiße Wölfin ihre Augen und blinzelte dem Sonnenlicht entgegen. Das erste was ihr in den Sinn kam war, wann sie wohl eingeschlafen war und wie angenehm weich das Gras sich unter ihrem Körper anfühlte. Doch diese Gedanken hielten nicht für lange. Als sie merkte wie hoch die Sonne bereits stand, riss sie ruckartig ihrem Kopf hoch, was auch Takeo erwachen ließ. „Schwester…?“, fragte er, noch total verschlafen. Er schien zu denken es sei immer noch tiefe Nacht, da er nur wenige Momente später seinen Kopf wieder auf die Pfoten legte. „Takeo!“, unsanft sprang sie Takeo an um ihn zu wecken „Takeo, es ist bereits Tag!“ „Unsere Eltern!“ Jetzt schien es, dass auch aus Takeo jegliche Müdigkeit entwichen war. Panisch hob er seinen Kopf um sich umzusehen und ihre Aussage zu überprüfen. „Wenn sie merken, dass wir fehlen wird das riesen Ärger geben! Steh auf!“, sie schubste und zwickte ihn so lange, bis er endlich schweren Herzens aufstand. „Ich hoffe sie sind noch nicht wach!“, die Ohren angelegt schluckte er heftig. Schon lief er los. Obwohl er schmächtig war, war er ein sehr flinker Läufer. Mit seinen Pfoten schwebte er förmlich über dem Boden. Seine Schwester tat es ihm gleich. Die große Spanne auf der Ebene, zwischen See und Waldrand, überwindeten sie in Windeseile. Als sie den Waldrand erreicht hatten - sie hatte inzwischen die Führung übernommen - drehte sie sich noch einmal um und blickte, beinahe sehnsüchtig, zum See zurück. Takeo drängte sie weiter. Auch als sie im Wald waren, der von Wurzeln, dicken Ästen und allerlei anderen Dingen waren, die es einem Menschen schwermachen würden zu laufen, hatten sie keine Problem und glitten förmlich übers Unterholz. Jedoch schien ihr Bruder langsam müde zu werden. Er hechelte schnell und sie konnte sehen wie seine Hinterbeine leicht zitterten. Die weiße Wölfin verlangsamte den Lauf ein wenig. Erschöpft, jedoch dankbar, sah er zu ihr hinüber. „Halte durch. Wir haben es gleich geschafft.“, tröstete sie ihn. Er nickte nur stumm. Langsam wurde der Weg wieder begehbarer. Das Unterholz war nicht länger ein Unterholz, sondern ein kleiner schmaler Weg, der von braunen Kieselsteinen gebildet wurde. Die Weiße konnte schon die Äste der knorrigen Eichen sehen, die sowohl Ein- als auch Ausgang bildeten. „Wir sollten uns wieder zurückverwandeln.“ Takeo kam langsam zum Stehen. Ein kleiner Stich flammte auf in ihrem Herzen. Sie wollte sich noch nicht verwandeln. Sie wollte noch weiter herumtollen. ihre Schnelligkeit austesten, kleine Tiere jagen, versuchen neue Gerüche in ihr aufzunehmen und ihnen Namen zu geben. Aber was blieb ihr für eine andere Wahl? Sie wusste nicht wie ihre Eltern wohl reagieren würden, wenn sie ihre Tochter als weißen Wolf wiederfänden. Zwar wusste sie bereits, dass wohl auch sie Wölfe waren, doch es war offensichtlich, dass sie ihren Kindern ihre wahren Seelen nicht zeigen wollten. Sie wollten sie als Menschen haben. Hin und her gerissen nickte sie einfach nur unsicher und verwandelte sich, genau wie Kayate es gestern Nacht getan hatte, mit einem geschmeidigem Sprung zurück in einen Menschen. Takeo versuchte es ihr nachzumachen, landete jedoch am Ende weitaus weniger elegant mit seinem menschlichen Hintern auf dem Waldboden. Ein Schmunzeln huschte über Melaaras Mund und sie wollte gerade damit beginnen, sich über seine Landung lustig zu machen, als sie den scharfen Blick ihres Bruders sah. Sie hatte weder Lust noch Zeit einen Streit anzufangen. Sie gingen geduckt unter den Eichen hervor. Die Geschwister hatten sich zwar wieder in Menschen verwandelt, doch nichts desto trotz: der Wald war ein Tabu. Würden Teshi und Sayo sie entdecken würde das Fragen aufwerfen. Unangenehme Fragen, solche, die sie lediglich mit Lügen hätten beantworten können. Takeo war einer der schlechtesten Lügner. Man konnte ihm an seinen Augen die Lügen ablesen. Der Grund dafür war das er meistens hektisch in alle Richtungen schaute, oder sehr oft blinzeln musste. Doch Melaara war darin auch nicht sehr viel besser. Immer wenn sie log, fing sie zu lachen und zu feixen an. Sie vermieden es zu lügen. Sie schlichen ums Haus herum, ohne auch nur einen Piep von sich zu geben. Als sie die Vordertür erreicht hatten stiegen sie die kleine Treppe rauf, welche zu einer Mini Veranda führte. Melaara drehte sich zu ihrem Bruder um. „Die dürfen davon nichts erfahren, ok? Noch nicht.“ Takeo nickte eifrig. Dann gingen sie ins Haus.
Schon als sie den ersten Schritt ins Haus machte wurden sie herzlichst begrüßt. Freundlicher als sie es erwartet hatten. Ihre Mutter stand vor ihnen. Sie trug Geschirr in den Händen und hatte ihre langen, schwarzglänzenden Haare zu einem Pferdeschanz zusammengebunden, der ihr über die rechte Schulter hing. „Wo wart ihr denn?“, fragte sie mit einem verwirrten, aber nicht unfreundlichen Ton. „Wir waren im Garten und haben ein bisschen gespielt.“, erklärte die Braunhaarige. Und dies war ja auch nicht gelogen. Sie waren im Garten. Und sie haben miteinander gespielt. Takeo schien ebenfalls ziemlich ruhig. Er schien komplett entspannt und ausgeglichen, so wie er da im Flur stand. „Wir haben schon gefrühstückt und sind dann raus in den Garten, weil wir euch nicht wecken wollten.“ „Wie lieb von euch.“, Sayo lächelte, dieses gewisse Lächeln, welches sie immer hatte: ein trauriges, melancholisches. Auch wenn die gesamte Familie eine noch so tolle und schöne Zeit hatte, ihre Mutter schien immer eine gewissen Traurigkeit in ihrer Ausstrahlung zu haben, die sie wie einen Wolf wirken ließ. Melaara war es noch nie aufgefallen, aber ihre Mutter schien ihr Wolfsdasein nie wirklich zu verstecken. sie war, genau wie sie, gerne im Wald und liebte die Natur über alles. Während sie mit ihr sprach kam sie ihr wie ein völlig neues Wesen vor. Sie war nicht mehr eine Frau, welche sich um ihre Kinder kümmerte, in ihren Augen, war sie nun eine starke Wölfin und sie stellte ihr vor, wie es wohl wäre, Seite an Seite, auf vier Pfoten, auf einer großen Wiese, mit ihr um die Wette zu laufen. Erst jetzt nahm sie den Schatten hinter ihrer Mutter war. Es war diese Art von Schatten, die sie und Takeo bereits am See gesehen hatten, diese Dunkelheit, die sich über einen legte, bevor man erkannte, was man wirklich war. Und jetzt umgab er Sayo, ihre Mutter. Sie sah nicht mehr in das Gesicht, welches sie jahrelang kannte. Im Moment sah sie das Gesicht einer schwarzen Wölfin, genau wie Kayate. Jedoch mit dem Unterschied, dass nicht Kayates olivgrüne Augen sie anfunkelten, jedoch die silbernen Augen ihrer Mutter. Sie hatte sich nicht in eine Wölfin verwandelt. Jedoch sah sie halb in das Gesicht ihrer Mutter und halb in das Gesicht ihrer wahren Seele. Melaara musste einen verblüfften Eindruck gemacht haben, denn Sayo lachte leicht und fragte dann was denn so spannend wäre. „Äh, ah…“, stammelte sie zuerst vor sich hin. „Nichts, nichts“, sie schüttelte schnell den Kopf. Sayo musterte ihre Tochter noch einen Augenblick bevor sie dann Richtung Küche ging. Sobald sie außer Hörweite war legte Takeo seiner Schwester eine Hand auf die Schulter und schaute sie mit ernstem Blick an: „Du darfst dich nicht so verlieren. Wir wussten doch, dass sie Wölfe sind. Scheint irgendwie in unserer Familie zu liegen.“ Sie sah, beinahe beschämt, zu Boden. „Ich weiß… ich war nur so… überwältigt.“ Er ließ seine Hand von ihrer Schulter gleiten. „Noch ist nicht die Zeit, Nerven zu verlieren. Wir werden es ihnen sagen, wenn die Zeit gekommen ist. Bis dahin müssen wir uns zurückhalten.“ Takeo drängte sich an ihr vorbei und wollte ebenfalls Richtung Küche gehen, als sie ihn an der Hand packte und zurückhielt. „Und wann wird diese Zeit gekommen sein?“, Unsicherheit. „Ich will hier nicht eingesperrt sein. Das war ich lange genug. Ich will fort von hier.“ Verzweiflung hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Doch bevor er etwas antworten konnte kam auch schon Teshi, der Vater dazu. Schnell ließ sie Takeos Hand los. Sie spürte den Blick ihres Vaters auf ihr. „Stimmt was nicht? Wieso steht ihr denn hier alle im Flur rum?“, Teshi schien Takeo aus seiner Starre zu reißen. Er wuschelte seinem Sohn durch die Haare und warf auch Melaara ein sanftes Lächeln zu. Es schien als hätte er ihr die Aktion heute Nacht bereits verziehen. Auch um Teshi hatte sich das seltsame Dunkel gelegt. Und schon nach kurzer Zeit war ein weiteres Wolfsgesicht zu erkennen. Es war das Gesicht eines Wolfes mit smaragdgrünen Augen und einem Gold-gelben Fell, mit weißer Musterung am Bauch und an der Schnauze. Es war beeindruckend, wie sehr sich Teshi und Sayo unterschieden. Melaaras Vater war ein so heller, strahlender Wolf, als würde mit seinem Kommen, sofort der Tag und die Wärme der Sonne eintreffen. Sayo war das genaue Gegenteil. Mit ihr kamen die mondlose Nacht und ein stürmischer, und erfrischender Regen, der einen für immer verzaubern konnte. Sie wandte ihrem Blick gen Boden damit sie ihn nicht genauso anstarren würde wie ihre Mutter zuvor. Er schien sich darum auch nicht weiter zu kümmern. „Wir werden heute in die Stadt fahren.“, begann er. „Eure Mutter hat da gestern einen neuen Antiquitäten Laden entdeckt, bei dem sie unbedingt ein paar Sachen kaufen möchte.“ In seiner Stimme konnte man hören, dass er von der ganzen Idee nicht sonderlich begeistert war. „Wir werden wohl erst gegen Abend wieder zurückkommen. Stellt bis dahin bitte nichts an.“ „Wir doch nicht.“, gab Melaara trocken zurück, blickte auf und lächelte müde. „Pizza ist im Kühlschrank, genug für eine ganze Fußballmannschaft.“, gesellte sich Sayo dazu. „Aber kommt ja nicht auf den Gedanken hier eine Party zu veranstalten!“, bemerkte der Vater. „Wir werden vielleicht zu Kayate rübergehen. Wir haben noch was mit ihr zu besprechen.“ Takeo sah seine Schwester etwas verwundert an. Doch sie hatte längst einen Plan. Zumindest war ein Teil des Plans, das Mädchen zur Rede zu stellen und sie darum zu bitten ihnen mehr über die wahrhaftigen Seelen zu erzählen. „Besprechen?“, wiederholte ihr Vater. „Was denn?“ „Schule“, antwortete sie kurz und knapp. Mit einem misstrauischen Grinsen schaute ihre Mutter sie an. „Dann viel Spaß beim ‚lernen‘.“, kicherte sie, während sie bei dem betonten Wort „lernen“ zwinkerte. „Wir gehen dann mal.“, Teshi drängte sich an ihnen vorbei und griff nach seiner braunen Lederjacke, während auch Sayo sich ihre weiße Jacke, mit Kapuze und grauen Flaum daran, schnappte. Ihr Vater war bereits zur Tür hinausgegangen und wartete schon ungeduldig. Doch Sayo nahm sich die Zeit, ihre Kinder noch einmal beide ausgiebig mit besorgtem Gesicht zu mustern und dann ein kleines Auf Wiedersehen winkte. Eine ganze Weile war es still im Haus. So still, dass die Luft stickig zu sein schien und einem den Atem raubte. Takeo drehte sich so schnell zu ihr um, dass diese heftig erschrak und erstmal einen Sprung zurückmachen musste. „Was sollte das?!“, flog er sie scharf an. Zuerst verstand sie nicht ganz was das nun sollte und starrte ihn einfach nur überrumpelt an. „Wie kommst du auch nur auf den Gedanken von hier wegzuwollen?“ Jetzt endlich verstand sie was er wollte. Bevor ihr Vater kam, hatte sie ihm erzählt wie gerne sie von hier wegmöchte. Es schien ihn sehr aufgebracht zu haben, sie konnte fühlen wie sein Herz schnell und voller Wut klopfte und wie das Blut durch seinen Körper rauschte und ihn erhitze. „Willst du denn nicht weg? Was wenn unsere Eltern uns nicht erlauben unsere neue Seite auszuleben? Ich verstehe nur einfach nicht wieso sie uns nichts von diesen wahrhaftigen Seelen erzählt haben, aber wenn sie es uns schon nicht sagen wollten, werden sie es sicher auch nicht gestatten das wir uns in dieses Thema vertiefen.“ Er hielt ihren Blick mit seinen Augen fest. Sie hielt ihm stand und konnte in seinen rötlichen Augen das gleiche sehen, was sich auch in ihren Augen befand: den Willen nach Freiheit. „Es sind unsere Eltern.“, sagte er, wie als müsse er sich selbst noch davon überzeugen. Er senkte seinen Blick und wirkte somit noch kleiner als er es sonst schon ist. Mitleid machte sich in ihr breit. Sie wollte ihren Bruder nicht verletzen. Und auch ihre Eltern wollte sie nicht einfach so verlassen, als ob sie sie nie gekannt hätte. Aber der Ruf in ihr, das was in ihr war und ihr sagte sie solle frei sein, dorthin gehen, wo sie wollte und nicht wo ihre Familie wollte, war so stark, dass ihr Kopf zu zerbersten schien. Und zum ersten Mal schien sie die Chance dazu zu haben. Takeo schien es jedoch nicht viel anders zu gehen. Melaara wusste genau, dass auch er diesen Drang nach Wildheit hatte. Den, den sie gerade erst letzte Nacht entdeckt hatten. Sie verbannte das Thema erstmal aus ihren Gedanken, drehte sich um und wollte das Haus verlassen. „Wohin gehst du?“, Takeo machte einen Schritt näher in ihre Richtung, unschlüssig ob er ihr folgen sollte. „Zu Kayate. wir müssen lernen, schon vergessen?“ „Lernen?“, wiederholte er. „Wieso wiederholst du immer alles! Du bist ein Wolf und kein Papagei!“ Diese Bemerkung schien ihn leicht zu kränken, jedoch wusste sie nicht, ob es nicht einfach nur an dem Grund lag, dass er es nicht gewohnt war „Wolf“ genannt zu werden. Doch das war nun mal seine wirkliche Seele. „Du willst doch sicher auch lernen wie man besser jagt, Fährten liest und was wir vielleicht sonst noch so alles können, oder? Vielleicht weiß Kayate ja sogar mehr darüber warum unsere Eltern es uns nicht erzählen wollten.“ „Natürlich, aber ich verstehe nicht wie Kayate damit im Zusammenhang steht, und noch weniger, warum du ihr erzählen willst was wir sind! Schließlich sollten wir das niemandem erzählen.“ Ach ja… Takeo wusste ja nicht wie sie überhaupt herausgefunden hatte was sie war. „Du hast es noch immer nicht begriffen? Was glaubst du denn wie ich herausgefunden habe, dass es diese speziellen Seelen überhaupt gibt?“, in ihrer Stimme lag eine Herausforderung. Takeos Augen weiteten sich vor Schreck, Neugier und schließlich auch deswegen, weil er verstanden hatte worauf sie hinauswollte. „K-Kayate, sie hat auch eine Tierseele?“, fragte er ungläubig. Doch anstatt ihm eine Antwort zu geben, war sie bereits auf der Straße und auf dem Weg zu Kayates Haus. „Hey, warte auf mich!“, rief er empört. Rasch schloss er die Haustür hinter sich und lief ihr nach. Nach wenigen Minuten standen sie vor dem Holzhaus welches Kayate gehörte. Plötzlich dachte Melaara wieder an den ersten Tag zurück, an dem sie dieses Haus betreten hatte. Es war eine wundervolle Erinnerung an ihre erste richtige Begegnung. Doch jetzt im Moment erkannte sie dieses Haus nicht wieder. Damals wirkte es so unfassbar gemütlich, sowohl von außen, wie auch von innen. Auf einmal jedoch kam ihr der Gedanke, wie Kayate, als schwarzer Wolf durchs Haus streifte, die olivgrünen Augen aus der Dunkelheit heraus glühend. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Sie hatte keine Angst vor Wölfen, ganz im Gegenteil. Lediglich der Gedanke in einem alten Haus wie diesem von einem schwarzen Wolf angegriffen zu werden, versetzte sie in leichte Panik. Für einen Bruchteil der Sekunde dachte sie an den Traum den sie immer hatte. Als der weiße und der schwarze Wolf gegeneinander kämpften. Hatte Kayate etwas damit zu tun? Ihre Gedanken wanderten wie verrückt herum und blieben letztlich wieder an den schauerlichen Gedanken hängen, wie Kayate als Wolf durchs Haus schlich. Ihr Puls beruhigte sich schnell wieder, als sie daran dachte, dass auch sie niemandem auf die Nase binden wollte, was sie wirklich war und dann sicherlich nicht in ihrem eigenen Haus als Wolf herum streifen würde. Takeo blieb hinter ihr stehen als sie dreimal fest gegen die Haustür klopfte. Schon nach kurzer Zeit konnte man ein lautes Poltern im Inneren des Hauses hören, danach Kayates gedämpfte Stimme die durchs Holz drang: „Komme schon, komme schon.“ Als sie die Tür öffnete entfuhr ihr ein erstauntes „Oh!“. Die braunhaarige entgegnete nur mit einem fast gelichgültig wirkendem „Hi.“ „Was gibt’s?“, fragte sie beinahe scheinheilig. „Das weißt du genau.“, Melaara machte ein ernstes Gesicht. Kayate sah etwas unsicher zu Takeo, bevor sie sich dann an die Seite der Wand lehnte. Mit einer Hand deutete sie ins Haus. „Kommt rein.“ Melaara zögerte keinen Augenblick und trat ein, während ihr Bruder noch eine Weile etwas unschlüssig an der gleichen Stelle verharrte. Doch als seine Schwester bereits im Dunkel des Hauses zu verschwinden drohte, beeilte er sich ebenfalls schnell ins Haus zu gelangen.
Als Kayate die Tür schloss, schien es, als sperre sie alles andere ebenfalls aus. Das Wohnzimmer lag vorerst in vollkommener Finsternis, bis Kayate endlich einen Lichtschalter anmachte und an der Decke ein altes flackerndes Licht anging. Sie setzte sich auf den kleinen Couchtisch vor dem Kamin und bedeutete ihnen es sich auf der Couch bequem zu mache. Als sie Beide, etwas verkrampft, da saßen, musterte Kayate zuerst Melaara und dann Takeo. Eine gefühlte kleine Ewigkeit. „Du hast es ihm erzählt?“, fragte sie schließlich an das andere Mädchen gewandt. Diese nickte. „Er ist mein Bruder. Alles was ich weiß, darf auch er wissen.“ Sie konnte spüren wie Takeo sie anlächelte.. „Und was wollt ihr nun von mir?“ „Wir wollen das du uns mehr von der ganzen Sache erzählst. Mehr über diese speziellen Seelen. Und über Wolfsseelen. Wir wollen wissen zu was wir alles in der Lage sind.“, sprach Takeo das erste Mal in der ganzen Zeit. „Ich?“, fragte Kayate entgeistert. „W-Wieso ich? Ihr müsst das alles selbst lernen!“ „Meine Schwester hat mir erzählt, dass du auch eine Wolfseele hast. Und das du um einiges länger davon Bescheid wusstest als wir. Du weißt was es ausmacht solch eine Seele zu haben, wie man damit umgehen kann.“ Kayate schüttelte ungläubig den Kopf. „So viel wie du mir weismachen willst kann ich nicht. Ich kann euch beibringen wie man die wölfischen Fähigkeiten besser einsetzen kann. Ich kann euch das Jagen beibringen, oder vielleicht wie man kämpft, aber alles andere müsst ihr schon selbstrausfinden.“, bei diesem Satz lag ihr Blick vor allem auf Melaara. Fragend sah sie sie an. „Was haben wir denn noch für Fähigkeiten?“ „Manche haben welche, manche nicht. Die Einen wissen wie’s geht, die Anderen müssen es lernen…“ „Sprich nicht in Rätseln.“, beschwerte Melaara sich. „Was ich damit sagen will…“, begann Kayate erneut. „Ich weiß nicht, wer welche Fähigkeiten hat, wie sie funktionieren, wie man sie alle erlernen kann. Ich habe schon Wölfe mit Flügel gesehen, oder Füchse die ihre Gestalt ändern konnten. Auch schon Krähen die Elemente beherrschen konnten.“ „Wie finden wir denn dann heraus welche Fähigkeiten wir noch haben?“, wollte Takeo wissen. „Wie gesagt; Ich weiß es nicht. Zumal ich kein solcher Wolf mit speziellen Fähigkeiten bin, also wieso fragt ich mich das?“, sie wirkte ein wenig genervt. Für sie schien es ziemlich anstrengend zu sein, den Neuankömmlingen ihre Welt und die Dinge zu erklären, welche eigentlich vollkommen offensichtlich zu sein schienen. Doch nichts war offensichtlich. Immer wieder gab es neue Dinge, die Melaara und Takeo erkunden konnten und immer neue Sachen, die sie noch zu lernen hatten. Und Kayate konnte ihnen dabei vielleicht helfen. So leicht würden sie sie diesmal nicht davonkommenlassen lassen. Sie würden sich nicht abwimmeln lassen. „Also gibt es auch solche die keine Fähigkeit haben?“ Kayate nickte schweigend. „Sie können sich in ihre tierische Form verwandeln, und vielleicht ein paar Vorteile daraus ziehen, wie zum Beispiel einen besseren Geruchssinn, oder Gehörssinn. Doch das war‘s dann auch schon.“ Eine beinahe unendliche Zeit herrschte Schweigen und Kayate wurde von zwei Paar Wolfsaugen unerbittlich fixiert. Auch sie schien zu wissen, dass sie diesmal so einiges zu erklären hatte. Doch schien sie ihr Wissen nicht ohne weiteres preiszugeben. „Was wollt ihr von mir?“, wiederholte sie noch einmal monoton. „Unsere Fähigkeiten kennenlernen. Jagen, Fährten lesen… Die Dinge die ein Wolf können muss.“, antwortete Melaara gelassen. „Und eure Eltern?“ „Die werden nichts erfahren. Noch nicht. wir sagen es ihnen, wenn die Zeit reif ist.“, Takeo tauschte einen vielsagenden Blick mit seiner Schwester aus, diese nickte, leicht, kaum merkbar. „Ich kann euch aber nichts zeigen, wenn wir nicht an einem Ort sind, an dem wir alleine sind.“ “Was ist mit dem Wald?“, warf die Braunhaarige ein. „Unsere Eltern sind heute, bis abends, in der Stadt. Wir könnten in den Wald gehen.“ Kayate musterte sie eine Weile. Die Schwarzhaarige hatte ihre Arme inzwischen vor ihrer Brust verschränkt und wirkte so nun noch ernster. „Ein Tag wird jedoch nicht genug sein, um euch alles beizubringen. Zwar besitzt ihr all die Sinne und Fertigkeiten eines Wolfes, doch da niemand sie euch jemals gezeigt hat wie sie funktionieren, werdet ihr alles von vorne lernen müssen. Quasi wie ein Welpe.“ Melaara wusste nicht, ob Kayate sie provozieren wollte, oder ob sie einfach nur versuchte sie aufzuhalten, auf jeden Fall machte ihr Gerede sie wütend. „Wir sind keine Welpen!“, rief sie aufgebraust. Vermutlich etwas zu laut und zu hart als, dass es tatsächlich nötig gewesen wäre. „Wir müssen eben nur lernen uns zu erinnern!“ Kayate war sichtlich überrascht von ihrem Übereifer. Das überraschte Gesicht verwandelte sich jedoch schon sehr bald in ein Lächeln. Es war kein freundliches Lächeln, so wie man es von Kayate kannte. Mehr wie Zähne fletschen. Es wirkte geradezu grausam als sie zu sprechen begann: “Schön. Aber es wird nicht leicht für euch werden.“
Wenige Stunden später befanden sie sich in jenem Wald. Am Tag wirkte alles viel freundlicher, als im Vergleich zu dem fahlen Mondlicht. Die Sonne ließ den See noch viel mehr funkeln. Überall im Wasser waren Lichtreflektionen, so viele, und so funkelnd, dass man glauben konnte sie wären lebendig. Kayate hatte sich am Ufer, genau in der Mitte des Sees hingestellt und ihr Gesicht zum Waldrand gerichtet. Doch sie schaute auf die beiden Wölfe, welche wartend vor ihr standen. Ein weißer und ein brauner, ihre Muskeln angespannt und bereit, jederzeit loszulaufen. Ruhig und gelassen, als wären gar keine Raubtiere, sondern nur zwei Menschen vor ihr, begann sie zu sprechen: “Es gibt noch sehr viele Dinge, die ihr lernen müsst. Aber gleichzeitig müsst ihr euch im Klaren sein, dass ihr keine richtigen Wölfe seid. Ihr seid nur halbe Wölfe. Halb Wolf, halb Mensch. Ihr müsst, auch wenn ihr gerade an der besten Beute nagt, die ihr jemals gefangen habt, daran denken, dass ihr immer noch halb Mensch seid.“ Die Tiere nickten, den Blick gespannt auf das Mädchen gerichtet das vor ihnen stand, die Ohren weit aufgerichtet. Sie fuhr fort: “Nun gut. Ich werde euch das beibringen, was ich weiß. Und zwar in der Reihenfolge, wie es auch richtige Wölfe lernen. Wenn ein Wolf auf die Welt kommt, ist er taub und blind. Er muss seine Sinne im Laufe der Tagen und Wochen schärfen. Ihr seid, so könnte man das sagen, erst vor ein paar Tagen auf die Welt gekommen. Natürlich sind eure Sinne weitaus ausgeprägter als wie die eines Welpen, schließlich seid ihr ja schon viel älter. Dennoch, eure Sinne sind noch lange nicht so stark wie die eines Wolfes in eurem Alter.“ Beim letzten Satz warf sie ihnen einen grinsenden und vielsagenden Blick entgegen. Leise schnaubte die Weiße: “Tussi“ Die Schwarzhaarige ignorierte es gekonnt. „Wir werden also damit beginnen, eure Sinne etwas zu schärfen. Beginnen wir mit der Nase. Wir werden jetzt wohl erstmal Verstecken spielen.“ Die Schwarzhaarige grinste ein wenig und verwandelte sich dann in ihre schlanke Wolfsgestalt. Ihr schwarzes Fell schimmerte geschmeidig im Sonnenlicht, während ihre Augen vor Aufregung funkelten. „Folgt mir erstmal. Hier am See ist Verstecken spielen für euch zu einfach.“ Sie ging um den See herum, auf den Waldrand zu, tiefer in den Wald hinein. Nach einiger Zeit waren sie wieder von dichten Bäumen umringt. Kayate hatte sie in einen besonders schwierigen Teil des Waldes geführt: die Bäume standen so dicht beieinander, dass man kaum geradeaus gehen konnte, das Sonnenlicht fiel so unpassend durch die Baumkronen, dass man immer wieder unvorhergesehen stark geblendet wurde und für einen kurzen Moment die Orientierung verlor. Selbst Kayate war in diesen Mischmasch aus Bäumen nur sehr schwer auszumachen. „Wolfsaugen sind nicht sehr viel besser als das menschliche Auge. Das ist auch der Grund warum wir uns mehr auf unseren Geruchs- und Gehörssinn verlassen. Ihr werdet jetzt die Augen schließen und am besten zehn Minuten oder so warten.“ „Zehn Minuten?!“, rief Takeo entsetzt. „Da bist du ja schon über alle Berge!“ „Ich habe euch doch gesagt, dass es nicht einfach sein wird. Es SOLL ja auch gar nicht einfach sein, sonst lernt ihr ja nichts. Außerdem, wenn ihr eure Nasen benutzt sollte es ein leichtes sein mich zu finden. Vor allem…“, jetzt deutete sie mit ihrer rechten Pfote auf ihre Beine. “Wozu hab ihr so starke Läufe, wenn ihr sie nicht benutzt?“ sie drehte sich um und warf ihnen einen nicht deutbaren Blick zu. „Augen zu. Die erste Prüfung beginnt.“ Wie ihnen gesagt wurde schlossen sie die Augen und konnten am Rascheln der Blätter und Büsche hören, wie Kayate davon sauste. Geduldig, wie es ihnen aufgetragen wurde, warteten sie zehn Minuten lang. Die Zeit schien kaum zu vergehen. Die Aufregung hatte sie inzwischen gepackt. Sie konnte es kaum abwarten los zustürmen und die neue Welt zu erkunden. Auch Takeo schien langsam von ihrem Übereifer etwas abzukriegen. Seine Ohren zuckten wie wild und nahmen jedes noch so kleines Geräusch auf, sein Körper war zum Zerbersten angespannt, auch er konnte es scheinbar kaum erwarten loszulegen. Melaara hatte tatsächlich nicht erwartet, dass er so offen war für diese neue Welt. „Das müssten jetzt zehn Minuten gewesen sein.“, ein Zittern mischte sich in ihre Stimme, darin spiegelte sich ihre Neugierde und Ungehaltenheit. Auch ihr Bruder öffnete geschwind seine Augen. Auf diesen Satz schien er gewartet zu haben und stürmte im Zick Zack zwischen den Bäumen hindurch. „Dann los!“, rief er ihr über die Schulter nach hinten zu. Auch sie tat es ihm gleich und lief geschmeidig, wie ein Wiesel durch die vielen Bäume. Plötzlich jedoch hielt sie an. „Takeo!“, rief sie zu ihrem Bruder, welcher daraufhin ebenfalls abbremste und zu ihr zurücklief. „Was denn? Ich will laufen!“, Ungeduld und beinahe Zorn ließen seine Stimme zittern. „Unsere Aufgabe ist es unsere Nasen zu benutzen. Nicht unsere Läufe.“ Beinahe bedauernd senkte sie den Kopf und begann am Boden zu schnuppern. „Nicht nur unsere Läufe. Noch nicht.“, fügte sie kaum hörbar hinzu. Zögernd folgte Takeo dem Beispiel seiner Schwester und begann seinen Kopf zu senken und eine Fährte aufzunehmen. Der Geruch der Erde mischte sich mit all den Tieren, die hier vorbeikommen waren: Ein paar Eichhörnchen, ein Wiesel, ein Hase. Auch ein Fuchs war zu riechen. Doch von dem Duft eines Wolfes war keine Spur. „Ich kann sie nicht riechen.“, winselte Takeo enttäuscht. „Ich auch nicht. Aber wir dürfen nicht aufgeben.“ Immer mit der Nase am Boden trabten sie zwischen den Bäumen hindurch, immer darauf fixiert Kayates Spur aufzunehmen. Sie versuchten sich in Erinnerung zu rufen wie Kayate roch. Sie roch immer nach Wald, nach Wiese. Aber vor allem duftete sie nach Holz. Nach altem, von Staub bedecktem Holz. Die Weiße sog die Luft so tief sie konnte ein und versuchte all den Gerüchen einen Namen zu geben. Und tatsächlich mischte sich etwas darunter was wie Kayate zu riechen schien. Mit dem Geruch in ihrer Nase, bildete sich vor ihrem geistigen Auge, das Bild von Kayate. Von da an war sie sich sicher: sie hatte eine Spur gefunden. Begeistert und schwanzwedelnd rief sie Takeo zu sich und verkündete die frohe Botschaft. Mit strahlendem Gesicht legte er seinen Kopf auf ihren Hals, was einer Umarmung glich. „Gut gemacht, Schwester.“, jubelte er, jedoch so leise wie er konnte. Vielleicht konnte Kayate ihn hören und würde dann unbemerkt noch weiter davonschleichen. Konzentriert folgten sie der Fährte tiefer in den Wald, sie bewegten sich so leise wie Schatten.
Nach einer kleinen Ewigkeit der Fährtenverfolgung, fanden sie sich auf einer kleinen Lichtung wieder. Am anderen Ende der Lichtung befand sich ein großer Baumstumpf, auf dem sich ein Zusammengerolltes, Schwarzes Etwas befand. Der schwarze Wollknäuel bedeckte fast den ganzen Stumpf und lag im Schatten, den die Blätter der Bäume gerade noch so warfen. Das Etwas bewegte sich kaum merkbar, sanft auf und ab. Es atmete. „Kayate!“, rief Takeo und das schwarze Ding zuckte unweigerlich zusammen. Langsam stellten sich zwei spitze Ohren auf, die vorher vollkommen angelegt und somit nicht zu sehen waren. Dann blickte ein Kopf mit zwei verschlafenen Augen in ihre Richtung. Die olivgrünen Augen waren beinahe vollkommen geschlossen. Kayate rollte sich auf dem Baumstumpf auf den Rücken und streckte faul ihre vier Beine in die Luft, während sie gähnte. „Glückwunsch. Ihr habt mich gefunden…“, murrte sie. Melaara lief ungebremst auf die schwarze Wölfin zu und schubste sie mit einem großen Sprung von ihrem Schlafplatz runter. „Aufwachen!“, rief sie übermütig und stellte sich über die andere Wölfin. Mit einem breiten Grinsen zog sie spielerisch und sanft an Kayates Ohr. Diese strampelte und grunzte zufrieden dabei. „Schon gut, schon gut!“ Die schwarze Wölfin befreite sich geschickt und warf die Andere von sich runter. Danach schüttelte sie den Schlaf aus ihrem Pelz und schien wieder komplett munter zu sein. „Scheint als wären eure Nasen gar nicht Mal so übel.“, grinste sie zufrieden. Stolz plusterte Takeo sein Fell ein wenig auf. “Aber ihr habt ja gerade erst begonnen“, Kayate streckte sich, machte sich lang und zeigte ihre eindrucksvollen Krallen, die beim Strecken noch länger und gefährlicher wirkten als sonst. „Jetzt fängt das Training erst richtig an!“, rief sie. Mehrere Stunden lang befanden sie sich im gleichen Abschnitt des Waldes und spielten das gleiche Spiel unzählige Male, um ihre Nasen zu trainieren. „Wenn ihr einen Geruch länger riecht, kann es sein, dass ihr die Fährte irgendwann nicht mehr wahrnehmen könnt. Man gewöhnt sich sozusagen daran.“, behauptete die schwarze Wölfin. Immer wieder wechselten sie zwischen den Versteckten und den Suchern ab. Kayate jedoch hielt sich bei jedem Mal Suchen zurück und gab lediglich Tipps zur Fährtenaufnahme. Die Zeit verflog rasch und bald war auch schon die Dämmerung eingekehrt. Die Sonne verschwand langsam hinter einem Haufen Wolken und tauchte mit ihren letzten wärmenden Sonnenstrahlen alles in ein tiefes Orange. Sie waren inzwischen zum See zurückgekehrt. Die Sucherei war anstrengend gewesen, und so lagen die Beiden Geschwister dicht beieinander, erschöpft und versuchten hechelnd zu Luft zu kommen. Kayate jedoch schien beinahe gar nicht ermüdet. Trotz des vielen Laufens hechelte sie kaum und schien auch nicht wirklich müde zu sein. Sie stand auf und setzte sich den Geschwistern gegenüber. Diese hatten bereits alle Viere von sich gestreckt und lagen auf dem Bauch. Gespannt und erschöpft sahen sie zu ihr. „Von dem bisschen Laufen seid ihr schon erschöpft?“, fragte sie, beinahe hochnäsig. „Ich sehe schon. Ausdauer Training wird bei euch wohl auch eine große Rolle spielen.“ Melaara hasste es wenn ihre Ausdauer auf die Probe gestellt wurde. Zwar konnte sie, wenn sie wollte, Spitzengeschwindigkeiten erreichen, doch das Tempo hielt sie nie sehr lange durch. Sie hatte sich erhofft, dass es auf vier Beinen leichter und schneller gehen würde, doch so erschöpft wie sie jetzt im Moment war, hatte sie sich wohl geirrt. Das Alles schien nicht eine Sache der Verwandlung und der Kraft der Gedanken zu sein, es hatte mit Training zu tun. Training und viel Übung. Für einen Moment kam in ihr der Gedanke hoch, wieder einfach nur ein Mensch zu sein. Ohne Wolfskräfte, einfach nur Melaara. Schnell schüttelte sie sich um den Gedanken loszuwerden. „Ich hab so viel auf mich genommen“, sagte ihr ihre innere Stimme. „Ich darf und werde jetzt nicht aufgeben!“ Mit einem so heftigen Ruck, dass sowohl Takeo als auch Kayate etwas erschraken, stand sie auf und sah beide entschlossen an. „Dann lass uns trainieren.“, sagte sie mit fester Stimme zur schwarzen Wölfin. „Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben.“ Kayate schien sichtlich überrascht, von ihr zu sein. Mit einem herausfordernden Lächeln stand sie auf und drehte ihnen den Rücken zu. „Wenn das so ist… Zeigt mir doch was ihr draufhabt.“, und mit diesem Satz streckte sie ihre Läufe und spurtete einige Meter weit blitzschnell davon. Noch während sie lief, drehte sie sich plötzlich auf nur einer Pfote so geschickt und elegant um und blickte in ihre erstaunten Gesichter. Sie beugte ihren Oberkörper nach unten und wackelte ein wenig mit dem Hinterteil. Eine Weile verstanden Takeo und seine Schwester nicht, was das sollte, doch dann kam Takeo der Gedanke, dass Hunde die spielen wollen die gleiche Haltung einnahmen wie die schwarze Wölfin. Sie lud zum Spielen ein. „Sie will, dass wir sie fangen.“, noch immer lag er auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt, doch langsam schien Kayate auch in ihm die Neugierde zu wecken und er stand langsam auf. Die Weiße wartete gar nicht auf ihren Bruder und stürzte los zu Kayate. Die schwarze Wölfin drehte sich auf der Stelle um und spurtete davon. Sie war nur einen Hauch schneller als Melaara und ebenso nur noch wenige Wolfslängen von ihr entfernt. Sie war sich sicher, dass sie Kayate fangen könnte, doch dann spürte sie schon, wie ihr Lauf sich verlangsamte und ihre Lungen zu schmerzen begannen. Hechelnd und mit zitternden Beinen wurde sie immer langsamer bis sie schließlich zum Stehen kam. Als Kayate merkte, dass sie nicht mehr verfolgt wurde – die weiße Wölfin hatte angehalten und Takeo beobachtete immer noch gespannt die Situation – blieb sie ebenfalls stehen und drehte sich mit einem halb enttäuschtem halb wütendem Gesicht zu ihnen um. „Was war DAS denn?!“, schnaubte sie. „Ich hätte erwartet, dass ihr wenigstens ansatzweise an mich herankommen würdet. Zeigt mal ein bisschen mehr Einsatz, sonst wird das nie was! Das ist ja eine reine Enttäuschung, und ihr wollt Wölfe sein?“ Wut schäumte in Melaara auf. „DU bist es gewohnt so lange und schnell zu laufen. Wir sind nur, wie sagtest du? Welpen. Welpen, die erst alles wieder erlernen müssen. Du hast selbst gesagt, dass wir nicht alles an einem Tag lernen können“, zu ihrer Überraschung, war Takeo derjenige, der Kayate diese Worte knurrend entgegen geschleudert hatte. Kayate beachtete ihn gar nicht und ließ seine Worte regelrecht abperlen, wie Wasser an einem Regenschirm. „Wölfe sind auf Ausdauer gepolt. Das ist ihre Natur.“, ihre Worte klangen eiskalt und verächtlich. Mit angespanntem Körper stand sie da und beobachtete sie. Sie schien auf etwas zu warten. Melaara hatte inzwischen wieder ihrem Atem gefunden und startete einen erneuten Versuch. Diesmal, entschlossener als zuvor, spurtete sie auf die schwarze Wölfin zu. Diese machte wieder Kehrt und ließ sich einfach im Staub zurück. Doch diesmal blieb die Weiße nicht nach kurzer Zeit stehen. Ihre Läufe flogen praktisch über die Wiese. Die ganze Anspannung schien plötzlich wie verflogen. Sie wusste selbst nicht woran es lag. Vielleicht an Kayates Worten. Vielleicht aber auch daran, dass sie neuen Mut gefasst hatte, als ihr Bruder sie so verteidigt hatte. Beinahe mühelos lief sie über die kleine Ebene und kam der Flüchtenden immer näher. Als sie nur noch knapp eine Wolfslänge von ihr entfernt war setzte sie zum Sprung an um sie endgültig zu erwischen. Doch genau in dem Moment, in dem sie abgesprungen war, machte Kayate eine scharfe Rechtskurve und sie landete, mit der Schnauze voran, in hohem Bogen, in einem Busch. Kayate hatte sie unbewusste zum Waldrand gelockt. Sie hatte noch nicht einmal gemerkt wo sie eigentlich war. Alles was sie wahrgenommen hatte, war der Geruch der schwarzen Wölfin und das Gefühl wie ihre Beine sich immer schneller und stetig voran zu ihrem Ziel trieben. Als sie sich endlich aus dem Busch befreit hatte und mit grimmigem Gesicht zur schelmisch grinsenden Kayate hinüber trottete, lachte diese nur herzhaft: „ Du solltest dein Ziel zwar nie aus den Augen lassen, doch auch nicht deine Umgebung. Wenn du Pech hast, macht das nächste Reh, das du jagst, ne scharfe Linkskurve und du landest im hohen Bogen in einem Distelstrauch.“ Der Gedanke daran über und über mit Disteln bedeckt zu sein gefiel ihr gar nicht und sie schüttelte sich unwillkürlich, was Kayate nur noch mehr zum Lachen brachte. „Schwester…“, Takeo seufzte ein wenig und deutete mit seiner Schnauze zum Himmel. Die Sonne war inzwischen fast schon ganz verschwunden und die Nacht brach herein. Auch Kayate musterte misstrauisch den Himmel: “Tja, eure Eltern werden bald kommen. Wir sollten nach Hause gehen.“ Melaara rümpfte, beinahe angewidert die Nase. „Ich will nicht.“, sagte sie trotzig und ließ sich auf den Boden plumpsen. Ihre Freunde betrachteten sie entnervt. Kayate stellte sich hinter sie und begann damit sie anzuschieben. Takeo tat es ihr gleich. Die Weiße krallte sich fest in den Boden, doch die Erde war zu locker weshalb sie keinen Halt fand. „Lasst mich gehen!“ Zwar wusste sie, dass sie keine Chance gegen die Beiden hatte, dennoch tat sie alles Wolfsmögliche um zu entkommen, jedoch ohne Erfolg. Letztendlich fand sie sich wieder vor ihrem eigenen Zuhause wieder. Inzwischen hatten sich alle wieder Menschengestalt angenommen. Melaara hatte sich anfangs zwar strikt geweigert, musste dann aber doch nachgeben, da sie ihrem Dorf immer näher kamen und somit das Risiko entdeckt zu werden somit immer größer wurde. Langsam kam schon der kleine Garten in Sicht. Die Sonne war nun komplett verschwunden und hatte dem Mond die Aufgabe überlassen, die Welt mit Licht zu erfüllen. Der Mond war beinahe voll und spendete somit genügend Licht um alles perfekt auszuleuchten. Die Braunhaarige schätzte, dass sie wohl in ein zwei Nächten Vollmond haben würden. Sie fragte sich ob er ihnen vielleicht mehr Stärke oder dergleichen verleihen würde. Alle blieben vor der Eingangstür des Hauses stehen. „Dann geh ich mal. Wir sehen uns.“, lediglich mit einem Winken verabschiedete sie sich und war so schnell verschwunden, wie sie als Wolf laufen konnte. „Und jetzt?“, wollte Melaara von ihrem Bruder wissen. „Wie und jetzt?“ „Ich will nicht einfach ins Bett gehen oder auf unsere Eltern warten. Ich bin viel zu aufgeregt! Ich möchte gerne so viel mehr über unsere wahre Seite erfahren!“, rief sie glückserfüllt. „Aber nicht mehr heute. Es ist spät. Und findest du nicht, wir haben heute schon genug gelernt? Mir raucht der Schädel. Ich geh jetzt ins Bett.“ Er ging ins Haus und machte gar nicht erst das Licht an. Sie konnte noch seinen dunklen Schatten von außen vernehmen, als er sich müde in sein Bett fallen ließ. Eine Weile stand sie unschlüssig da und starrte einfach nur zum Mond und zu den Sternen hinauf. Erst jetzt bemerkte sie, dass Takeo sie anscheinend mit der Müdigkeit angesteckt hatte. Ihr fiel es schwer die Augen offen zu halten, ihr Körper fühlte sich wie Blei an und ihre Beine zitterten leicht unter ihrem Gewicht. Gähnend begab auch sie sich ins Bett. Nur wenige Momente später was sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Diese Nacht hatte sie wieder einen Traum. Er war anders als die Träume zu vor. Unheimlicher, dunkler. Und doch so real. Sie träumte davon, dass sie angekettet war, in einem dunklen Raum den sie nicht kannte. Der Raum war nur durch eine kleine Glühbirne an der Decke von schwachem, flackerndem Licht durchströmt. Im Raum selbst befand sich nichts außer einer schweren Eisentür mit einem kleinen Fenster gegenüber von ihr. Die Wände waren aus Stein, als hätte man sie in eine Höhle geschlagen. Blut rann über ihren Körper: sie hatte schwere Verletzungen überall, als hätte man sie mit einer Peitsche geschlagen oder mit einem Messer verletzt. Sie keuchte und atmete schwer. Plötzlich hörte sie eine tiefe, grollende Stimme. Wehre dich! Bekämpfe sie! Lass keine Gnade walten! Im selben Moment öffnete sich die schwere Eisentür und ein Mann in einem weißen Kittel kam herein. Er hatte zerzauste blonde Haare, eine Brille sowie eine große Narbe im Gesicht. In der Hand hielt er ein Klemmbrett mit angebundenem Stift. „Dann wollen wir mal sehen…“, sprach er gedankenverloren und kam immer näher. „Diesmal wirst du ein braves Mädchen sein, nicht wahr? Du weißt ja was sonst passiert.“, seine Stimme war bedrohlich ruhig und jagte Melaara eine Heidenangst ein, gleichzeitig fühlte sie, wie die Wut in ihr hochkroch, als sie begriff, dass sicherlich der Mann an diesen Verletzungen Schuld war. Er kramte einen Schlüssel aus einer der Taschen an seinem Kittel hervor und schloss damit die schweren Eisenketten auf, die sich an der Wand festhielten. Als die schweren Ketten mit einem Rascheln auf den Boden fielen, hörte sie wieder die gleiche Stimme wie vorher, diesmal jedoch wütender und aggressiver als zuvor. Jetzt! Töte ihn! Zeige ihm, dass man einen Wolf nicht einsperren kann! Beinahe als wäre sie in Trance, machte sie einen großen Satz nach vorne, verwandelte sich dabei in ihre Wolfsgestalt und drückte ihre Pfoten so fest auf den Brustkorb des Mannes, dass dieser kaum noch atmen konnte. Knurrend und zähnefletschend stand sie über ihm, das Fell gesträubt, die Augen weit aufgerissen vor Wut. Ihre Stimme und die grollende Stimme in ihrem Inneren vermischten sich, als sie zu sprechen begann: “Na, was wirst du jetzt tun? Antworte mir, schwächlicher Mensch!“ Der Mann starrte sie mit furchterfülltem Gesicht an und zitterte am ganzen Leib, soweit sie es zuließ. „Ich werde euch zeigen, dass die erbärmlichen Menschenseelen keine Chance gegen die Zähne und Krallen von uns Wölfen haben. Und schon gar nichts gegen unseren Stolz!“, knurrte sie erbost und drückte die Krallen ins Fleisch des Mannes, der vor Schmerz und Angst laut aufschrie. Um es noch unerträglicher zu machen biss sie ihm mit aller Kraft in seine Schulter, als dabei ein lautes Knacken ertönte knurrte sie zufrieden. Sie hob ihn hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Er prallte hart ab und lag zucken und schwer keuchend am Boden. Das Blut des Mannes schmeckte herrlich. Süß, sauer und salzig zugleich. Gierig schluckte die Wölfin es hinunter. Der Mann richtete sich schwer auf und drehte sich mit entsetztem Gesicht zu ihr um. Blut rann von seiner Schulter und von seinem Kopf und tropfte auf den Boden. Immer noch knurrend und voller Wut kam sie langsam auf den Menschen zu, hypnotisiert von dem Blut das sich langsam als Lacke auf dem Boden verteilte. Er rollte sich wie ein kleines Bündel zusammen und zitterte vor Angst. Einerseits erfreute Melaara dieser ehrfürchtige Anblick. Und gleichzeitig wusste sie nicht mehr ob es richtig war was sie da tat. Alles wirkte als würde sie es nur noch durch einen grauen Schleier der Wut sehen. Es lähmte sie, schien ihren Körper förmlich zu kontrollieren. Als sie schließlich erneut über ihm stand – er sah sie traumatisiert an und wartete nur noch auf den finalen Biss in die Kehle – sprach die andere Stimme wieder. Bring es zu Ende. Er ist nur ein Mensch. Er hat es verdient. Alle menschlichen Seelen haben es verdient. Sie schluckte das restliche Blut hinunter, welches sich in ihrem Maul befand. Doch diesmal schmeckte es anders als zuvor. Nicht mehr so süß, sondern viel mehr bitter und säuerlich. Zögernd starrte sie auf den Schwächlichen unter ihr. „Aber er kann sich nicht wehren…“, antwortete sie der anderen Stimme in ihr. Er ist Beute! Töte ihn! Wie ein Blitz durchzuckte sie ein wilder Impuls und ließ sie ihren gefährlichen Kiefer öffnen und der Kehle des Mannes immer näher kommen. Sie versuchte es nicht zu tun. Wehrte sich gegen ihren Körper, der sich immer näher zur Kehle bewegte. Ihr Kopf sagte ihr, dass es falsch war was sie tat, genauso wie ihr Herz, doch ihr Körper wollte nicht auf sie hören, bewegte sich außerhalb ihrer Kontrolle. Noch einmal durchfuhr sie ein Impuls, wie ein elektrischer Schlag und sie schloss blitzschnell die Zähne um den Hals des Mannes. Dieser gab ein erstickendes, gurgelndes Geräusch von sich, während das Blut aus seiner Kehle strömte. Die Augen vor Angst weit aufgerissen, zuckte er wie wild und versuchte sich verzweifelt aus ihrem Griff zu befreien. Ohne Erfolg. Langsam entschwand das Licht aus seinen Augen und er hörte auf sich zu bewegen, bis er schließlich in ihrem Maul erschlaffte. Mit einem Knurren löste sie sich von dem Mann und ließ seinen Körper gleichgültig auf den Boden fallen. Spürst du nicht, wie gerecht das ist? Wie gut die Dunkelheit und die Wut sich in deinem Herzen anfühlen? Sie starrte auf den leblosen Körper. Blut tropfte aus ihrem Maul, direkt auf den Toten. Melaara war entsetzt. „Es fühlt sich nicht gut an…“, flüsterte sie verzweifelt. „Ich… ich habe einen Menschen getötet…“ Einen der dich verletzt und beinahe getötet hätte. Er verdient den Tod! „Niemand verdient den Tod!“ Jede Menschenseele verdient den Tod! „Nein!“, plötzlich wurde ihr Körper von einem schmerzhaften Pochen und Ziehen durchströmt. „Aaargh!“ sie schrie und winselte, krümmte sich auf dem Boden vor Schmerzen. Ihr Kopf fühlte sich an als würde er jeden Moment zerbersten. „Ich bin kein Monster!“, schrie sie so laut, dass es in der ganzen Höhle widerzuhallen schien, obwohl sie in ihrer Wolfsgestalt war, der nichts weiter als ein Knurren und Winseln entwich. Niemand konnte sie hören. Die Dunkelheit in deinem Herzen macht dich zu dem was du bist. Jeder hat Finsternis in seinem Herzen, die niemals verschwindet und uns zu dem macht was wir sind: Wölfe! Selbst die grollende Stimme in ihrem Inneren schien Schwierigkeiten haben zu sprechen. Auch sie wurde von Schmerz erfüllt. Finsternis ist des Herzens wahre Macht! „Die Finsternis wird mich niemals besiegen!“, schrie sie gequält kratzte mit den Pfoten so fest über den Stein, dass sie zu schmerzen und zu bluten begannen. sie stemmte sich gegen den Boden und kam schließlich zu stehen, wenn auch noch immer zitternd und von Schmerzen durchzogen. Gib auf! Du kannst die Dunkelheit nicht unterdrücken! „Und wie ich das kann!“ schrie sie ein letztes Mal, bevor sie plötzlich in Dunkelheit gehüllt wurde. Wie schwarze Flammen umgab sie die Finsternis. Der Schmerz wurde so unerträglich, dass sie dabei war das Bewusstsein zu verlieren. Das Letzte was Melaara wahrnahm war als sich das schwarze Feuer von ihr entfernte und zu einer Gestalt wurde. Ein knurrendes schwarzes Wolfsgesicht mit roten Augen starrte ihr entgegen, umgeben von dem Schatten eines männlichen Gesichts mit mittellangen schwarzen Haaren. Die grollende, dunkle Stimme, die zuvor aus ihrem Inneren kam, kam nun aus dem Mund des Unbekannten vor ihr: „Ronin. Der Samurai ohne Meister. Dein Schatten und dein Anderes Ich. Der andere Teil deiner Seele. Werde stärker, Melaara. Sonst wird die Dunkelheit über das Licht triumphieren.“ Sein Gesicht war eiskalt und drohend. Das smaragdgrüne Paar Augen starrte ihr wütend entgegen, fixierte sie, bevor sich ihre Augen langsam schlossen und sie schließlich ganz das Bewusstsein verlor und ins schwarze Nichts taumelte. Melaara erwachte, wie sie aus fast jedem Traum erwachte: Keuchend, mit weit aufgerissenen Augen, zitternd und voller Angst. Ihr Bruder hatte sie mit seinen Händen fest an der Schulter gepackt. Schweiß rann über seine Stirn, und die Angst stand ihm so stark ins Gesicht geschrieben, wie sonst noch niemals zuvor. „Schwester!“, rief er verzweifelt und erleichtert zugleich. Er ließ sie langsam los, immer noch wachsam und vorsichtig, als könnte sie jeden Moment zerbrechen. „Du hast nur schlecht geträumt…“ Er nahm seine Schwester vorsichtig in den Arm. „Ein Traum...“, wiederholte sie zögernd. Es war mehr eine Frage an sie selbst. War es wirklich ein Traum? „Ronin…“ „Was?“ Ihr Bruder sah sie verdutz an. „Der Samurai ohne Meister.“ Er starrte sie vollkommen fassungslos an und musste wohl denken, dass sie nun komplett den Verstand verloren hätte. Er fuhr ihr sanft durchs Haar. „Ich glaube du hast dir aus Versehen, beim schlechten Träumen den Kopf gestoßen.“ Er untersuchte sorgfältig ihren Kopf auf Wunden. Als er jedoch keine finden konnte strich er ihr noch einmal vorsichtig durchs Haar. „Versuch zu schlafen. Es war nur ein schlimmer Traum.“, versuchte er sie zu beruhigen und ging zu seinem Bett zurück. Ihre Eltern waren scheinbar noch nicht zurückgekommen. Sonst wären sie längst ins Zimmer gekommen um zu sehen wer da so schreit als wäre er oder sie gerade dabei sich qualvollen Schmerz zuzufügen. Melaara machte ihr keine Sorgen. Wahrscheinlich verbrachten sie den Abend noch in einem Restaurant oder bei Freunden. „Nur ein Traum…“, wiederholte sie, als müsse sie sich selbst noch davon überzeugen und legte sich vorsichtig mit dem Kopf aufs Kissen. Wie gewohnt starrte sie aus dem Fenster. Und wenn sie nicht solche Panik gehabt hätte und diesen Traum nicht vorher gehabt hätte, hätte sie schwören können, dass sie einen Mann mit smaragdgrünen Augen und schwarzen Haaren vor ihrem Fenster stehen sah, der sich in die Nacht flüchtete.
Der nächste Morgen begann wie jeder andere. Melaara wachte früh auf und machte sich für die Schule fertig. Takeo tat es ihr gleich. Nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg zu Kayate, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Mit ihren Eltern hatte die Braunhaarige kaum ein Wort geredet. Sie wusste nicht ob es daran lag, weil sie müde vom gestrigen „Training“ war, oder weil sie befürchtete man könne aus ihrer Stimme eine Wölfin sprechen hören. Melaara war noch halb in Trance, selbst als sie vor Kayates Tür standen und im langweiligem Unterricht saßen. Bald standen die Weihnachtsferien vor der Tür, das war auch der Grund, weshalb ihre Schule heute eine kleine Klassenfeier veranstaltete. Zugleich fand auch in der Schulaula eine Feier statt. Diese bestand jedoch lediglich aus einem Gottesdienst, wo das einzig „Feierliche“ daran, die Lieder waren. Melaara liebte Weihnachten, und vor allem den Winter sehr. Der Tag im Winter an dem der erste Schnee fiel, war für sich der Tag an dem die Weihnachtswunder begannen: der Duft nach Keksen, nach Zimt, nach den Nadelbäumen und natürlich der Geruch nach Schnee. Alles davon versetzte sie jedes Mal in neue Entzückung. Dieses Jahr war alles noch einmal einen Hauch mehr besonders. Würde sie den Schnee schon Tage vorher spüren, bevor er fiel? Was den Winter und Weihnachten betraf fühlte sie sich immer wie ein kleines Kind, doch bei diesen Gedanken dies alles als Wölfin wahrzunehmen… Ihr Herz pochte mindestens doppelt so schnell als sonst. Der Gottesdienst erstreckte sich über zwei, scheinbar endlos lange, Stunden. Als das „Ding-Dong“ einer scheinbar großen alten Glocke endlich ertönte, rappelte sie sich auf und ging gemeinsam mit ihren Mitschülern in die Klasse zurück. ihre Schule war sehr groß und man konnte sich, zumindest wenn man neu hier war, sehr leicht verlaufen. Ihr Klassenzimmer lag ganz am Ende des Ganges im Erdgeschoss. Als der Gottesdienst endlich vorbei war, schleppte sie sich, zusammen mit Kayate und Takeo, in die Klasse. „Ich hasse Gottesdienste...“, Kayate hatte ihre Arme hinter ihrem Kopf verschränkt und lief gelangweilt neben den Anderen her. „Ich hätte heute viel lieber frei gehabt und ein wenig… trainiert.“, antwortete Takeo, beinahe flüsternd. Die schwarze Wölfin warf ihm einen ernsten Blick zu, wandte ihn jedoch schnell wieder ab. Sie wusste ebenso gut wie Melaara, dass Takeo niemals etwas ausplaudern würde. Plötzlich spürte Melaara, dass sie jemand von hinten anstarrte. Die Blicke bohrten sich beinahe in sie. Sie drehte sich leicht, um zu sehen wer hinter ihnen war. Drei Mädchen schlichen hinter den Freunden her. Eines mit langen blonden Haaren, eines mit roten lockigen und ein drittes mit glatten braunen. Immer wieder sahen sie sich an und kicherten hinterlistig, bevor sie wieder zu ihnen sahen. Wie kindisch musste man den bitte sein um in diesem Alter noch ein derartiges Verhalten zu zeigen? Melaara verdrehte die Augen. Das Mädchen mit den roten Locken war Sydra. Das, mit den Braunen, Kelia und das Mädchen mit den blonden Haaren Leiko. Diese drei waren die beliebtesten Mädchen der Schule. Sie wurden von allen angehimmelt. Aber genau so sehr, wie sie beliebt waren, genau so arrogant waren sie auch. Wenn sich ihnen jemand in den Weg stellte wurden sie gnadenlos schikaniert und fertig gemacht. Sie hatten schon zahlreiche Schüler dazu gebracht, die Schule zu wechseln. Leiko war so etwas wie die Anführerin der drei. Die anderen Beiden folgten ihr auf Befehl und taten alles was Leiko ihnen sagte. „Schoßhündchen. Kleine keifende Chihuahuas.“, ging es Melaara durch den Kopf. Die Beschreibung schien perfekt auf sie zu passen. In letzter Zeit hatten sie es vor allem auf Melaara und ihre Freunde abgesehen. Schon am ersten Tag, konnte sie diese Mädchen nicht leiden. Sie schienen sich immer für etwas Besseres zu halten als die Anderen und als sie ihnen erzählte sie seien genauso wie alle anderen, war sie zum Opfer der Barbies geworden. Leiko und die Anderen stellten sich vor der gesamten Klasse bloß, erzählten fiese Gerüchte, oder baten sogar einige Jungs darum sich und ihrem Bruder zu verprügeln. Melaara selbst musste noch nicht einmal Verletzungen bei einem Kampf einstecken. Selbst wenn sie gegen Jungs kämpfen musste die doppelt so groß waren wie sie, konnte sie sich mit ihrer Schnelligkeit und vor allem wütenden Beiß- und Kratzattacken davor schützen verletzt zu werden. Ganz zu schweigen von ihrem Tritt in die Weichteile. Nach einigen dieser Attacken, weigerten sich sogar berüchtigte Prügelknaben sich ihr auch nur zu nähern. Bei ihrem Bruder sah das anders aus. Takeo versuchte meistens gar nicht erst sich zu wehren. Er war ohnehin zu klein und hatte kaum Kraft. Ihren Eltern erzählten sie nichts davon. Sie sagten sich selbst immer und immer wieder vor, dass dies ihre Sache sei und sie selbst damit zurechtkommen müssen, was ihnen bisher auch einigermaßen gelang. Als die Mädchen weiterhin hinter ihnen tuschelten und flüsterten durchzuckte Melaara ein Impuls. Wut. Genauso wie gestern Nacht im Traum, spannten sich ihre Muskeln plötzlich an. Sie dachte an die vielen Male, an denen sie von den Mädchen bloßgestellt wurde. Die Wut bahnte sich langsam ihren Weg nach oben, doch Melaara verdrängte ihn einfach mit einem tiefen, genervten Seufzen. Sie wollte nicht enden wie letzte Nacht im Traum. Innerlich jedoch, gefiel ihr der Gedanken daran, über einem der Mädchen zu stehen. Mit gefletschten Zähnen, knurrend, bereit ihnen das Leben aus dem Körper zu reißen. Ein kleines grausames Grinsen schlich über ihre Lippen. Schnell schüttelte sie den Kopf und verscheuchte den Gedanken. „Ich bin kein Monster.“, sagte sie zu sich selbst. Es war nicht mehr als ein Flüstern, beinahe, als hätten sie zwar ihre Lippen bewegt, jedoch fehlten die Wörter. Kayate und Takeo mussten es bemerkt haben, denn sie starrten sie mit etwas verwundertem Ausdruck an, sagten jedoch nichts. Als schließlich die Tür des Klassenzimmers in Sicht kam, drängten sich die drei Mädchen hinter ihnen vorbei und versperrten den Weg. Angespannt schluckte Melaara. Ich bin kein Monster. Leiko stand in der Mitte. Die Hände auf den Hüften mit herablassendem Blick musterte sie die drei Freunde. Ihre braunen Augen funkelten arrogant, als sie zu sprechen begann: „Na Melaara? Alles klar?“ Ihre Stimme klang ganz und gar nicht freundlich. Wäre sie ein Wolf gewesen hätte ihr Fell sich wohl aufgestellt. Doch sie hatte nur eine Menschenseele. Niederer Mensch. Melaara starrte ebenso kalt und desinteressiert zurück. „Alles bestens.“, antwortete sie ruhig, doch warf allen drei Barbies ein wütendes Funkeln zu. Sie konnte spüren, wie ihre Freunde neben ihr, ihre Muskeln versteiften und die Mädchen ebenso wütend anstarrten. Kayate sah so aus, als hätte sie große Schwierigkeiten nicht zu knurren und auf die Anderen loszugehen. „Wirklich? Deine Haare sehen nicht so aus. Hast du dir ein Eichhörnchen auf den Kopf gesetzt?“, Leiko sprach laut genug, damit sich alle Köpfe zu ihr umdrehten und den „Showdown“ gespannt beobachten. Einige Schüler lachten nervös als sie die Bemerkung hörten. „Dein Make-Up sieht auch so aus, als hätte dich ein Clown geschminkt.“, warf Sydra ein. „Gibt’s die Hose auch in Normalgröße?“, sprach Kelia herausfordernd weiter. „Haltet Mal die Luft an Mädels.“, Kayate klang gefährlich ruhig. „Was willst du denn, Kräuterhexe? Als würden deine Haare besser aussehen.“, zischte Sydra ihr zu. „Zumindest besser als die Haare einer verlogenen Hydra“, schnauzte sie zurück. „Die Hydra ist ein neunköpfiges schlangenähnliches Ungeheuer der griechischen Mythologie. Wenn es einen Kopf verliert, wachsen an dessen Stelle zwei neue.“, prahlte Kayate. „Kann man jetzt leider nicht von dir behaupten. Du kommst ja nicht mal mit einem Kopf klar. Drei Köpfe ohne Gehirn sind für das Allgemeinwohl auch einfach zu viel.“ Melaara fand diese Bemerkung äußerst passend, denn Sydra hatte in der Tat etwas Schlangen-ähnliches an sich. Selbst ihr Name klang nach Hydra. Kayate grinste zufrieden als Sydra die Zähne zusammen biss und ein und ein Schimpfwort zischte. Inzwischen hatten sich schon jede Menge Schüler um sie gescharrt. Beinahe alle standen hinter Leiko und ihrer Gang und feuerten sie an. „Willst du nicht zu deiner Wolfsmami zurückgehen?“, warf Kelia ein. Kayate zeichnete oft Wölfe und war fast in der ganzen Schule dafür bekannt, Wölfe über alles zu lieben. Genauso wie sie schimpfte sie sich spaßeshalber selbst als „einsamen Wolf“. Wie passend das doch war, wie Melaara erst vor kurzem rausgefunden hatte. Kelia und die anderen Beiden schien das nur recht zu sein und so machten sie sich zu jeder gegebenen Zeit über sie lustig. „Wenigstens hätte meine Mutter nicht mit so etwas wie dir zurechtkommen müssen.“, konterte Kayate. Die Zuschauer keuchten gespannt und warteten auf die passende Gegenantwort. „Zumindest HAT sie eine Mutter!“, rief ein Junge aus dem Publikum. Die Mädchen und auch die Schüler lachten laut. Kayate war ohne Eltern in diese Stadt gekommen. Obwohl sie erst sechzehn Jahre alt war, musste sie ganz für sich selbst sorgen. Sie sprach nicht viel von ihren Eltern. Das einzige was über sie bekannt war, war das sie angeblich in einem Gefängnis in Shianril gefangen gehalten wurden. Solch vagen Gerüchten schenkte jedoch kaum einer Beachtung. Diesmal war es Kayate, die dem Jungen einen giftigen Blick zuwarf und ein Schimpfwort entgegen zischte, was ihn und den Rest der Schüler jedoch nur noch mehr zum Lachen brachte. „Lass sie gehen, Schwester. Diese Menschen sind unserer Aufmerksamkeit nicht würdig.“, wandte sich Takeo an sich. Melaara nickte nur stumm und warf Kayate ebenfalls einen vielsagenden Blick zu. Als diese noch einmal mit geballten Fäusten und beinahe gefletschten Zähnen die Mädchen vor ihnen anstarrte, packte sie sie sanft am Arm und zog sie aus der Menschenmasse raus. „Widerliche Menschenseelen…“, sie spuckte die Bemerkung den Mädchen förmlich ins Gesicht. „Du bist auch ein Mensch!“, rief Kelia spottend nach. „Ja, aber wenigstens einer mit Gehirn“, murrte sie. Sie kümmerten sich gar nicht mehr darum. Melaara war das alles schon gewohnt. Ihre Klasse hatte sie ebenfalls schon lange abgeschrieben. Sie hasste ihre Mitschüler genau so sehr, wie sie sie hassten. Als sie sich durch die Menschenmassen drückten, die immer noch wie wilde Tiere johlten und aufstampften vor Lachen, bemerkte die Braunhaarige, das ein Lehrer in Mitten des Auflaufs stand. Sie kannte den etwas älteren Herren mit Brille und grauen zerzausten Haaren nicht, doch sie wurde wütend. War es nicht die Aufgabe eines Lehrers solche Aufstände zu verhindern? Als sie an ihm vorbei kam, warf sie dem ebenfalls feixenden Lehrer einen tödlichen Blick zu und schüttelte herablassend den Kopf. Ob er wohl nicht verstanden hatte, dass all diese Bemerkungen nicht freundlich gemeint waren? Natürlich hatte er das verstanden. Doch er war nur ein Mensch. Genauso dumm wie alle anderen. Sie waren endlich am Ende des Ganges in der Klasse angekommen und gingen, beinahe locker zu ihren Sitzplätzen. In der letzten Reihe, in der äußersten rechten Ecke, war Melaaras Sitzplatz. Nur sie, Kayate und Takeo saßen dort. Von allen anderen wurden sie gemieden wie die Pest. Das war ihr nur recht so. Sie hatte keine Lust sich mit irgendwelchen Menschen anzufreunden. Schon gar nicht, wenn die Möglichkeit bestand, dass die Freundschaft nur auf Lügen aufbauen könnte. Melaara hatte es schon einmal erlebt. Damals, als sie mit Kelia befreundet war. Sie waren einmal beste Freunde gewesen, bis Leiko und Sydra kamen. Sie erzählten Gerüchte über sie und ließen nichts unversucht um Kelia für sich zu gewinnen. Letztendlich hatte Kelia ihnen nachgegeben und Melaara hintergangen. Noch immer erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie mit Kelia ausgemacht hatte, sich vor ihren Stammladen zu treffen. An diesem Tag hatte sich alles verändert. Als Kelia schließlich, selbst nach mehreren Stunden Wartezeit nicht auftauchte und auch am darauffolgenden Tag nicht mehr mit ihr sprach, wusste sie, dass es vorbei war. Melaara hatte ihr Herz verschlossen und wollte es für niemanden, außer für ihren Bruder, öffnen. Kayate jedoch schien ein Schlupfloch gefunden zu haben. Sie war aufgetaucht und Melaara hatte sofort das Gefühl ihr Vertrauen schenken zu können. Nun verstand sie auch warum. Wolfsseelen schienen zusammenzugehören, auf eine Art und Weise die sich ihr noch nicht ganz erschloss. Langsam jedoch, wurde dies alles zu Nichte gemacht und sie hatte Sorge auch Kayate an die drei anderen zu verlieren. Letztendlich fasste sie den Schluss, dass es nicht so bleiben konnte. Sie wollte nicht miterleben müssen, wie sie Kayate oder Takeo verlor. Sie wollte nicht miterleben, wie sie weiterhin von den Mädchen und dem Rest der Diapdra Golden School ausgelacht und gehasst wurde. Sie wollte etwas ändern, wollte fort und alles vergessen. Und sie wollte es bald tun. Ihre Entscheidung stand fest. Niemand konnte sie mehr ändern. Sie würde es schaffen. Mit ihren neu gewonnenen Fähigkeiten konnte sie alles schaffen. Außerdem hatte sie den Stolz gefunden. Den Stolz der eine Wolfsseele ausmachte, der wie ein großes Feuer zu brennen schien, und sie am Leben hielt. Und bald würde sie diesen Stolz benutzen um eine Veränderung herbei zu führen.
Kapitel 3: Neue Welten
Ihre letzten Tage verliefen genau wie jeder andere. Mit dem Unterschied das ihre Gedanken sich nur um eines drehten. Das Mädchen wartete geduldig die Zeit ab bis die Nacht zum Aufbruch nahte. Die Welt schien tief und fest zu schlafen, als das Mädchen sich in jener Nacht darauf vorbereitete zu verschwinden. Sie war nicht sicher, ob Freunde oder Familie an jenem Tag gemerkt hatten, was sie vorhatte, doch Takeo schien an diesem Tag besonders auf sie aufzupassen und Kayate warf immer wieder schüchtern einen Blick zu ihr, wenn sie gerade nicht hinsah. Selbst die Schüler und die Lehrer schienen zu spüren, dass ein Abschied nahte und waren fast freundlich. Als sie sicher war, dass alle eingeschlafen waren, und auch sicher nicht aufwachen würden schlich sie sich aus dem Bett, hinüber zur Kommode. Sie hatte neben ihrem Bett, einen braunen Rucksack stehen gehabt, in den sie nun hastig, jedoch vorsichtig, ihr Gewand einpackte. Sie nahm nur das allernötigste mit. Am Ende hatte sie zwei Hosen, ein T-Shirt, einen Pullover, eine Weste sowie eine warme Decke eingepackt. Der Rucksack war bereits ziemlich voll, doch sie wagte es nicht eine größere Tasche mitzunehmen. Es würde ihre Mobilität wahrscheinlich sehr einschränken. Es fehlte nur noch das Essen, welches sie noch am Abend vorbereitet hatte. Am Abend gab es leckere Brötchen zu essen, da Kayate zu Besuch war. Sie hatte extra einige Brötchen zu viel gemacht, die niemand aß und sie „bedauernd“ in den Kühlschrank gestellt. Sie schlich in die Küche und stopfte die in Alufolie gewickelten Brötchen so wie eine große ein Liter Wasserflasche in den Rucksack und bewegte sich zur Haustür. Sie hatte sich vor dem Schlafen gehen nicht umgezogen und trug nun ein lila Kleid, welches von einer weißen Schleife an der Hüfte zusammengebunden war. Darunter trug sie ein Paar dicke, schwarze Leggins. Das Kleid war an den Seiten geöffnet und ließ ihr somit genügend Beinfreiheit zum Laufen und Kämpfen. Schließlich hatte Kayate ihnen noch am selben Tag gezeigt, wie sie ihre wölfischen Fähigkeiten auch in menschlicher Form verwenden konnten. Sie konnte sich nun viel schneller bewegen und ebenso kräftige und verheerende Faustschläge und Tritte austeilen. Inzwischen hatte sie ein Paar Turnschuhe in ihren Rucksack gepackt und ihr selbst ein etwas älteres Paar angezogen. Dann zog sie ihr noch einen längeren, warmen Wintermantel an, hängte sich den Rucksack um und öffnete die Tür. Ein kühler Windhauch griff nach ihr und lockte sich in die Dunkelheit hinaus. sie schlich hinaus in die Finsternis und drehte sich noch einmal zögerlich um, um in ihr vertrautes Heim zu blicken. Ein letztes Mal dachte sie an all die schönen Dinge, die ihr hier passiert waren und für einen kurzen Augenblick, dachte sie daran umzukehren. Doch sie schüttelte entschieden den Kopf, verdrängte den Gedanken schnell wieder aus ihrem Kopf, drehte sich um und lief weg, fort von ihrem Haus, fort von Kayate, fort von Diapdra. Während sie durch die Nacht spurtete, stellte sie sich ihr die Gesichter meiner Familie vor, wenn sie den Zettel lesen würden, den sie ihnen hinterlassen hatte. Sie war nicht gerade der Typ für große Abschiedsworte. Also schrieb sie lediglich, dass sie auf eine Reise gehen wollte. Es sei ok so, denn sie habe einiges gelernt in letzter Zeit, sie würde sich gegen jeden Feind ohne Probleme behaupten können. Takeo würde auf die Knie fallen und sein Gesicht in den Händen vergraben, damit niemand sehen konnte dass er weinte. Doch seine zuckenden Schultern würden ihn verraten. Sayo würde sich an ihren Mann lehnen und ihren Kummer in ihn hinein schluchzen und Teshi würde einfach nur ungläubig den kleinen, schäbigen Brief anstarren. Er würde nicht wütend werden, auch nicht total panisch. Er würden seufzen und versuchen die Ruhe zu bewahren, bevor er dasselbe auch seiner noch übrigen Familie raten würde. Dann würde er Takeo fragen, ob er etwas ahnte. Und sie war sich nicht sicher wie die Geschichte dann weiterlaufen würde. Zwar kannte sie ihrem Bruder sehr gut, doch seit er herausgefunden hatte, dass er ein Wolf war, hatte er sich verändert. Er war mutiger und unvorhersehbar geworden. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie die Geschichte weitergehen würde. Entweder er würde ihren Eltern sagen, dass er herausgefunden hatte, was sie wirklich waren und er die ganze Zeit Bescheid wusste, dass seine Schwester hier unglücklich war, oder er würde still sein, den Kopf schütteln und so tun als hätte er nichts gewusst. In beiden Fällen jedoch würde es damit enden, dass sich alle auf die Suche machen würden. Doch da sie inzwischen schon den Rand der Stadt erreicht hatte, und genau in diesen Moment auf die vielen funkelnden Lichter Diapdras schaute, würden sie sie nicht mehr finden und verzweifelt aufgeben müssen. Ihr fiel ein, dass Takeo sich ihr vielleicht anschließen könnte. Vielleicht würde auch er einen solchen Brief schreiben und sich dann selbst und alleine auf die Suche nach ihr machen, ganz zum Unglück ihrer Eltern. Doch wenn hier jemand alleine machen konnte was er wollte, dann war das Kayate. Sie würde höchstwahrscheinlich alles stehen und liegen lassen, wenn sie erfahren würde, dass sie weg war. Kayate würde alle ihre Sachen packen und die Verfolgung aufnehmen, wie ein Spürhund der Polizei. Schließlich war es allen, bis auf ihr und Takeo egal wenn Kayate verschwinden würde. Man würde sich wohl für ein, zwei Tage wundern, wo die aufgekratzte Verrückte abgeblieben war, doch auch diese Stimmen würden schnell verschwinden. Sie hatte einen hohen Hügel erklommen und blickte ein letztes Mal auf ihre Heimatstadt, bevor sie sich endgültig umdrehte und in der Nacht verschwand. Sie hatte sich in ihre tierische Seite verwandelt und ließ sich von ihren Pfoten hinter den Wald tragen, der am Stadtrand wuchs. Erstmals wunderste sie sich was eigentlich mit den Anziehsachen und dem Rucksack passiert war. Sie war eine reine Wölfin, mit nichts am Körper als ihrem weißen Pelz. Scheinbar verschmolzen alle Klamotten und Gegenstände am Körper einfach mit der tierischen Seele. Die Weiße hatte das Gefühl dass all ihre Sachen noch an ihrem Körper waren. Das Gewicht schien kaum spürbar an ihrem Körper zu haften. Ihr Rücken fühlte sich schwerer an als sonst. Der Wald durch den sie lief war nicht im Geringsten wie der hinter ihrem Haus. Er war heller, ließ mehr Mondschein hindurch und war auch von weniger Wurzeln, die aus der Erde hervorstanden, verunstaltet. Doch gleichzeitig war er auch unheimlich. Er gab nicht diese Wärme und dieses heimliche Gefühl von sich wie Zuhause. Eine Bedrohung und unheimliche Stille schien von ihm auszugehen. Doch glücklicherweise, war dieser Wald auch nicht so groß wie der den sie sonst kannte. Nach einem Lauf, der gerademal eine halbe Stunde gedauert hatte, fand sie sich an einem Strand wieder. Die von Mondlicht beschienenen blassen Wellen kräuselten sich und schlugen mit leisem Rauschen auf den Sand auf und rissen etwas davon mit sich ins tiefe Meer zurück. Zögernd schritt sie zum Wasser und betrachtete danach eingehend ihre eigenen Pfotenabdrücke im nassen Sand. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war. Sie drehte sich schlagartig um und sah einem Paar smaragdgrüner Augen entgegen. Unbeholfen stolperte sie ein paar Wolfslängen zurück. Ein großer schwarzer Wolf starrte ihr aus funkelnden Augen entgegen. Kurz glaube sie, dass es vielleicht Kayate war, doch Kayate war bei weitem nicht so groß und ihre Augen hatten nicht diesen bedrohlichen Glanz. Der Geruch des Anderen kam ihr bekannt vor. „Weiße Wölfin.“, begann der Wolf zu sprechen. Seine Stimme klang rau, jedoch nicht alt. Er sah furchterregend aus, so wie er sich musterte. „Wer… bist du?“, ihr Fell sträubte sich ein wenig als sie ihre Muskeln anspannte. Sie hatte zwar erwartet auf ihrer Reise bestimmt noch mehr Wölfen zu begegnen, doch das gleich außerhalb Diapdras einer auf sie zu warten schien, damit hatte sie nicht gerechnet. Der schwarze Wolf senkte seinen Kopf, die Augen immer noch auf die weiße Wölfin fixiert. „Du erinnerst dich nicht an sich? Schande!“, beinahe klang es als wäre er enttäuscht. Auf einmal kam ihr die Idee, dass es vielleicht der Mann aus ihrem Traum sein könnte. Krampfhaft versuchte sie sich an seinen Namen zu erinnern. Es war verrückt. „Ronin?“ Der Wolf zog seine Lefzen zu einem kleinen grausamen Lächeln nach oben. Ein kurzes bestätigendes Knurren kam aus seiner Kehle. „Die Finsternis in deinem Herzen. Deine andere Seite. Der Samurai ohne Meister.“, wiederholte er, als sei er direkt aus dem Traum hierher gewandert. Einfach nur verrückt. „A-Aber du warst doch nur ein Traum! Wie kannst du echt sein!“ Wieder stolperte sie ein paar Schritte nach hinten, die Augen weit aufgerissen, das Fell gesträubt vor Angst. „Was willst du?“, brachte sie als jämmerliches Wimmern heraus. Elegant trat der Wolf einen Schritt näher. Sie drängte sich weg von ihm, die Ohren leicht angelegt und den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, so wie es ein unterwürfiger Wolf es bei einem höherrangigem Tier machte. „Ich will stärker werden.“, seine Augen funkelten blutrünstig als er sprach. „Und die Finsternis kann nur stärker werden wenn das Licht nicht mehr existiert.“ Er lachte mit drohenden scharfen Zähnen. „Leider jedoch, bin ich noch zu schwach. Genau wie du.“ Inzwischen schlich Ronin um sie herum, was sie nur noch nervöser machte. Ungeduldig verfolgte sie jede seiner Bewegungen. „Wie heißt es doch so schön? ‚Ohne Licht keine Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht.‘ Aber ich werde mich damit nicht begnügen. Ich werde eine Möglichkeit finden, wie die Dunkelheit auch ohne das Licht existieren kann. Du solltest besser auch nach einem Weg suchen. Denn wenn ich stark genug bin, dann werde ich kommen. Ich werde kommen und das ach so helle Licht aus deinem Körper befreien und zerstören.“ „Du willst mich töten…“, flüsterte sie schockiert, fragend. „Uns ist es bestimmt zu kämpfen. Du und ich, wir sind gemeinsam eine Seele. Alleine, sind wir nichts weiter als gebrochene Seelen. Und wir wissen beide von den Legenden der gebrochenen Seelen.“ „L-Legenden?“ Der Schwarze Wolf schnaubte verärgert und scheuchte Melaara noch weiter zurück Richtung Wasser. „Weglaufen wird dir nichts bringen. Ich finde dich, egal wo du bist. Deine Freunde werden dir nichts nützen. Ich habe dich beobachtet. Dich und deine kleine Familie. Oh, und natürlich auch die kleine schwarze Wölfin die dir alles beigebracht hat. Doch selbst alle gemeinsam werdet ihr mich nicht besiegen können. Nur das Licht kann gegen die Finsternis gewinnen. Oder auch verlieren.“ Er drehte sich Richtung Wald, aus dem er gekommen war. „Lebewohl, weiße Wölfin. Fürs erste. Wir werden uns wiedersehen. Es wäre besser du bist auf unser nächstes Aufeinandertreffen vorbereitet.“ Er knurrte sie mit einer tiefen grollenden Stimme an und verschwand schließlich in einem schnellen Lauf im Wald. Sein schwarzer Pelz und seine smaragdgrünen Augen waren in kürzester Zeit von der Dunkelheit verschlungen. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Zeit von zwei bedrohlich funkelnden Augen beobachtete wurde. Keuchend und mit zitternden Beinen stand sie im Sand und starrte an die Stelle, an der Ronin zuletzt war. Sie hatte sich den Mann letzte Nacht vor ihrem Zimmer also doch nicht nur eingebildet. Ronin war tatsächlich aus ihrem Traum entsprungen. Er war real geworden. War er wirklich ihre andere Seite? Sie war…wie nannte er es noch gleich…Eine gebrochene Seele…? Verzweifelt schaute sie zum Mond hoch, der sein fahles Licht auf die Erde warf. Sie unterdrückte ein Heulen und wandte sich wieder in die Richtung, in die sie ursprünglich gehen wollte. Das alles warf nur noch mehr Fragen auf als es das Auftauchen von Kayate damals tat. Dann spurtete sie gedankenverloren los. Während sie weiterlief, dachte sie über Ronins Worte nach. Sollten sie eines Tages wirklich miteinander kämpfen müssen? Sie wusste nicht recht wie sie reagieren sollte. Einerseits, fürchtete sie sich vor einem Kampf mit dem Schwarzen. Doch andererseits, spornte er sie an. Sie wollte nun umso stärker werden und die Dunkelheit in ihrem Herzen bekämpfen. Und vor allem wissen was ihr Platz in dieser Welt war. Sie hatte das Gefühl, dass das Schicksal noch viel für sie geplant hatte. Der Sand flog in die Luft als sich ihre Pfoten davon lösten und ließen sie aussehen, als wäre sie ein kleiner Sandsturm, der über den Strand fegte. Links von ihr erstreckte sich das ewige, weite Meer. Rechts von ihr war der Wald. In weiter Ferne, hinter dem Wald, inmitten von Diapdra ragte Queradorm in den Himmel. Der Turm in dem der König Diapdras lebte. Selbst von einer solchen Entfernung wirkte es gigantisch. Plötzlich stieg ihr mit dem Wind ein vertrauter Geruch in die Nase und noch bevor sie den Kopf nach vorne drehen konnte, um zu sehen wer vor ihr stand, bremste sie schon ab und stand danach Schnauze an Schnauze mit einer schwarzen Wölfin. Olivgrüne Augen funkelten ihr abenteuerlustig entgegen als sie mit aufgestelltem Fell und zurückgezogenen Lefzen zur Seite sprang. „Du kannst mich nicht wieder zurückbringen“, knurrte sie die andere Wölfin an. Diese lächelte nur schelmisch und ließ ihren Schweif elegant hin und her wedeln, so wie sie es am Tag ihrer ersten wahren Begegnung getan hatte. „Ich habe nicht vor dich zurückzubringen“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Ich will mit dir gehen.“ Melaara fiel beinahe die Kinnlade runter. „Nun guck nicht so. Wölfe sind nun mal nicht dazu da immer am gleichen Ort zu bleiben. Und als Takeo mir heute erzählte hat, das du dich heute merkwürdig verhalten hast, wusste ich schon was Sache war. Aber das kam mir nur recht. Ich wollte ohnehin von hier verschwinden.“ „Aber… Damals hast du mich davon abgehalten!“, brach es verzweifelt aus ihr heraus. Kayate grinste: “Damals wusstest du ja auch noch gar nichts. Du warst ein Welpe! Das sieht heute ganz anders aus.“ War es denn nicht gerade mal eine gute Woche her als sie zum Wolf wurde? „Du hast so gut wie alles von mir gelernt, was man braucht um als Wolf zu Recht zu kommen, nicht wahr?“ Kayate drehte sich in die Richtung, in die Melaara zuerst lief. Sie blickte über die Schulter zu der verblüfften Weißen. Melaara stand immer noch wie angewurzelt da. Sie konnte kaum fassen was sich hier abspielte, es machte sie irgendwie wütend, doch zugleich war sie froh, dass Kayate sie begleiten wollte. „Worauf wartest du? Ich dachte du willst Abenteuer erleben?“ Die weiße Wölfin nickte hastig bevor sie nachdenklich dreinblickte und den Kopf schief legte. „Ich weiß eigentlich gar nicht wohin ich gehen will.“ Kayates Augen wurden groß und sie blickte die andere Wölfin voller Entgeisterung an. „Du bist weggelaufen und weißt noch nicht mal wohin?“ Selbst Melaara merkte wie dumm sie gewesen sein musste einfach so in die Welt hinauszustürmen ohne zu wissen wohin. „Na umso besser!“, rief die schwarze Wölfin begeistert aus. „Dann werden wir eben überall hin reisen müssen, um herauszufinden was du willst!“ Kayate nahm die Pfoten in die Hand und lief los ohne sich nochmal um zu drehen. Melaara folgte ihr. Kayate lachte die weiße Wölfin nicht aus und hielt sie auch nicht zurück. Sie schien sich wirklich von Herzen zu freuen, mit ihr auf eine vielleicht endlos lange Reise zu gehen.
„Also wenn ich die Karte richtig im Kopf habe“, begann Kayate zu erzählen als Melaara sie endlich eingeholt hatte. „Haben wir zwei Möglichkeiten Leratiss zu verlassen.“ Jetzt drehte sie sich endgültig um und setzte sich vor ihr in den Sand. „Entweder, wir schwimmen durchs Meer nach Suimang, oder wir nehmen den Landweg. Um den zu erreichen müssen wir jedoch Yaosale durchqueren.“ Sie hatte die Karte mit ihren Pfoten in den Sand gezeichnet. „Ich schätze um den Landweg zu erreichen bräuchten wir so um die zwei Tage. Da würde der Wasserweg sicher schneller sein. Aber ich mache mir Sorgen, dass wir nicht so weit schwimmen können. Immerhin ist das eine ziemlich weite Strecke.“ Schnell schüttelte Melaara den Kopf. „Ich bin für den Landweg. Wer weiß was da alles im Meer herumschwimmt!“ Die schwarze Wölfin grinste. „Außerdem wissen wir ja noch nicht mal was uns auf der anderen Seite erwartet!“, fügte sie schnell hinzu, um nicht ängstlich zu wirken. „Oh doch! Auf der anderen Seite ist eine kleine Stadt. Das weiß ich.“ „Ich bin trotzdem für den Landweg.“ „Na dann los!“ Noch bevor sie etwas sagen konnte hatte Kayate schon mit der Pfote über die Karte gewischt und fegte erneut durch den Sand Richtung Yaosale. Etwas zögernd stand auch Melaara auf und lief der Anderen hinterher. Es dauerte nur wenige Momente bis sie sie eingeholt hatte. „Bist ganz schön schnell was? Lass ihnen ein Wettrennen machen!“, grinste Kayate und steigerte schon ihr Tempo. Schnaubend schüttelte Melaara den Kopf und spannte die Läufe umso mehr an. Kayate war schnell, jedoch lange nicht so schnell wie sie. Im langgezogenen, schnellen Laufschritt holte sie die schwarze Wölfin in null Komma nichts ein, überholte sie dann und rannte nur noch schneller. Bald schon wich der Sand hohem Gras. Für einen Menschen war es bestimmt schon schulterhoch. Doch die Wölfe kümmerten sich nicht darum. Sie stürzten hinein ins Gras, ließen sich von den vielen Düften umgarnen, das Gras an ihren Pelzen vorbeihuschen. Genossen das Rascheln des Grases, wenn sie mit voller Geschwindigkeit hindurch rasten, oder den Wind welcher mit ihnen darüber brauste. „So frei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt!“, rief sie Kayate glücklich über ihre Schulter zu. Zumindest glaubte sie dass sie noch hinter ihr war. Sie konnte sie nicht mehr sehen. Nur noch der leichte Geruch sowie ein leises Rascheln nicht weit hinter ihr, verriet ihr das Kayate ganz in der Nähe war. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte schnellte Kayate auch schon an ihr vorbei. Sie hechelte, offenbar bereitete ihr der Lauf ziemliche Schwierigkeiten. „Schon müde?“, schnaubte sie, jedoch ebenfalls erschöpft. „Anhalten!“, brachte diese nur hervor. Etwas in Kayates Augen hatte sich verändert. Sie waren ernst. Sofort verlangsamten sie ihren Lauf. „Was ist los?“, nervös schnupperte sie in die Luft. Der Geruch von Menschen kitzelte ihre Nase. „Wir sind vor den Stadtmauern vor Yaosale.“, erklärte Kayate und lies sich langsam und immer noch außer Atem auf den Boden fallen. Nicht weit vor ihnen war das Gras bereits verschwunden und gab die Aussicht auf einen kleinen steinernen Platz mit Brunnen und großer Mauer dahinter frei. In die Mauer war eine riesige steinerne Tür geschlagen, die sich bestimmt nicht so leicht öffnen ließ. Auf der Mauer, genau über dem Tor, waren zwei Männer postiert. Sie waren nicht bewaffnet und trugen nichts anderes als eine Art Leinen-Shirt und eine Lederjacke darüber. „Sie scheinen nicht gefährlich zu sein… Ob sie uns wohl reinlassen?“ Kayate zuckte mit den Schultern als sie sich aufrichtete und dabei in einen Menschen zurückverwandelte. „Vergiss nicht, dass die Nationen im Krieg zueinander stehen. Wir könnten Gefahr laufen als Spione angesehen zu werden. Aber lass es uns versuchen. Sonst müssen wir eben schwimmen.“ Melaara schauderte bei dem Gedanken.
Für einen Moment zögerte sie, doch dann trat sie aus dem Gras heraus und sah selbstsicher, beinahe herausfordernd zu den Wachen hoch. Melaara folgte ihr, jedoch nicht ganz so übermütig. „Wer ist da?“, rief einer der Männer hinunter. „Reisende. Aus Diapdra.“, antwortete Kayate fest. „Name und Alter?“, stimmte nun auch der andere mit ein. „Ich bin Kayate. Das dort ist Melaara. Wir sind beide siebzehn Jahre alt.“ Die Männer musterten sich einen Moment lang. „Seid ihr nicht etwas zu jung um ganz alleine umherzureisen?“ „Wir können sehr gut auf uns selbst aufpassen, die Herren. wir haben beide den Schwertkampf erlernt. Und wir sind zwei unerschrockene Abenteurerinnen.“ Der Eine schmunzelte leicht. Der Andere zögerte ein wenig. „Und woher sollen wir wissen, dass ihr tatsächlich aus Diapdra kommt?“ „Könnt ihr nicht, aber wir wollen hier auch nicht leben. Wir wollen lediglich die Stadt passieren, schickt uns meinetwegen Wachen hinterher, die uns aus der Stadt geleiten.“ Die beiden Wachen sahen einander wieder nachdenklich an. Dann zückte einer der beiden plötzlich einen kleinen Wasserbeutel, welcher zuvor an einem Gürtel an seinem Bauch hing. Er zog ihn auf und hielt konzentriert seine Hand darüber. Plötzlich ließ er seine Hand hochschnellen und das Wasser, welches zuvor im Beutel war folgte seiner Bewegung, schwebte nach oben, nur um dann in der Luft zu zerstreuen und als Regen auf die beiden Mädchen niederzugehen. Diese zuckten unwillkürlich zusammen. „Was-?!“ „Nur die Ruhe. Das dient dazu euch... im Auge zu behalten. Durchquert die Stadt so schnell es euch möglich ist, und stellt dabei keinen Blödsinn an, das würden wir merken.“ „Nun gut. Dann kommt rein.“ Mit diesen Worten verschwand der Eine hinter der Mauer und das Tor ging mit lautem Knirschen auf. Der Andere kam ihnen entgegen. „Wo wollen die Damen eigentlich hin, wenn mir diese Frage erlaubt sei.“ Schon setzte sich Kayate wieder in Gang. Melaara folgte ihr stumm. „Das wissen wir selbst noch nicht so genau.“, sagte sie. Der Mann hob eine Augenbraue. „Zuerst werden wir wohl nach Suimang reisen.“ Jetzt schien er ganz Ohr zu sein. „Wie ihr selbst sehen konntet sind wir selbst aus Suimang. Ob man es glaubt oder nicht, aber Leratiss hat wohl einige Wachen aus allen Nationen zu sich geholt um sich zumindest ein klein wenig zu verteidigen. Als könnte man‘s ihnen verübeln“ Nun gesellte sich der andere dazu. „Was wollt ihr überhaupt in Suimang? Ihr seid doch nicht tatsächlich irgendwelche Spione?“ Abwehrend hob Kayate die Hände. „Nur Reisende die Leratiss langsam satt haben!“, verteidigte Kayate. Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich wieder. Er strich sich seine bräunlich-roten Haare zurück und versuchte wieder gelassen zu wirken. Das kleine Lächeln, was von vielen unzähligen Falten umrahmt wurde, ließ ihn sympathisch wirken. „Kinder wie ihr sollten dennoch aufpassen wo sie hingehen. Der Krieg ist dort in vollem Gange. Gebt ja Acht auf euch.“ Er bat sie mit einer einladenden Verbeugung in die Stadt hinein. Sobald sie passiert hatten schloss sich die steinerne Tür wieder.
Die salzige Seeluft mischte sich mit dem Geruch der frisch gefangenen Fische. Melaara konnte nicht anders und nieste, als der Fischgeruch sich in ihrer Nase ausbreitete. Jetzt endlich verstand sie warum Kayate umgezogen war. Der Geruch war nach einiger Zeit nicht mehr zum Aushalten. „Halte durch… wir haben etwas mehr als die Hälfte geschafft.“, tröstete Kayate sie als es bereits wieder zu dämmern anfing. Sie waren die halbe Nacht durchgewandert und schon recht weitgekommen. Die Sonne versank hinter den aus Steingeformten Häusern. Der Asphalt schien zu glühen. Über ihnen flogen träge die Möwen. Immer wieder war ihr beinahe schallendes Gelächter zu hören. Irgendwann war Kayate der Kragen geplatzt und sie hatte sich einen Schuh ausgezogen und ihn nach einer Möwe geworfen, die sich einen Spaß daraus zu machen schien, Kieselsteine auf sie fallen zu lassen. „Diese Möwen sind ja noch schlimmer als Krähen!“, murrte sie. „Sind Krähen denn so schlimm?“ „Sie verstehen sich am besten mit Wölfen. Gleichzeitig haben sie aber auch Riesenfreude daran dir jedes Haar einzeln auszurupfen und nichts Besseres zu tun als irgendwelche Steine oder Pflanzen auf dich runterzuwerfen. Aber diese Möwen sind ja mindestens genauso nervig!“ Angestrengt blinzelte sie gegen die Sonne und zu den dahingleitenden Möwen. „Aber es muss toll sein so fliegen zu können!“, schwärmte sie verträumt. „Ja, so lange man keine Höhenangst hat.“ Schweigend überging sie Melaaras Kommentar. „Es muss die endlose Freiheit bedeuten.“ Plötzlich spürte die Braunhaarige Kayates Blick auf ihr. „Wünscht du dir Freiheit?“ Einen Moment schwieg sie, sah stumm in den Himmel. „Mehr als alles andere.“ Hart und fest. Überzeugend. „Was wünscht du dir am meisten?“ „Also…“, begann Kayate während sie sich streckte und gelangweilt gähnte. „Ich habe alles was ich brauche. Ich habe tolle Freunde, darf gehen wohin ich will… ich bin einfach frei. ich habe alles was ich immer wollte.“ „Aber du wolltest weggehen?“ sie nickte, den Blick jetzt ebenfalls zum Himmel gerichtet. „Ich bin noch nicht am Ziel! Ich bin glücklich, aber noch nicht am Ziel!“ Melaara legte den Kopf leicht schief. „Und dieses Ziel wäre?“ „Ich will die Welt sehen!“ Jetzt trafen sich ihre Blicke. „Ich habe bis jetzt nur Diapdra und Teile Suimangs gesehen! Ich will nach Ortiais… Und Shianril… Und hast du schon mal von der Insel Lyras gehört? Da will ich auch noch hin!“ „Lyras?“ „Es soll eine paradiesische Insel im Meer, nordwestlich von Suimang sein. Bisher hat noch niemand sie entdeckt und es ist eigentlich mehr oder weniger nur eine Legende. Aber angeblich soll dort die Statue der geflügelten weißen Wölfin stehen!“ Kayates Augen strahlten förmlich. „Aber eins nach dem anderen. Wo willst du jetzt eigentlich genau hin? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?“ Kayate machte sich bereits wieder auf den Weg während sie den Kopf schüttelte. „Zuerst nach Suimang… Aber dann…?“ „Hmm…“ Nachdenklich kratze sich Kayate am Kinn. „Hast du Lust zu segeln?“ Überrascht starrte sie Kayate an. „Segeln? Wohin?“ „Nach Lyras!“, strahlte Kayate und ging rückwärst weiter. „Wir könnten uns in Suimang ein tüchtiges Boot besorgen und dann auf die See rausfahren! Bitte! Ich will so gerne nach Lyras!“ Melaara runzelte misstrauisch die Stirn. Das Meer war ihr nicht so ganz geheuer. Und der Gedanke daran vielleicht tagelang umher zu segeln, bei einem Krieg und wer weiß wie vielen Seeungeheuern… Nein, es war ihr ganz und gar nicht geheuer. „Aber wir haben doch gar keine Ahnung wo Lyras liegt, nicht wahr?“ „Das denkst du!“, sie zwinkerte und stopfte dabei ihre rechte Hand in eine kleine Seitentasche ihres grünen, knielangen Kleides und holte eine zerknitterte Karte heraus. Jede Stadt, jeder Wald, jeder Berg und jeder Fluss waren darin eingezeichnet. Oben links, prangte eine Art Kompass. „Schau was in Nordwesten von Suimang aus ist!“ Tatsächlich war dort eine Insel eingezeichnet. Scheinbar mit schwarzer Tinte geschrieben stand der Name „Lyras“ daneben. Die Karte schien schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. Sie war zerknittert. Teilweise war die Schrift abgeblättert. Früher musste sie ziemlich edel ausgesehen haben. „Da müssen wir aber einige Städte durchqueren…Das wird nicht leicht werden!“ „Ach… wir haben Wolfsseelen! Meine Pfoten haben mich schon viel weiter getragen!“ „Das meinte ich nicht.“ Jetzt wandte Kayate den Blick von der Karte ab. Fragend schaute sie ihre wölfische Gefährtin an. „Ich meine den Krieg. Die Nationen… Was wenn wir mitten in den Krieg geraten?“ „Oh, das werden wir.“, sagte das Mädchen gelassen. „Aber wir sind stark.“ Kayate packte bereits die Karte wieder in ihre Tasche. „Und schnell. Und schlau ja auch. Wolfseelen werden nicht so leicht gefangen. Und schon gar nicht besiegt.“ „Aber ich möchte nicht kämpfen… Nicht töten. Ich bin kein Monster!“ Ihre Blicke trafen sich erneut. Kayates Augen drückten Verwirrtheit aus. „Niemand sagte dass wir kämpfen müssen. Wir haben starke Läufe. wir sind flink! Wenn wir attackiert werden dann laufen wir eben so schnell wie der Wind!“ „Aber man kann nicht immer davonlaufen…“ Plötzlich bemerkte Melaara, dass sie schon genauso wie Ronin sprach. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht kämpfen wollte. Dennoch konnte sie beinahe die furchterregenden Wolfsaugen spüren die sie von hinten anstarrten. Und gleichzeitig die Lust, diese grausame Lust anderen Schaden zuzufügen, Blut zu schmecken. Zu kämpfen. Eine Gänsehaut erstreckte sich über ihren Körper, obwohl es warm war. Sie schlang ihre Arme um sich und zitterte kaum merkbar. „Alles ok?“, Kayates erstauntes Gesicht rüttelte sie wieder wach. Sie nickte. „Lass uns einfach weitergehen…“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie einfach weiter. Für einen Augenblick blieb Kayate verwundert zurück, holte dann aber wieder auf und ging locker neben ihr her. „Also fahren wir jetzt nach Lyras?“, fragte sie irgendwann unvermittelt. „Wenn wir ein Boot finden… Wieso nicht?“ Sofort erhellten sich Kayates Züge und sie sprang ein paar Mal in die Luft und um Melaara herum, bevor sie prustend und keuchend vor ihr zu stehen kam. „Die legendäre Insel! Wir werden die legendäre Insel finden!“, lachte sie begeistert. Belustigt schnaubte die Weiße. „Wenn du dabei nicht vorher über Board gehst, kleiner schwarzer Welpe!“ „Das sagt ausgerechnet die, die vor wenigen Wochen noch nicht mal wusste, dass sie vier Pfoten und ein Fell hat!“
Inzwischen hatten sie fast ganz Yaosale durchquert. Doch die Dunkelheit senkte sich bereits wieder herab. Die Sterne funkelten und die Nacht hüllte die sonst so glänzende Hafenstadt in einen dunklen, undurchsichtigen Schleier aus Nebel. Vor ein paar Stunden brannten noch Laternen und ließen den gesamten Ort erstrahlen. Doch aus einem unerfindlichen Grund waren alle Lichter gelöscht. Selbst das des Mondes war kaum noch auszumachen. Auch in den Häusern brannten keine Lichter. Der Ort wirkte wie eine Geisterstadt. „Und ich habe dir gesagt es wäre schlau gewesen einen Unterschlupf zu suchen! Jetzt müssen wir hier in totaler Finsternis herum laufen!“, beklagte die Braunhaarige sich als sie fast gegen eine Straßenlaterne lief. „Dann benutz eben deine Nase und deine Ohren, anstatt deiner Augen! Hast du etwa bereits alles vergessen was sie dir erklärt habe?“, schimpfte Kayate. Schmollend wand sich Melaara ab und schnupperte in die Luft. Vieles konnte sie nicht ausmachen. Den Geruch von Wasser… Sowohl von der See als auch vom Nebel. Nasse und modrige Häuser. Hin und wieder Mal den Geruch einer Ratte die vorbeihuschte. Die Fenster der Menschen waren geschlossen. Es war, als hätte es in Yaosale niemals menschliches Leben gegeben. Sie gingen am Hafen entlang. Das Rauschen der Wellen hatte etwas Beruhigendes und Einschläferndes. Kayate schien ebenfalls müde zu sein. Ständig rieb sie sich die Augen und gähnte. „Sollten wir nicht irgendwo eine Pause machen?“, fragte sie vorsichtig. „Wir gehen schon seit fast zwei Nächten durch… Ich bin so verdammt müde…“ Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf. „Wer weiß was hier alles für Gestalten lauern… Wir sollten versuchen diese eine Nacht noch durchzulaufen. Morgen in der Früh können wir uns ja auf einem Feld oder der gleichen ausruhen. Aber nicht hier in der Großstadt.“ Plötzlich wich die unheimliche Stille etwas anderem: Glockenschlagen. Unheimlich und tief kündigte sie mit ihren Schlägen die Uhrzeit an. Mitternacht. Als das Geräusch der Glocke verstummte fingen die Laternen an aufzuleuchten. Das rötlich-gelbe Licht flackerte immer wieder auf und schien beinahe wieder aus zu gehen. Jede einzelne Laterne „entflammte“ sich auf dieselbe Art, bis die gesamte Stadt in dem Licht zu versinken schien. Schockiert starrte sie zuerst die gespenstischen Lichter an, dann sah sie hinauf zu den Fenstern der Menschen, wo sie für einen Hauch der Sekunde ein kleines Mädchen erkennen zu schien, die dann jedoch von einer Mutter sofort weggezogen wurde. Ihr Blick glitt wieder hinunter auf die Straße. Links von ihnen erstreckte sich das Meer, nicht mehr weit davor, wurde die Aussicht jedoch von einer Reihe Häusern beendet. Rechts befanden sich ebenfalls Häuser. Vor ihnen, eine lange gepflasterte Straße die sachte bergauf ging und auf einem hohen Berg, wo weitere Viertel sich erstreckten, zu enden schien. Eine große Mauer war auf dem Berg zu erkennen die sich wohl um eine Art Adelsviertel schlängelte. Vor dieser Mauer bewegte sich etwas. Es war Dunkel, von Schatten eingehüllt, und es bewegte sich die Straße hinab. Unbeholfen und geschockt stolperte Melaara ein paar Schritte zurück und dabei gegen Kayate. Sie schien ebenfalls verängstigt. „Was… was ist das?“ Die Schwarzhaarige schüttelte zur Antwort lediglich den Kopf, wie in Zeitlupe. „Es sieht gefährlich aus… Wenn man genau hinsieht… Da sind Krallen… Fangzähne…“ „Wollen sie uns angreifen?“ „Woher soll ich das denn wissen?“ Kayate klang gereizt. Gereizt, eingeschüchtert, panisch. „Wir müssen dort durch. Auf dem Berg da oben ist der Ausgang von Yaosale.“ Sie ging ein Stück zurück und postierte sich genau neben dem ersten Haus, von wo aus sich eine kleine Treppe nach unten zum Strand befand, der hinter den Häuserreihen bei einer Klippe endete. „Wir werden hier warten. Vielleicht ziehen sie einfach an uns vorbei.“ Melaara stellte sich an die Seite ihrer Freundin und starrte ungeduldig die Straße hinauf. Die Schatten, die aus dieser Entfernung noch eine Art komplettes, zusammengeschmolzenes Gebilde zu sein schienen, trennten sich jetzt. Es waren einzelne schattenhafte Kreaturen die dicht aneinander gingen. Sie gingen gelassen und doch bedrohlich. Aufmerksam. Wie ein Wolf der gerade dabei war sich seine Beute auszusuchen. Darauf bedacht niemanden zu erschrecken und dennoch im richtigen Augenblick zuzuschlagen. Sie besaßen große Pfoten. Beinahe Bärentatzen. Der Kopf sah nach Wolf aus. Eine lange, stachelige Mähne erstreckte sich von ihrem Kopf bis hinunter zu den Schultern. Ihr Fell war tiefschwarz und schien sich zu bewegen, als wäre es aus Schatten gemacht. Die Augen hatten keine Pupillen. sie leuchteten lediglich weiß. Ihre Hinterbeine waren jedoch alles andere als Wolfsähnlich. sie erinnerten beinahe an Vogelbeine, oder an die von Reptilien. Sie waren unnatürlich stark gekrümmt und besaßen ebenfalls große, scharfe Krallen die im Licht der Laternen Schwarz funkelten. Auch der Schwanz war eher reptilienähnlich: Lange, zur Spitze hin dünner werden, an dessen Ende sich eine Art Klinge befand, wie ein festgemachter Dolch. Die Zähne waren gefletscht, die Krallen kratzen über den gepflasterten Boden. Bedrohliches Knurren war zu hören. Aber nicht ein solches was man einem Tier hätte zuordnen können. Tief und monströs. Sie waren größer als ein gewöhnlicher, ausgewachsener Wolf. Alleine an ihren Muskeln konnte man erkennen, dass man mit reiner Kraft hier keinen Kampf gewinnen konnte. sie waren nur noch einige Meter von den Mädchen entfernt, kurz davor vorbeizugehen, sie nicht zu beachten. Bis plötzlich das Wesen an vorderster Stelle den Kopf hob und den Geruch der Luft einsog.
Noch bevor einer von ihnen sich bewegen konnte, gingen sie alle gleichzeitig auf die Mädchen los. Kreischend, brüllend und knurrend stürzten sie sich auf sie. Melaara wurde als erstes zu Boden gebracht. Eines der Wesen drücke sich mit seinen Pfoten fest gegen den Boden, raubte ihr die Luft. Entsetzt lag sie einfach nur da und starrte angsterfüllt zu ihrem Gegner hoch. Dieser war gerade dabei seinen furchtbaren Kiefer zu öffnen und ein Knurren entweichen zu lassen. Beinahe klang es belustigend, ja regelrecht triumphierend. „Melaara!“ Kayates Stimme. Sicher und kämpferisch. Im Augenwinkel konnte sie erkennen, dass sie sich in ihre Wolfsform verwandelt hatte und mit den Biestern wild kämpfte. Blut tropfte aus ihrem Maul und von ihrer rechten Flanke. Ihre Beine zitterten, so sehr, dass sie Angst hatte sie würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch die schwarze Wölfin stand drei der Monster gegenüber und knurrte sie tief aus ihrer Kehle an. „Steh auf! Du musst kämpfen!“, knurrte sie ihr zu, den Blick immer auf ihre Gegner gerichtet. Melaara wollte soeben protestieren als Kayate schon auf das Wesen welches auf ihr stand zu sprintete, einen Sprung machten und die Bestie mit einem Satz von ihr herunterriss. Die Braunhaarige wand sich, schwer atmend kam sie auf die Füße und verwandelte sich dann ebenfalls in ihre wahre Gestalt. Kayate hatte der Bestie, die ihrer Kameradin den Atem geraubt hatte, eine tiefe Wunde an der Flanke zugefügt. Das Wesen bewegte sich nicht mehr, stattdessen löste es sich in den Schatten auf. Schnell kam die Wölfin zurück gelaufen und war an ihrer Seite. Gemeinsam standen sie nun drei der Bestien gegenüber, die sie wutentbrannt anknurrten. „Ein Biss… Ein Biss und sie sind verschwunden. Aber ein Biss von ihnen… Dann breitet sich ein Gift in deinem Körper aus, was dich fast um den Verstand bringt.“ „Du… du wurdest verletzt.“ „Und das Gift sucht sich auch schon seinen Weg, ja. Aber so wahr ich eine Wölfin bin… Ich werde doch nicht gegen ein paar alte, schwarze Wischmopps verlieren!“, knurrte sie und gab dabei ein gurgelndes Geräusch von sich. „Versuch sie nur einmal zu beißen, dann sind wir sie los!“ Wiederwillig nickte die Weiße, starrte auf die blutende Wunde an Kayates rechter Flanke. Genau in dem Moment stürzten sich die Kreaturen erneut auf sie. Doch diesmal waren die Wölfe zu schnell. Mit einer eleganten Leichtigkeit wichen sie aus und schnellten zum Angriff vor. Die weiße Wölfin war schnell genug und erwischte eine der Bestien beim Bein. Die Kreatur jaulte und wollte gerade nach ihrem Nacken schnappen, als sie sich in dunklen Partikeln einfach auflöste und verschwand. „Melaara! Pass auf!“ Sie drehte sich zu spät um und wurde wieder von zwei schweren Pranken gen Boden gedrückt. Die Pranken standen diesmal genau auf ihrer Kehle. Sie konnte die Zähne schon an ihrer Schulter spüren. Einen dumpfen Schmerz, der sich immer weiter ausbreitete und sich langsam durch den ganzen Körper erstreckte. „K-Kayate…“ Sie wand den Kopf nur leicht und sah, wie auch Kayate von einer der Bestien auf den Boden gedrückt wurde. Ihre Augen verloren langsam an Glanz. Das Leben entwich aus ihnen. „Nein!“ Melaara schrie, trat um sich, spürte wie der Scherz begann ihr den Verstand zu rauben. Und von einer Sekunde zur anderen war da noch etwas anderes. Eine Wärme die sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Mächtig und hell. Sie strömte durch ihren Körper und schien ihr neue Kraft zu verleihen. Sie heulte und knurrte gleichzeitig. Dann versank alles in einem gleißend hellen Licht.
Als sie es wagte die Augen wieder zu öffnen, stand sie in einem leeren, weißen Raum. Er wirkte endlos. Er schien keine Wände oder einen Boden zu haben. Melaara war in Wolfsform und sah sich verwundert um. Als ihr nach einem Moment bewusst wurde, das Kayate, die Wesen, ja einfach alles verschwunden war, begann sie zu rufen. „Hallo?! Ist da jemand?!“, ihre Stimme, oder zumindest ihre Gedanken schienen von überall her widerzuhallen. Es war still. Zu still. Und als sie glaubte diese Wärme, die sie empfunden hatte als sie gegen die Monster gekämpft hatte, würde verschwinden, hatte sich aber geirrt. sie nahm zu. Näherte sich scheinbar von hinten. Schlagartig drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine schlanke weiße Wölfin. sie hatte große, ebenso strahlende Flügel auf ihrem Rücken. Ihre Augen leuchteten Smaragd-grün und funkelten verspielt. „Wer… Wer bist du?!“, sie versuchte selbstsicher zu klingen, doch das Zittern in meiner Stimme war deutlich zu hören. Die Lefzen der Wölfin zogen sich zu einem kleinen, schmalen Lächeln zurück. Der Blick der Wölfin wurde warm. Geradezu Mütterlich. „Wo… bin ich hier? Was ist das für ein Ort!“, verlangte sie zu wissen. Das Lächeln der Wölfin wurde nur noch breiter. „Dein Herz.“, erklang plötzlich eine seidene Stimme in ihrem Gedanken. Die Stimme der Wölfin. „Das hier.“, sie spreizte ihre Schwingen ein wenig und deutete mit dem Kopf in den weißen Raum um sich. „Das hier ist dein Herz. Noch ist es voller Licht. Seit Ronin es verlassen hat ist es noch viel heller als sonst.“ „Ronin? Woher weißt du von ihm!?“ Sie schien sie einfach zu überhören und sprach einfach weiter mit ihrer tiefen, samtweichen Stimme. „Doch er wird stärker. Jetzt kannst du ihn noch nicht fühlen. Aber mit jedem Tag wächst seine Macht. Und du musst auch stärker werden, weiße Wölfin, wenn du die Dunkelheit in deinem Herzen kontrollieren möchtest.“ „Sie… lässt sich nicht vernichten?“ Es klang mehr wie eine Feststellung. Sie wusste nicht warum, doch die Wölfin vor ihr erschien ihr irgendwie vertraut und doch unbekannt. Sie schüttelte als Antwort auf ihre Frage den Kopf und ließ ihn sinken. „Dunkelheit ist in jedem von ihnen. Man kann sie nicht endgültig vernichten. Nur lernen sie zu kontrollieren.“ „‘Ohne Licht keine Dunkelheit. Ohne Dunkelheit kein Licht‘“, zitierte Melaara. Stolz lächelte die Wölfin und nickte. Plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und raste auf Melaara zu. Sie konnte nichts anderes tun als blitzartig ihre Augen zu schließen und zu versuchen sich klein zu machen. Eine plötzliche Hitze, wie tausend Sonnen, durchbrannte ihren Körper für einen Sekundenbruchteil. Kaum gespürt war das angenehme Gefühl auch schon wieder weg. Unsicher öffnete sie die Augen und blickte sich um. Die andere Wölfin war verschwunden. Auch die Wärme die mit ihr kam verschwand langsam. „Nutze deine neuen Fähigkeiten weise. Nach und nach wirst du mehr von ihnen entdecken. Aber fürs erste… Genieße einfach das Gefühl der Freiheit und den Wind, wenn er durch dein Fell braust.“ Als die Stimme der Wölfin verhallte löste sich auch der Raum aus Licht auf. Langsam kamen die Finsternis und das Schummrige Licht der Laternen durch das Weiße hindurch und ließen es endgültig verschwinden, bis sie sich wieder in der Stadt Yaosale befand. Das Wesen stand nicht mehr länger auf meiner Brust und raubte ihr den Atem. Stattdessen lag es nicht weit von ihr auf den Boden und starrte erschrocken zu ihr hinauf. Ein kaum spürbares Gewicht lag auf ihrem Rücken und als sie sich umdrehte um ihn besser betrachten zu können wusste sie auch warum: Flügel. Mächtige, weiße Schwingen befanden sich auf ihrem Rücken. Genau wie die der weißen Wölfin. Kayate wurde noch immer von einem der Wesen zu Boden gedrückt und starrte ungläubig auf die Flügel. Als sie ein wütendes Knurren ausstieß und gerade dabei war sich auf die Wesen aus Schatten zu stürzen, zogen die sich zurück. Einige winselten, andere knurrten, doch alle klemmten sie ihren Schwanz zwischen die Beine und flüchteten den Strand entlang, wirbelten dabei große Staubwolken auf und verschwanden in der Finsternis und Weite der Stadt. Eine Weile starrten sie den Kreaturen regungslos hinterher als sie den Blick der schwarzen Wölfin auf ihr spürte. „Melaara…? Was…Was ist passiert…? Woher… Woher hast du deine Kräfte entdeckt?“ „Kräfte…?“, fragte sie verwundert. „Die…die Flügel.“ „Ah…nun…da war eine Wärme….und plötzlich war alles weiß…und dann…eine weiße Wölfin mit riesigen weißen Schwingen…“ Kayate lag erschöpft am Boden, erschöpft hielt sie den Kopf oben und lauschte Melaaras Geschichte. „Wie ungewöhnlich… unsere Rasse bekommt die Fähigkeiten normalerweise nicht….geschenkt… wir erlernen sie. Mit der Zeit sehen wir vor unseren Augen was unsere Fähigkeiten sind. Und mit jedem Tag wird das Bild klarer bis es Wirklichkeit wird.“ Ihre Stimme wirkte gepresst. Schweigend sah Melaara sie an. „Wer….wer war sie dann…?“ Die schwarze Wölfin schüttelte nur langsam und unwissenden den Kopf. Gerade machte Kayate das Maul auf um etwas zu sagen, doch sie riss schlagartig die Augen beängstigend weit auf und begann am ganzen Körper zu zittern. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Kurz danach brach sie auch schon zusammen und verwandelte sich dabei zurück in einen Menschen. Regungslos lag sie auf dem Boden. „Kayate!“, rief die weiße Wölfin erschrocken, verwandelte sich zurück in einen Menschen und lief zu ihr. Vorsichtig legte sie einen Arm unter Kayates Nacken um sie ein wenig auf zu richten. „Mist…!“, zischte sie und versuchte verzweifelt das Mädchen irgendwie auf ihre Schultern zu hieven. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Flügel verschwunden waren. Nach kurzer Zeit trug sie sie Huckepack durch die dunklen Gassen der Handelsstadt. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn ihren Hals hinab und verschwanden unter ihrer Kleidung. Sie keuchte schwer als sie die kleinen Gassen meist bergaufwärts ging. Sie wusste nicht wohin sie eigentlich ging. In der Hoffnung jedoch, ein Gasthaus oder zumindest irgendein erleuchtetes Haus welches ihnen Rettung bringen konnte, versuchte sie ihre Augen offen zu halten. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub als sie sich an einer Kreuzung, an einer Hauswand anlehnte und Kayate völlig erschöpft neben ihr niederfallen ließ. Sie versuchte ihre Lungen dazu zu zwingen mehr Sauerstoff aufzunehmen. Sie zuckte zusammen als ein Fenster sich über ihrem Kopf öffnete. Ein alter Mann streckte seinen Kopf hervor und sah Richtung Strand, die beiden Mädchen schien er gar nicht zu bemerkten. Gelassen zündete er sich eine Zigarette an. Der Mann war circa um die 70, ein warmherziges, rundes Gesicht, geziert von vielen, vielen kleinen Fältchen. Sein kurzes graues Haar fiel in Strähnen herab als der Rauch seiner Zigarette in den Nachthimmel entschwebte. „S-Sir! Bitte! Bitte sie brauchen ihre Hilfe…!“, rief sie verzweifelt zu ihm hoch. Der Mann gab ein tiefes raues „Hm?“, von sich als er den Blick nach unten wandte und sie entdeckte. Er schwieg und hatte die Arme lässig auf der Fensterbank verschränkt, seine Augen jedoch waren ein Stück weiter aufgegangen als vorher. Jetzt nahm er die Zigarette aus dem Mund und pustete den Rauch aus der Nase wieder hinaus. „Zwei kleine Bettler Mädchen, wie? Verschwindet, ich gebe euch kein Geld.“, seine raue Stimme kratzte in ihren Ohren als er eine kleine Rauchfahne aus seinem Mund entweichen ließ. „Nein…! Nein, Sir, Wir…wir sind keine Bettler…! Wir sind Reisende! Und wir brauchen Eure Hilfe! Meine Freundin….Wir wurden angegriffen…! Sie…sie wurde vergiftet! Bitte, wenn Ihr uns nicht helft wird sie sterben!“ Der alte Herr steckte sich wieder nur seine Zigarette in den Mund. „Und was habe ich davon?“, meinte er, beinahe gelassen und stützte sich mit einer Hand am Kinn ab. Sie stieß ein grimmiges Knurren aus. „Vielleicht euer Leben, vielleicht kein Blut an den Händen, vielleicht das restliche bisschen eurer jämmerlichen Ehre!“ Belustigt pustete der Alte den Rauch aus und gab dabei ein so raues Geräusch von sich, bei welchem man nicht sagen konnte ob es ein Räuspern oder ein Lachen war. Er warf achtlos die Zigarette aus dem Fenster, schloss es und war dann verschwunden. Verzweifelt biss Melaara sich auf die Lippe und kniff müde die Augen zusammen. Sie konnte spüren wie Kayates Atem mit jeder Minute schwächer wurde. Bei Sonnenaufgang würde dieser vermutlich gar nicht mehr zu vernehmen sein. Sie wollte so eben wieder aufbrechen, als sie hörte wie sich eine Tür nicht weit neben ihr öffnete. Verwirrt blinzelte sie gegen das Licht an. „Ich mag kleine taffe Dinger wie dich.“, rumorte die raue Stimme in ihren Ohren. Langsam war im Licht der Schatten des alten Mannes auszumachen. „Komm rein, schnell, schnell! Sonst wird Ruricy wieder böse weil die Kälte bei der Tür mitherein will!“ Etwas zögernd sah die Braunhaarige den alten Herrn an, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich von dem vorherigen, kühlen Steingesicht zu einem warmen, einladenden Grinsen entwickelt. Schnell und mit dankbaren und strahlenden Augen trat sie ein, wo ihr sogleich eine himmlische Wärme entgegenschlug. „Vielen, vielen Dank, alter Herr!“ „Clait. Mein Name ist Clait, Herr Gott nochmal, nicht alter Herr! Oder Knacker, oder Opa oder was euch Kindern sonst noch so einfällt!“ Das Zimmer in welchen sie sich befanden war anscheinend ein kleines Wohnzimmer, es war eine kleine Couch zu sehen, davor ein großer Kamin in dem ein warmes Feuer prasselte. Links und rechts des Kamins befanden sich Türen. Clait deutete auf die Rechte und brachte die beiden Mädchen somit in ein kleines Zimmer mit nur einem Bett und einem großem Lesestuhl. Erschöpft und mit einem Seufzen legte sie Kayate in das Bett und ließ sich auf dem großen Stuhl nieder. „Wir….wir wurden angegriffen…“, brachte Melaara erschöpft hervor. „Lurar.“, grollte Clait. „Gestalten des Schattens. Unheimliche Biester die nichts sehnlicher lieben als die Finsternis. Woher sie kommen…weiß niemand. Sie sind vor nicht allzu langer Zeit in unserer Stadt aufgetaucht, nachdem sie bereits an einigen anderen Orten Schaden angerichtet haben. Zerstörte Gebäude, verschlungen von den Schatten. Verletzte, die nicht mehr wagten zu sprechen nachdem sie diesen Kreaturen begegnet waren. Es scheint als würden sie einem Ziel folgen. Doch welches…? Niemand vermag das zu sagen. Das Gift in ihren Körpern welches ihre Klauen und Zähne umgibt macht einen wahnsinnig so heißt es. Es raubt einem so lange den Verstand, versetzt einen in die Welt der Finsternis und lässt einen nicht mehr klar sehen. Bis die Nacht vorbei ist und du in der Finsternis zergangen bist.“ Das Mädchen schluckte heftig. „Gibt…gibt es Rettung?“ Der Alte grummelte etwas in sich hinein. „Vielleicht. Wir werden sehen wie viel Licht in diesem Mädchen ist. Ist es genug, wird sie bis Sonnenaufgang wieder Dieselbe, das Gift verpufft einfach und wird sie nicht weiter betreffen. Hat sie jedoch zu viele Schatten in ihrem Herzen….“ Clait sah zu Boden. „Ich befürchte dann gibt es keine Rettung mehr.“ Mit diesen Worten bewegte sich Clait zum Ausgang des Zimmers. Ohne sich noch einmal umzudrehen stand er am Türrahmen. „Wenn was is‘, ruf mich einfach.“ Endlich war sie alleine mit Kayate im Zimmer. Diese lag schwer atmend im Bett. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie machte einen gequälten Gesichtsausdruck. Melaara seufzte nur und begann damit in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie hatte heute noch nicht viel gegessen und getrunken und war gerade auf der Suche nach ihrer Wasserflasche. Als sie sie gefunden hatte und aus der Tasche nehmen wollte durchzuckte sie ein plötzlicher, dumpfer Schmerz in der Schulter. Vorsichtig schob sie ihr Gewand ein wenig zur Seite. Schockiert starrte sie auf die Schulter. Das Mädchen hatte vergessen, dass auch sie von einer der Kreaturen gebissen worden war. Die Abdrücke der spitzen Zähne waren tief in ihr Fleisch gebohrt, doch es blutete kaum. Sie begann sich zu fragen warum sie nicht, wie Kayate, ohnmächtig im Bett lag. Zeigte das Gift noch keine Wirkung? Zu viele Fragen auf einmal. Erschöpft ließ sie sich in den Stuhl sinken. „Du bist das pure Licht. Ihr Gift ist wirkungslos bei dir. Die Finsternis wurde beinahe komplett aus deinem Herzen gebrochen. DU bist eine gebrochene Seele.“, hallte urplötzlich eine Stimme in ihrem Kopf wieder. Ruckartig setzte sie sich auf und sah sich hektisch um. Außer ihr und der schlafenden Gefährtin war niemand bei ihr. „Wer ist da?“, fragte sie hörbar erschöpft. Die Stimme kicherte. Sie war ihr vertraut und dennoch auch unbekannt. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Diese Stimme…sie war sanft und tief… Wie die Stimme der geflügelten weißen Wölfin. Verwirrt sah sie sich um. Eine solche weiß leuchtende Kreatur mit riesigen Flügeln konnte man doch nicht einfach übersehen. „Wo bist du?“ „Hier und da und überall und nirgendwo!“, lachte die Stimme. Etwas genervt zog sie die Augenbrauen zusammen. „Zeig dich!“ Schweigen kehrte in das kleine Zimmer ein. „Du sollst dich zeigen!“, verlangte sie. Doch die Stimme blieb stumm. Seufzend ließ sie sich wieder auf den Stuhl zurück fallen. „Gebrochene Seele…“, widerholte sie nachdenklich, drehte und wendete es in ihrem Gedanken als wäre es ein Gegenstand. „Das hat doch auch dieser Ronin gesagt…Was…ist denn eine gebrochene Seele…?“ Eine Weile dachte sie noch über diese Worte nach, doch schon nach kurzer Zeit fühlte sie wie sich die Müdigkeit immer mehr um sie legte. Die Finsternis empfang sie langsam und träge.
Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Holzplatten kämpfte sich kaum noch etwas Sonnenlicht. Ein Strahl schien genau in Melaaras Gesicht und kitzelte ihre Nase. Seufzend blinzelte sie langsam die Müdigkeit aus ihren Augen. Noch beinahe im Halbschlaf setzte sie sich auf und streckte sich erst einmal, bis ihr schlagartig Kayate einfiel. Schon war sie hellwach und starrte zum Bett hinüber. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen das es leer war. Geschockt sog sie die Luft ein und rannte aus dem Zimmer um den alten Herren zu suchen. „Clait…! Clait, wo bist du! Kayate…Kayate sie ist...“, sie stolperte halb über den Türrahmen in ihrer Eile und konnte gerade noch so vor Clait abbremsen der bereits auf sie zu warten schien. „Was soll denn der Radau?“ „Kayate…sie…sie ist verschwunden! Nicht mehr…in ihrem Bett!“, stammelte sie etwas außer Atem. Hinter Clait stand eine Tür weit offen und führte offenbar in die Küche. Sie konnte den Geruch von Brot, Marmelade, Pfannkuchen und noch allerlei anderen Leckereien, identifizieren. Und noch einen weiteren. Kayate. Der Duft von Kayate befand sich in der Küche. Vor lauter Panik hatte sie beinahe vergessen sich auf ihre wölfischen Fähigkeiten zu verlassen. Gerade als sie einen Schritt auf die Küche zu machen wollte streckte ihr das andere Wolfsmädchen schon den Kopf entgegen. „Morgen, Melaara.“, mit einer Scheibe Toast im Mund, schenkte sie ihr ein offenes, putzmunteres Grinsen. Melaara schob die Lippe vor und warf ihrer Wolfsfreundin einen mörderischen Blick zu. „Weißt du was ich mir für Sorgen gemacht habe! Und du stolzierst hier einfach mir nichts dir nichts in die Küche von ‘nem Fremden runter!“ „Verzeihung Prinzessin, bekommst du halt nix vom Frühstück ab.“, motzte Kayate zurück. „Beruhigt euch, Ladies.“, Clait hob besänftigend die Hände. „Sie war sehr früh aufgewacht, meinte sie wolle dich nicht wecken, habe aber Hunger. Also hab ich ihr erlaubt die Küche zu benutzen. Sie hat mir erzählt ihr seid auf der Durchreise, also dachte ich, ein bisschen Proviant würde euch nicht schaden.“ Unsicher sah die weiße Wölfin von Clait zu Kayate, seufzte dann jedoch nachgiebig und bedankte sich bei Clait für die Vorräte. Nachdem sie Kayate nochmals gründlich durchgecheckt hatten, zogen sie weiter. „Lasst euch nicht von den Menschen erwischen, Wölfe.“, rief Clait ihnen nach als sie das Haus verlassen hatten. Verwirrt sahen sie zum Alten, doch der hatte bereits ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür geschlossen.
Gegen Mittag hatten sie bereits den Ausgang der Stadt erreicht. Als sie durch das Tor schritten, war alles was sie sahen rohe Wildnis. Rechts von ihnen befand sich eine weite Ebene. Außer Gras und hin und wieder ein paar Bäumen, die sich in der Ferne verloren war rein gar nichts zu sehen. Gerade vor ihnen befand sich ein Kliff. Die tobenden Wellen peitschten und rissen immer wieder Felsbrocken mit sich in die Tiefe. „So, mal schauen.“, Kayate nahm aus ihrer Seitentasche ihre Karte und faltete sie auf dem Boden auf. „Wir sind jetzt hier, am Rande von Yaosale.“ Sie deutete mit dem Finger auf den Punkt an dem sie sich befanden. „Hier befindet sich ein riesiger Landweg der nach Suimang führt. Und wenn wir diese Wildnis dort durchqueren würden, würden wir wohl sehr bald in Ortiais ankommen. Da wir aber ohnehin nach Suimang wollen, und uns in Ortiais erstmal nur eine riesige Wüste erwarten würde, schlage ich vor wir nehmen den Landweg.“ Die schwarze Wölfin wartete nicht auf eine Zustimmung sondern faltete schlichtweg die Karte wieder zusammen und steckte sie weg. „Dann mal los.“ Schon setzten sie sich wieder in Bewegung. „Sag mal…Wie lange ist es eigentlich her das wir Wölfe waren?“, begann Kayate auf einmal nachdenklich. „Hm? Öhm… Na als wir von den Lurar angegriffen wurden.“ „Ja…das stimmt…“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Entschuldige. ich hab grade nur gedacht…wir haben uns seit dem nicht mehr verwandelt. Ich frage mich ob du deine Flügel in Wolfsform behalten hast.“ Nachdenklich sah sie zum Himmel hoch. Als Melaara ihre Schwingen bekam, fühlte sie ein leichtes Gewicht auf ihrem Rücken. Doch seit sie wieder in ihrer menschlichen Form war, hatte sie dieses Gefühl verlassen. Sie zögerte nicht lange und gab ihrer wahren Seele nach. Schon stand sie als weiße Wölfin neben Kayate. Der Druck auf ihrem Rücken kehrte jedoch nicht zurück. Sie waren tatsächlich weg… Leicht enttäuscht begutachtete sie ihren Rücken „Konzentrier dich mal drauf. Vielleicht kannst du sie ja herbei rufen!“, meinte die andere Wölfin. „Keine Sorge, hier sieht uns schon niemand, wir sind weit genug weg von der Stadt.“ Melaara tat wie ihr geheißen und konzentrierte sich auf die einstigen Flügel. Sie stellte sich vor wie sie sie ausbreitete, wie der Wind durch die Federn brauste. Sie versuchte sich das Gewicht der Schwingen vorzustellen, doch sie konnte es einfach nicht auf ihrem Rücken wahrnehmen. Enttäuscht öffnete sie wieder die Augen und sah zu Kayate hoch. „Hm…kann man wohl nichts machen. Vielleicht erscheinen sie nur wenn bestimmte…Bedingungen erfüllt werden.“ „Bedingungen?“ „Ja. ich hab schon von Seelen gehört die ihre Kräfte erst nutzen konnten wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten. Zum Beispiel wenn sie in Gefahr waren. Oder wenn sie immense Angst hatten.“ Niedergeschlagen sah Melaara zu Boden. „Meine Kräfte sind also begrenzt…?“ sie seufzte. „Und ich dachte ich könnte dann frei wie ein Vogel durch die Lüfte gleiten“ Die setzte sich wieder in Bewegung und ging Richtung Landbrücke. Kayate folgte ihr. „Na ja…vielleicht kannst du das ja eines Tages. Vielleicht musst du deine Fähigkeiten einfach nur trainieren!“ Schweigend gingen sie nebeneinander her. Inzwischen hatten sie schon ein gutes Stück der Landbrücke hinter ihnen gelassen. Die Brücke war eine riesige Felsformation die über das Meer führte. Tief unter ihnen konnte man die tobenden Wellen hören. Als sie etwa die Hälfte der Brücke erreichten näherte sich Kayate dem Rand und sah hinunter. „Also wenn du hier runterfällst hast du wohl mehr als ein paar Knochenbrüche…“ Sie erschauderte an der Höhe und winkte das andere Mädchen zu sich. Als sie neben ihr stand deutete sie nach unten zum Meer. Viele spitze und tödliche Felsen ragten überall aus dem tosenden Wasser heraus. Würde man hier hinunterfallen, würde man sterben. Selbst wenn jemand die Felsen mit purem Glück verfehlen würde – die Höhe würde wohl genügen um jemanden einfach zerbersten zu lassen. Die weiße Wölfin zitterte leicht und trat ein paar Schritte zurück. Schnell ging sie weiter. „Wenn du Höhenangst hast wirst du dich mit dem Fliegen da aber schwer tun.“ „Wenn ich weiß dass ich Flügel hab, die ich kontrollieren kann hab ich keine Angst. Aber so…So bin ich auch nichts weiter als ein wehrloser Mensch.“ Plötzlich zog etwas im Himmel ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war weit entfernt, jedoch noch erkennbar. Etwas flammte auf in der Ferne. Ein bedrohliches Zischen gab zu erkennen was es war. Sie konnte Flammen sehen, das abscheuliche Brüllen hören. Melaara sah zwei Paar gigantischer Schwingen die mit kräftigen Schlägen ihre Besitzer in der Luft hielten. Gebannt sah sie an die Stelle wo die beiden Bestien immer wieder auf einander stießen, sich die Zähne und Klauen ins Fleisch stießen. „Das sind…“, brachte sie nur hervor, bevor sie merkte das Kayate sie an der Hand genommen hatte und über die Brücke zog. „Drachen!“, rief Kayate. „Und sie kommen auf die Brücke zu!“ sie sah noch einmal zum Himmel hoch. Tatsächlich, die beiden Riesenechsen kamen in ihrem Gefecht der Brücke rasend schnell näher. Beide waren sie schwer verwundet doch in ihren feurigen Augen sah man ihnen die Ernsthaftigkeit dieses Kampfes an. Es waren beide Feuerdrachen. Man konnte es an ihrer Farbe und Musterung erkennen. Beide waren sie tiefrot mit schwarz-glänzenden bedrohlichen Krallen. Eine schwarze, flammenartige Musterung zierte die beiden Drachenkörper. Die Ungetüme kamen dem Landweg immer näher, so lange, bis sie darüber hinwegrasten und die beiden Wolfsmädchen vom Luftzug beinahe weggeweht wurden. Nach einiger Zeit umkreisten sie sich bedrohlich und langsam in der Luft, bevor sie wieder an Geschwindigkeit zunahmen und aufeinander mit einem finsteren Knurren und Zischen aufeinander zurasten. Die beiden Wolfsmädchen hatten sich inzwischen wieder in ihre wahre Gestalt verwandelt und liefen mit voller Geschwindigkeit über die Brücke. „Das Ding ist nicht stark genug! Wenn die sich auf die Brücke werfen sind wir erledigt!“, rief Kayate komplett außer Atem. Der Kampf in der Luft ging unerbittlich weiter. Einer der Beiden Feuerechsen schaffte es im Nahkampf sich in den Nacken der Anderen zu verbeißen. Diese kreischte und brüllte, versuchte loszukommen und ließ die gewaltigen Krallen immer und immer wieder über den Körper des Rivalen kratzen. Plötzlich hob die verbissene Feuerechse ihren Kopf und hob somit ihren Gegner hoch. Mit einer schnellen und kräftigen Kopfbewegung schleuderte sie sie mit voller Wucht auf die Brücke. „Pass auf!“ Mit einem lauten Krachen schlug das Tier mit voller Wucht auf die Brücke ein. Seine gigantischen Schwingen und sein Schweif, schlugen über die Brücke hinweg, genau auf die Wölfinnen zu. Noch immer liefen sie im vollen Tempo, doch die immer wieder neuerzeugten Luftströmungen der Drachen wehten sie immer ein paar Meter zurück und zwangen sie immer öfter als geplant Halt zu machen. Die Wölfe strengten ihre Läufe bis zum äußersten an und sprangen, gerade so, über den Schweif des Drachen. Sie wechselten zwischen ihrer menschlichen Gestalt und wahren Gestalt um den Flügeln und Klauen der Feuerechse zu entgehen. Ein Hieb mit der Pranke dieser Kreatur, welche beinahe vierfach so groß war wie die Wölfe, hätte ausgerecht um ihnen alle Knochen im Leib restlos zu brechen. Der Riesenechse entfuhr ein lautes Brüllen, bevor sie sich langsam wieder bewegte und versuchte aufzustehen. Die Wölfinnen entgingen den Klauen der gigantischen geflügelten Echse bevor sie nur wenige Augen blicke wieder einen lauten Knall direkt vor ihnen hörten. wieder einmal bremsten sie ab und machten eine scharfe Linkskurve um dem zweiten Paar Klauen des anderen Drachen auszuweichen. Auch er hatte sich auf die Brücke niedergelassen um seinen am Boden liegenden Rivalen den Todesstoß zu versetzen. Dieser gab nur noch ein mickriges Grunzen von sich und ließ seinen Schädel müde auf den felsigen Untergrund donnern. Genau als die zweite Riesenechse ein ohrenbetäubendes Brüllen von dich gab und zum letzten Schlag ansetzte ließ ein verhängnisvolles Knacken alle Anwesenden innehalten. Ein gigantischer Riss entstand unter dem totgeweihten Drachen und bahnte sich rasen schnell seinen Weg über den ganzen Landweg. Laut und krachend suchte er sich seinen Weg unter den beiden Drachen hindurch. Die Brücke brach mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auseinander. Der siegende Drache erkannte die Gefahr und breitete seine Schwingen beinahe gleichgültig aus. Als er abhob fegte ein orkanartiger Wind über die Brücke. Die Wolfsmädchen schafften es gerade so sich im felsigen Untergrund zu verkrallen und dem Wind standzuhalten. Doch sie spürten wie unter ihnen der Boden zerbröckelte. Felsbrocken brachen ab von der Brücke und versanken in der endlosen Tiefe im Meer darunter. Ein Bein der halb toten Riesenechse befand sich bereits in der Luft, und auch der Rest ihres Körpers folgte schnell. „Melaara! Lauf!“, rief Kayate panisch und spannte ihr Laufmuskeln an als der Wind nachgelassen hatte. Auch sie zögerte nicht lange und sprintete los, als sie sah dass neben ihr der Drache bereits in die Tiefe fiel. Die Brücke zerfiel mit ohrenbetäubendem Lärm und rasanter Geschwindigkeit. Die Wolfsmädchen liefen um ihr Leben, und hatten das Ende des Landwegs beinahe erreicht. Melaaras Muskeln brannten. Doch auch der Riss hatte beinahe die gesamte Brücke dazu gebracht einfach auseinanderzufallen. Immer und immer wieder konnte sie spüren wie sie es mit einem Schritt gerade so schaffte dem Fall in den Tod zu entgehen. Kayate ging es nicht anders. Es waren nur noch wenige Meter bis sie das Ende der Brücke erreicht hatten, doch in diesen Moment sah sie zu Kayate hinüber und erstarrte. Die Zeit verlangsamte sich und sie sah wie der Boden unter Kayates Pfoten wegbrach. Verzweifelt versuchte sie sich am noch stabilen Teil weiter vorne festzukrallen, doch auch diese brach wenige Sekunden später einfach unter ihren Füßen weg. Ihre Läufe fielen wertlos in die Tiefe. „Kayate!“ Die schwarze Wölfin fiel bereits mit dutzenden von Steinen und Felsen in die Tiefe. Todesangst und Apathie spiegelten sich in Kayates sonst so fröhlich, leuchtenden Augen wieder. Melaara kniff die Augen zusammen. Eine unbeschreibliche Angst machte sich in ihrem Inneren breit. Die Angst vor dem Tod? Die Angst davor Kayate sterben zu sehen? Die Angst davor alleine zu sein? Sie wusste es nicht, doch diese Angst sendete einen Impuls in ihre Muskeln. Sie verkrampfte sich. ihre Muskeln gaben ihr nicht länger die Kraft nach vorne zu laufen. Sie befehligten ihrem Körper stehen zu bleiben. Kayate nachzuspringen.. Runterzuspringen. Ihr Körper gehorchte. Und so fiel sie wenige Augenblicke später neben Kayate in die endlose Tiefe. Doch etwas stimmte nicht. Obwohl sie unbeschreibliche Angst hatte, so erfüllte sie nicht diese Gleichgültigkeit, die Kayates Augen zu jenem Zeitpunkt prägten. Die Wölfin öffnete die Augen, und sah wie sie sich den spitzen Felsen und dem Meer immer schneller näherte. Neben ihr fiel Kayate. Sie schien bereits in Ohnmacht gefallen zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, friedlich, als würde sie schlafen. Für Melaara schien sich die Zeit zu verlangsamen. Eine bekannte Wärme erfüllte sie plötzlich wieder. Es war jenes Gefühl welches sie beim Angriff der Lurar auch verspürt hatte. Sie konzentrierte sich darauf und versuchte sich in Erinnerung zu rufen wie sie danach die Flügel besaß. Und tatsächlich; wenige Augenblicke später, kehrte auch das bekannte Schweregefühl auf ihrem Rücken zurück. Ihre Augen wurden groß und funkelnden voller Hoffnung als sie sich umdrehte um ihrem Rücken zu sehen: ihre Schwingen waren wieder da. Mit größter Mühe schaffte sie es die riesigen, weißen Flügel auszubreiten. Sogleich merkte sie wie der Wind sie nach oben hinweg zog, doch sie wehrte sich, versuchte die Flügel so zu steuern, dass sie Kayate auffangen konnte. Doch je mehr sie sich wehrte desto weiter wurde sie von ihrer Freundin entfernt. Panisch verschloss sie wieder die Augen und versuchte sich selbst zu beruhigen. Als ihr Herzschlag sich etwas verlangsamt hatte, legte sie die Flügel an und rauschte somit doppelt so schnell als vorher den tobenden Wellen entgegen. Kurz bevor sie aufschlug breitete sie die Schwingen wieder aus, flog zur Seite und sogleich wieder hinauf. sie schaffte es Kayate im Flug beim Nacken zu greifen und sie so auf ihrem Rücken zu ziehen das sie Halt fand. Das Fliegen wurde mit dem Gewicht der schwarzen Wölfin sehr viel anstrengender und anspruchsvoller. Verzweifelt schlug sie mit den Flügeln um an Höhe zu gewinnen, doch musste sie gleichzeitig auch noch den herab stürzenden Felsen der Brücke entgehen. Beinahe hatte sie den Felsvorsprung erreicht um wieder nach oben zu kommen und sich zu retten, doch in der Sekunde als sie sich schon in Sicherheit wiegte, verpasste sie es einem der größeren Felsen auszuweichen. Der Brocken rammte sich am rechten Flügel und brachte sich aus dem Gleichgewicht. Schmerzen durchfluteten ihre rechte Schulter. Verzweifelt versuchte sie das Gleichgewicht wiederzufinden, scheiterte jedoch kläglich. Ihre Krallen jedoch hatten es geschafft. Sie hatten sich fest in den kleinen Vorsprung gegraben und hielt die Wölfin an Ort und Stelle. Trotz brennender Muskeln zog sie sich auf den kleinen Felsvorsprung und ließ sich niederfallen. Komplett außer Atem lag sie keuchend auf dem kleinen Vorsprung der ihr, zumindest für den Moment, ein kleines bisschen Sicherheit gab. Zu spät erst merkte sie das Kayate von ihrem Rücken verschwunden war. Der kommende Schock jedoch ließ sie nur zum äußersten Rand des Vorsprungs krabbeln und nach unten sehen. Sie hätte schwören können, dass sie ein schwarzes Fellknäuel sah, welches daraufhin im Meer versank. Ihre Augen fielen langsam zu. Sie verlor das Bewusstsein und taumelte in die allesverschlingende Schwärze.
Kapitel 4: Abenteuer
Das erste was von ihren zuckenden Wolfsohren wahrgenommen wurde war das Geräusch der tobenden Wellen wie sie gegen eine Klippe schlugen. Der erste Gedanke; „Wo bin ich?“ Die erste Erinnerung; „Kayate!“ Ruckartig hob die Wölfin ihren Kopf und sah sich um. Noch immer lag sie auf dem kleinen Felsvorsprung am Rande der Klippe. Doch in dem Moment indem sie wieder zu Bewusstsein kam, begann auch der Vorsprung abzubröckeln. Rechtzeitig schoss das Adrenalin in ihren Körper und sie schaffte es mit einem großen Sprung Halt auf der felsigen Mauer zu finden. Ihr Herz raste wie verrückt, ihr Kopf schmerzte von den Erinnerungen, ihr Herz war verwirrt. Die waren Flügel verschwunden. Sie schaffte es, sich mit letzter Kraft nach oben an den Rand der Klippe zu schleppen. Erschöpft ließ sie sich wieder fallen und sah hinunter in den Abgrund zum Wasser und den spitzen Felsen. Von den Drachen war keine Spur mehr zu sehen, doch auch Kayate war wie vom Erdboden verschwunden. Jedoch befand sich auf den Felsen im Meer kein Blut. Hatte sie die Felsen verfehlt? sie riskierte einen Blick zu der nicht mehr existierenden Brücke. Hier und da fielen immer noch kleine Felsen hinunter ins Meer, doch der gigantische Landweg aus Stein war weg. Niemand konnte mehr den Landweg nach Suimang nehmen. Oder gar nach Leratiss. Erst jetzt erkannte sie das dies ihr einziger Weg war um je wieder nach Hause zu kommen. Verzweifelt legte sie die Pfoten über die Schnauze und blieb liegen. Scheinbar mehrere Stunden vergingen in denen sie sich kein Stück bewegte. Hin und wieder hob sie den Kopf um nach unten zum Meer zu sehen, in der Hoffnung Kayate dort zu entdecken, doch nie war es der Fall, und immer legte sie daraufhin die Pfoten wieder auf die Schnauze, um so ihrem Blick zu verhüllen. Die Realität zu verdrängen. Doch einmal war etwas anders. Ein Geräusch, ein Flattern, wie das eines Vogels, gar nicht so weit von ihr entfernt. Die Weiße hob den Kopf und spitze die Ohren, genau in diesem Moment rauschte etwas kleines Schwarzes vor ihren Augen vorbei. Panisch stolperte die sie ein paar Schritte zurück, nur um dann zu erkennen, dass das Wesen eine Art Krähe war, welche schon, als sie sich endlich umdrehte, bereits wieder einiges an Entfernung hinter sich gelegt hatte. Die Wölfin gab ein eingebildetes Schnaufen von sich als sie dem Vogel hinterher starrte, doch schon bald wurde ihr wieder klar in welcher Situation sie sich befand. Sogleich ließ sie den Kopf wieder hängen. Diesmal jedoch landete ihr Blick auf etwas anderem als dem eintönigen, kalten Fels. Scheinbar hatte die Krähe es fallen gelassen. Melaara senkte den Kopf um es besser begutachten zu können, dann wagte sie es daran zu schnuppern. Kayate Geruch klebte daran. Eine Karte. Kayates Karte. Sie verwandelte sich zurück in einen Menschen und ließ sich zusammen mit der Karte in ihren Händen auf den Rücken fallen. Sie hielt sie gegen das Sonnenlicht und studierte sie genau. Wo hatte Kayate sie bloß her? Sie war alt, zerknittert. An den Enden zerrissen, doch trotz allem noch lesbar. Das Mädchen schluckte einen Kloß hinunter als sie den Namen der Insel Lyras las und darüber nachdachte wie Kayate darüber gesprochen hatte diese Insel zu entdecken. Eine Weile bewegte sie sich nicht. Doch mit einem Mal fasste sie den Entschluss weiter zu gehen. Das Mädchen hatte eine Entscheidung getroffen. Sie wollte die Insel für Kayate finden. Die Karte faltete sie zusammen und steckte sie in die Taschen ihres Kleids. Zum ersten Mal sah sie nun was vor ihr lag. Sie wandte sich ab von dem zerstörten Landweg und in Richtung des Unbekannten. Verwundert riss sie die Augen auf, als sie sah welcher Weg vor ihr lag. Bisher hatte sie noch keine Zeit gehabt den Weg vor ihr zu erkunden, doch was sie hier vor sich hatte war zutiefst verwunderlich. Sie hatte eine riesige Steinwüste oder etwas Ähnliches erwartet, doch vor ihr lag etwas ganz anderes als Hitze und Trockenheit. In der Ferne konnte sie nur noch weiß erkennen. Der rötliche steinige Boden veränderte seine Farbe schon nach wenigen Metern zu einem eiskalten Weiß. Eis und Schnee. Vor ihr lag scheinbar eine gigantische Eiswüste. Unsicher faltete sie die Karte der schwarzen Wölfin noch einmal auseinander. Und tatsächlich; Suimang war komplett in weiß gezeichnet. Viele Flüsse schlängelten sich durch das vereiste Land. Es gab nur wenige wirklich große Städte in der vereisten Tundra. Ildorm war die Stadt die ihr am nächsten lag, wenn sie sich tatsächlich ein Boot mieten wollte um nach Lyras zu suchen. Doch die kleine Stadt lag einen langen Fußmarsch entfernt. Sie würde bestimmt 2 Tage unterwegs sein. Sorgfältig prüfte sie ihren restlichen Proviant. Clait hatte ihnen genug mitgegeben um einige Zeit lang zu überleben. Den Marsch würde sie also zumindest vom Proviant her mit Leichtigkeit schaffen. Im Endeffekt, hatte sie ihr doch etwas luftiges Kleid mit einem Wintermantel und einem dicken roten Pulli und schwarzer Jean darunter ausgetauscht. Sofort standen ihr die Schweißperlen auf der Stirn, doch sie wusste, dass dies bestimmt nicht lange so bleiben würde. Auch die Decke fand noch ihren Nutzen. Geschickt hatte sie den Stoff so geknotet, dass sie letztlich einen Mantel mit kleiner Kapuze wehend am Rücke trug. Den Rucksack packte sie darunter. Sie warf noch einen letzten Blick zurück, schüttelte dann jedoch den Kopf und lief los. Schon nach kurzer Zeit war sie in einem starken Schneesturm gefangen. Der Wind ließ die Decke wie verrückt tanzen. Das Wolfsmädchen hatte die Arme um ihrem Körper geschlungen, doch auch dies schien kaum Wäre zu spenden. Vielleicht würde sie ja der Wolfspelz wärmen… Sofort als ihr die Idee kam verwandelte sie sich. Die Flügel waren wieder einmal verschwunden, jedoch schien es in wölfischer Gestalt tatsächlich wärmer zu sein. Schritt für Schritt wagte sie sich weiter in den Sturm hinein, doch schon bald hatte sie jegliches Gefühl für Zeit. Wärme und Kälte oder gar Orientierung verloren. Ihr Verstand begann damit ihr Streiche zu spielen. Immer wieder meinte sie, sie könne eine Gestalt in den Schneewehen sehen, doch als sie blinzelte und genauer hinsah war sie verschwunden. Ihr Verstand gaukelte ihr Stimmen und Gerüche vor. Die von Takeo, von Kayate, ihren Eltern. Doch wieder und wieder schüttelte sie den Kopf, versuchte sich auf die Realität zu konzentrieren. Und mit jedem Mal wurde es schwieriger die Halluzinationen loszuwerden, bis sie schließlich von Stimmen und Gerüchen begleitet wurde. Alle von ihnen raubten ihr den Atem, jede von ihnen flüsterte und tuschelte ihr etwas ins Ohr. Sie solle umkehren, hier würde sie sterben. Das Mädchen ignorierte es. Solange, bis sie schließlich die andere Wölfin direkt vor ihr nicht bemerkte und als schlichte Einbildung abtat. Die Graue blieb stehen und sah die andere Wölfin verwundert an, als sie einfach gegen sie lief und an Ort und Stelle zusammenbrach. Melaara hob den Kopf. Eine graue Wölfin, die Pfoten mit einem schwarzen Punktemuster verziert. Sie trug etwas um den Hals. Es funkelte in einem dunkeln, verführerischen Rubinrot. Keine Halluzination. Sie nahm den Geruch in sich auf, doch wieder einmal konnte sie keinen Muskel bewegen. Frustrierend ergab sie sich der langsam näher kriechenden Dunkelheit.
„Du kannst doch nicht einfach eine Fremde aus der Sekure mitnehmen! Was ist wenn du hier eine Spionin angeschleppt hast? Bring nicht noch mehr Krieg in unser kleines Dorf!“, eine männliche Stimme. Tief, rau. Er war schon älter. Vielleicht so um die 60? „Aber…sie wäre dort sonst gestorben…“ Weiblich. Eine sanfte und tiefere Stimme. So um die 20. „Du setzt das Leben des ganzen Dorfes für eine Fremde auf dich!“ „Ist dir unser Dorf so egal?“ „Schmeißt sie raus, dann macht sie keinen Ärger mehr!“ „Ja, verbannt sie in die Eiswüste! In der Sekure wird sie ihren Fehler einsehen!“ Der Ärger und die Angst in der Luft waren förmlich auf der Haut zu spüren. Plötzlich herrschte Stille. Schritte näherten sich, und die angespannte Luft wurde von Ehrfurcht erfüllt. „Solange ich der Älteste bin, entscheide ich wer in die Verbannung geschickt wird. Und ich werde meine Enkelin nicht in der größten und gefährlichsten Eiswüste die es in Suimang gibt zurücklassen.“ Langsam wurde das Bild um Melaara herum klarer. Sie hatte die Augen geschlossen, doch die Gerüche gaben ihr ein Bild von der Situation. Sie lag wohl in einer Hütte, gemacht. Doch das Material aus der sie gemacht war, war geruchlos. Kalt. Bestand die Hütte etwa aus Eis? Ein Feuer brannte in der Mitte des runden Raumes. Jemand saß neben ihr. „Die Wölfin“, sagte ihr ihr Geruchssinn. „Sie hat mich gerettet.“ Vor dem Eingang hatte sich scheinbar eine Traube von Menschen gebildet, die nun jedoch zur Seite gingen um Platz für jemanden zu machen. Langsam wurde es still. Der Stimme und dem Geruch nach zu Folge war es ein sehr alter Mann. Bestimmt schon um die 80. Ein hartes „Klack“ ertönte und ließ das Wolfsmädchen wissen, dass er sich nur noch mit einem Stock fortbewegte. Seine Gelenke rochen beinahe säuerlich. Wäre er Beute gewesen… Melaara warf den Gedanken beschämt weg. „Rin… Wieso hast du sie hier her gebracht, Enkelin? Wieso hast du dich in der Sekure, der Wüste der Eisgeister, herumgetrieben und diese Fremde mitgebracht?“, wollte der Alte wissen. „Großvater…sie hat auch eine tierische Seele… Sie war in der Eiswüste…Ganz alleine und dem Tod nahe. Ich konnte sie da doch nicht einfach liegen lassen!“. Verzweiflung, Wut und Empörung in ihrer Stimme. Schockiert sogen die Personen draußen vor der Tür die Luft ein als das Mädchen von der tierischen Seele erzählte. Jetzt wo sie es erwähnte… Melaara bemerkte, dass einige Personen vor der Hütte eine spezielle Seele hatten. Da war der durchdringende Geruch eines alten Fuchses. und einer Säbelzahnkatze. Auch eine seltene Drachenseele mischte sich unter die verschiedenen Düfte. Es gab…ein ganzes Dorf mit wahrhaftigen Seelen…? Hier…? Vorsichtig öffnete Melaara die Augen. Sie konnte nicht sehr viel ausmachen, Alles war verschwommen und verwischt. Hier und da waren Farben, Schatten. Das Mädchen neben ihr. Rot-braune Haare. Ein hellblaues Gewand mit weißem Pelz darum. Es erinnerte beinahe an ein Gewand der alten Eskimos. „Rin…auch wenn sie Eine von uns ist – du kannst nicht einfach so Fremde aus der Sekure mitnehmen! Wir brauchen hier keine Spione! Der Krieg soll nicht auch noch zu uns kommen, oder möchtest du das?“ „Ich weiß, Opa. Nein ich möchte es natürlich nicht aber ich…ich konnte doch nicht einfach zulassen dass sie stirbt. Trotz allem wäre sie immer noch ein Lebewesen, oder nicht?“ Kurzes Schweigen erfüllte den Raum. „Wir werden sie gesund pflegen. Aber dann muss sie gehen. Wir können es nicht riskieren, dass sie uns verrät.“ Das Klacken des Stocks entfernte sich wieder und verließ das Haus. „Und nun kusch! Hört auf euch wie ein Rudel räudiger Straßenköter um das Haus meiner Enkelin zu scharen! Na los, trollt euch!“ Ein paar Sekunden passierte nichts, doch als der Älteste seinen Stock vielsagend in den Boden rammte, entfernte sich der Massenauflauf langsam. Schweigen machte sich in dem kleinen Häuschen breit. Lediglich das Knistern des Feuers durchbrach die Stille hin und wieder. Melaara richtete sich auf und blinzelte dabei die Verschwommenheit hinfort. Stechende Kopfschmerzen plagten sie. Sie spürte wie das Mädchen neben ihr ein kleines Stück vor ihr zurückgewichen war und sie schweigend und unsicher anstarrte. „Kein sehr nettes Dorf…“, brachte sie angestrengt hervor und schaffte es das Mädchen anzusehen und dabei zu lächeln. „Wölfische Seelen haben‘s wohl einfach nicht leicht, was?“ Das Mädchen mit dem Namen Rin fixierte sie noch ein wenig, bevor sie die Knie an sich zog und traurig den Kopf schüttelte. „Keine Sorge, ich bin kein Spion. Ich bin einfach nur auf einer Reise.“ Rin seufzte. „Woher kommst du?“, wollte sie wissen. „Leratiss. Diapdra ist meine Heimatstadt.“ Das Mädchen nickte nur. „Sag mal…wo genau bin ich hier?“ „Ildrine.“ „Ildrine…?“, besorgt öffnete sie die Karte und suchte nach dem Namen. Sie seufzte erleichtert, als sie feststellte, dass das Dorf gleich über Ildorm lag. Sie war somit Lyras noch näher als sie es ursprünglich vorhatte. Zufrieden faltete sie die Karte zusammen und steckte sie wieder weg. „Verzeih, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Melaara.“ „Ich bin Rin.“ Müde lächelte das rothaarige Mädchen. Erschöpft stand sie auf und nahm sogleich den Rucksack der nur wenige Meter vor ihr stand. „Wo willst du denn hin?“ „Ich werde meine Reise fortsetzen. Ich bin hier doch eh nicht willkommen.“ „A-Aber du bist doch noch gar nicht vollkommen gesund! Ich hab keine Ahnung wo du hinwillst, aber das nächste wirkliche Dorf liegt einen guten Tagesmarsch von hier entfernt! In deiner momentanen Verfassung schaffst du das nicht!“ „Ach was. Wölfe sind zäh. Gerade du solltest das doch auch wissen, oder nicht?“ „Ja aber...“ sie hob die Hand um das Mädchen zu unterbrechen. „Kein Aber. Im Moment habe ich nur ein Ziel. Und wenn ich dieses Ziel auch aus den Augen verlieren würde…nun, dann wüsste ich gar nicht mehr wohin ich gehen sollte. Außerdem…habe ich es ihr doch mehr oder weniger versprochen…“ Am Ende schien ihre Stimme ein wenig zu zittern. Ja, sie hatte es ihr versprochen…und sie würde es einhalten. „Dann werde ich dich begleiten.“ Verwundert sah sie zu dem Mädchen „Wieso? Wenn du mich begleitest, eine Fremde, die euch vielleicht verraten wird, dann werden sie dich garantiert aus dem Dorf werfen.“ Das andere Wolfsmädchen zuckte mit den Schultern. „Du als Wölfin solltest es doch wissen. Wir sind nicht gerade sehr beliebt. Außer meinem Großvater wünscht sich niemand, dass ich hierbleibe. Was hab ich also schon zu verlieren?“ „Vielleicht dein Leben? Der Krieg tobt im Moment ja anscheinend überall. Das wird also bestimmt keine kleine Bergwanderung.“ Rin nickte. „Ich bin genauso eine Wölfin und mindestens genauso stark wie du. Unterschätze mich nicht.“ Rins Augen spiegelten Selbstvertrauen wieder, genau wie die ihren, als sie ihre Sachen gepackt hatte und in eine fremde Welt lief. Nach einem kurzen Schweigen nickte die Braunhaarige. „Wenn du es unbedingt willst. Dann lass uns gehen.“ „Geh schon mal vor. Der Ausgang liegt einfach immer grade aus, bei einem großen Tor. Gar nicht zu verfehlen. Wir treffen uns dann da.“ Melaara nickte erneut und trat heraus aus der warmen Hütte, hinein in den Schnee und die Kälte. Vor ihr befand sich ein kleiner Weg, an dessen Ende man bereits das erwähnte Tor erkennen konnte. Das Dorf schien nicht sehr groß zu sein. Müsste sie schätzen, hätte sie behauptet dass hier maximal 15 der kleinen, aus Eis gemachten Hütten waren. Platz genug für etwa 40 bis 50 Leute. Sie konnte die Anwesenheit der anderen deutlich spüren, auch wenn nur wenige von ihnen tatsächlich zu sehen waren. Doch alle hatten sie etwas gemeinsam; die Aura die sie umgab, als die Wölfin an ihnen vorbeiging. Zwar konnte sie erkennen das alle von ihnen unterschiedliche Seelen hatten, doch die Aura der Nervosität, Angst und oft auch Hass, war bei allen deutlich zu vernehmen. Sie spürte wie eine Hunde Seele sie anknurrte, eine Vogel Seele ihr Gefieder aufplusterte und Abstand vor ihr suchte, eine Panther Seele fauchte und ihre Krallen über den Boden wetzte. Ungehindert ging sie zum Tor. Als sie dieses erreicht hatte lehnte sie sich ruhig dagegen und sah ins Dorf hinein. Sie spürte wie die Blicke abgewendet wurden, die vielen unterschiedlichen Seelen langsam zurückwichen und wieder ihrem Alltag nachgingen. Dann war da noch etwas anderes. Eine einzelne, kleine Seele bewegte sich langsam auf sich zu. „Bitte…pass mir gut auf meine Enkelin auf, Wölfin.“, sprach die Stimme eines schmächtigen, ergrauten Fuchses. Der alte Mann. Sie verwandelte sich in ihre tierische Gestalt, trat dem Alten entgegen und berührte seine Schnauze vorsichtig mit ihrer. Danach trat sie zurück und senkte den Kopf vor ihm. „Ich werde über sie wachen.“ Der Ergraute nickte zufrieden und trottete zurück in sein Dorf. Genau in diesem Augenblick lief ihr eine kleine, graue Wölfin fröhlich entgegen. „Los geht’s!“, rief diese sowohl aufgeregt als auch unsicher. Das Tor öffnete sich und gewehrte ihnen Zugang zu ihren neuen Abenteuern.
„Agh…Es ist kalt….Es ist einfach VIEL zu kalt! Ich packe das nicht mehr ich brauch ‘ne Pause!“, ein grauer Wolfshintern plumpste erschöpft in den Schnee. Wie zum Kuckuck hatte sie es geschafft so weit in die Eiswüste zu laufen und die weiße Wölfin aufzusammeln, wenn sie noch nicht einmal diese Strecke durchhielt? „Wir sind doch gerade mal ein paar Stunden unterwegs…“, schnaufte die Weiße sichtlich genervt als sie sich zur Grauen umdrehte. Diese ließ sich erschöpft in den Schnee fallen. „Trotzdem…“, jammerte Rin. Sie seufzte und verwandelte sich in Menschengestalt zurück. Dann öffnete sie den Rucksack und warf der Wölfin ein kleines Brötchen entgegen, welches diese freudig in einem Happen in der Luft auffutterte. „Ich habe dir gesagt das wird kein Spaziergang.“ „Ich wusste doch aber auch nicht das es SO anstrengend wird…““Wir ruhen uns 5 Minuten aus, danach gehen wir weiter. Es ist zu kalt um lange hier zu verweilen.“ „Nur 5 Minuten?“, quengelte Rin. „Nur 5.“ „Aber dann bin ich nach 10 Minuten doch wieder halb tot.“ „Dann beiß die Zähne zusammen und zeig mir ob du tatsächlich so taff bist wie du es vorher meintest.“, ungeduldig knurrte die Weiße. Unsicher legte die Graue ihre Ohren etwas an und schluckte schwer, bevor sie sich trotzig in Bewegung setzte und voran tapste. „Worauf wartest du denn?“, fragte sie eingeschnappt. Melaara seufzte nur und verdrehte die Augen, bevor auch sie sich wieder in Bewegung setzte.
Die Reise war lang und beschwerlich. sie zogen von Ortschaft zu Ortschaft, doch war es überall dasselbe: Die Menschen betrachteten sie an jedem Ort mit Misstrauen. Hier und da trafen sie auf Tierseelen, doch auch diese betrachteten sie voller Verachtung, manche sogar mit Mitleid, doch niemand hielt sie auf, fragte wohin sie wollten. Sie beobachteten sie einfach nur mit diesen gewissen, angespannten Blicken, bis sie die Wölfe ihre Vorräte wieder aufgefüllt hatten und wieder von dannen zogen. Je weiter sie gen Meer zogen desto wärmer wurde es. Zwar befand sich um sie herum immer noch nichts weiter als eine gigantische Eis- und Schneewüste, doch die eiskalten Stürme ließen nach. Die Sonne kämpfte sich mit jedem Tag mehr durch die dichten Wolken, bis sie schließlich als Menschen umher wandern konnten. Schwer keuchend und schwitzend stapften sie durch Schnee und Eis, welches das Sonnenlicht so erhellte, dass einem die Augen selbst noch weh taten wenn man sie geschlossen hatte. „Es ist nicht mehr allzu weit. Halte durch Rin, bald sind wir in Yura.“ Yura war neben Rain in Suimang die einzige richtige Hafenstadt, von der aus es ihnen möglich war nach Lyras zu segeln. Nach wenigen Stunden der Wanderung konnten sie auch schon das Glitzern des Meeres sehen. Erleichtern und erfreut stürmten sie der salzigen Seeluft entgegen, in der Hoffnung, dass sie den beschwerlichsten Teil der Reise nun hinter sich gelassen hatten. Yura war etwas größer als Rins Heimatdorf. Der Ort erinnerte Melaara beinahe an Yaosale, wenn auch etwas kleiner. Doch die Häuser in Yura waren nun keineswegs mehr kleine Eishütten wie man es in vielen anderen Dörfern und Vororten der Fall war. Nein, diese hier waren prachtvoller. Sehr viel prachtvoller. Mehrstöckige Häuser, aus Eis gemacht, verziert mit Verschnörkelungen, großzügigen Balkonen glitzerten, funkelten, und reflektieren sie das Licht der Sonne. Das Licht der untergehenden Feuerkugel am Himmel und das Schillern und Glitzern des Meeres, alles getaucht in ein tiefes rot-orange baten ein Bild das jedem Künstler den Stoff für einzigartige Bilder und Träume geliefert hätte. Der Hafen war nicht sehr weit entfernt. Er bot Platz für etwa 30 große und protzige Segel- und kleinere Fischerboote. „Aber….wie sollen wir denn da an eines ran kommen?“, meinte Rin verwundert als sie vor einem der Prachtexemplare standen, und sie ihrem kleinen Beutel voll Geld hochhielt. „Das können wir uns doch nie leisten…Geschweige denn…kannst du überhaupt segeln?“ Die Braunhaarige nickte. „Ein bisschen. Als ich ganz klein war haben meine Familie und ich immer kleine Segelturns in Yaosale gemacht. Als der Krieg kam wurde unser Geld jedoch knapp…Aber ich erinnere mich an ein paar Dinge. Es wird schon irgendwie gehen.“ Zuversichtlich lächelte sie, doch die Graue sah sich lediglich mit hochgezogener Augenbraue und einer wachsenden Sorge an. „Und wie kommen wir an ein Schiff ran?“ „Na, wir machen‘s wie die Piraten!“, lachte Melaara. „W-…Was?!“, rief Rin geschockt. „Na wir kapern eines!“ „Bist du gaga?! Die erwischen uns doch sofort!“ „Dann machen wir‘s halt in der Nacht mit einem eher kleineren Schiff. Hier gibt es doch auch mittlere Boote welche sich zu zweit locker segeln lassen!“ „Du musst vollkommen bescheuert sein… Ich glaube die lange Zeit als wir in der Eiswüste waren hat dir nicht gut getan, Mädchen.“ „Ich bin vollkommen bei Sinnen, Rin. Ich bin nur dazu gewillt ein Versprechen zu halten und mein Ziel zu erreichen. Unter allen Umständen.“ Eine Weile sahen sie einander schweigend und angespannt an. Melaaras Blick wurde sanfter. „Wir werden es heil und unversehrt zurück bringen. Wir borgen es uns nur für eine Weile.“, wollte sie ihre neue Gefährtin überzeugen. „Ich halte das nicht für richtig…“, meinte diese trotzig, doch ihr Blick senkte sich gen Boden. „Aber ich hab keinen Ort mehr zu dem ich zurückkehren könnte…“ „Das ist nicht wahr. Ich glaube dein Großvater würde dich immer wieder in seinem Dorf aufnehmen.“ „Nicht wenn der Rest der Bevölkerung dagegen ist.“ Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen, dann legte die weiße Wölfin felsenfest eine Hand auf Rins Schulter und lächelte sie breit an. „Wird schon schief gehen!“ Rin nickte einfach nur stumm und sah wieder zu Boden. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem warmen und versteckten Plätzchen um auf die hereinbrechende Nacht zu warten. Das Wasser glitzerte verführerisch im Schein der Sterne und es Mondes. Die Boote schwanken sachte auf den Wellen des Meeres. Das Rauschen brachte einen in Versuchung zu träumen. Doch etwas durchbrach die träumerische Szenerie. Zwei kleine Kreaturen schlichen von Boot zu Boot und sahen es sich genau an. Zwei Paar verstohlene Wolfsaugen blitzen aufgeregt durch die Nacht, auf der Suche nach dem richtigen Boot, als auch auf der Hut nach anderen Wesen. Ein mittleres, kleines Ding, mit schwarzen Segeln und einer riesigen Krähe mit ausgebreiteten Flügeln als Galionsfigur sollte es sein. Leise tapsten sie an Board und fingen an die Seile zu lösen und die Segel zu setzen. Schnell war das Boot seetüchtig und segelte langsam hinaus aufs dunkle, schwarze Meer. Die wölfischen Augen veränderten sich und sahen zurück zu der kleinen Hafenstadt. Zwei Mädchen standen nun auf dem Schiff und lächelten verschmitzt, als die Stadt immer kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Entgegen aller Erwartungen war es ein lauter Schrei und kein angenehmes Wellenrauschen, welcher Melaara weckte. „Rin…? Was ‘n los?“, rief sie, komplett schlaftrunken. Ihre Zunge bewegte sich schwer in ihrem Mund. Als Antwort bekam sie nur ein hysterisches Gekreische und einen Ruf nach Hilfe. Schnell rappelte sie sich auf und rannte in die Richtung aus der das Gekreische kam. Oben an Deck sah sie das Rin mit etwas kämpfte. Es flatterte wild, krächzte und kreischte, zog an ihren Haaren. Schwarze Schwingen schlugen durch die Luft und vermischten sich mit Rins wedelten Armen zu einem Gewirr aus Haaren, Federn und Armen. Melaara zögerte nicht lange, rannte unter Deck, schnappte sich den Rucksack und warf ihn mit voller Wucht auf das flatternde und krächzende Wesen, welches vom Gewicht und der Wucht des Rucksacks zu Boden geworfen wurde. Rin keuchte und machte sich schnell ihre vollkommen durcheinander gewordenen Haare zurecht, die ihr wild von überall abstanden. Der Angreifer lag, noch immer wild flatternd, unter dem Rucksack und versuchte sich krächzend zu befreien, jedoch erfolglos. Zwei Paar rötlich glänzender, wütend funkelnder Krähenaugen sahen zu ihnen herüber. „Was genau ist passiert?“, fragte sie das andere Mädchen. „Ich bin einfach nur an Deck gegangen um zu sehen wo wir sind und ob wir auch noch auf Kurs sind, und dann greift mich auf einmal dieses….dieses Unwesen da an!“, wütend zeigte sie mit dem Finger zu der Krähenartigen Kreatur. Das Tier sah einer Krähe zum Verwechseln ähnlich. Doch anstatt der breiten Schwanzfedern hatte es einen länglichen Schweif, an dessen Ende eine große, lange Feder prangte. Auch der Kopf war verziert mit zwei der Schweifartigen Fortsätze an dessen Enden wieder große Federn platziert waren. Der Rucksack lag auf dem Rücken des Wesen und erlaubte im somit lediglich mit dem Schweif wild umher zu schlagen sowie wehrlos mit den Flügeln zu flattern. „Wie könnt ihr es wagen mein Schiff zu stehlen?!“, hallte plötzlich eine arrogante weibliche Stimme in den ihrem Kopf wieder. „Wer…?“ „Das ist MEIN Schiff, hört ihr?! Und ihr beiden kommt hier einfach mitten in der Nacht an und KLAUT. MEIN. SCHIFF! Unverzeihlich!“ Die Stimme konnte nur von der krähenartigen Kreatur kommen. „Wie kann eine Krähe ein Schiff besitzen?“, meinte Melaara amüsiert. „Was fällt dir ein! Ich bin keine Krähe!“, schrie die Stimme laut in ihrem Kopf. „Wage es nicht mich mit einem Vogel zu vergleichen…!“, meinte die Stimme empört. „Mein Name ist Eneru! Und ich habe die Seele eines Aeroni! Und nicht die eines stickenden Aasfressers!“ Plötzlich, innerhalb eines Herzschlags, verwandelte sich das schwarze Federbündel mit dem Namen Eneru in ein menschliches Wesen. Ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren und tödlichen roten Augen packte den kleinen Rucksack der auf ihrem Bauch lag und schleuderte ihn Melaara mit voller Wucht entgegen. Sie konnte ihn gerade noch so mit einem lauten „Uff“, auffangen, taumelte jedoch ein paar Schritte zurück. „Und jetzt bringt mich gefälligst wieder zurück nach Yura! Ich hab doch schließlich einen Auftritt heute!“ „Auftritt?“, Rin sah sie ratlos an. „Jawohl, Auftritt.“, plötzlich strahlte das Gesicht des Mädchens vor Begeisterung. „Ihr habt noch nie von der großen Eneru gehört? Dem Mädchen mit der Aeroni-Seele, dem großartigem Ding das auf der Bühne mit ihrer schauspielerischen Glanzleistung und ihrer wunderschönen Ausstrahlung das ganze Theater zum Leuchten bringt? Ihr MÜSST von mir gehört haben!“ Mit ausfallenden Bewegungen und übertrieben großen Schritten tänzelte sie über das Deck des Schiffes und sonnte sich in ihrem eigenen Glanz. Ihr hellblaues, luftiges Sommerkleid flog dramatisch durch die Luft als sie abrupt stehen blieb und sich die Hand gegen die Stirn hielt als hätte sie Fieber. „Aber natürlich, wie könnten zwei Piraten wie ihr, auch je von so etwas Glanzvollem wie mir gehört haben? Aber wenn ihr Piraten seid wie komme ich dann nun zurück? Dieser Weg ist doch viel zu weit für meine kleinen Flügel! Aber wahrscheinlich suchen sie doch ohnehin schon alle nach mir! Ach, ich freue mich schon wenn ich gerettet werde und ihr bösen Wölfe eingesperrt werdet!“ Die beiden Wolfsseelen sahen einander nur mit zuckenden Schultern an. „Wie wär‘s wenn wir sie fesseln? Machen das nicht die echten Piraten so?“, ein schelmisches Funkeln spiegelte sich in Rins Augen wieder. Melaara zog nur die Mundwinkel verständnislos nach unten. „Keine Ahnung. Aber ich schätze so kann sie nicht wegflattern. Oder uns mit ihren schauspielerischen Leistungen über den Haufen rennen.“ Gesagt, getan. Melaara holte ein Seil Unterdeck hervor und band, mit Rins Hilfe, den widerspenstigen Aeroni an den Mast. „Das könnt ihr doch nicht machen!“, protestierte sie, bereits mit Tränen in den Augen. „Ich bin berühmt, hört ihr? Berühmt! So könnt ihr doch nicht mit einem Star umspringen! Ihr blödes Wolfs Piraten Pak!“ „Hör mal zu Prinzessin.“, begann die weiße Wölfin und stellte sich vor die Gefangene. „Wir sind keine Piraten. Nun ja keine echten. Lediglich zwei Mädchen mit einer Wolfseele, die hier gerade versuchen ihrem Ziel etwas näher zu kommen. Wenn du also nicht vorhast zu kooperieren, dann werden wir dich wohl recht bald auf einer einsamen Insel aussetzen oder dich einfach über Bord werfen, aye Matrose?“ Das Mädchen nickte nur stumm und verbissen. Zufrieden mit ihrer Reaktion wandte sich Melaara wieder an Rin. „Und? Sind wir denn auch noch auf Kurs?“ Schnell stieg das Mädchen die kleine Treppe hoch zum Ruder und warf einen Blick auf den daneben liegenden Kompass, sowie der ordentlich auseinander gefalteten Karte. „Aye, Aye, Kapitän Melaara!“, grinste sie breit. „Wir sollten laut der Karte in ein bis zwei Tagen auf der Insel sein.“ Zufrieden nickte die Braunhaarige. „Insel? Welchen Ort steuert ihr denn an?“ „Lyras.“ Ein belustigtes Schnaufen entfuhr Eneru. „Ihr wisst aber schon, dass niemand die Insel je gesehen hat? Na ja, niemand der heute noch lebt. Das sind doch alles nur alte Legenden, nichts weiter. Und ich wurde tatsächlich bei diesem halsbrecherischem Abenteuer entführt…“ „Sie existiert.“, die weiße Wölfin sprach mit unerhörter Zuversicht. „Sie existiert.“, wiederholte sie und sah Eneru dabei standhaft an. „Und wir werden sie finden.“ „Und dann? Was macht ihr wenn ihr sie dann entdeckt habt?“ Plötzlich lag jeglicher Fokus auf Melaara. Die beiden anderen Mädchen warteten auf eine Antwort. Rin knetete beunruhigt ihre Hände. „Ich…“, sie grübelte, doch weit kam sie mit ihrem Gedankengang nicht, als plötzlich ein verheerender Luft Stoß über das Deck zog und die beiden stehenden Mädchen beinahe außer Gleichgewicht brachte. Wind kam auf und ließ das Schiff in einem beunruhigenden schnellen Rhythmus hin und her schwanken. Erst jetzt bemerkte Melaara, dass das ansonsten so helle und freundliche Meer sich urplötzlich verfinstert hatte. Die Sonne war verschluckt von schwarzen Wolken. Die Segel flatterten wie verrückt im Wind, als würden sie jeden Moment hinaus aufs endlose Wasser gezogen werden. „Wo kommt denn auf einmal dieser Sturm her?!“, schrie Rin gegen den immer wilder werdenden Wind an. Noch bevor jemand etwas antworten konnte erübrigte sich Rins Frage; ein lautes Brüllen schallte über das Wasser. Nicht weit entfernt von ihnen konnte man gigantische, blaue, echsenartige Schwingen sehen. Doch neben dem Drachen war noch etwas anderes in der Ferne zu erkennen; Schiffe. Es waren gigantische Segelschiffe Suimangs und Shianrils, die sich bedrohlich im Wasser umkreisten. „Nicht schon wieder…“, Melaara sah angsterfüllend zu der Bestie in der Luft. Starker Regen setzte ein, als Kanonenschüsse erklangen und der Drache noch einmal brüllte. Die Schüsse kamen vom Schiff der Nation Suimang. Bereits aus der Ferne konnte man erkennen wie sich die Schiffe näher kamen und ein Kampf auf ihnen ausartete. Eisstrahlen zuckten durch die Luft und trafen ihre Gegner meist mitten ins Herz. Auch das geflügelte Reptil scheute nicht davor gefrorenes Wasser auf die Feinde seiner Nation niedergehen zu lassen. „Wir sollten abhauen. Und zwar schnell bevor wir da hineingezogen werden.“, die weiße Wölfin stand angespannt und nervös an der Reling. Zwar war es nicht dasselbe Tier, doch der Anblick des Drachens aus Shianril trieb ihr die Erinnerung an den Verlust von Kayate wieder zurück in den Kopf. Sie beeilten sich. Zogen die Leinen fest, versuchten mit den Segeln des Schiffes jeden noch so kleinen Lufthauch zu ihrer Flucht zu nutzen. Doch der Regen machte sie langsam. Der Kampf auf den beiden fremden Schiffen war noch immer deutlich zu vernehmen. Und sie kamen näher. Ebenso wie der Eisdrache der Feinde. „Wenn wir uns nicht beeilen treffen uns die Angriffe der Drachen!“, rief Rin panisch. Doch in der Sekunde als sie es aussprach war es soweit; Ein Regen aus riesigen, spitzen Eiszapfen ging auf das Schiff nieder, zerfetzte die Segel und trieb tiefe Löcher in die Seiten des Schiffes hinein. „Shit…“, fluchte die Braunhaarige und rappelte sich gerade wieder vom Boden auf als sie einen der Eiszapfen gerade noch so entkommen war. Ein weiterer ohrenbetäubender Kanonenschuss erklang. Doch diesmal war er nicht auf das Boot Shianrils gerichtet. Die Kugel kam auf das Schiff zugeschossen. In einem schnellen Hechtsprung brachten sie sich auf der anderen Seite des Schiffes in Sicherheit, doch der Schuss hatte einen großen Teil der Steuerbordseite in den tiefen Meeresgrund gezogen. Keuchend kam sie wieder auf die Beine als der zweite Schuss ertönte und das Boot noch weiter verkleinerte. Ein Eisregen ging auf ihnen nieder. Schüsse erklangen. Das Gebrüll der Riesenechse schallte durch die Luft. Der Geruch von Schwarzpulver und Blut in der Nase und im Mund. Der weißen Wölfin wurde schwindelig. Ihre Beine gaben nach als ein weiterer Kanonenschuss erklang. Unheimliche Stille nahm plötzlich den Platz des Geschehens ein.
Ein sanftes Meeresrauschen weckte sie. Wellen strichen immer und immer wieder über ihre Beine hinweg, salzige Luft füllte ihre Lungen als sie sich aufsetzte und das dunkelblaue Wasser sich vor ihr ausbreitete. Sie war wohl an einem Strand. Und wieder einmal ohnmächtig geworden. Melaara seufzte. In letzter Zeit schien sie die Ohnmacht beinahe zu beherrschen. Vorsichtig sah sie sich nach links und rechts um. Keine Spur von Schiffen, oder von kämpfenden Drachen. Neben ihr bewegte sich plötzlich etwas. Ruckartig sah sie neben sich auf den Boden, nur um dort einen Knäuel aus schwarzen Federn vorzufinden. „Mein Schiff…“, krächzte eine bedauernde Stimme, als sich das Federbündel langsam entknotete und der Aeroni mit ausgebreiteten Flügeln, völlig erschöpft auf dem Rücken lag. „Mein schönes, schönes Schiff…“, schluchzte sie. „Was ist passiert? Wo ist Rin?“ „Wen interessiert schon das Wolfsmädchen! Diese Typen haben mir mein Schiff kaputt gemacht!“, ihre Trauer schien sich in Wut umzuwandeln. Das kleine Krähenartige Wesen kam schnell wieder auf die Beine, hüpfte und flatterte empört durch die Luft. „Ich will Rache! Jawohl!“ „Nicht bevor ich weiß wo Rin ist!“ Eneru gab ein komisches knurrendes Geräusch von sich und begab sich in die Lüfte. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war das Krähenwesen verschwunden. Melaara ließ sich wieder in den Sand fallen. Musste wirklich schon wieder jemand verschwinden? Zuerst Kayate und dann auch noch Rin. Sie schluckte einen Kloß hinunter. Etwas unschlüssig saß sie da, nicht sicher was sie nun tun sollte. Einerseits wollte sie Eneru nachlaufen, um nicht ganz alleine dazustehen in einer ihr fremden Welt, doch was war mit Rin? Wohin sollte sie gehen? Sie stand auf und klopfte sich den Sand von den Klamotten. Zum ersten Mal wand sie nun auch den Kopf nach hinten um zu sehen was hinter ihr lag. Sie keuchte erstaunt auf. Ein Urwald. Gigantische Bäume, dicht an dicht, überall hingen Lianen herab und schienen den Wald noch unwirtlicher werden zu lassen. Erst jetzt nahm sie all die Geräusche wahr. Das Krächzen von fremdartigen Vögeln, manchmal sogar das Brüllen eines Panthers und noch viele andere Geräusche und Gerüche die sie einfach nicht einordnen konnte. Und plötzlich war da etwas im Dickicht genau vor ihr. Goldene Augen starrten ihr aus der Dunkelheit entgegen. Und noch bevor sie aufschreien oder irgendwie anders reagieren konnte schnellte das Etwas mit gebleckten Zähnen auf sie zu. Alles was sie sah war ein großer schlanker Schatten und wenige Augenblicke hatte sie irgendwas im Nacken gepackt und raste mit ihr in den Urwald. Die weiße Wölfin trat und schlug um sich. Verwandelte sich sogar in eine Wölfin um den Angreifer zu beißen und zu kratzen, doch die ständigen Lianen und Blätter welche ihr unaufhörlich ins Gesicht klatschten erschwerten es ihr auch nur den Kopf zu heben. Es war schnell, sprang leichtfüßig von Ast zu Ast, trotz ihres Gewichtes. Es hielt sie im Nacken fest, ob mit Zähnen, Krallen, oder einer menschlichen Hand konnte sie nicht deuten- Der Schmerz war nichts verglichen mit dem in ihrem Gesicht. Gut 10 Minuten bewegte sich ihr Angreifer grazil durch den Wald, bis er plötzlich abrupt anhielt und das Mädchen einfach vor sich auf den staubigen Boden warf. Eine Staubfahne wirbelte auf als sie aufschlug und hustend wieder auf die Beine kam. „Verzeiht mir, weiße Wölfin, dass ich euch so grob entführt habe, doch die Situation ließ mir keine andere Wahl.“ Seine Stimme klang rau und alt. Vorsichtig hob sie den Blick und zog überrascht die Augenbrauen zusammen. Trotz der rauen Stimme schien er nicht sehr alt zu sein. 25, 30 maximal. Sein mittellanges, schwarzes Haar hing von seinen Schultern. Er verneigte sich, hatte die Hände wie zu einem Gebet gefaltet. „Wer…wer bist du?“, brachte sie trotz ausgedörrter Kehle zustande. Ruckartig hob er den Kopf. Seine goldenen Augen glänzten verwirrt. „Ihr… Ihr erkennt mich nicht…?“ Beklommen schüttelte sie den Kopf. Trotz ihres Alters war Takeo das Einzige männliche Wesen zu dem sie je halbwegs engen Kontakt aufgebaut hatte. „Nein… Ich... wer...“, stammelte sie. „Ramon. Ich bin‘s doch…dein Ramon. Wie kannst du mich denn einfach vergessen haben?“ DEIN Ramon? Dem Wolfsmädchen wurde schwindelig. Urplötzlich kam er näher und kniete sich vor sie hin. Mit einer Hand strich er ihr über die Wange. Seine Augen lagen sanft auf ihr. Er kam näher. Ihr Atem vermischte sich fast. Ihre Wangen brannten. Bevor er noch näher kommen konnte gab sie ihm einen so harten Stoß das er ziemlich hart auf den Boden prallte. Schnell stand sie auf und nahm Abstand von ihm. Er sah sie entgeistert an als er sich vom Boden hochkämpfte. „Wie kannst du mich denn nur einfach vergessen haben, Taivori?!“, jetzt klang er empört. Moment mal. „Taivori“? Ich bin nicht Taivori.“ Er hielt in der Bewegung inne. „Was?“ „Ich bin nicht Taivori.“, wiederholte sie und wich noch weiter zurück bis sich die Rinde eines Baumes an ihrem Rücken schmiegte. „Aber das kann nicht…Du riechst… Wer bist du denn dann?“ Zum ersten Mal erkannte sie das auch um ihn ein verschwommener Schatten lag. In ihrer Panik hatte sie es nicht wahrgenommen, aber jetzt wurde es klarer. Er hatte also auch eine Tierseele? “Ich heiße Melaara.“ „Ich verstehe es nicht…Du riechst wie sie… Deine Aura ähnelt der ihren. Ihr seht euch sogar sehr ähnlich.“ Langsam wurde das Bild klarer. Sie erkannte die spitzen Zähne. Sie hatte mit einem Panther gerechnet, da er vorher am Strand in Windeseile bei ihr war. Die Gestalt war jedoch viel größer als ein Panther oder ein Wolf. Schwerfälliger. Wie hatte er sich so schnell bewegen können? Ein großer schwarz-weiß gefleckter Bär sah ihr aus goldenen, sanften Augen verwirrt entgegen. Panda. Er war ein riesig, großer Pandabär. „Warum hast du mich entführt?“, brachte sie nach einer ganzen Weile endlich nervös raus. „Weil ich dachte, du bist Taivori. Und weil ich dich so schnell wie möglich von diesem Aeroni wegschaffen wollte.“ Seine Hand machte eine wegwerfende Bewegung. „Von Eneru? Aber warum? Zugegeben… sie ist keine sehr angenehme Person aber…“ „Eine Verräterin.“ „Wie bitte?“, erstaunt sah sie ihn an. Ramon räusperte sich, sein Schatten und die kleinen Panda Ohren zuckten leicht. „Melaara, du hast noch nie etwas von den Aeroni gehört, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. Eine etwas seltenere Tierseele, hatte sie bisher angenommen. Seine Stimme klang herablassend als er erneut zu sprechen begann: „Sie sind bekannt dafür als Spione für die drei großen Nationen zu handeln. Sie liefern jeden zu ihrem eigenen Vorteil aus. Ihnen ist nicht zu trauen.“ Eneru, eine Verräterin? „Aber was sollte sie denn bloß mit mir anfangen?“ Der Panda schwieg und musterte die Wölfin von oben bis unten. „Vielleicht weil auch sie weiß wer du bist.“ Sie neigte den Kopf zur Seite. „Und wer bin ich?“ „Taivoris Re-„ weiter kam er nicht als ein lautes Rascheln plötzlich auf sie zukam. Der Geruch verriet ihr wer es war: Rin und Eneru. Wenige Augenblicke später stolperte Rin durch die Büsche heraus auf sie zu und hielt auf der Stelle an als sie den Panda sah. Ihre Augen wurden riesig. Als der Bär unvermittelt auf sie zustürmte, brüllend und mit gefletschten Zähnen presste sie sich auf den Boden. In ihrer Wolfsgestalt machte sie sich so klein es ging und klemmte die Rute zwischen die Hinterbeine. Doch Ramon steuerte nicht auf die Wölfin zu. Als er vor ihr stand verpasste er ihr einen so starken Schubs mit seiner großen Tatze, das Rin zu der weißen Wölfin kugelte. Schnell krabbelte sie hinter sie und sah den Bären schaudernd an. Eneru, die bisher auf Rins Rücken gesessen hatte, flatterte nun panisch und verloren durch die Gegend als Ramon mit seinen gewaltigen Pranken nach ihr schlug und drohte sie mit seinem Kiefer zu zerquetschten. Wild und empört krächzend schaffte sie es schließlich irgendwann auf den Ast eines Baumes, der für Ramon zu hoch war um die Gefiederte zu erreichen. Erst jetzt wachte die Weiße langsam aus ihrer Starre auf. Es ging alles viel zu schnell, sodass sie eine Weile einfach nur perplex dagestanden hatte. „Ramon! Hör auf! Eneru ist meine Freundin!“, rief sie und stürzte zu dem Bären der gerade dabei war den eher schmächtigeren Baum niederzudrücken auf dem Eneru saß. Knurrend sah er die andere Wolfsseele an. „Sie ist ein Aeroni!“, schnaubte er. „Und nur deswegen willst du mich umbringen?! Rassist!“, krächzte das Vogeltier leicht panisch. „Euresgleichen seid Verräter!“ „Du kennst sie doch nicht, woher willst du das wissen?!“, schrie die im Vergleich zum Panda schmächtige Wölfin neben ihm. „Ich weiß es!“, fauchte der Bär zurück. „Sie hat mich gerettet…“, meldete sich Rin nun langsam leise zu Wort. Auf dem Bauch kroch sie langsam näher. „Sie ist nicht böse. Nervig, aber nicht böse.“ „Vertrau uns doch.“ Ramon musterte die Wölfinnen und schließlich die Seele im Baum eine ganze Weile bevor er schließlich von Eneru abließ. „Ich werde ihr eine Chance geben.“, sagte er schließlich. „Aber ein kleiner Fehltritt und…“, knurrend sah er zu ihr. Eneru schluckte schwer, flatterte schließlich aber zurück auf Rins Schulter. „Eneru hat dich gerettet, Rin?“, Melaara sah zu den Beiden. „Ich war am Strand zwischen einigen schweren Bootsteilen eingeklemmt, das Wasser stieg immer höher und ich stand kurz vorm Ertrinken. Eneru hat mich zu rechten Zeit noch befreit.“ Stolz plusterte diese ihr Gefieder auf. „Wie auch immer. Was machen wir denn jetzt? Wir haben kein Schiff mehr. Und wir wissen noch nicht einmal wo wir sind.“ Unsicher begab Melaara sich in ihre menschliche Gestalt und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Lyras.“ Ihr Blick zuckte zu Ramon. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und band sich gerade die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Wie bitte?“, ungläubig machte Rin einen Schritt näher an ihn. Auch sie blickte ihm nun wieder aus menschlichen Augen entgegen. Eneru jedoch verblieb in ihrer anderen Form nervös zuckend auf Rins Schulter. „Ihr seid auf der Insel Lyras.“, wiederholte er. Es herrschte Schweigen. Lediglich die Geräusche des Urwalds durchbrachen es. Sie hatten es tatsächlich geschafft? So einfach? Die weiße Wölfin hatte Kayates Traum erfüllt. Ihr Versprechen gehalten. Einfach so. Sie stand wieder nur perplex da, doch Rin brach in schallendes Gelächter aus und tanzte um sie herum. „Wir haben‘s geschafft! Ich pack es nicht, wir haben’s tatsächlich geschafft!“ Eneru und Ramon betrachteten die Weiße beide mit Misstrauen. Skeptisch zog der Panda Mann eine Augenbraue hoch. „Früher oder später wärt sie doch sowieso hier gelandet. Was soll der Aufruhr?“ Rins kleiner Tanz endete, doch ein kleines Lächeln blieb. „Wieso bist du so sicher dass wir hier gelandet wären?“ Ramon nickte zu der Braunhaarigen. „Ihretwegen. Es ist ihr vorherbestimmt.“ „Vorherbestimmt?“, Melaara hatte ihre Stimme wieder gefunden. Er nickte. „Du riechst wie sie, hast die gleiche Aura wie sie, nein, du BIST sie. Du bist Taivori. Sie ist in dir. Du bist die weiße Wölfin. Du bist diejenige die alles verändern wird.“ Jetzt war sie es die verwirrt eine Augenbraue hochhob. „Verändern? Aber was denn?“ „Na…einfach alles! So beschreibt es doch die Legende.“ Als die Gruppe ihn wieder nur verständnislos ansah kam er kopfschüttelnd auf sie zu. „Den Krieg beenden, den Frieden bringen. Die Welt wieder auf die richtige Schiene bringen! Taivori hat ihnen eine friedliche Welt hinterlassen als sie ging, doch seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Nationen haben mit ihrem Krieg, eine Finsternis heraufbeschworen die ihre kühnsten Träume übersteigt und uns alle irgendwann verschlingen wird. Und somit liegt es nun mal an dir – Melaara, Taivoris Reinkarnation – die Welt wieder ins Reine zu bringen. So wie es die geflügelte weiße Wölfin schon einmal getan hat.“ Seine goldenen Augen funkelten aufgeregt als er sprach. „Die?!“, krächzte Eneru aufgebracht und flatterte plötzlich wild um Melaara um sie zu begutachten. „DAS soll die Reinkarnation von DER weißen Wölfin sein?!“ So wie sie es betonte schien auch Eneru die Legende zu kennen. „Sie ist es. Daran besteht kein Zweifel. Und nun folgt mir.“, der große Panda bewegte sich schwerfällig weiter in den Dschungel vor. Schweigend folgten sie ihm alle. Melaara wusste nicht was sie sagen sollte. Zuerst erfuhr sie, dass sie ihr eigentliches Ziel erreicht hatte, leichter als sie es sich hätte träumen lassen. Und nun, dass scheinbar die gesamte Last der Welt auf ihrem Schultern lag? Das war einfach zu viel auf einmal. Sie konnte Rins und Enerus Blicke auf sich spüren und ignorierte es, Stur starrte sie auf den Boden, versuchte wieder einen klaren Kopf zu kriegen. Es gelang ihr nicht. Schon nach kurzer Zeit hatten sie eine Art Lichtung erreicht. Am Ende gurgelte ein kleiner Wasserfall und mündete in einen kleinen See. Inmitten des rundlichen Platzes befand sich eine riesige Statue. Darauf standen ein Mädchen sowie ein geflügelter Wolf. Das Mädchen ähnelte ihr. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihnen von der Seite mit einem verschmitzten Grinsen und einem Herausfordernden Lächeln entgegen. Ihre Haare waren länger als Melaaras. Die Flügel des Wolfes waren weit gespreizt. Er wirkte aus als würde er jeden Moment abheben. Der gesamte Platz strahlte eine unbeschreibliche Erhabenheit aus. Plötzlich dachte die Weiße wieder an den erwähnten Schrein aus der Geschichte. Er existierte tatsächlich. Nein, jene weiße Wölfin gab es wirklich. Und sie lebte in ihr…? „Wir müssen damit beginne zu trainieren.“ Ramon riss sich aus ihren Gedanken. „Trainieren?“ „Ich nehme an das du dein anderes dunkles Ich schon getroffen hast?“ „Anderes dunkles Ich?“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Du meinst Ronin…“ Der Panda nickte. „Eines Tages wirst du Ronin besiegen müssen. Aber auch die drei Nationen wieder zu vereinen wird nicht leicht werden. Und wenn sie sich nicht wiedervereinen, so wird diese Finsternis niemals enden. Du musst dazu trainieren. Nein… Eigentlich nicht nur du.“ Er sah zu Rin und Eneru. „Alle, die dich auf dieser Reise begleiten sollten trainieren und ihre Fähigkeiten ausbauen.“ „A-Aber ich will die doch gar nicht begleiten!“, warf Eneru sofort ein. „Ich bin doch eigentlich nur von denen entführt worden! Ich will einfach nur mein Schiff zurück und wieder nach Hause!“ „Das Schiff kannst du wohl abhacken.“, Rin verpasste dem Aeroni einen kleinen Schubs. Als Dank dafür hackte dieser ein paar Mal fest auf den Kopf des Mädchens ein. „Lass das! Ich sag doch nur die Wahrheit!“, knurrte Rin und verscheuchte Eneru indem sie sich schüttelte und nach ihr schlug. „Dem Aeroni werde ich sowieso nicht beim Trainieren helfen.“, arrogant ging Ramon hinüber zum kleinen Teich. Eneru schnaubte nur verächtlich und ließ sich auf einem Ast in der Nähe nieder. Ramons menschliche Seite nahm die Überhand und zeigte auf das kleine Fleckchen Wasser. „Dort wird euer Training fürs erste stattfinden.“ Sie alle traten näher heran. „Und was genau werden wir da lernen?“, Rin betrachtete das Wasser sowie den jungen Mann neben sich misstrauisch. „Ihr werdet eure Fähigkeiten ausbauen. Vielleicht neu entdecken. Aber fürs erste werdet ihr, oder viel eher Melaara, lernen mit der Dunkelheit in euch klarzukommen.“ „Aber…“, alle drehten sich zu der Weißen um. „Mir wurde gesagt dass, als Ronin sich verlassen hat, all die Dunkelheit mit ihm verschwunden wäre. Und das ich das pure Licht wäre!“ Es waren die Worte der weißen Wölfin. Taivoris Worte. „Wer auch immer dir das gesagt hat, hatte nur zum Teil Recht. Ja, als Ronin ging hat er den größten Teil der Finsternis aus deinem Herzen mit sich genommen. Doch in jedem Herzen gibt es Dunkelheit und in jedem Herzen gibt es Licht. So wie in deinem Herzen ein kleiner Funke der Finsternis übrig bleibt, so ist auch im Herzen deines Rivalen ein kleiner Funke des Lichts. Jeder von euch kann diesen kleinen restlichen Funken dazu benutzen eine eigene, unbeschreiblich mächtige Technik zu erlernen. Jedoch muss jeder von euch lernen diesen kleinen Funken zu beherrschen, ansonsten wird er euch überwältigen.“ Ramon trat näher an die Braunhaarige heran, legte ihr die Hände auf die Schultern und sprach mit einer so ernsten Stimme weiter, dass sie regelrecht erstarrte. Sein Blick fesselte das Mädchen. „Unterschätze diesen Funken nicht, Melaara. Er mag noch so klein sein, doch ist es die pure Dunkelheit. Wenn du nicht lernst es zu kontrollieren, wird es sich ausbreiten und dich irgendwann verschlingen.“ Er ließ sie los. „Geh in den Teich und konzentriere dich. Konzentriere dich auf diesen Funken der Dunkelheit. Nimm ihn an. Dann wirst du die Macht sehen die in ihm liegt. Sie wird versuchen dich zu überwältigen. Dich zu verschlingen und in die ewige Dunkelheit zu zerren. Wiederstehe dem! Und dann kappe die Verbindung! Kappe sie sobald du die Macht gesehen hast. Noch bist du nicht dazu in der Lage sie zu beherrschen.“ Sie schluckte schwer und sah zum Teich. Die vom Wasserfall entstandenen Wellen kräuselten sich und tanzten unheilvoll über die Wasseroberfläche. Zögernd machte sie einen Schritt vorwärts. Eine Hand hielt sie plötzlich zurück. Rin. „Du willst das doch nicht ernsthaft tun, oder?“ „Ihr bleibt keine Wahl. Wenn sie nicht lernt es zu kontrollieren werden wir alle bald vergangen sein.“, warf Ramon ein. „Und woher sollen wir überhaupt glauben dass DU hier nicht der Verräter bist? Vielleicht ist das alles eine Farce! Vielleicht bist du lediglich ein niederer Räuber und willst uns reinlegen um uns zu töten oder sonst was! Das alles ist doch komplett verrückt!“ „Mitnichten.“ „Das ist lächerlich. Beweis es doch!“ „Weiße Wölfin, hör nicht auf das Gerede dieses Wolfsmädchens.“ „Glaub dem alten Panda nicht, Melaara!“ „Melaara!“ Eneru stand schweigend daneben als die beiden wie wild auf sie einredeten. Ihre Stimmen machten das Mädchen wirr im Kopf. Sie weiß nicht wie lange sie da stand. Es fühlte sich wie mehrere Stunden an, in denen Ramon und Rin immer wieder ihrem Namen riefen und auf sie einredeten. Sie verstand es kaum noch. Da war nur noch ein wirres Stimmengeflüster. Es schmerzte in ihrem Kopf. Alles drehte sich. Irgendwann riss sie sich los und rannte hinein in den kleinen Teich. Hinter ihr kreischte Rin beinahe panisch auf. In der Mitte des Teiches blieb sie stehen. Sie konnte spüren das irgendwer ihr nachlaufen wollte, doch noch bevor sie sich umdrehen oder gar anderweitig bewegen konnte verschwand plötzlich alles in einem gleißenden Licht. Reflexartig hielt sie sich schützend die Augen vors Gesicht. Als sie sie langsam wieder öffnete erwartete sie ein nur allzu bekannter Ort. Überall nur strahlendes Weiß. Leere. Stille. Sie war an diesem Ort, den die weiß Geflügelte ihr Herz nannte. Doch die angenehme Wärme die sie das letzte Mal empfunden hatte war nicht da. „Taivori?“, rief sie in die Leere. Ein kaum wahrnehmbares Echo kam zurück. Ansonsten erhielt sie keine Antwort. Verloren sah sie sich um. Sah nach oben, nach unten. Drehte sich mehrmals um sich selbst. Nichts schien sich zu rühren. Da war nur Weiß. Überall. Doch plötzlich fing etwas ihren Blick. Ein kleiner schwarzer Fleck. Sie drehte sich um, um ihn genauer anzusehen. Obwohl er sich nicht vom Fleck rührte schien er lebendig. Er bewegte sich und als sie genauer hin sah wusste sie auch warum. Es schien eine kleine schwarze Flamme zu sein. Noch einmal sah sie sich kurz um, und ging dann zügig darauf zu. Ihre Schritte hallten von den nicht sichtbaren Wänden wieder, als würde sie durch eine Halle laufen. Als sie nur noch wenige Schritte von der Flamme trennten blieb sie stehen und hockte sich hin um das kleine Ding näher zu begutachten. Da war kein Holz was die züngelnde Flamme am lebend erhalten hätte können. Langsam streckte sie die Hand aus um nach ihr zu greifen. Keine Wärme. Melaara war sogar als würde ihr kühler. Das Dunkle berührte sie fast, als sie plötzlich etwas inne halten ließ. „An deiner Stelle würde ich sie nicht anfassen. Noch nicht.“ Neben ihr befand sich, wie aus dem Nichts erschienen, die weiß Geflügelte. Doch diesmal konnte Melaara ihre Ruhe bewahren, wenn ihr auch zu viele Fragen auf einmal durch den Kopf rasten. Die Geflügelte lächelte nach Wolfsart. „Ich hab dich schon erwartet. Ich hatte gehofft dass du zu Ramon finden würdest. Du hast wirklich bereits viel durchmachen müssen, kleine Wölfin. Obwohl ich bedauerlicherweise sagen muss, dass dies gerade erst der Anfang ist.“ „Du bist also wirklich…Taivori? Und ich bin deine Reinkarnation? Das klingt so über die Maßen verrückt.“ Die Wölfin leckte ihr zuversichtlich über den Arm. „Ja, das mag sein. Aber die Zeiten heute sind doch generell verrückt.“ Melaara starrte nachdenklich in Taivoris Augen. Zu viele Fragen auf einmal schwirrten ihr im Kopf umher. Sie hatte Probleme eine auszuwählen. Schließlich jedoch hatte sie sich entschieden: “Das bedeutet Ramon hat die Wahrheit gesagt, und ich bin dazu bestimmt unsere Welt vor der Finsternis zu retten? Und auch die Nationen wieder in Frieden zu vereinen?“ Taivori legte den Kopf schief. „Nun… Ramon übertreibt gerne manchmal. Und schließlich weiß auch er nur einen Teil, aber… Ja, es stimmt. Es gibt da diese uralte Legende die etwas in diese Richtung besagt aber… Jeder von euch… Von deinen Gefährten… hat in dieser Legende seinen ganz eigenen Platz. Nicht du alleine bist…‘die Auserwählte‘. Ihr habt alle euren Teil zu erfüllen.“ „Das heißt also… Eneru und Rin sind…“ „Und Ramon und Kayate. Das Schicksal hält für euch alle etwas bereit. Doch zu meinem Bedauern weiß ich nicht was. Die Legende ist alt. Älter noch als ich, und ich vermag nur einen Teil davon zu erzählen. Meinen Teil. Meine Gefährten und ich wurden auf der Reise getrennt. Vielleicht ist auch das der Grund, dass sich die Geschichte immer und immer wieder von vorne abspielt, den Grund dafür vermag ich nicht zu sagen.“ Melaara sah die Wölfin nur schweigend und aufmerksam an. Sie verstand kaum etwas von ihrem Geschwätz. Alles wurde nur noch verwirrender. „Gefährten? Ich…ich denke ich habe von deiner Legende gehört, Taivori, aber darin kamen niemals… Gefährten vor. Es hieß du warst allein.“ Die Wölfin sah zuerst das Mädchen und danach die pulsierende Flamme eindrücklich an. „Das war ich auch. Zu Beginn, kleine Wölfin. Doch wie gesagt: Nur ein kleiner Teil der eigentlichen Legende hat bis heute überlebt. Irgendwo da draußen muss es noch weitere geben. Ihr müsst diese Teile finden und zusammensetzen. Und noch wichtiger ist, dass ihr sie dann erfüllt. Jeder muss seinen Teil erfüllen.“ „Und wie sollen wir das machen?“ Die Wölfin seufzte niedergeschlagen. „Wenn ich das wüsste, meine Kleine. Damals war es meine Aufgabe die Finsternis zu vernichten. Sowohl die, die meiner selbst entsprang, als auch jene, die die Nationen zu jener Zeit plagten. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe. Scheinbar habe ich die endgültige Finsternis zu früh herausgefordert… und dabei mein Leben gelassen.“ „Etwas verstehe ich bei dem allem aber nicht…“ Zum ersten Mal während des Gesprächs stand Melaara auf und bewegte sich nachdenklich durch den Raum bevor sie wieder zur Wölfin blickte. „Wie sollen wir diese Legende je erfüllen? Es ist mir doch gar nicht mehr möglich.“ Stur starrte Melaara gen Boden. „Was meinst du?“ „Na…eine meiner Gefährten ist doch… Sie ist doch nicht mehr da.“ Die Wölfin neigte wieder den Kopf fragend zur Seite. „So? Wer denn?“ Wütend knurrte Melaara. „Du warst doch die ganze Zeit in meinem Herzen! Also hast du es doch auch gesehen, oder nicht?! Kayate! Ich rede von Kayate, verdammt!“ „Oh.“ Die Wölfin lächelte schelmisch. Melaara wäre ihr am liebsten an die Kehle gesprungen. „Da mach dir mal keine Sorgen, sie ist gar nicht so weit weg wie du glaubst.“ „W-Wie meinst du das?“ Aufbrausend stürmte Melaara auf die Wölfin zu und packte sie am Fell an den Schultern. „Heißt das sie ist noch am Leben?! Los antworte schon!“ Wild schüttelte sie das Tier, solange bis Taivori ihr mit ihren Hinterpfoten einen Stoß in den Magen gab und sie zurücktorkeln lässt. Zum ersten Mal bleckte die Wölfin die Zähne. „Sei nicht so ungeduldig! Zügle dich! Da! Sie was du angerichtet hast!“, Taivori deutet mit ihrem Kopf auf die Flamme hinter ihr. Sie schien gewachsen zu sein und noch schneller zu pulsieren als vorher. „Siehst du? Wenn du dich nicht zurückhalten kannst wird sie dich übermannen. Du kannst es noch nicht kontrollieren!“ Melaara ballte die Fäuste, rannte auf die Wölfin zu und schlug nach in blinder Wut. Diese wich mit einem federleichten Sprung und einem leichten Flattern der Schwingen kinderleicht aus, dennoch fletschte sie, genau wie nun das Mädchen, ihre Zähne. Ein tiefes Grollen kam aus der Kehle der Geflügelten. „Was weißt du denn schon?! Ich habe die einzige Freundin verloren die ich je hatte! Und jetzt soll ich auf einmal die Welt retten?! Oder soll ich sterben, genauso wie du?!“ Wieder und wieder schlug sie auf das Tier ein, doch die Wölfin duckte sich leichtfertig unter jedem Hieb hinweg. „Melaara! Hör auf! Du weißt nicht was du anrichtest!“ „Und wie ich das weiß! Die Dunkelheit wird mich übermannen! Soll sie doch! Ich werde sie beherrschen!“ Die Flamme hinter ihnen wuchs auf das dreifache an, zischend und pochen schien sie nach Melaara und der Wölfin zu greifen. „Ich..“ Wieder ein Hieb. „Werde...“, noch ein Schlag ins Leere. „Euch alle…“, die Flamme berührte das Mädchen beinahe. „…vernichten!“ Melaara vermeinte Ronins Stimme zu hören, welche sich mit ihrer eigenen vermischte. Nur wenige Augenblicke später spürte sie wie ein quälendes Brennen sich einen Weg durch ihren Körper bahnte. Verzweifelt schrie sie auf und nahm ein paar Schritte Abstand zu Taivori um nach hinten zu sehen. Die schwarze Flamme, nun ungefähr so groß wie Melaara, hatte sie erreicht, und schlang sich langsam um ihren Körper. Das Mädchen fiel auf die Knie und merkte wie sie von der Schwärze immer mehr nach hinten gezogen wurde. „Melaara…“, Taivori sah bedauernd zu ihr. „Hilf mir!“, kreischte das Mädchen und versuchte sich im Boden festzukrallen. Der weiße Raum schien zu Beben. Die Wölfin wackelte merkwürdig verschwommen vor Melaaras Augen. „Ich kann nicht. Die Finsternis würd die Überhand gewinnen. Und sei es auch nur für einen Moment…sie wird mich verschlingen... Geh voran mit Zuversicht. Du kannst die Legende erfüllen, ich weiß es. Das war unser letztes Treffen, kleine Wölfin. Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht mehr helfen konnte. Leb wohl, Melaara.“ Die Wölfin schien mit dem Raum zu verschmelzen. Wut, Verzweiflung und Trauer schlugen auf Melaara ein, als die Dunkelheit ihren Körper verschlang und der Raum aus Licht langsam zusammenbrach. Rins besorgte Augen blickten ihr bereits wieder entgegen. Doch Melaara konnte nichts anderes als schreien. Sie schrie so verzweifelt und laut wie es ihre Stimmbänder zuließen. Doch nach einiger Zeit erkannte sie ihre Stimme nicht mehr wieder. Es war kein menschlicher Schrei mehr. Er hatte sich mit etwas animalischem, gar monsterartigem vermischt und ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Melaara sah ihre zu Tode verängstigten Gefährten nur noch durch einen grauen Schleier, als ihr Körper, außerhalb ihrer Kontrolle, auf ihre Freunde mit gespreizten Klauen zuraste.
Kapitel 3: Neue Welten
Ihre letzten Tage verliefen genau wie jeder andere. Mit dem Unterschied das ihre Gedanken sich nur um eines drehten. Das Mädchen wartete geduldig die Zeit ab bis die Nacht zum Aufbruch nahte. Die Welt schien tief und fest zu schlafen, als das Mädchen sich in jener Nacht darauf vorbereitete zu verschwinden. Sie war nicht sicher, ob Freunde oder Familie an jenem Tag gemerkt hatten, was sie vorhatte, doch Takeo schien an diesem Tag besonders auf sie aufzupassen und Kayate warf immer wieder schüchtern einen Blick zu ihr, wenn sie gerade nicht hinsah. Selbst die Schüler und die Lehrer schienen zu spüren, dass ein Abschied nahte und waren fast freundlich. Als sie sicher war, dass alle eingeschlafen waren, und auch sicher nicht aufwachen würden schlich sie sich aus dem Bett, hinüber zur Kommode. Sie hatte neben ihrem Bett, einen braunen Rucksack stehen gehabt, in den sie nun hastig, jedoch vorsichtig, ihr Gewand einpackte. Sie nahm nur das allernötigste mit. Am Ende hatte sie zwei Hosen, ein T-Shirt, einen Pullover, eine Weste sowie eine warme Decke eingepackt. Der Rucksack war bereits ziemlich voll, doch sie wagte es nicht eine größere Tasche mitzunehmen. Es würde ihre Mobilität wahrscheinlich sehr einschränken. Es fehlte nur noch das Essen, welches sie noch am Abend vorbereitet hatte. Am Abend gab es leckere Brötchen zu essen, da Kayate zu Besuch war. Sie hatte extra einige Brötchen zu viel gemacht, die niemand aß und sie „bedauernd“ in den Kühlschrank gestellt. Sie schlich in die Küche und stopfte die in Alufolie gewickelten Brötchen so wie eine große ein Liter Wasserflasche in den Rucksack und bewegte sich zur Haustür. Sie hatte sich vor dem Schlafen gehen nicht umgezogen und trug nun ein lila Kleid, welches von einer weißen Schleife an der Hüfte zusammengebunden war. Darunter trug sie ein Paar dicke, schwarze Leggins. Das Kleid war an den Seiten geöffnet und ließ ihr somit genügend Beinfreiheit zum Laufen und Kämpfen. Schließlich hatte Kayate ihnen noch am selben Tag gezeigt, wie sie ihre wölfischen Fähigkeiten auch in menschlicher Form verwenden konnten. Sie konnte sich nun viel schneller bewegen und ebenso kräftige und verheerende Faustschläge und Tritte austeilen. Inzwischen hatte sie ein Paar Turnschuhe in ihren Rucksack gepackt und ihr selbst ein etwas älteres Paar angezogen. Dann zog sie ihr noch einen längeren, warmen Wintermantel an, hängte sich den Rucksack um und öffnete die Tür. Ein kühler Windhauch griff nach ihr und lockte sich in die Dunkelheit hinaus. sie schlich hinaus in die Finsternis und drehte sich noch einmal zögerlich um, um in ihr vertrautes Heim zu blicken. Ein letztes Mal dachte sie an all die schönen Dinge, die ihr hier passiert waren und für einen kurzen Augenblick, dachte sie daran umzukehren. Doch sie schüttelte entschieden den Kopf, verdrängte den Gedanken schnell wieder aus ihrem Kopf, drehte sich um und lief weg, fort von ihrem Haus, fort von Kayate, fort von Diapdra. Während sie durch die Nacht spurtete, stellte sie sich ihr die Gesichter meiner Familie vor, wenn sie den Zettel lesen würden, den sie ihnen hinterlassen hatte. Sie war nicht gerade der Typ für große Abschiedsworte. Also schrieb sie lediglich, dass sie auf eine Reise gehen wollte. Es sei ok so, denn sie habe einiges gelernt in letzter Zeit, sie würde sich gegen jeden Feind ohne Probleme behaupten können. Takeo würde auf die Knie fallen und sein Gesicht in den Händen vergraben, damit niemand sehen konnte dass er weinte. Doch seine zuckenden Schultern würden ihn verraten. Sayo würde sich an ihren Mann lehnen und ihren Kummer in ihn hinein schluchzen und Teshi würde einfach nur ungläubig den kleinen, schäbigen Brief anstarren. Er würde nicht wütend werden, auch nicht total panisch. Er würden seufzen und versuchen die Ruhe zu bewahren, bevor er dasselbe auch seiner noch übrigen Familie raten würde. Dann würde er Takeo fragen, ob er etwas ahnte. Und sie war sich nicht sicher wie die Geschichte dann weiterlaufen würde. Zwar kannte sie ihrem Bruder sehr gut, doch seit er herausgefunden hatte, dass er ein Wolf war, hatte er sich verändert. Er war mutiger und unvorhersehbar geworden. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie die Geschichte weitergehen würde. Entweder er würde ihren Eltern sagen, dass er herausgefunden hatte, was sie wirklich waren und er die ganze Zeit Bescheid wusste, dass seine Schwester hier unglücklich war, oder er würde still sein, den Kopf schütteln und so tun als hätte er nichts gewusst. In beiden Fällen jedoch würde es damit enden, dass sich alle auf die Suche machen würden. Doch da sie inzwischen schon den Rand der Stadt erreicht hatte, und genau in diesen Moment auf die vielen funkelnden Lichter Diapdras schaute, würden sie sie nicht mehr finden und verzweifelt aufgeben müssen. Ihr fiel ein, dass Takeo sich ihr vielleicht anschließen könnte. Vielleicht würde auch er einen solchen Brief schreiben und sich dann selbst und alleine auf die Suche nach ihr machen, ganz zum Unglück ihrer Eltern. Doch wenn hier jemand alleine machen konnte was er wollte, dann war das Kayate. Sie würde höchstwahrscheinlich alles stehen und liegen lassen, wenn sie erfahren würde, dass sie weg war. Kayate würde alle ihre Sachen packen und die Verfolgung aufnehmen, wie ein Spürhund der Polizei. Schließlich war es allen, bis auf ihr und Takeo egal wenn Kayate verschwinden würde. Man würde sich wohl für ein, zwei Tage wundern, wo die aufgekratzte Verrückte abgeblieben war, doch auch diese Stimmen würden schnell verschwinden. Sie hatte einen hohen Hügel erklommen und blickte ein letztes Mal auf ihre Heimatstadt, bevor sie sich endgültig umdrehte und in der Nacht verschwand. Sie hatte sich in ihre tierische Seite verwandelt und ließ sich von ihren Pfoten hinter den Wald tragen, der am Stadtrand wuchs. Erstmals wunderste sie sich was eigentlich mit den Anziehsachen und dem Rucksack passiert war. Sie war eine reine Wölfin, mit nichts am Körper als ihrem weißen Pelz. Scheinbar verschmolzen alle Klamotten und Gegenstände am Körper einfach mit der tierischen Seele. Die Weiße hatte das Gefühl dass all ihre Sachen noch an ihrem Körper waren. Das Gewicht schien kaum spürbar an ihrem Körper zu haften. Ihr Rücken fühlte sich schwerer an als sonst. Der Wald durch den sie lief war nicht im Geringsten wie der hinter ihrem Haus. Er war heller, ließ mehr Mondschein hindurch und war auch von weniger Wurzeln, die aus der Erde hervorstanden, verunstaltet. Doch gleichzeitig war er auch unheimlich. Er gab nicht diese Wärme und dieses heimliche Gefühl von sich wie Zuhause. Eine Bedrohung und unheimliche Stille schien von ihm auszugehen. Doch glücklicherweise, war dieser Wald auch nicht so groß wie der den sie sonst kannte. Nach einem Lauf, der gerademal eine halbe Stunde gedauert hatte, fand sie sich an einem Strand wieder. Die von Mondlicht beschienenen blassen Wellen kräuselten sich und schlugen mit leisem Rauschen auf den Sand auf und rissen etwas davon mit sich ins tiefe Meer zurück. Zögernd schritt sie zum Wasser und betrachtete danach eingehend ihre eigenen Pfotenabdrücke im nassen Sand. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war. Sie drehte sich schlagartig um und sah einem Paar smaragdgrüner Augen entgegen. Unbeholfen stolperte sie ein paar Wolfslängen zurück. Ein großer schwarzer Wolf starrte ihr aus funkelnden Augen entgegen. Kurz glaube sie, dass es vielleicht Kayate war, doch Kayate war bei weitem nicht so groß und ihre Augen hatten nicht diesen bedrohlichen Glanz. Der Geruch des Anderen kam ihr bekannt vor. „Weiße Wölfin.“, begann der Wolf zu sprechen. Seine Stimme klang rau, jedoch nicht alt. Er sah furchterregend aus, so wie er sich musterte. „Wer… bist du?“, ihr Fell sträubte sich ein wenig als sie ihre Muskeln anspannte. Sie hatte zwar erwartet auf ihrer Reise bestimmt noch mehr Wölfen zu begegnen, doch das gleich außerhalb Diapdras einer auf sie zu warten schien, damit hatte sie nicht gerechnet. Der schwarze Wolf senkte seinen Kopf, die Augen immer noch auf die weiße Wölfin fixiert. „Du erinnerst dich nicht an sich? Schande!“, beinahe klang es als wäre er enttäuscht. Auf einmal kam ihr die Idee, dass es vielleicht der Mann aus ihrem Traum sein könnte. Krampfhaft versuchte sie sich an seinen Namen zu erinnern. Es war verrückt. „Ronin?“ Der Wolf zog seine Lefzen zu einem kleinen grausamen Lächeln nach oben. Ein kurzes bestätigendes Knurren kam aus seiner Kehle. „Die Finsternis in deinem Herzen. Deine andere Seite. Der Samurai ohne Meister.“, wiederholte er, als sei er direkt aus dem Traum hierher gewandert. Einfach nur verrückt. „A-Aber du warst doch nur ein Traum! Wie kannst du echt sein!“ Wieder stolperte sie ein paar Schritte nach hinten, die Augen weit aufgerissen, das Fell gesträubt vor Angst. „Was willst du?“, brachte sie als jämmerliches Wimmern heraus. Elegant trat der Wolf einen Schritt näher. Sie drängte sich weg von ihm, die Ohren leicht angelegt und den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, so wie es ein unterwürfiger Wolf es bei einem höherrangigem Tier machte. „Ich will stärker werden.“, seine Augen funkelten blutrünstig als er sprach. „Und die Finsternis kann nur stärker werden wenn das Licht nicht mehr existiert.“ Er lachte mit drohenden scharfen Zähnen. „Leider jedoch, bin ich noch zu schwach. Genau wie du.“ Inzwischen schlich Ronin um sie herum, was sie nur noch nervöser machte. Ungeduldig verfolgte sie jede seiner Bewegungen. „Wie heißt es doch so schön? ‚Ohne Licht keine Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht.‘ Aber ich werde mich damit nicht begnügen. Ich werde eine Möglichkeit finden, wie die Dunkelheit auch ohne das Licht existieren kann. Du solltest besser auch nach einem Weg suchen. Denn wenn ich stark genug bin, dann werde ich kommen. Ich werde kommen und das ach so helle Licht aus deinem Körper befreien und zerstören.“ „Du willst mich töten…“, flüsterte sie schockiert, fragend. „Uns ist es bestimmt zu kämpfen. Du und ich, wir sind gemeinsam eine Seele. Alleine, sind wir nichts weiter als gebrochene Seelen. Und wir wissen beide von den Legenden der gebrochenen Seelen.“ „L-Legenden?“ Der Schwarze Wolf schnaubte verärgert und scheuchte Melaara noch weiter zurück Richtung Wasser. „Weglaufen wird dir nichts bringen. Ich finde dich, egal wo du bist. Deine Freunde werden dir nichts nützen. Ich habe dich beobachtet. Dich und deine kleine Familie. Oh, und natürlich auch die kleine schwarze Wölfin die dir alles beigebracht hat. Doch selbst alle gemeinsam werdet ihr mich nicht besiegen können. Nur das Licht kann gegen die Finsternis gewinnen. Oder auch verlieren.“ Er drehte sich Richtung Wald, aus dem er gekommen war. „Lebewohl, weiße Wölfin. Fürs erste. Wir werden uns wiedersehen. Es wäre besser du bist auf unser nächstes Aufeinandertreffen vorbereitet.“ Er knurrte sie mit einer tiefen grollenden Stimme an und verschwand schließlich in einem schnellen Lauf im Wald. Sein schwarzer Pelz und seine smaragdgrünen Augen waren in kürzester Zeit von der Dunkelheit verschlungen. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Zeit von zwei bedrohlich funkelnden Augen beobachtete wurde. Keuchend und mit zitternden Beinen stand sie im Sand und starrte an die Stelle, an der Ronin zuletzt war. Sie hatte sich den Mann letzte Nacht vor ihrem Zimmer also doch nicht nur eingebildet. Ronin war tatsächlich aus ihrem Traum entsprungen. Er war real geworden. War er wirklich ihre andere Seite? Sie war…wie nannte er es noch gleich…Eine gebrochene Seele…? Verzweifelt schaute sie zum Mond hoch, der sein fahles Licht auf die Erde warf. Sie unterdrückte ein Heulen und wandte sich wieder in die Richtung, in die sie ursprünglich gehen wollte. Das alles warf nur noch mehr Fragen auf als es das Auftauchen von Kayate damals tat. Dann spurtete sie gedankenverloren los. Während sie weiterlief, dachte sie über Ronins Worte nach. Sollten sie eines Tages wirklich miteinander kämpfen müssen? Sie wusste nicht recht wie sie reagieren sollte. Einerseits, fürchtete sie sich vor einem Kampf mit dem Schwarzen. Doch andererseits, spornte er sie an. Sie wollte nun umso stärker werden und die Dunkelheit in ihrem Herzen bekämpfen. Und vor allem wissen was ihr Platz in dieser Welt war. Sie hatte das Gefühl, dass das Schicksal noch viel für sie geplant hatte. Der Sand flog in die Luft als sich ihre Pfoten davon lösten und ließen sie aussehen, als wäre sie ein kleiner Sandsturm, der über den Strand fegte. Links von ihr erstreckte sich das ewige, weite Meer. Rechts von ihr war der Wald. In weiter Ferne, hinter dem Wald, inmitten von Diapdra ragte Queradorm in den Himmel. Der Turm in dem der König Diapdras lebte. Selbst von einer solchen Entfernung wirkte es gigantisch. Plötzlich stieg ihr mit dem Wind ein vertrauter Geruch in die Nase und noch bevor sie den Kopf nach vorne drehen konnte, um zu sehen wer vor ihr stand, bremste sie schon ab und stand danach Schnauze an Schnauze mit einer schwarzen Wölfin. Olivgrüne Augen funkelten ihr abenteuerlustig entgegen als sie mit aufgestelltem Fell und zurückgezogenen Lefzen zur Seite sprang. „Du kannst mich nicht wieder zurückbringen“, knurrte sie die andere Wölfin an. Diese lächelte nur schelmisch und ließ ihren Schweif elegant hin und her wedeln, so wie sie es am Tag ihrer ersten wahren Begegnung getan hatte. „Ich habe nicht vor dich zurückzubringen“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Ich will mit dir gehen.“ Melaara fiel beinahe die Kinnlade runter. „Nun guck nicht so. Wölfe sind nun mal nicht dazu da immer am gleichen Ort zu bleiben. Und als Takeo mir heute erzählte hat, das du dich heute merkwürdig verhalten hast, wusste ich schon was Sache war. Aber das kam mir nur recht. Ich wollte ohnehin von hier verschwinden.“ „Aber… Damals hast du mich davon abgehalten!“, brach es verzweifelt aus ihr heraus. Kayate grinste: “Damals wusstest du ja auch noch gar nichts. Du warst ein Welpe! Das sieht heute ganz anders aus.“ War es denn nicht gerade mal eine gute Woche her als sie zum Wolf wurde? „Du hast so gut wie alles von mir gelernt, was man braucht um als Wolf zu Recht zu kommen, nicht wahr?“ Kayate drehte sich in die Richtung, in die Melaara zuerst lief. Sie blickte über die Schulter zu der verblüfften Weißen. Melaara stand immer noch wie angewurzelt da. Sie konnte kaum fassen was sich hier abspielte, es machte sie irgendwie wütend, doch zugleich war sie froh, dass Kayate sie begleiten wollte. „Worauf wartest du? Ich dachte du willst Abenteuer erleben?“ Die weiße Wölfin nickte hastig bevor sie nachdenklich dreinblickte und den Kopf schief legte. „Ich weiß eigentlich gar nicht wohin ich gehen will.“ Kayates Augen wurden groß und sie blickte die andere Wölfin voller Entgeisterung an. „Du bist weggelaufen und weißt noch nicht mal wohin?“ Selbst Melaara merkte wie dumm sie gewesen sein musste einfach so in die Welt hinauszustürmen ohne zu wissen wohin. „Na umso besser!“, rief die schwarze Wölfin begeistert aus. „Dann werden wir eben überall hin reisen müssen, um herauszufinden was du willst!“ Kayate nahm die Pfoten in die Hand und lief los ohne sich nochmal um zu drehen. Melaara folgte ihr. Kayate lachte die weiße Wölfin nicht aus und hielt sie auch nicht zurück. Sie schien sich wirklich von Herzen zu freuen, mit ihr auf eine vielleicht endlos lange Reise zu gehen.
„Also wenn ich die Karte richtig im Kopf habe“, begann Kayate zu erzählen als Melaara sie endlich eingeholt hatte. „Haben wir zwei Möglichkeiten Leratiss zu verlassen.“ Jetzt drehte sie sich endgültig um und setzte sich vor ihr in den Sand. „Entweder, wir schwimmen durchs Meer nach Suimang, oder wir nehmen den Landweg. Um den zu erreichen müssen wir jedoch Yaosale durchqueren.“ Sie hatte die Karte mit ihren Pfoten in den Sand gezeichnet. „Ich schätze um den Landweg zu erreichen bräuchten wir so um die zwei Tage. Da würde der Wasserweg sicher schneller sein. Aber ich mache mir Sorgen, dass wir nicht so weit schwimmen können. Immerhin ist das eine ziemlich weite Strecke.“ Schnell schüttelte Melaara den Kopf. „Ich bin für den Landweg. Wer weiß was da alles im Meer herumschwimmt!“ Die schwarze Wölfin grinste. „Außerdem wissen wir ja noch nicht mal was uns auf der anderen Seite erwartet!“, fügte sie schnell hinzu, um nicht ängstlich zu wirken. „Oh doch! Auf der anderen Seite ist eine kleine Stadt. Das weiß ich.“ „Ich bin trotzdem für den Landweg.“ „Na dann los!“ Noch bevor sie etwas sagen konnte hatte Kayate schon mit der Pfote über die Karte gewischt und fegte erneut durch den Sand Richtung Yaosale. Etwas zögernd stand auch Melaara auf und lief der Anderen hinterher. Es dauerte nur wenige Momente bis sie sie eingeholt hatte. „Bist ganz schön schnell was? Lass ihnen ein Wettrennen machen!“, grinste Kayate und steigerte schon ihr Tempo. Schnaubend schüttelte Melaara den Kopf und spannte die Läufe umso mehr an. Kayate war schnell, jedoch lange nicht so schnell wie sie. Im langgezogenen, schnellen Laufschritt holte sie die schwarze Wölfin in null Komma nichts ein, überholte sie dann und rannte nur noch schneller. Bald schon wich der Sand hohem Gras. Für einen Menschen war es bestimmt schon schulterhoch. Doch die Wölfe kümmerten sich nicht darum. Sie stürzten hinein ins Gras, ließen sich von den vielen Düften umgarnen, das Gras an ihren Pelzen vorbeihuschen. Genossen das Rascheln des Grases, wenn sie mit voller Geschwindigkeit hindurch rasten, oder den Wind welcher mit ihnen darüber brauste. „So frei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt!“, rief sie Kayate glücklich über ihre Schulter zu. Zumindest glaubte sie dass sie noch hinter ihr war. Sie konnte sie nicht mehr sehen. Nur noch der leichte Geruch sowie ein leises Rascheln nicht weit hinter ihr, verriet ihr das Kayate ganz in der Nähe war. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte schnellte Kayate auch schon an ihr vorbei. Sie hechelte, offenbar bereitete ihr der Lauf ziemliche Schwierigkeiten. „Schon müde?“, schnaubte sie, jedoch ebenfalls erschöpft. „Anhalten!“, brachte diese nur hervor. Etwas in Kayates Augen hatte sich verändert. Sie waren ernst. Sofort verlangsamten sie ihren Lauf. „Was ist los?“, nervös schnupperte sie in die Luft. Der Geruch von Menschen kitzelte ihre Nase. „Wir sind vor den Stadtmauern vor Yaosale.“, erklärte Kayate und lies sich langsam und immer noch außer Atem auf den Boden fallen. Nicht weit vor ihnen war das Gras bereits verschwunden und gab die Aussicht auf einen kleinen steinernen Platz mit Brunnen und großer Mauer dahinter frei. In die Mauer war eine riesige steinerne Tür geschlagen, die sich bestimmt nicht so leicht öffnen ließ. Auf der Mauer, genau über dem Tor, waren zwei Männer postiert. Sie waren nicht bewaffnet und trugen nichts anderes als eine Art Leinen-Shirt und eine Lederjacke darüber. „Sie scheinen nicht gefährlich zu sein… Ob sie uns wohl reinlassen?“ Kayate zuckte mit den Schultern als sie sich aufrichtete und dabei in einen Menschen zurückverwandelte. „Vergiss nicht, dass die Nationen im Krieg zueinander stehen. Wir könnten Gefahr laufen als Spione angesehen zu werden. Aber lass es uns versuchen. Sonst müssen wir eben schwimmen.“ Melaara schauderte bei dem Gedanken.
Für einen Moment zögerte sie, doch dann trat sie aus dem Gras heraus und sah selbstsicher, beinahe herausfordernd zu den Wachen hoch. Melaara folgte ihr, jedoch nicht ganz so übermütig. „Wer ist da?“, rief einer der Männer hinunter. „Reisende. Aus Diapdra.“, antwortete Kayate fest. „Name und Alter?“, stimmte nun auch der andere mit ein. „Ich bin Kayate. Das dort ist Melaara. Wir sind beide siebzehn Jahre alt.“ Die Männer musterten sich einen Moment lang. „Seid ihr nicht etwas zu jung um ganz alleine umherzureisen?“ „Wir können sehr gut auf uns selbst aufpassen, die Herren. wir haben beide den Schwertkampf erlernt. Und wir sind zwei unerschrockene Abenteurerinnen.“ Der Eine schmunzelte leicht. Der Andere zögerte ein wenig. „Und woher sollen wir wissen, dass ihr tatsächlich aus Diapdra kommt?“ „Könnt ihr nicht, aber wir wollen hier auch nicht leben. Wir wollen lediglich die Stadt passieren, schickt uns meinetwegen Wachen hinterher, die uns aus der Stadt geleiten.“ Die beiden Wachen sahen einander wieder nachdenklich an. Dann zückte einer der beiden plötzlich einen kleinen Wasserbeutel, welcher zuvor an einem Gürtel an seinem Bauch hing. Er zog ihn auf und hielt konzentriert seine Hand darüber. Plötzlich ließ er seine Hand hochschnellen und das Wasser, welches zuvor im Beutel war folgte seiner Bewegung, schwebte nach oben, nur um dann in der Luft zu zerstreuen und als Regen auf die beiden Mädchen niederzugehen. Diese zuckten unwillkürlich zusammen. „Was-?!“ „Nur die Ruhe. Das dient dazu euch... im Auge zu behalten. Durchquert die Stadt so schnell es euch möglich ist, und stellt dabei keinen Blödsinn an, das würden wir merken.“ „Nun gut. Dann kommt rein.“ Mit diesen Worten verschwand der Eine hinter der Mauer und das Tor ging mit lautem Knirschen auf. Der Andere kam ihnen entgegen. „Wo wollen die Damen eigentlich hin, wenn mir diese Frage erlaubt sei.“ Schon setzte sich Kayate wieder in Gang. Melaara folgte ihr stumm. „Das wissen wir selbst noch nicht so genau.“, sagte sie. Der Mann hob eine Augenbraue. „Zuerst werden wir wohl nach Suimang reisen.“ Jetzt schien er ganz Ohr zu sein. „Wie ihr selbst sehen konntet sind wir selbst aus Suimang. Ob man es glaubt oder nicht, aber Leratiss hat wohl einige Wachen aus allen Nationen zu sich geholt um sich zumindest ein klein wenig zu verteidigen. Als könnte man‘s ihnen verübeln“ Nun gesellte sich der andere dazu. „Was wollt ihr überhaupt in Suimang? Ihr seid doch nicht tatsächlich irgendwelche Spione?“ Abwehrend hob Kayate die Hände. „Nur Reisende die Leratiss langsam satt haben!“, verteidigte Kayate. Die Gesichtszüge des Mannes entspannten sich wieder. Er strich sich seine bräunlich-roten Haare zurück und versuchte wieder gelassen zu wirken. Das kleine Lächeln, was von vielen unzähligen Falten umrahmt wurde, ließ ihn sympathisch wirken. „Kinder wie ihr sollten dennoch aufpassen wo sie hingehen. Der Krieg ist dort in vollem Gange. Gebt ja Acht auf euch.“ Er bat sie mit einer einladenden Verbeugung in die Stadt hinein. Sobald sie passiert hatten schloss sich die steinerne Tür wieder.
Die salzige Seeluft mischte sich mit dem Geruch der frisch gefangenen Fische. Melaara konnte nicht anders und nieste, als der Fischgeruch sich in ihrer Nase ausbreitete. Jetzt endlich verstand sie warum Kayate umgezogen war. Der Geruch war nach einiger Zeit nicht mehr zum Aushalten. „Halte durch… wir haben etwas mehr als die Hälfte geschafft.“, tröstete Kayate sie als es bereits wieder zu dämmern anfing. Sie waren die halbe Nacht durchgewandert und schon recht weitgekommen. Die Sonne versank hinter den aus Steingeformten Häusern. Der Asphalt schien zu glühen. Über ihnen flogen träge die Möwen. Immer wieder war ihr beinahe schallendes Gelächter zu hören. Irgendwann war Kayate der Kragen geplatzt und sie hatte sich einen Schuh ausgezogen und ihn nach einer Möwe geworfen, die sich einen Spaß daraus zu machen schien, Kieselsteine auf sie fallen zu lassen. „Diese Möwen sind ja noch schlimmer als Krähen!“, murrte sie. „Sind Krähen denn so schlimm?“ „Sie verstehen sich am besten mit Wölfen. Gleichzeitig haben sie aber auch Riesenfreude daran dir jedes Haar einzeln auszurupfen und nichts Besseres zu tun als irgendwelche Steine oder Pflanzen auf dich runterzuwerfen. Aber diese Möwen sind ja mindestens genauso nervig!“ Angestrengt blinzelte sie gegen die Sonne und zu den dahingleitenden Möwen. „Aber es muss toll sein so fliegen zu können!“, schwärmte sie verträumt. „Ja, so lange man keine Höhenangst hat.“ Schweigend überging sie Melaaras Kommentar. „Es muss die endlose Freiheit bedeuten.“ Plötzlich spürte die Braunhaarige Kayates Blick auf ihr. „Wünscht du dir Freiheit?“ Einen Moment schwieg sie, sah stumm in den Himmel. „Mehr als alles andere.“ Hart und fest. Überzeugend. „Was wünscht du dir am meisten?“ „Also…“, begann Kayate während sie sich streckte und gelangweilt gähnte. „Ich habe alles was ich brauche. Ich habe tolle Freunde, darf gehen wohin ich will… ich bin einfach frei. ich habe alles was ich immer wollte.“ „Aber du wolltest weggehen?“ sie nickte, den Blick jetzt ebenfalls zum Himmel gerichtet. „Ich bin noch nicht am Ziel! Ich bin glücklich, aber noch nicht am Ziel!“ Melaara legte den Kopf leicht schief. „Und dieses Ziel wäre?“ „Ich will die Welt sehen!“ Jetzt trafen sich ihre Blicke. „Ich habe bis jetzt nur Diapdra und Teile Suimangs gesehen! Ich will nach Ortiais… Und Shianril… Und hast du schon mal von der Insel Lyras gehört? Da will ich auch noch hin!“ „Lyras?“ „Es soll eine paradiesische Insel im Meer, nordwestlich von Suimang sein. Bisher hat noch niemand sie entdeckt und es ist eigentlich mehr oder weniger nur eine Legende. Aber angeblich soll dort die Statue der geflügelten weißen Wölfin stehen!“ Kayates Augen strahlten förmlich. „Aber eins nach dem anderen. Wo willst du jetzt eigentlich genau hin? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?“ Kayate machte sich bereits wieder auf den Weg während sie den Kopf schüttelte. „Zuerst nach Suimang… Aber dann…?“ „Hmm…“ Nachdenklich kratze sich Kayate am Kinn. „Hast du Lust zu segeln?“ Überrascht starrte sie Kayate an. „Segeln? Wohin?“ „Nach Lyras!“, strahlte Kayate und ging rückwärst weiter. „Wir könnten uns in Suimang ein tüchtiges Boot besorgen und dann auf die See rausfahren! Bitte! Ich will so gerne nach Lyras!“ Melaara runzelte misstrauisch die Stirn. Das Meer war ihr nicht so ganz geheuer. Und der Gedanke daran vielleicht tagelang umher zu segeln, bei einem Krieg und wer weiß wie vielen Seeungeheuern… Nein, es war ihr ganz und gar nicht geheuer. „Aber wir haben doch gar keine Ahnung wo Lyras liegt, nicht wahr?“ „Das denkst du!“, sie zwinkerte und stopfte dabei ihre rechte Hand in eine kleine Seitentasche ihres grünen, knielangen Kleides und holte eine zerknitterte Karte heraus. Jede Stadt, jeder Wald, jeder Berg und jeder Fluss waren darin eingezeichnet. Oben links, prangte eine Art Kompass. „Schau was in Nordwesten von Suimang aus ist!“ Tatsächlich war dort eine Insel eingezeichnet. Scheinbar mit schwarzer Tinte geschrieben stand der Name „Lyras“ daneben. Die Karte schien schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. Sie war zerknittert. Teilweise war die Schrift abgeblättert. Früher musste sie ziemlich edel ausgesehen haben. „Da müssen wir aber einige Städte durchqueren…Das wird nicht leicht werden!“ „Ach… wir haben Wolfsseelen! Meine Pfoten haben mich schon viel weiter getragen!“ „Das meinte ich nicht.“ Jetzt wandte Kayate den Blick von der Karte ab. Fragend schaute sie ihre wölfische Gefährtin an. „Ich meine den Krieg. Die Nationen… Was wenn wir mitten in den Krieg geraten?“ „Oh, das werden wir.“, sagte das Mädchen gelassen. „Aber wir sind stark.“ Kayate packte bereits die Karte wieder in ihre Tasche. „Und schnell. Und schlau ja auch. Wolfseelen werden nicht so leicht gefangen. Und schon gar nicht besiegt.“ „Aber ich möchte nicht kämpfen… Nicht töten. Ich bin kein Monster!“ Ihre Blicke trafen sich erneut. Kayates Augen drückten Verwirrtheit aus. „Niemand sagte dass wir kämpfen müssen. Wir haben starke Läufe. wir sind flink! Wenn wir attackiert werden dann laufen wir eben so schnell wie der Wind!“ „Aber man kann nicht immer davonlaufen…“ Plötzlich bemerkte Melaara, dass sie schon genauso wie Ronin sprach. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht kämpfen wollte. Dennoch konnte sie beinahe die furchterregenden Wolfsaugen spüren die sie von hinten anstarrten. Und gleichzeitig die Lust, diese grausame Lust anderen Schaden zuzufügen, Blut zu schmecken. Zu kämpfen. Eine Gänsehaut erstreckte sich über ihren Körper, obwohl es warm war. Sie schlang ihre Arme um sich und zitterte kaum merkbar. „Alles ok?“, Kayates erstauntes Gesicht rüttelte sie wieder wach. Sie nickte. „Lass uns einfach weitergehen…“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie einfach weiter. Für einen Augenblick blieb Kayate verwundert zurück, holte dann aber wieder auf und ging locker neben ihr her. „Also fahren wir jetzt nach Lyras?“, fragte sie irgendwann unvermittelt. „Wenn wir ein Boot finden… Wieso nicht?“ Sofort erhellten sich Kayates Züge und sie sprang ein paar Mal in die Luft und um Melaara herum, bevor sie prustend und keuchend vor ihr zu stehen kam. „Die legendäre Insel! Wir werden die legendäre Insel finden!“, lachte sie begeistert. Belustigt schnaubte die Weiße. „Wenn du dabei nicht vorher über Board gehst, kleiner schwarzer Welpe!“ „Das sagt ausgerechnet die, die vor wenigen Wochen noch nicht mal wusste, dass sie vier Pfoten und ein Fell hat!“
Inzwischen hatten sie fast ganz Yaosale durchquert. Doch die Dunkelheit senkte sich bereits wieder herab. Die Sterne funkelten und die Nacht hüllte die sonst so glänzende Hafenstadt in einen dunklen, undurchsichtigen Schleier aus Nebel. Vor ein paar Stunden brannten noch Laternen und ließen den gesamten Ort erstrahlen. Doch aus einem unerfindlichen Grund waren alle Lichter gelöscht. Selbst das des Mondes war kaum noch auszumachen. Auch in den Häusern brannten keine Lichter. Der Ort wirkte wie eine Geisterstadt. „Und ich habe dir gesagt es wäre schlau gewesen einen Unterschlupf zu suchen! Jetzt müssen wir hier in totaler Finsternis herum laufen!“, beklagte die Braunhaarige sich als sie fast gegen eine Straßenlaterne lief. „Dann benutz eben deine Nase und deine Ohren, anstatt deiner Augen! Hast du etwa bereits alles vergessen was sie dir erklärt habe?“, schimpfte Kayate. Schmollend wand sich Melaara ab und schnupperte in die Luft. Vieles konnte sie nicht ausmachen. Den Geruch von Wasser… Sowohl von der See als auch vom Nebel. Nasse und modrige Häuser. Hin und wieder Mal den Geruch einer Ratte die vorbeihuschte. Die Fenster der Menschen waren geschlossen. Es war, als hätte es in Yaosale niemals menschliches Leben gegeben. Sie gingen am Hafen entlang. Das Rauschen der Wellen hatte etwas Beruhigendes und Einschläferndes. Kayate schien ebenfalls müde zu sein. Ständig rieb sie sich die Augen und gähnte. „Sollten wir nicht irgendwo eine Pause machen?“, fragte sie vorsichtig. „Wir gehen schon seit fast zwei Nächten durch… Ich bin so verdammt müde…“ Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf. „Wer weiß was hier alles für Gestalten lauern… Wir sollten versuchen diese eine Nacht noch durchzulaufen. Morgen in der Früh können wir uns ja auf einem Feld oder der gleichen ausruhen. Aber nicht hier in der Großstadt.“ Plötzlich wich die unheimliche Stille etwas anderem: Glockenschlagen. Unheimlich und tief kündigte sie mit ihren Schlägen die Uhrzeit an. Mitternacht. Als das Geräusch der Glocke verstummte fingen die Laternen an aufzuleuchten. Das rötlich-gelbe Licht flackerte immer wieder auf und schien beinahe wieder aus zu gehen. Jede einzelne Laterne „entflammte“ sich auf dieselbe Art, bis die gesamte Stadt in dem Licht zu versinken schien. Schockiert starrte sie zuerst die gespenstischen Lichter an, dann sah sie hinauf zu den Fenstern der Menschen, wo sie für einen Hauch der Sekunde ein kleines Mädchen erkennen zu schien, die dann jedoch von einer Mutter sofort weggezogen wurde. Ihr Blick glitt wieder hinunter auf die Straße. Links von ihnen erstreckte sich das Meer, nicht mehr weit davor, wurde die Aussicht jedoch von einer Reihe Häusern beendet. Rechts befanden sich ebenfalls Häuser. Vor ihnen, eine lange gepflasterte Straße die sachte bergauf ging und auf einem hohen Berg, wo weitere Viertel sich erstreckten, zu enden schien. Eine große Mauer war auf dem Berg zu erkennen die sich wohl um eine Art Adelsviertel schlängelte. Vor dieser Mauer bewegte sich etwas. Es war Dunkel, von Schatten eingehüllt, und es bewegte sich die Straße hinab. Unbeholfen und geschockt stolperte Melaara ein paar Schritte zurück und dabei gegen Kayate. Sie schien ebenfalls verängstigt. „Was… was ist das?“ Die Schwarzhaarige schüttelte zur Antwort lediglich den Kopf, wie in Zeitlupe. „Es sieht gefährlich aus… Wenn man genau hinsieht… Da sind Krallen… Fangzähne…“ „Wollen sie uns angreifen?“ „Woher soll ich das denn wissen?“ Kayate klang gereizt. Gereizt, eingeschüchtert, panisch. „Wir müssen dort durch. Auf dem Berg da oben ist der Ausgang von Yaosale.“ Sie ging ein Stück zurück und postierte sich genau neben dem ersten Haus, von wo aus sich eine kleine Treppe nach unten zum Strand befand, der hinter den Häuserreihen bei einer Klippe endete. „Wir werden hier warten. Vielleicht ziehen sie einfach an uns vorbei.“ Melaara stellte sich an die Seite ihrer Freundin und starrte ungeduldig die Straße hinauf. Die Schatten, die aus dieser Entfernung noch eine Art komplettes, zusammengeschmolzenes Gebilde zu sein schienen, trennten sich jetzt. Es waren einzelne schattenhafte Kreaturen die dicht aneinander gingen. Sie gingen gelassen und doch bedrohlich. Aufmerksam. Wie ein Wolf der gerade dabei war sich seine Beute auszusuchen. Darauf bedacht niemanden zu erschrecken und dennoch im richtigen Augenblick zuzuschlagen. Sie besaßen große Pfoten. Beinahe Bärentatzen. Der Kopf sah nach Wolf aus. Eine lange, stachelige Mähne erstreckte sich von ihrem Kopf bis hinunter zu den Schultern. Ihr Fell war tiefschwarz und schien sich zu bewegen, als wäre es aus Schatten gemacht. Die Augen hatten keine Pupillen. sie leuchteten lediglich weiß. Ihre Hinterbeine waren jedoch alles andere als Wolfsähnlich. sie erinnerten beinahe an Vogelbeine, oder an die von Reptilien. Sie waren unnatürlich stark gekrümmt und besaßen ebenfalls große, scharfe Krallen die im Licht der Laternen Schwarz funkelten. Auch der Schwanz war eher reptilienähnlich: Lange, zur Spitze hin dünner werden, an dessen Ende sich eine Art Klinge befand, wie ein festgemachter Dolch. Die Zähne waren gefletscht, die Krallen kratzen über den gepflasterten Boden. Bedrohliches Knurren war zu hören. Aber nicht ein solches was man einem Tier hätte zuordnen können. Tief und monströs. Sie waren größer als ein gewöhnlicher, ausgewachsener Wolf. Alleine an ihren Muskeln konnte man erkennen, dass man mit reiner Kraft hier keinen Kampf gewinnen konnte. sie waren nur noch einige Meter von den Mädchen entfernt, kurz davor vorbeizugehen, sie nicht zu beachten. Bis plötzlich das Wesen an vorderster Stelle den Kopf hob und den Geruch der Luft einsog.
Noch bevor einer von ihnen sich bewegen konnte, gingen sie alle gleichzeitig auf die Mädchen los. Kreischend, brüllend und knurrend stürzten sie sich auf sie. Melaara wurde als erstes zu Boden gebracht. Eines der Wesen drücke sich mit seinen Pfoten fest gegen den Boden, raubte ihr die Luft. Entsetzt lag sie einfach nur da und starrte angsterfüllt zu ihrem Gegner hoch. Dieser war gerade dabei seinen furchtbaren Kiefer zu öffnen und ein Knurren entweichen zu lassen. Beinahe klang es belustigend, ja regelrecht triumphierend. „Melaara!“ Kayates Stimme. Sicher und kämpferisch. Im Augenwinkel konnte sie erkennen, dass sie sich in ihre Wolfsform verwandelt hatte und mit den Biestern wild kämpfte. Blut tropfte aus ihrem Maul und von ihrer rechten Flanke. Ihre Beine zitterten, so sehr, dass sie Angst hatte sie würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch die schwarze Wölfin stand drei der Monster gegenüber und knurrte sie tief aus ihrer Kehle an. „Steh auf! Du musst kämpfen!“, knurrte sie ihr zu, den Blick immer auf ihre Gegner gerichtet. Melaara wollte soeben protestieren als Kayate schon auf das Wesen welches auf ihr stand zu sprintete, einen Sprung machten und die Bestie mit einem Satz von ihr herunterriss. Die Braunhaarige wand sich, schwer atmend kam sie auf die Füße und verwandelte sich dann ebenfalls in ihre wahre Gestalt. Kayate hatte der Bestie, die ihrer Kameradin den Atem geraubt hatte, eine tiefe Wunde an der Flanke zugefügt. Das Wesen bewegte sich nicht mehr, stattdessen löste es sich in den Schatten auf. Schnell kam die Wölfin zurück gelaufen und war an ihrer Seite. Gemeinsam standen sie nun drei der Bestien gegenüber, die sie wutentbrannt anknurrten. „Ein Biss… Ein Biss und sie sind verschwunden. Aber ein Biss von ihnen… Dann breitet sich ein Gift in deinem Körper aus, was dich fast um den Verstand bringt.“ „Du… du wurdest verletzt.“ „Und das Gift sucht sich auch schon seinen Weg, ja. Aber so wahr ich eine Wölfin bin… Ich werde doch nicht gegen ein paar alte, schwarze Wischmopps verlieren!“, knurrte sie und gab dabei ein gurgelndes Geräusch von sich. „Versuch sie nur einmal zu beißen, dann sind wir sie los!“ Wiederwillig nickte die Weiße, starrte auf die blutende Wunde an Kayates rechter Flanke. Genau in dem Moment stürzten sich die Kreaturen erneut auf sie. Doch diesmal waren die Wölfe zu schnell. Mit einer eleganten Leichtigkeit wichen sie aus und schnellten zum Angriff vor. Die weiße Wölfin war schnell genug und erwischte eine der Bestien beim Bein. Die Kreatur jaulte und wollte gerade nach ihrem Nacken schnappen, als sie sich in dunklen Partikeln einfach auflöste und verschwand. „Melaara! Pass auf!“ Sie drehte sich zu spät um und wurde wieder von zwei schweren Pranken gen Boden gedrückt. Die Pranken standen diesmal genau auf ihrer Kehle. Sie konnte die Zähne schon an ihrer Schulter spüren. Einen dumpfen Schmerz, der sich immer weiter ausbreitete und sich langsam durch den ganzen Körper erstreckte. „K-Kayate…“ Sie wand den Kopf nur leicht und sah, wie auch Kayate von einer der Bestien auf den Boden gedrückt wurde. Ihre Augen verloren langsam an Glanz. Das Leben entwich aus ihnen. „Nein!“ Melaara schrie, trat um sich, spürte wie der Scherz begann ihr den Verstand zu rauben. Und von einer Sekunde zur anderen war da noch etwas anderes. Eine Wärme die sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Mächtig und hell. Sie strömte durch ihren Körper und schien ihr neue Kraft zu verleihen. Sie heulte und knurrte gleichzeitig. Dann versank alles in einem gleißend hellen Licht.
Als sie es wagte die Augen wieder zu öffnen, stand sie in einem leeren, weißen Raum. Er wirkte endlos. Er schien keine Wände oder einen Boden zu haben. Melaara war in Wolfsform und sah sich verwundert um. Als ihr nach einem Moment bewusst wurde, das Kayate, die Wesen, ja einfach alles verschwunden war, begann sie zu rufen. „Hallo?! Ist da jemand?!“, ihre Stimme, oder zumindest ihre Gedanken schienen von überall her widerzuhallen. Es war still. Zu still. Und als sie glaubte diese Wärme, die sie empfunden hatte als sie gegen die Monster gekämpft hatte, würde verschwinden, hatte sich aber geirrt. sie nahm zu. Näherte sich scheinbar von hinten. Schlagartig drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine schlanke weiße Wölfin. sie hatte große, ebenso strahlende Flügel auf ihrem Rücken. Ihre Augen leuchteten Smaragd-grün und funkelten verspielt. „Wer… Wer bist du?!“, sie versuchte selbstsicher zu klingen, doch das Zittern in meiner Stimme war deutlich zu hören. Die Lefzen der Wölfin zogen sich zu einem kleinen, schmalen Lächeln zurück. Der Blick der Wölfin wurde warm. Geradezu Mütterlich. „Wo… bin ich hier? Was ist das für ein Ort!“, verlangte sie zu wissen. Das Lächeln der Wölfin wurde nur noch breiter. „Dein Herz.“, erklang plötzlich eine seidene Stimme in ihrem Gedanken. Die Stimme der Wölfin. „Das hier.“, sie spreizte ihre Schwingen ein wenig und deutete mit dem Kopf in den weißen Raum um sich. „Das hier ist dein Herz. Noch ist es voller Licht. Seit Ronin es verlassen hat ist es noch viel heller als sonst.“ „Ronin? Woher weißt du von ihm!?“ Sie schien sie einfach zu überhören und sprach einfach weiter mit ihrer tiefen, samtweichen Stimme. „Doch er wird stärker. Jetzt kannst du ihn noch nicht fühlen. Aber mit jedem Tag wächst seine Macht. Und du musst auch stärker werden, weiße Wölfin, wenn du die Dunkelheit in deinem Herzen kontrollieren möchtest.“ „Sie… lässt sich nicht vernichten?“ Es klang mehr wie eine Feststellung. Sie wusste nicht warum, doch die Wölfin vor ihr erschien ihr irgendwie vertraut und doch unbekannt. Sie schüttelte als Antwort auf ihre Frage den Kopf und ließ ihn sinken. „Dunkelheit ist in jedem von ihnen. Man kann sie nicht endgültig vernichten. Nur lernen sie zu kontrollieren.“ „‘Ohne Licht keine Dunkelheit. Ohne Dunkelheit kein Licht‘“, zitierte Melaara. Stolz lächelte die Wölfin und nickte. Plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und raste auf Melaara zu. Sie konnte nichts anderes tun als blitzartig ihre Augen zu schließen und zu versuchen sich klein zu machen. Eine plötzliche Hitze, wie tausend Sonnen, durchbrannte ihren Körper für einen Sekundenbruchteil. Kaum gespürt war das angenehme Gefühl auch schon wieder weg. Unsicher öffnete sie die Augen und blickte sich um. Die andere Wölfin war verschwunden. Auch die Wärme die mit ihr kam verschwand langsam. „Nutze deine neuen Fähigkeiten weise. Nach und nach wirst du mehr von ihnen entdecken. Aber fürs erste… Genieße einfach das Gefühl der Freiheit und den Wind, wenn er durch dein Fell braust.“ Als die Stimme der Wölfin verhallte löste sich auch der Raum aus Licht auf. Langsam kamen die Finsternis und das Schummrige Licht der Laternen durch das Weiße hindurch und ließen es endgültig verschwinden, bis sie sich wieder in der Stadt Yaosale befand. Das Wesen stand nicht mehr länger auf meiner Brust und raubte ihr den Atem. Stattdessen lag es nicht weit von ihr auf den Boden und starrte erschrocken zu ihr hinauf. Ein kaum spürbares Gewicht lag auf ihrem Rücken und als sie sich umdrehte um ihn besser betrachten zu können wusste sie auch warum: Flügel. Mächtige, weiße Schwingen befanden sich auf ihrem Rücken. Genau wie die der weißen Wölfin. Kayate wurde noch immer von einem der Wesen zu Boden gedrückt und starrte ungläubig auf die Flügel. Als sie ein wütendes Knurren ausstieß und gerade dabei war sich auf die Wesen aus Schatten zu stürzen, zogen die sich zurück. Einige winselten, andere knurrten, doch alle klemmten sie ihren Schwanz zwischen die Beine und flüchteten den Strand entlang, wirbelten dabei große Staubwolken auf und verschwanden in der Finsternis und Weite der Stadt. Eine Weile starrten sie den Kreaturen regungslos hinterher als sie den Blick der schwarzen Wölfin auf ihr spürte. „Melaara…? Was…Was ist passiert…? Woher… Woher hast du deine Kräfte entdeckt?“ „Kräfte…?“, fragte sie verwundert. „Die…die Flügel.“ „Ah…nun…da war eine Wärme….und plötzlich war alles weiß…und dann…eine weiße Wölfin mit riesigen weißen Schwingen…“ Kayate lag erschöpft am Boden, erschöpft hielt sie den Kopf oben und lauschte Melaaras Geschichte. „Wie ungewöhnlich… unsere Rasse bekommt die Fähigkeiten normalerweise nicht….geschenkt… wir erlernen sie. Mit der Zeit sehen wir vor unseren Augen was unsere Fähigkeiten sind. Und mit jedem Tag wird das Bild klarer bis es Wirklichkeit wird.“ Ihre Stimme wirkte gepresst. Schweigend sah Melaara sie an. „Wer….wer war sie dann…?“ Die schwarze Wölfin schüttelte nur langsam und unwissenden den Kopf. Gerade machte Kayate das Maul auf um etwas zu sagen, doch sie riss schlagartig die Augen beängstigend weit auf und begann am ganzen Körper zu zittern. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Kurz danach brach sie auch schon zusammen und verwandelte sich dabei zurück in einen Menschen. Regungslos lag sie auf dem Boden. „Kayate!“, rief die weiße Wölfin erschrocken, verwandelte sich zurück in einen Menschen und lief zu ihr. Vorsichtig legte sie einen Arm unter Kayates Nacken um sie ein wenig auf zu richten. „Mist…!“, zischte sie und versuchte verzweifelt das Mädchen irgendwie auf ihre Schultern zu hieven. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Flügel verschwunden waren. Nach kurzer Zeit trug sie sie Huckepack durch die dunklen Gassen der Handelsstadt. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn ihren Hals hinab und verschwanden unter ihrer Kleidung. Sie keuchte schwer als sie die kleinen Gassen meist bergaufwärts ging. Sie wusste nicht wohin sie eigentlich ging. In der Hoffnung jedoch, ein Gasthaus oder zumindest irgendein erleuchtetes Haus welches ihnen Rettung bringen konnte, versuchte sie ihre Augen offen zu halten. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub als sie sich an einer Kreuzung, an einer Hauswand anlehnte und Kayate völlig erschöpft neben ihr niederfallen ließ. Sie versuchte ihre Lungen dazu zu zwingen mehr Sauerstoff aufzunehmen. Sie zuckte zusammen als ein Fenster sich über ihrem Kopf öffnete. Ein alter Mann streckte seinen Kopf hervor und sah Richtung Strand, die beiden Mädchen schien er gar nicht zu bemerkten. Gelassen zündete er sich eine Zigarette an. Der Mann war circa um die 70, ein warmherziges, rundes Gesicht, geziert von vielen, vielen kleinen Fältchen. Sein kurzes graues Haar fiel in Strähnen herab als der Rauch seiner Zigarette in den Nachthimmel entschwebte. „S-Sir! Bitte! Bitte sie brauchen ihre Hilfe…!“, rief sie verzweifelt zu ihm hoch. Der Mann gab ein tiefes raues „Hm?“, von sich als er den Blick nach unten wandte und sie entdeckte. Er schwieg und hatte die Arme lässig auf der Fensterbank verschränkt, seine Augen jedoch waren ein Stück weiter aufgegangen als vorher. Jetzt nahm er die Zigarette aus dem Mund und pustete den Rauch aus der Nase wieder hinaus. „Zwei kleine Bettler Mädchen, wie? Verschwindet, ich gebe euch kein Geld.“, seine raue Stimme kratzte in ihren Ohren als er eine kleine Rauchfahne aus seinem Mund entweichen ließ. „Nein…! Nein, Sir, Wir…wir sind keine Bettler…! Wir sind Reisende! Und wir brauchen Eure Hilfe! Meine Freundin….Wir wurden angegriffen…! Sie…sie wurde vergiftet! Bitte, wenn Ihr uns nicht helft wird sie sterben!“ Der alte Herr steckte sich wieder nur seine Zigarette in den Mund. „Und was habe ich davon?“, meinte er, beinahe gelassen und stützte sich mit einer Hand am Kinn ab. Sie stieß ein grimmiges Knurren aus. „Vielleicht euer Leben, vielleicht kein Blut an den Händen, vielleicht das restliche bisschen eurer jämmerlichen Ehre!“ Belustigt pustete der Alte den Rauch aus und gab dabei ein so raues Geräusch von sich, bei welchem man nicht sagen konnte ob es ein Räuspern oder ein Lachen war. Er warf achtlos die Zigarette aus dem Fenster, schloss es und war dann verschwunden. Verzweifelt biss Melaara sich auf die Lippe und kniff müde die Augen zusammen. Sie konnte spüren wie Kayates Atem mit jeder Minute schwächer wurde. Bei Sonnenaufgang würde dieser vermutlich gar nicht mehr zu vernehmen sein. Sie wollte so eben wieder aufbrechen, als sie hörte wie sich eine Tür nicht weit neben ihr öffnete. Verwirrt blinzelte sie gegen das Licht an. „Ich mag kleine taffe Dinger wie dich.“, rumorte die raue Stimme in ihren Ohren. Langsam war im Licht der Schatten des alten Mannes auszumachen. „Komm rein, schnell, schnell! Sonst wird Ruricy wieder böse weil die Kälte bei der Tür mitherein will!“ Etwas zögernd sah die Braunhaarige den alten Herrn an, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich von dem vorherigen, kühlen Steingesicht zu einem warmen, einladenden Grinsen entwickelt. Schnell und mit dankbaren und strahlenden Augen trat sie ein, wo ihr sogleich eine himmlische Wärme entgegenschlug. „Vielen, vielen Dank, alter Herr!“ „Clait. Mein Name ist Clait, Herr Gott nochmal, nicht alter Herr! Oder Knacker, oder Opa oder was euch Kindern sonst noch so einfällt!“ Das Zimmer in welchen sie sich befanden war anscheinend ein kleines Wohnzimmer, es war eine kleine Couch zu sehen, davor ein großer Kamin in dem ein warmes Feuer prasselte. Links und rechts des Kamins befanden sich Türen. Clait deutete auf die Rechte und brachte die beiden Mädchen somit in ein kleines Zimmer mit nur einem Bett und einem großem Lesestuhl. Erschöpft und mit einem Seufzen legte sie Kayate in das Bett und ließ sich auf dem großen Stuhl nieder. „Wir….wir wurden angegriffen…“, brachte Melaara erschöpft hervor. „Lurar.“, grollte Clait. „Gestalten des Schattens. Unheimliche Biester die nichts sehnlicher lieben als die Finsternis. Woher sie kommen…weiß niemand. Sie sind vor nicht allzu langer Zeit in unserer Stadt aufgetaucht, nachdem sie bereits an einigen anderen Orten Schaden angerichtet haben. Zerstörte Gebäude, verschlungen von den Schatten. Verletzte, die nicht mehr wagten zu sprechen nachdem sie diesen Kreaturen begegnet waren. Es scheint als würden sie einem Ziel folgen. Doch welches…? Niemand vermag das zu sagen. Das Gift in ihren Körpern welches ihre Klauen und Zähne umgibt macht einen wahnsinnig so heißt es. Es raubt einem so lange den Verstand, versetzt einen in die Welt der Finsternis und lässt einen nicht mehr klar sehen. Bis die Nacht vorbei ist und du in der Finsternis zergangen bist.“ Das Mädchen schluckte heftig. „Gibt…gibt es Rettung?“ Der Alte grummelte etwas in sich hinein. „Vielleicht. Wir werden sehen wie viel Licht in diesem Mädchen ist. Ist es genug, wird sie bis Sonnenaufgang wieder Dieselbe, das Gift verpufft einfach und wird sie nicht weiter betreffen. Hat sie jedoch zu viele Schatten in ihrem Herzen….“ Clait sah zu Boden. „Ich befürchte dann gibt es keine Rettung mehr.“ Mit diesen Worten bewegte sich Clait zum Ausgang des Zimmers. Ohne sich noch einmal umzudrehen stand er am Türrahmen. „Wenn was is‘, ruf mich einfach.“ Endlich war sie alleine mit Kayate im Zimmer. Diese lag schwer atmend im Bett. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie machte einen gequälten Gesichtsausdruck. Melaara seufzte nur und begann damit in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie hatte heute noch nicht viel gegessen und getrunken und war gerade auf der Suche nach ihrer Wasserflasche. Als sie sie gefunden hatte und aus der Tasche nehmen wollte durchzuckte sie ein plötzlicher, dumpfer Schmerz in der Schulter. Vorsichtig schob sie ihr Gewand ein wenig zur Seite. Schockiert starrte sie auf die Schulter. Das Mädchen hatte vergessen, dass auch sie von einer der Kreaturen gebissen worden war. Die Abdrücke der spitzen Zähne waren tief in ihr Fleisch gebohrt, doch es blutete kaum. Sie begann sich zu fragen warum sie nicht, wie Kayate, ohnmächtig im Bett lag. Zeigte das Gift noch keine Wirkung? Zu viele Fragen auf einmal. Erschöpft ließ sie sich in den Stuhl sinken. „Du bist das pure Licht. Ihr Gift ist wirkungslos bei dir. Die Finsternis wurde beinahe komplett aus deinem Herzen gebrochen. DU bist eine gebrochene Seele.“, hallte urplötzlich eine Stimme in ihrem Kopf wieder. Ruckartig setzte sie sich auf und sah sich hektisch um. Außer ihr und der schlafenden Gefährtin war niemand bei ihr. „Wer ist da?“, fragte sie hörbar erschöpft. Die Stimme kicherte. Sie war ihr vertraut und dennoch auch unbekannt. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Diese Stimme…sie war sanft und tief… Wie die Stimme der geflügelten weißen Wölfin. Verwirrt sah sie sich um. Eine solche weiß leuchtende Kreatur mit riesigen Flügeln konnte man doch nicht einfach übersehen. „Wo bist du?“ „Hier und da und überall und nirgendwo!“, lachte die Stimme. Etwas genervt zog sie die Augenbrauen zusammen. „Zeig dich!“ Schweigen kehrte in das kleine Zimmer ein. „Du sollst dich zeigen!“, verlangte sie. Doch die Stimme blieb stumm. Seufzend ließ sie sich wieder auf den Stuhl zurück fallen. „Gebrochene Seele…“, widerholte sie nachdenklich, drehte und wendete es in ihrem Gedanken als wäre es ein Gegenstand. „Das hat doch auch dieser Ronin gesagt…Was…ist denn eine gebrochene Seele…?“ Eine Weile dachte sie noch über diese Worte nach, doch schon nach kurzer Zeit fühlte sie wie sich die Müdigkeit immer mehr um sie legte. Die Finsternis empfang sie langsam und träge.
Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Holzplatten kämpfte sich kaum noch etwas Sonnenlicht. Ein Strahl schien genau in Melaaras Gesicht und kitzelte ihre Nase. Seufzend blinzelte sie langsam die Müdigkeit aus ihren Augen. Noch beinahe im Halbschlaf setzte sie sich auf und streckte sich erst einmal, bis ihr schlagartig Kayate einfiel. Schon war sie hellwach und starrte zum Bett hinüber. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen das es leer war. Geschockt sog sie die Luft ein und rannte aus dem Zimmer um den alten Herren zu suchen. „Clait…! Clait, wo bist du! Kayate…Kayate sie ist...“, sie stolperte halb über den Türrahmen in ihrer Eile und konnte gerade noch so vor Clait abbremsen der bereits auf sie zu warten schien. „Was soll denn der Radau?“ „Kayate…sie…sie ist verschwunden! Nicht mehr…in ihrem Bett!“, stammelte sie etwas außer Atem. Hinter Clait stand eine Tür weit offen und führte offenbar in die Küche. Sie konnte den Geruch von Brot, Marmelade, Pfannkuchen und noch allerlei anderen Leckereien, identifizieren. Und noch einen weiteren. Kayate. Der Duft von Kayate befand sich in der Küche. Vor lauter Panik hatte sie beinahe vergessen sich auf ihre wölfischen Fähigkeiten zu verlassen. Gerade als sie einen Schritt auf die Küche zu machen wollte streckte ihr das andere Wolfsmädchen schon den Kopf entgegen. „Morgen, Melaara.“, mit einer Scheibe Toast im Mund, schenkte sie ihr ein offenes, putzmunteres Grinsen. Melaara schob die Lippe vor und warf ihrer Wolfsfreundin einen mörderischen Blick zu. „Weißt du was ich mir für Sorgen gemacht habe! Und du stolzierst hier einfach mir nichts dir nichts in die Küche von ‘nem Fremden runter!“ „Verzeihung Prinzessin, bekommst du halt nix vom Frühstück ab.“, motzte Kayate zurück. „Beruhigt euch, Ladies.“, Clait hob besänftigend die Hände. „Sie war sehr früh aufgewacht, meinte sie wolle dich nicht wecken, habe aber Hunger. Also hab ich ihr erlaubt die Küche zu benutzen. Sie hat mir erzählt ihr seid auf der Durchreise, also dachte ich, ein bisschen Proviant würde euch nicht schaden.“ Unsicher sah die weiße Wölfin von Clait zu Kayate, seufzte dann jedoch nachgiebig und bedankte sich bei Clait für die Vorräte. Nachdem sie Kayate nochmals gründlich durchgecheckt hatten, zogen sie weiter. „Lasst euch nicht von den Menschen erwischen, Wölfe.“, rief Clait ihnen nach als sie das Haus verlassen hatten. Verwirrt sahen sie zum Alten, doch der hatte bereits ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür geschlossen.
Gegen Mittag hatten sie bereits den Ausgang der Stadt erreicht. Als sie durch das Tor schritten, war alles was sie sahen rohe Wildnis. Rechts von ihnen befand sich eine weite Ebene. Außer Gras und hin und wieder ein paar Bäumen, die sich in der Ferne verloren war rein gar nichts zu sehen. Gerade vor ihnen befand sich ein Kliff. Die tobenden Wellen peitschten und rissen immer wieder Felsbrocken mit sich in die Tiefe. „So, mal schauen.“, Kayate nahm aus ihrer Seitentasche ihre Karte und faltete sie auf dem Boden auf. „Wir sind jetzt hier, am Rande von Yaosale.“ Sie deutete mit dem Finger auf den Punkt an dem sie sich befanden. „Hier befindet sich ein riesiger Landweg der nach Suimang führt. Und wenn wir diese Wildnis dort durchqueren würden, würden wir wohl sehr bald in Ortiais ankommen. Da wir aber ohnehin nach Suimang wollen, und uns in Ortiais erstmal nur eine riesige Wüste erwarten würde, schlage ich vor wir nehmen den Landweg.“ Die schwarze Wölfin wartete nicht auf eine Zustimmung sondern faltete schlichtweg die Karte wieder zusammen und steckte sie weg. „Dann mal los.“ Schon setzten sie sich wieder in Bewegung. „Sag mal…Wie lange ist es eigentlich her das wir Wölfe waren?“, begann Kayate auf einmal nachdenklich. „Hm? Öhm… Na als wir von den Lurar angegriffen wurden.“ „Ja…das stimmt…“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Entschuldige. ich hab grade nur gedacht…wir haben uns seit dem nicht mehr verwandelt. Ich frage mich ob du deine Flügel in Wolfsform behalten hast.“ Nachdenklich sah sie zum Himmel hoch. Als Melaara ihre Schwingen bekam, fühlte sie ein leichtes Gewicht auf ihrem Rücken. Doch seit sie wieder in ihrer menschlichen Form war, hatte sie dieses Gefühl verlassen. Sie zögerte nicht lange und gab ihrer wahren Seele nach. Schon stand sie als weiße Wölfin neben Kayate. Der Druck auf ihrem Rücken kehrte jedoch nicht zurück. Sie waren tatsächlich weg… Leicht enttäuscht begutachtete sie ihren Rücken „Konzentrier dich mal drauf. Vielleicht kannst du sie ja herbei rufen!“, meinte die andere Wölfin. „Keine Sorge, hier sieht uns schon niemand, wir sind weit genug weg von der Stadt.“ Melaara tat wie ihr geheißen und konzentrierte sich auf die einstigen Flügel. Sie stellte sich vor wie sie sie ausbreitete, wie der Wind durch die Federn brauste. Sie versuchte sich das Gewicht der Schwingen vorzustellen, doch sie konnte es einfach nicht auf ihrem Rücken wahrnehmen. Enttäuscht öffnete sie wieder die Augen und sah zu Kayate hoch. „Hm…kann man wohl nichts machen. Vielleicht erscheinen sie nur wenn bestimmte…Bedingungen erfüllt werden.“ „Bedingungen?“ „Ja. ich hab schon von Seelen gehört die ihre Kräfte erst nutzen konnten wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten. Zum Beispiel wenn sie in Gefahr waren. Oder wenn sie immense Angst hatten.“ Niedergeschlagen sah Melaara zu Boden. „Meine Kräfte sind also begrenzt…?“ sie seufzte. „Und ich dachte ich könnte dann frei wie ein Vogel durch die Lüfte gleiten“ Die setzte sich wieder in Bewegung und ging Richtung Landbrücke. Kayate folgte ihr. „Na ja…vielleicht kannst du das ja eines Tages. Vielleicht musst du deine Fähigkeiten einfach nur trainieren!“ Schweigend gingen sie nebeneinander her. Inzwischen hatten sie schon ein gutes Stück der Landbrücke hinter ihnen gelassen. Die Brücke war eine riesige Felsformation die über das Meer führte. Tief unter ihnen konnte man die tobenden Wellen hören. Als sie etwa die Hälfte der Brücke erreichten näherte sich Kayate dem Rand und sah hinunter. „Also wenn du hier runterfällst hast du wohl mehr als ein paar Knochenbrüche…“ Sie erschauderte an der Höhe und winkte das andere Mädchen zu sich. Als sie neben ihr stand deutete sie nach unten zum Meer. Viele spitze und tödliche Felsen ragten überall aus dem tosenden Wasser heraus. Würde man hier hinunterfallen, würde man sterben. Selbst wenn jemand die Felsen mit purem Glück verfehlen würde – die Höhe würde wohl genügen um jemanden einfach zerbersten zu lassen. Die weiße Wölfin zitterte leicht und trat ein paar Schritte zurück. Schnell ging sie weiter. „Wenn du Höhenangst hast wirst du dich mit dem Fliegen da aber schwer tun.“ „Wenn ich weiß dass ich Flügel hab, die ich kontrollieren kann hab ich keine Angst. Aber so…So bin ich auch nichts weiter als ein wehrloser Mensch.“ Plötzlich zog etwas im Himmel ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war weit entfernt, jedoch noch erkennbar. Etwas flammte auf in der Ferne. Ein bedrohliches Zischen gab zu erkennen was es war. Sie konnte Flammen sehen, das abscheuliche Brüllen hören. Melaara sah zwei Paar gigantischer Schwingen die mit kräftigen Schlägen ihre Besitzer in der Luft hielten. Gebannt sah sie an die Stelle wo die beiden Bestien immer wieder auf einander stießen, sich die Zähne und Klauen ins Fleisch stießen. „Das sind…“, brachte sie nur hervor, bevor sie merkte das Kayate sie an der Hand genommen hatte und über die Brücke zog. „Drachen!“, rief Kayate. „Und sie kommen auf die Brücke zu!“ sie sah noch einmal zum Himmel hoch. Tatsächlich, die beiden Riesenechsen kamen in ihrem Gefecht der Brücke rasend schnell näher. Beide waren sie schwer verwundet doch in ihren feurigen Augen sah man ihnen die Ernsthaftigkeit dieses Kampfes an. Es waren beide Feuerdrachen. Man konnte es an ihrer Farbe und Musterung erkennen. Beide waren sie tiefrot mit schwarz-glänzenden bedrohlichen Krallen. Eine schwarze, flammenartige Musterung zierte die beiden Drachenkörper. Die Ungetüme kamen dem Landweg immer näher, so lange, bis sie darüber hinwegrasten und die beiden Wolfsmädchen vom Luftzug beinahe weggeweht wurden. Nach einiger Zeit umkreisten sie sich bedrohlich und langsam in der Luft, bevor sie wieder an Geschwindigkeit zunahmen und aufeinander mit einem finsteren Knurren und Zischen aufeinander zurasten. Die beiden Wolfsmädchen hatten sich inzwischen wieder in ihre wahre Gestalt verwandelt und liefen mit voller Geschwindigkeit über die Brücke. „Das Ding ist nicht stark genug! Wenn die sich auf die Brücke werfen sind wir erledigt!“, rief Kayate komplett außer Atem. Der Kampf in der Luft ging unerbittlich weiter. Einer der Beiden Feuerechsen schaffte es im Nahkampf sich in den Nacken der Anderen zu verbeißen. Diese kreischte und brüllte, versuchte loszukommen und ließ die gewaltigen Krallen immer und immer wieder über den Körper des Rivalen kratzen. Plötzlich hob die verbissene Feuerechse ihren Kopf und hob somit ihren Gegner hoch. Mit einer schnellen und kräftigen Kopfbewegung schleuderte sie sie mit voller Wucht auf die Brücke. „Pass auf!“ Mit einem lauten Krachen schlug das Tier mit voller Wucht auf die Brücke ein. Seine gigantischen Schwingen und sein Schweif, schlugen über die Brücke hinweg, genau auf die Wölfinnen zu. Noch immer liefen sie im vollen Tempo, doch die immer wieder neuerzeugten Luftströmungen der Drachen wehten sie immer ein paar Meter zurück und zwangen sie immer öfter als geplant Halt zu machen. Die Wölfe strengten ihre Läufe bis zum äußersten an und sprangen, gerade so, über den Schweif des Drachen. Sie wechselten zwischen ihrer menschlichen Gestalt und wahren Gestalt um den Flügeln und Klauen der Feuerechse zu entgehen. Ein Hieb mit der Pranke dieser Kreatur, welche beinahe vierfach so groß war wie die Wölfe, hätte ausgerecht um ihnen alle Knochen im Leib restlos zu brechen. Der Riesenechse entfuhr ein lautes Brüllen, bevor sie sich langsam wieder bewegte und versuchte aufzustehen. Die Wölfinnen entgingen den Klauen der gigantischen geflügelten Echse bevor sie nur wenige Augen blicke wieder einen lauten Knall direkt vor ihnen hörten. wieder einmal bremsten sie ab und machten eine scharfe Linkskurve um dem zweiten Paar Klauen des anderen Drachen auszuweichen. Auch er hatte sich auf die Brücke niedergelassen um seinen am Boden liegenden Rivalen den Todesstoß zu versetzen. Dieser gab nur noch ein mickriges Grunzen von sich und ließ seinen Schädel müde auf den felsigen Untergrund donnern. Genau als die zweite Riesenechse ein ohrenbetäubendes Brüllen von dich gab und zum letzten Schlag ansetzte ließ ein verhängnisvolles Knacken alle Anwesenden innehalten. Ein gigantischer Riss entstand unter dem totgeweihten Drachen und bahnte sich rasen schnell seinen Weg über den ganzen Landweg. Laut und krachend suchte er sich seinen Weg unter den beiden Drachen hindurch. Die Brücke brach mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auseinander. Der siegende Drache erkannte die Gefahr und breitete seine Schwingen beinahe gleichgültig aus. Als er abhob fegte ein orkanartiger Wind über die Brücke. Die Wolfsmädchen schafften es gerade so sich im felsigen Untergrund zu verkrallen und dem Wind standzuhalten. Doch sie spürten wie unter ihnen der Boden zerbröckelte. Felsbrocken brachen ab von der Brücke und versanken in der endlosen Tiefe im Meer darunter. Ein Bein der halb toten Riesenechse befand sich bereits in der Luft, und auch der Rest ihres Körpers folgte schnell. „Melaara! Lauf!“, rief Kayate panisch und spannte ihr Laufmuskeln an als der Wind nachgelassen hatte. Auch sie zögerte nicht lange und sprintete los, als sie sah dass neben ihr der Drache bereits in die Tiefe fiel. Die Brücke zerfiel mit ohrenbetäubendem Lärm und rasanter Geschwindigkeit. Die Wolfsmädchen liefen um ihr Leben, und hatten das Ende des Landwegs beinahe erreicht. Melaaras Muskeln brannten. Doch auch der Riss hatte beinahe die gesamte Brücke dazu gebracht einfach auseinanderzufallen. Immer und immer wieder konnte sie spüren wie sie es mit einem Schritt gerade so schaffte dem Fall in den Tod zu entgehen. Kayate ging es nicht anders. Es waren nur noch wenige Meter bis sie das Ende der Brücke erreicht hatten, doch in diesen Moment sah sie zu Kayate hinüber und erstarrte. Die Zeit verlangsamte sich und sie sah wie der Boden unter Kayates Pfoten wegbrach. Verzweifelt versuchte sie sich am noch stabilen Teil weiter vorne festzukrallen, doch auch diese brach wenige Sekunden später einfach unter ihren Füßen weg. Ihre Läufe fielen wertlos in die Tiefe. „Kayate!“ Die schwarze Wölfin fiel bereits mit dutzenden von Steinen und Felsen in die Tiefe. Todesangst und Apathie spiegelten sich in Kayates sonst so fröhlich, leuchtenden Augen wieder. Melaara kniff die Augen zusammen. Eine unbeschreibliche Angst machte sich in ihrem Inneren breit. Die Angst vor dem Tod? Die Angst davor Kayate sterben zu sehen? Die Angst davor alleine zu sein? Sie wusste es nicht, doch diese Angst sendete einen Impuls in ihre Muskeln. Sie verkrampfte sich. ihre Muskeln gaben ihr nicht länger die Kraft nach vorne zu laufen. Sie befehligten ihrem Körper stehen zu bleiben. Kayate nachzuspringen.. Runterzuspringen. Ihr Körper gehorchte. Und so fiel sie wenige Augenblicke später neben Kayate in die endlose Tiefe. Doch etwas stimmte nicht. Obwohl sie unbeschreibliche Angst hatte, so erfüllte sie nicht diese Gleichgültigkeit, die Kayates Augen zu jenem Zeitpunkt prägten. Die Wölfin öffnete die Augen, und sah wie sie sich den spitzen Felsen und dem Meer immer schneller näherte. Neben ihr fiel Kayate. Sie schien bereits in Ohnmacht gefallen zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, friedlich, als würde sie schlafen. Für Melaara schien sich die Zeit zu verlangsamen. Eine bekannte Wärme erfüllte sie plötzlich wieder. Es war jenes Gefühl welches sie beim Angriff der Lurar auch verspürt hatte. Sie konzentrierte sich darauf und versuchte sich in Erinnerung zu rufen wie sie danach die Flügel besaß. Und tatsächlich; wenige Augenblicke später, kehrte auch das bekannte Schweregefühl auf ihrem Rücken zurück. Ihre Augen wurden groß und funkelnden voller Hoffnung als sie sich umdrehte um ihrem Rücken zu sehen: ihre Schwingen waren wieder da. Mit größter Mühe schaffte sie es die riesigen, weißen Flügel auszubreiten. Sogleich merkte sie wie der Wind sie nach oben hinweg zog, doch sie wehrte sich, versuchte die Flügel so zu steuern, dass sie Kayate auffangen konnte. Doch je mehr sie sich wehrte desto weiter wurde sie von ihrer Freundin entfernt. Panisch verschloss sie wieder die Augen und versuchte sich selbst zu beruhigen. Als ihr Herzschlag sich etwas verlangsamt hatte, legte sie die Flügel an und rauschte somit doppelt so schnell als vorher den tobenden Wellen entgegen. Kurz bevor sie aufschlug breitete sie die Schwingen wieder aus, flog zur Seite und sogleich wieder hinauf. sie schaffte es Kayate im Flug beim Nacken zu greifen und sie so auf ihrem Rücken zu ziehen das sie Halt fand. Das Fliegen wurde mit dem Gewicht der schwarzen Wölfin sehr viel anstrengender und anspruchsvoller. Verzweifelt schlug sie mit den Flügeln um an Höhe zu gewinnen, doch musste sie gleichzeitig auch noch den herab stürzenden Felsen der Brücke entgehen. Beinahe hatte sie den Felsvorsprung erreicht um wieder nach oben zu kommen und sich zu retten, doch in der Sekunde als sie sich schon in Sicherheit wiegte, verpasste sie es einem der größeren Felsen auszuweichen. Der Brocken rammte sich am rechten Flügel und brachte sich aus dem Gleichgewicht. Schmerzen durchfluteten ihre rechte Schulter. Verzweifelt versuchte sie das Gleichgewicht wiederzufinden, scheiterte jedoch kläglich. Ihre Krallen jedoch hatten es geschafft. Sie hatten sich fest in den kleinen Vorsprung gegraben und hielt die Wölfin an Ort und Stelle. Trotz brennender Muskeln zog sie sich auf den kleinen Felsvorsprung und ließ sich niederfallen. Komplett außer Atem lag sie keuchend auf dem kleinen Vorsprung der ihr, zumindest für den Moment, ein kleines bisschen Sicherheit gab. Zu spät erst merkte sie das Kayate von ihrem Rücken verschwunden war. Der kommende Schock jedoch ließ sie nur zum äußersten Rand des Vorsprungs krabbeln und nach unten sehen. Sie hätte schwören können, dass sie ein schwarzes Fellknäuel sah, welches daraufhin im Meer versank. Ihre Augen fielen langsam zu. Sie verlor das Bewusstsein und taumelte in die allesverschlingende Schwärze.
Kapitel 4: Abenteuer
Das erste was von ihren zuckenden Wolfsohren wahrgenommen wurde war das Geräusch der tobenden Wellen wie sie gegen eine Klippe schlugen. Der erste Gedanke; „Wo bin ich?“ Die erste Erinnerung; „Kayate!“ Ruckartig hob die Wölfin ihren Kopf und sah sich um. Noch immer lag sie auf dem kleinen Felsvorsprung am Rande der Klippe. Doch in dem Moment indem sie wieder zu Bewusstsein kam, begann auch der Vorsprung abzubröckeln. Rechtzeitig schoss das Adrenalin in ihren Körper und sie schaffte es mit einem großen Sprung Halt auf der felsigen Mauer zu finden. Ihr Herz raste wie verrückt, ihr Kopf schmerzte von den Erinnerungen, ihr Herz war verwirrt. Die waren Flügel verschwunden. Sie schaffte es, sich mit letzter Kraft nach oben an den Rand der Klippe zu schleppen. Erschöpft ließ sie sich wieder fallen und sah hinunter in den Abgrund zum Wasser und den spitzen Felsen. Von den Drachen war keine Spur mehr zu sehen, doch auch Kayate war wie vom Erdboden verschwunden. Jedoch befand sich auf den Felsen im Meer kein Blut. Hatte sie die Felsen verfehlt? sie riskierte einen Blick zu der nicht mehr existierenden Brücke. Hier und da fielen immer noch kleine Felsen hinunter ins Meer, doch der gigantische Landweg aus Stein war weg. Niemand konnte mehr den Landweg nach Suimang nehmen. Oder gar nach Leratiss. Erst jetzt erkannte sie das dies ihr einziger Weg war um je wieder nach Hause zu kommen. Verzweifelt legte sie die Pfoten über die Schnauze und blieb liegen. Scheinbar mehrere Stunden vergingen in denen sie sich kein Stück bewegte. Hin und wieder hob sie den Kopf um nach unten zum Meer zu sehen, in der Hoffnung Kayate dort zu entdecken, doch nie war es der Fall, und immer legte sie daraufhin die Pfoten wieder auf die Schnauze, um so ihrem Blick zu verhüllen. Die Realität zu verdrängen. Doch einmal war etwas anders. Ein Geräusch, ein Flattern, wie das eines Vogels, gar nicht so weit von ihr entfernt. Die Weiße hob den Kopf und spitze die Ohren, genau in diesem Moment rauschte etwas kleines Schwarzes vor ihren Augen vorbei. Panisch stolperte die sie ein paar Schritte zurück, nur um dann zu erkennen, dass das Wesen eine Art Krähe war, welche schon, als sie sich endlich umdrehte, bereits wieder einiges an Entfernung hinter sich gelegt hatte. Die Wölfin gab ein eingebildetes Schnaufen von sich als sie dem Vogel hinterher starrte, doch schon bald wurde ihr wieder klar in welcher Situation sie sich befand. Sogleich ließ sie den Kopf wieder hängen. Diesmal jedoch landete ihr Blick auf etwas anderem als dem eintönigen, kalten Fels. Scheinbar hatte die Krähe es fallen gelassen. Melaara senkte den Kopf um es besser begutachten zu können, dann wagte sie es daran zu schnuppern. Kayate Geruch klebte daran. Eine Karte. Kayates Karte. Sie verwandelte sich zurück in einen Menschen und ließ sich zusammen mit der Karte in ihren Händen auf den Rücken fallen. Sie hielt sie gegen das Sonnenlicht und studierte sie genau. Wo hatte Kayate sie bloß her? Sie war alt, zerknittert. An den Enden zerrissen, doch trotz allem noch lesbar. Das Mädchen schluckte einen Kloß hinunter als sie den Namen der Insel Lyras las und darüber nachdachte wie Kayate darüber gesprochen hatte diese Insel zu entdecken. Eine Weile bewegte sie sich nicht. Doch mit einem Mal fasste sie den Entschluss weiter zu gehen. Das Mädchen hatte eine Entscheidung getroffen. Sie wollte die Insel für Kayate finden. Die Karte faltete sie zusammen und steckte sie in die Taschen ihres Kleids. Zum ersten Mal sah sie nun was vor ihr lag. Sie wandte sich ab von dem zerstörten Landweg und in Richtung des Unbekannten. Verwundert riss sie die Augen auf, als sie sah welcher Weg vor ihr lag. Bisher hatte sie noch keine Zeit gehabt den Weg vor ihr zu erkunden, doch was sie hier vor sich hatte war zutiefst verwunderlich. Sie hatte eine riesige Steinwüste oder etwas Ähnliches erwartet, doch vor ihr lag etwas ganz anderes als Hitze und Trockenheit. In der Ferne konnte sie nur noch weiß erkennen. Der rötliche steinige Boden veränderte seine Farbe schon nach wenigen Metern zu einem eiskalten Weiß. Eis und Schnee. Vor ihr lag scheinbar eine gigantische Eiswüste. Unsicher faltete sie die Karte der schwarzen Wölfin noch einmal auseinander. Und tatsächlich; Suimang war komplett in weiß gezeichnet. Viele Flüsse schlängelten sich durch das vereiste Land. Es gab nur wenige wirklich große Städte in der vereisten Tundra. Ildorm war die Stadt die ihr am nächsten lag, wenn sie sich tatsächlich ein Boot mieten wollte um nach Lyras zu suchen. Doch die kleine Stadt lag einen langen Fußmarsch entfernt. Sie würde bestimmt 2 Tage unterwegs sein. Sorgfältig prüfte sie ihren restlichen Proviant. Clait hatte ihnen genug mitgegeben um einige Zeit lang zu überleben. Den Marsch würde sie also zumindest vom Proviant her mit Leichtigkeit schaffen. Im Endeffekt, hatte sie ihr doch etwas luftiges Kleid mit einem Wintermantel und einem dicken roten Pulli und schwarzer Jean darunter ausgetauscht. Sofort standen ihr die Schweißperlen auf der Stirn, doch sie wusste, dass dies bestimmt nicht lange so bleiben würde. Auch die Decke fand noch ihren Nutzen. Geschickt hatte sie den Stoff so geknotet, dass sie letztlich einen Mantel mit kleiner Kapuze wehend am Rücke trug. Den Rucksack packte sie darunter. Sie warf noch einen letzten Blick zurück, schüttelte dann jedoch den Kopf und lief los. Schon nach kurzer Zeit war sie in einem starken Schneesturm gefangen. Der Wind ließ die Decke wie verrückt tanzen. Das Wolfsmädchen hatte die Arme um ihrem Körper geschlungen, doch auch dies schien kaum Wäre zu spenden. Vielleicht würde sie ja der Wolfspelz wärmen… Sofort als ihr die Idee kam verwandelte sie sich. Die Flügel waren wieder einmal verschwunden, jedoch schien es in wölfischer Gestalt tatsächlich wärmer zu sein. Schritt für Schritt wagte sie sich weiter in den Sturm hinein, doch schon bald hatte sie jegliches Gefühl für Zeit. Wärme und Kälte oder gar Orientierung verloren. Ihr Verstand begann damit ihr Streiche zu spielen. Immer wieder meinte sie, sie könne eine Gestalt in den Schneewehen sehen, doch als sie blinzelte und genauer hinsah war sie verschwunden. Ihr Verstand gaukelte ihr Stimmen und Gerüche vor. Die von Takeo, von Kayate, ihren Eltern. Doch wieder und wieder schüttelte sie den Kopf, versuchte sich auf die Realität zu konzentrieren. Und mit jedem Mal wurde es schwieriger die Halluzinationen loszuwerden, bis sie schließlich von Stimmen und Gerüchen begleitet wurde. Alle von ihnen raubten ihr den Atem, jede von ihnen flüsterte und tuschelte ihr etwas ins Ohr. Sie solle umkehren, hier würde sie sterben. Das Mädchen ignorierte es. Solange, bis sie schließlich die andere Wölfin direkt vor ihr nicht bemerkte und als schlichte Einbildung abtat. Die Graue blieb stehen und sah die andere Wölfin verwundert an, als sie einfach gegen sie lief und an Ort und Stelle zusammenbrach. Melaara hob den Kopf. Eine graue Wölfin, die Pfoten mit einem schwarzen Punktemuster verziert. Sie trug etwas um den Hals. Es funkelte in einem dunkeln, verführerischen Rubinrot. Keine Halluzination. Sie nahm den Geruch in sich auf, doch wieder einmal konnte sie keinen Muskel bewegen. Frustrierend ergab sie sich der langsam näher kriechenden Dunkelheit.
„Du kannst doch nicht einfach eine Fremde aus der Sekure mitnehmen! Was ist wenn du hier eine Spionin angeschleppt hast? Bring nicht noch mehr Krieg in unser kleines Dorf!“, eine männliche Stimme. Tief, rau. Er war schon älter. Vielleicht so um die 60? „Aber…sie wäre dort sonst gestorben…“ Weiblich. Eine sanfte und tiefere Stimme. So um die 20. „Du setzt das Leben des ganzen Dorfes für eine Fremde auf dich!“ „Ist dir unser Dorf so egal?“ „Schmeißt sie raus, dann macht sie keinen Ärger mehr!“ „Ja, verbannt sie in die Eiswüste! In der Sekure wird sie ihren Fehler einsehen!“ Der Ärger und die Angst in der Luft waren förmlich auf der Haut zu spüren. Plötzlich herrschte Stille. Schritte näherten sich, und die angespannte Luft wurde von Ehrfurcht erfüllt. „Solange ich der Älteste bin, entscheide ich wer in die Verbannung geschickt wird. Und ich werde meine Enkelin nicht in der größten und gefährlichsten Eiswüste die es in Suimang gibt zurücklassen.“ Langsam wurde das Bild um Melaara herum klarer. Sie hatte die Augen geschlossen, doch die Gerüche gaben ihr ein Bild von der Situation. Sie lag wohl in einer Hütte, gemacht. Doch das Material aus der sie gemacht war, war geruchlos. Kalt. Bestand die Hütte etwa aus Eis? Ein Feuer brannte in der Mitte des runden Raumes. Jemand saß neben ihr. „Die Wölfin“, sagte ihr ihr Geruchssinn. „Sie hat mich gerettet.“ Vor dem Eingang hatte sich scheinbar eine Traube von Menschen gebildet, die nun jedoch zur Seite gingen um Platz für jemanden zu machen. Langsam wurde es still. Der Stimme und dem Geruch nach zu Folge war es ein sehr alter Mann. Bestimmt schon um die 80. Ein hartes „Klack“ ertönte und ließ das Wolfsmädchen wissen, dass er sich nur noch mit einem Stock fortbewegte. Seine Gelenke rochen beinahe säuerlich. Wäre er Beute gewesen… Melaara warf den Gedanken beschämt weg. „Rin… Wieso hast du sie hier her gebracht, Enkelin? Wieso hast du dich in der Sekure, der Wüste der Eisgeister, herumgetrieben und diese Fremde mitgebracht?“, wollte der Alte wissen. „Großvater…sie hat auch eine tierische Seele… Sie war in der Eiswüste…Ganz alleine und dem Tod nahe. Ich konnte sie da doch nicht einfach liegen lassen!“. Verzweiflung, Wut und Empörung in ihrer Stimme. Schockiert sogen die Personen draußen vor der Tür die Luft ein als das Mädchen von der tierischen Seele erzählte. Jetzt wo sie es erwähnte… Melaara bemerkte, dass einige Personen vor der Hütte eine spezielle Seele hatten. Da war der durchdringende Geruch eines alten Fuchses. und einer Säbelzahnkatze. Auch eine seltene Drachenseele mischte sich unter die verschiedenen Düfte. Es gab…ein ganzes Dorf mit wahrhaftigen Seelen…? Hier…? Vorsichtig öffnete Melaara die Augen. Sie konnte nicht sehr viel ausmachen, Alles war verschwommen und verwischt. Hier und da waren Farben, Schatten. Das Mädchen neben ihr. Rot-braune Haare. Ein hellblaues Gewand mit weißem Pelz darum. Es erinnerte beinahe an ein Gewand der alten Eskimos. „Rin…auch wenn sie Eine von uns ist – du kannst nicht einfach so Fremde aus der Sekure mitnehmen! Wir brauchen hier keine Spione! Der Krieg soll nicht auch noch zu uns kommen, oder möchtest du das?“ „Ich weiß, Opa. Nein ich möchte es natürlich nicht aber ich…ich konnte doch nicht einfach zulassen dass sie stirbt. Trotz allem wäre sie immer noch ein Lebewesen, oder nicht?“ Kurzes Schweigen erfüllte den Raum. „Wir werden sie gesund pflegen. Aber dann muss sie gehen. Wir können es nicht riskieren, dass sie uns verrät.“ Das Klacken des Stocks entfernte sich wieder und verließ das Haus. „Und nun kusch! Hört auf euch wie ein Rudel räudiger Straßenköter um das Haus meiner Enkelin zu scharen! Na los, trollt euch!“ Ein paar Sekunden passierte nichts, doch als der Älteste seinen Stock vielsagend in den Boden rammte, entfernte sich der Massenauflauf langsam. Schweigen machte sich in dem kleinen Häuschen breit. Lediglich das Knistern des Feuers durchbrach die Stille hin und wieder. Melaara richtete sich auf und blinzelte dabei die Verschwommenheit hinfort. Stechende Kopfschmerzen plagten sie. Sie spürte wie das Mädchen neben ihr ein kleines Stück vor ihr zurückgewichen war und sie schweigend und unsicher anstarrte. „Kein sehr nettes Dorf…“, brachte sie angestrengt hervor und schaffte es das Mädchen anzusehen und dabei zu lächeln. „Wölfische Seelen haben‘s wohl einfach nicht leicht, was?“ Das Mädchen mit dem Namen Rin fixierte sie noch ein wenig, bevor sie die Knie an sich zog und traurig den Kopf schüttelte. „Keine Sorge, ich bin kein Spion. Ich bin einfach nur auf einer Reise.“ Rin seufzte. „Woher kommst du?“, wollte sie wissen. „Leratiss. Diapdra ist meine Heimatstadt.“ Das Mädchen nickte nur. „Sag mal…wo genau bin ich hier?“ „Ildrine.“ „Ildrine…?“, besorgt öffnete sie die Karte und suchte nach dem Namen. Sie seufzte erleichtert, als sie feststellte, dass das Dorf gleich über Ildorm lag. Sie war somit Lyras noch näher als sie es ursprünglich vorhatte. Zufrieden faltete sie die Karte zusammen und steckte sie wieder weg. „Verzeih, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Melaara.“ „Ich bin Rin.“ Müde lächelte das rothaarige Mädchen. Erschöpft stand sie auf und nahm sogleich den Rucksack der nur wenige Meter vor ihr stand. „Wo willst du denn hin?“ „Ich werde meine Reise fortsetzen. Ich bin hier doch eh nicht willkommen.“ „A-Aber du bist doch noch gar nicht vollkommen gesund! Ich hab keine Ahnung wo du hinwillst, aber das nächste wirkliche Dorf liegt einen guten Tagesmarsch von hier entfernt! In deiner momentanen Verfassung schaffst du das nicht!“ „Ach was. Wölfe sind zäh. Gerade du solltest das doch auch wissen, oder nicht?“ „Ja aber...“ sie hob die Hand um das Mädchen zu unterbrechen. „Kein Aber. Im Moment habe ich nur ein Ziel. Und wenn ich dieses Ziel auch aus den Augen verlieren würde…nun, dann wüsste ich gar nicht mehr wohin ich gehen sollte. Außerdem…habe ich es ihr doch mehr oder weniger versprochen…“ Am Ende schien ihre Stimme ein wenig zu zittern. Ja, sie hatte es ihr versprochen…und sie würde es einhalten. „Dann werde ich dich begleiten.“ Verwundert sah sie zu dem Mädchen „Wieso? Wenn du mich begleitest, eine Fremde, die euch vielleicht verraten wird, dann werden sie dich garantiert aus dem Dorf werfen.“ Das andere Wolfsmädchen zuckte mit den Schultern. „Du als Wölfin solltest es doch wissen. Wir sind nicht gerade sehr beliebt. Außer meinem Großvater wünscht sich niemand, dass ich hierbleibe. Was hab ich also schon zu verlieren?“ „Vielleicht dein Leben? Der Krieg tobt im Moment ja anscheinend überall. Das wird also bestimmt keine kleine Bergwanderung.“ Rin nickte. „Ich bin genauso eine Wölfin und mindestens genauso stark wie du. Unterschätze mich nicht.“ Rins Augen spiegelten Selbstvertrauen wieder, genau wie die ihren, als sie ihre Sachen gepackt hatte und in eine fremde Welt lief. Nach einem kurzen Schweigen nickte die Braunhaarige. „Wenn du es unbedingt willst. Dann lass uns gehen.“ „Geh schon mal vor. Der Ausgang liegt einfach immer grade aus, bei einem großen Tor. Gar nicht zu verfehlen. Wir treffen uns dann da.“ Melaara nickte erneut und trat heraus aus der warmen Hütte, hinein in den Schnee und die Kälte. Vor ihr befand sich ein kleiner Weg, an dessen Ende man bereits das erwähnte Tor erkennen konnte. Das Dorf schien nicht sehr groß zu sein. Müsste sie schätzen, hätte sie behauptet dass hier maximal 15 der kleinen, aus Eis gemachten Hütten waren. Platz genug für etwa 40 bis 50 Leute. Sie konnte die Anwesenheit der anderen deutlich spüren, auch wenn nur wenige von ihnen tatsächlich zu sehen waren. Doch alle hatten sie etwas gemeinsam; die Aura die sie umgab, als die Wölfin an ihnen vorbeiging. Zwar konnte sie erkennen das alle von ihnen unterschiedliche Seelen hatten, doch die Aura der Nervosität, Angst und oft auch Hass, war bei allen deutlich zu vernehmen. Sie spürte wie eine Hunde Seele sie anknurrte, eine Vogel Seele ihr Gefieder aufplusterte und Abstand vor ihr suchte, eine Panther Seele fauchte und ihre Krallen über den Boden wetzte. Ungehindert ging sie zum Tor. Als sie dieses erreicht hatte lehnte sie sich ruhig dagegen und sah ins Dorf hinein. Sie spürte wie die Blicke abgewendet wurden, die vielen unterschiedlichen Seelen langsam zurückwichen und wieder ihrem Alltag nachgingen. Dann war da noch etwas anderes. Eine einzelne, kleine Seele bewegte sich langsam auf sich zu. „Bitte…pass mir gut auf meine Enkelin auf, Wölfin.“, sprach die Stimme eines schmächtigen, ergrauten Fuchses. Der alte Mann. Sie verwandelte sich in ihre tierische Gestalt, trat dem Alten entgegen und berührte seine Schnauze vorsichtig mit ihrer. Danach trat sie zurück und senkte den Kopf vor ihm. „Ich werde über sie wachen.“ Der Ergraute nickte zufrieden und trottete zurück in sein Dorf. Genau in diesem Augenblick lief ihr eine kleine, graue Wölfin fröhlich entgegen. „Los geht’s!“, rief diese sowohl aufgeregt als auch unsicher. Das Tor öffnete sich und gewehrte ihnen Zugang zu ihren neuen Abenteuern.
„Agh…Es ist kalt….Es ist einfach VIEL zu kalt! Ich packe das nicht mehr ich brauch ‘ne Pause!“, ein grauer Wolfshintern plumpste erschöpft in den Schnee. Wie zum Kuckuck hatte sie es geschafft so weit in die Eiswüste zu laufen und die weiße Wölfin aufzusammeln, wenn sie noch nicht einmal diese Strecke durchhielt? „Wir sind doch gerade mal ein paar Stunden unterwegs…“, schnaufte die Weiße sichtlich genervt als sie sich zur Grauen umdrehte. Diese ließ sich erschöpft in den Schnee fallen. „Trotzdem…“, jammerte Rin. Sie seufzte und verwandelte sich in Menschengestalt zurück. Dann öffnete sie den Rucksack und warf der Wölfin ein kleines Brötchen entgegen, welches diese freudig in einem Happen in der Luft auffutterte. „Ich habe dir gesagt das wird kein Spaziergang.“ „Ich wusste doch aber auch nicht das es SO anstrengend wird…““Wir ruhen uns 5 Minuten aus, danach gehen wir weiter. Es ist zu kalt um lange hier zu verweilen.“ „Nur 5 Minuten?“, quengelte Rin. „Nur 5.“ „Aber dann bin ich nach 10 Minuten doch wieder halb tot.“ „Dann beiß die Zähne zusammen und zeig mir ob du tatsächlich so taff bist wie du es vorher meintest.“, ungeduldig knurrte die Weiße. Unsicher legte die Graue ihre Ohren etwas an und schluckte schwer, bevor sie sich trotzig in Bewegung setzte und voran tapste. „Worauf wartest du denn?“, fragte sie eingeschnappt. Melaara seufzte nur und verdrehte die Augen, bevor auch sie sich wieder in Bewegung setzte.
Die Reise war lang und beschwerlich. sie zogen von Ortschaft zu Ortschaft, doch war es überall dasselbe: Die Menschen betrachteten sie an jedem Ort mit Misstrauen. Hier und da trafen sie auf Tierseelen, doch auch diese betrachteten sie voller Verachtung, manche sogar mit Mitleid, doch niemand hielt sie auf, fragte wohin sie wollten. Sie beobachteten sie einfach nur mit diesen gewissen, angespannten Blicken, bis sie die Wölfe ihre Vorräte wieder aufgefüllt hatten und wieder von dannen zogen. Je weiter sie gen Meer zogen desto wärmer wurde es. Zwar befand sich um sie herum immer noch nichts weiter als eine gigantische Eis- und Schneewüste, doch die eiskalten Stürme ließen nach. Die Sonne kämpfte sich mit jedem Tag mehr durch die dichten Wolken, bis sie schließlich als Menschen umher wandern konnten. Schwer keuchend und schwitzend stapften sie durch Schnee und Eis, welches das Sonnenlicht so erhellte, dass einem die Augen selbst noch weh taten wenn man sie geschlossen hatte. „Es ist nicht mehr allzu weit. Halte durch Rin, bald sind wir in Yura.“ Yura war neben Rain in Suimang die einzige richtige Hafenstadt, von der aus es ihnen möglich war nach Lyras zu segeln. Nach wenigen Stunden der Wanderung konnten sie auch schon das Glitzern des Meeres sehen. Erleichtern und erfreut stürmten sie der salzigen Seeluft entgegen, in der Hoffnung, dass sie den beschwerlichsten Teil der Reise nun hinter sich gelassen hatten. Yura war etwas größer als Rins Heimatdorf. Der Ort erinnerte Melaara beinahe an Yaosale, wenn auch etwas kleiner. Doch die Häuser in Yura waren nun keineswegs mehr kleine Eishütten wie man es in vielen anderen Dörfern und Vororten der Fall war. Nein, diese hier waren prachtvoller. Sehr viel prachtvoller. Mehrstöckige Häuser, aus Eis gemacht, verziert mit Verschnörkelungen, großzügigen Balkonen glitzerten, funkelten, und reflektieren sie das Licht der Sonne. Das Licht der untergehenden Feuerkugel am Himmel und das Schillern und Glitzern des Meeres, alles getaucht in ein tiefes rot-orange baten ein Bild das jedem Künstler den Stoff für einzigartige Bilder und Träume geliefert hätte. Der Hafen war nicht sehr weit entfernt. Er bot Platz für etwa 30 große und protzige Segel- und kleinere Fischerboote. „Aber….wie sollen wir denn da an eines ran kommen?“, meinte Rin verwundert als sie vor einem der Prachtexemplare standen, und sie ihrem kleinen Beutel voll Geld hochhielt. „Das können wir uns doch nie leisten…Geschweige denn…kannst du überhaupt segeln?“ Die Braunhaarige nickte. „Ein bisschen. Als ich ganz klein war haben meine Familie und ich immer kleine Segelturns in Yaosale gemacht. Als der Krieg kam wurde unser Geld jedoch knapp…Aber ich erinnere mich an ein paar Dinge. Es wird schon irgendwie gehen.“ Zuversichtlich lächelte sie, doch die Graue sah sich lediglich mit hochgezogener Augenbraue und einer wachsenden Sorge an. „Und wie kommen wir an ein Schiff ran?“ „Na, wir machen‘s wie die Piraten!“, lachte Melaara. „W-…Was?!“, rief Rin geschockt. „Na wir kapern eines!“ „Bist du gaga?! Die erwischen uns doch sofort!“ „Dann machen wir‘s halt in der Nacht mit einem eher kleineren Schiff. Hier gibt es doch auch mittlere Boote welche sich zu zweit locker segeln lassen!“ „Du musst vollkommen bescheuert sein… Ich glaube die lange Zeit als wir in der Eiswüste waren hat dir nicht gut getan, Mädchen.“ „Ich bin vollkommen bei Sinnen, Rin. Ich bin nur dazu gewillt ein Versprechen zu halten und mein Ziel zu erreichen. Unter allen Umständen.“ Eine Weile sahen sie einander schweigend und angespannt an. Melaaras Blick wurde sanfter. „Wir werden es heil und unversehrt zurück bringen. Wir borgen es uns nur für eine Weile.“, wollte sie ihre neue Gefährtin überzeugen. „Ich halte das nicht für richtig…“, meinte diese trotzig, doch ihr Blick senkte sich gen Boden. „Aber ich hab keinen Ort mehr zu dem ich zurückkehren könnte…“ „Das ist nicht wahr. Ich glaube dein Großvater würde dich immer wieder in seinem Dorf aufnehmen.“ „Nicht wenn der Rest der Bevölkerung dagegen ist.“ Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen, dann legte die weiße Wölfin felsenfest eine Hand auf Rins Schulter und lächelte sie breit an. „Wird schon schief gehen!“ Rin nickte einfach nur stumm und sah wieder zu Boden. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem warmen und versteckten Plätzchen um auf die hereinbrechende Nacht zu warten. Das Wasser glitzerte verführerisch im Schein der Sterne und es Mondes. Die Boote schwanken sachte auf den Wellen des Meeres. Das Rauschen brachte einen in Versuchung zu träumen. Doch etwas durchbrach die träumerische Szenerie. Zwei kleine Kreaturen schlichen von Boot zu Boot und sahen es sich genau an. Zwei Paar verstohlene Wolfsaugen blitzen aufgeregt durch die Nacht, auf der Suche nach dem richtigen Boot, als auch auf der Hut nach anderen Wesen. Ein mittleres, kleines Ding, mit schwarzen Segeln und einer riesigen Krähe mit ausgebreiteten Flügeln als Galionsfigur sollte es sein. Leise tapsten sie an Board und fingen an die Seile zu lösen und die Segel zu setzen. Schnell war das Boot seetüchtig und segelte langsam hinaus aufs dunkle, schwarze Meer. Die wölfischen Augen veränderten sich und sahen zurück zu der kleinen Hafenstadt. Zwei Mädchen standen nun auf dem Schiff und lächelten verschmitzt, als die Stadt immer kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Entgegen aller Erwartungen war es ein lauter Schrei und kein angenehmes Wellenrauschen, welcher Melaara weckte. „Rin…? Was ‘n los?“, rief sie, komplett schlaftrunken. Ihre Zunge bewegte sich schwer in ihrem Mund. Als Antwort bekam sie nur ein hysterisches Gekreische und einen Ruf nach Hilfe. Schnell rappelte sie sich auf und rannte in die Richtung aus der das Gekreische kam. Oben an Deck sah sie das Rin mit etwas kämpfte. Es flatterte wild, krächzte und kreischte, zog an ihren Haaren. Schwarze Schwingen schlugen durch die Luft und vermischten sich mit Rins wedelten Armen zu einem Gewirr aus Haaren, Federn und Armen. Melaara zögerte nicht lange, rannte unter Deck, schnappte sich den Rucksack und warf ihn mit voller Wucht auf das flatternde und krächzende Wesen, welches vom Gewicht und der Wucht des Rucksacks zu Boden geworfen wurde. Rin keuchte und machte sich schnell ihre vollkommen durcheinander gewordenen Haare zurecht, die ihr wild von überall abstanden. Der Angreifer lag, noch immer wild flatternd, unter dem Rucksack und versuchte sich krächzend zu befreien, jedoch erfolglos. Zwei Paar rötlich glänzender, wütend funkelnder Krähenaugen sahen zu ihnen herüber. „Was genau ist passiert?“, fragte sie das andere Mädchen. „Ich bin einfach nur an Deck gegangen um zu sehen wo wir sind und ob wir auch noch auf Kurs sind, und dann greift mich auf einmal dieses….dieses Unwesen da an!“, wütend zeigte sie mit dem Finger zu der Krähenartigen Kreatur. Das Tier sah einer Krähe zum Verwechseln ähnlich. Doch anstatt der breiten Schwanzfedern hatte es einen länglichen Schweif, an dessen Ende eine große, lange Feder prangte. Auch der Kopf war verziert mit zwei der Schweifartigen Fortsätze an dessen Enden wieder große Federn platziert waren. Der Rucksack lag auf dem Rücken des Wesen und erlaubte im somit lediglich mit dem Schweif wild umher zu schlagen sowie wehrlos mit den Flügeln zu flattern. „Wie könnt ihr es wagen mein Schiff zu stehlen?!“, hallte plötzlich eine arrogante weibliche Stimme in den ihrem Kopf wieder. „Wer…?“ „Das ist MEIN Schiff, hört ihr?! Und ihr beiden kommt hier einfach mitten in der Nacht an und KLAUT. MEIN. SCHIFF! Unverzeihlich!“ Die Stimme konnte nur von der krähenartigen Kreatur kommen. „Wie kann eine Krähe ein Schiff besitzen?“, meinte Melaara amüsiert. „Was fällt dir ein! Ich bin keine Krähe!“, schrie die Stimme laut in ihrem Kopf. „Wage es nicht mich mit einem Vogel zu vergleichen…!“, meinte die Stimme empört. „Mein Name ist Eneru! Und ich habe die Seele eines Aeroni! Und nicht die eines stickenden Aasfressers!“ Plötzlich, innerhalb eines Herzschlags, verwandelte sich das schwarze Federbündel mit dem Namen Eneru in ein menschliches Wesen. Ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren und tödlichen roten Augen packte den kleinen Rucksack der auf ihrem Bauch lag und schleuderte ihn Melaara mit voller Wucht entgegen. Sie konnte ihn gerade noch so mit einem lauten „Uff“, auffangen, taumelte jedoch ein paar Schritte zurück. „Und jetzt bringt mich gefälligst wieder zurück nach Yura! Ich hab doch schließlich einen Auftritt heute!“ „Auftritt?“, Rin sah sie ratlos an. „Jawohl, Auftritt.“, plötzlich strahlte das Gesicht des Mädchens vor Begeisterung. „Ihr habt noch nie von der großen Eneru gehört? Dem Mädchen mit der Aeroni-Seele, dem großartigem Ding das auf der Bühne mit ihrer schauspielerischen Glanzleistung und ihrer wunderschönen Ausstrahlung das ganze Theater zum Leuchten bringt? Ihr MÜSST von mir gehört haben!“ Mit ausfallenden Bewegungen und übertrieben großen Schritten tänzelte sie über das Deck des Schiffes und sonnte sich in ihrem eigenen Glanz. Ihr hellblaues, luftiges Sommerkleid flog dramatisch durch die Luft als sie abrupt stehen blieb und sich die Hand gegen die Stirn hielt als hätte sie Fieber. „Aber natürlich, wie könnten zwei Piraten wie ihr, auch je von so etwas Glanzvollem wie mir gehört haben? Aber wenn ihr Piraten seid wie komme ich dann nun zurück? Dieser Weg ist doch viel zu weit für meine kleinen Flügel! Aber wahrscheinlich suchen sie doch ohnehin schon alle nach mir! Ach, ich freue mich schon wenn ich gerettet werde und ihr bösen Wölfe eingesperrt werdet!“ Die beiden Wolfsseelen sahen einander nur mit zuckenden Schultern an. „Wie wär‘s wenn wir sie fesseln? Machen das nicht die echten Piraten so?“, ein schelmisches Funkeln spiegelte sich in Rins Augen wieder. Melaara zog nur die Mundwinkel verständnislos nach unten. „Keine Ahnung. Aber ich schätze so kann sie nicht wegflattern. Oder uns mit ihren schauspielerischen Leistungen über den Haufen rennen.“ Gesagt, getan. Melaara holte ein Seil Unterdeck hervor und band, mit Rins Hilfe, den widerspenstigen Aeroni an den Mast. „Das könnt ihr doch nicht machen!“, protestierte sie, bereits mit Tränen in den Augen. „Ich bin berühmt, hört ihr? Berühmt! So könnt ihr doch nicht mit einem Star umspringen! Ihr blödes Wolfs Piraten Pak!“ „Hör mal zu Prinzessin.“, begann die weiße Wölfin und stellte sich vor die Gefangene. „Wir sind keine Piraten. Nun ja keine echten. Lediglich zwei Mädchen mit einer Wolfseele, die hier gerade versuchen ihrem Ziel etwas näher zu kommen. Wenn du also nicht vorhast zu kooperieren, dann werden wir dich wohl recht bald auf einer einsamen Insel aussetzen oder dich einfach über Bord werfen, aye Matrose?“ Das Mädchen nickte nur stumm und verbissen. Zufrieden mit ihrer Reaktion wandte sich Melaara wieder an Rin. „Und? Sind wir denn auch noch auf Kurs?“ Schnell stieg das Mädchen die kleine Treppe hoch zum Ruder und warf einen Blick auf den daneben liegenden Kompass, sowie der ordentlich auseinander gefalteten Karte. „Aye, Aye, Kapitän Melaara!“, grinste sie breit. „Wir sollten laut der Karte in ein bis zwei Tagen auf der Insel sein.“ Zufrieden nickte die Braunhaarige. „Insel? Welchen Ort steuert ihr denn an?“ „Lyras.“ Ein belustigtes Schnaufen entfuhr Eneru. „Ihr wisst aber schon, dass niemand die Insel je gesehen hat? Na ja, niemand der heute noch lebt. Das sind doch alles nur alte Legenden, nichts weiter. Und ich wurde tatsächlich bei diesem halsbrecherischem Abenteuer entführt…“ „Sie existiert.“, die weiße Wölfin sprach mit unerhörter Zuversicht. „Sie existiert.“, wiederholte sie und sah Eneru dabei standhaft an. „Und wir werden sie finden.“ „Und dann? Was macht ihr wenn ihr sie dann entdeckt habt?“ Plötzlich lag jeglicher Fokus auf Melaara. Die beiden anderen Mädchen warteten auf eine Antwort. Rin knetete beunruhigt ihre Hände. „Ich…“, sie grübelte, doch weit kam sie mit ihrem Gedankengang nicht, als plötzlich ein verheerender Luft Stoß über das Deck zog und die beiden stehenden Mädchen beinahe außer Gleichgewicht brachte. Wind kam auf und ließ das Schiff in einem beunruhigenden schnellen Rhythmus hin und her schwanken. Erst jetzt bemerkte Melaara, dass das ansonsten so helle und freundliche Meer sich urplötzlich verfinstert hatte. Die Sonne war verschluckt von schwarzen Wolken. Die Segel flatterten wie verrückt im Wind, als würden sie jeden Moment hinaus aufs endlose Wasser gezogen werden. „Wo kommt denn auf einmal dieser Sturm her?!“, schrie Rin gegen den immer wilder werdenden Wind an. Noch bevor jemand etwas antworten konnte erübrigte sich Rins Frage; ein lautes Brüllen schallte über das Wasser. Nicht weit entfernt von ihnen konnte man gigantische, blaue, echsenartige Schwingen sehen. Doch neben dem Drachen war noch etwas anderes in der Ferne zu erkennen; Schiffe. Es waren gigantische Segelschiffe Suimangs und Shianrils, die sich bedrohlich im Wasser umkreisten. „Nicht schon wieder…“, Melaara sah angsterfüllend zu der Bestie in der Luft. Starker Regen setzte ein, als Kanonenschüsse erklangen und der Drache noch einmal brüllte. Die Schüsse kamen vom Schiff der Nation Suimang. Bereits aus der Ferne konnte man erkennen wie sich die Schiffe näher kamen und ein Kampf auf ihnen ausartete. Eisstrahlen zuckten durch die Luft und trafen ihre Gegner meist mitten ins Herz. Auch das geflügelte Reptil scheute nicht davor gefrorenes Wasser auf die Feinde seiner Nation niedergehen zu lassen. „Wir sollten abhauen. Und zwar schnell bevor wir da hineingezogen werden.“, die weiße Wölfin stand angespannt und nervös an der Reling. Zwar war es nicht dasselbe Tier, doch der Anblick des Drachens aus Shianril trieb ihr die Erinnerung an den Verlust von Kayate wieder zurück in den Kopf. Sie beeilten sich. Zogen die Leinen fest, versuchten mit den Segeln des Schiffes jeden noch so kleinen Lufthauch zu ihrer Flucht zu nutzen. Doch der Regen machte sie langsam. Der Kampf auf den beiden fremden Schiffen war noch immer deutlich zu vernehmen. Und sie kamen näher. Ebenso wie der Eisdrache der Feinde. „Wenn wir uns nicht beeilen treffen uns die Angriffe der Drachen!“, rief Rin panisch. Doch in der Sekunde als sie es aussprach war es soweit; Ein Regen aus riesigen, spitzen Eiszapfen ging auf das Schiff nieder, zerfetzte die Segel und trieb tiefe Löcher in die Seiten des Schiffes hinein. „Shit…“, fluchte die Braunhaarige und rappelte sich gerade wieder vom Boden auf als sie einen der Eiszapfen gerade noch so entkommen war. Ein weiterer ohrenbetäubender Kanonenschuss erklang. Doch diesmal war er nicht auf das Boot Shianrils gerichtet. Die Kugel kam auf das Schiff zugeschossen. In einem schnellen Hechtsprung brachten sie sich auf der anderen Seite des Schiffes in Sicherheit, doch der Schuss hatte einen großen Teil der Steuerbordseite in den tiefen Meeresgrund gezogen. Keuchend kam sie wieder auf die Beine als der zweite Schuss ertönte und das Boot noch weiter verkleinerte. Ein Eisregen ging auf ihnen nieder. Schüsse erklangen. Das Gebrüll der Riesenechse schallte durch die Luft. Der Geruch von Schwarzpulver und Blut in der Nase und im Mund. Der weißen Wölfin wurde schwindelig. Ihre Beine gaben nach als ein weiterer Kanonenschuss erklang. Unheimliche Stille nahm plötzlich den Platz des Geschehens ein.
Ein sanftes Meeresrauschen weckte sie. Wellen strichen immer und immer wieder über ihre Beine hinweg, salzige Luft füllte ihre Lungen als sie sich aufsetzte und das dunkelblaue Wasser sich vor ihr ausbreitete. Sie war wohl an einem Strand. Und wieder einmal ohnmächtig geworden. Melaara seufzte. In letzter Zeit schien sie die Ohnmacht beinahe zu beherrschen. Vorsichtig sah sie sich nach links und rechts um. Keine Spur von Schiffen, oder von kämpfenden Drachen. Neben ihr bewegte sich plötzlich etwas. Ruckartig sah sie neben sich auf den Boden, nur um dort einen Knäuel aus schwarzen Federn vorzufinden. „Mein Schiff…“, krächzte eine bedauernde Stimme, als sich das Federbündel langsam entknotete und der Aeroni mit ausgebreiteten Flügeln, völlig erschöpft auf dem Rücken lag. „Mein schönes, schönes Schiff…“, schluchzte sie. „Was ist passiert? Wo ist Rin?“ „Wen interessiert schon das Wolfsmädchen! Diese Typen haben mir mein Schiff kaputt gemacht!“, ihre Trauer schien sich in Wut umzuwandeln. Das kleine Krähenartige Wesen kam schnell wieder auf die Beine, hüpfte und flatterte empört durch die Luft. „Ich will Rache! Jawohl!“ „Nicht bevor ich weiß wo Rin ist!“ Eneru gab ein komisches knurrendes Geräusch von sich und begab sich in die Lüfte. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war das Krähenwesen verschwunden. Melaara ließ sich wieder in den Sand fallen. Musste wirklich schon wieder jemand verschwinden? Zuerst Kayate und dann auch noch Rin. Sie schluckte einen Kloß hinunter. Etwas unschlüssig saß sie da, nicht sicher was sie nun tun sollte. Einerseits wollte sie Eneru nachlaufen, um nicht ganz alleine dazustehen in einer ihr fremden Welt, doch was war mit Rin? Wohin sollte sie gehen? Sie stand auf und klopfte sich den Sand von den Klamotten. Zum ersten Mal wand sie nun auch den Kopf nach hinten um zu sehen was hinter ihr lag. Sie keuchte erstaunt auf. Ein Urwald. Gigantische Bäume, dicht an dicht, überall hingen Lianen herab und schienen den Wald noch unwirtlicher werden zu lassen. Erst jetzt nahm sie all die Geräusche wahr. Das Krächzen von fremdartigen Vögeln, manchmal sogar das Brüllen eines Panthers und noch viele andere Geräusche und Gerüche die sie einfach nicht einordnen konnte. Und plötzlich war da etwas im Dickicht genau vor ihr. Goldene Augen starrten ihr aus der Dunkelheit entgegen. Und noch bevor sie aufschreien oder irgendwie anders reagieren konnte schnellte das Etwas mit gebleckten Zähnen auf sie zu. Alles was sie sah war ein großer schlanker Schatten und wenige Augenblicke hatte sie irgendwas im Nacken gepackt und raste mit ihr in den Urwald. Die weiße Wölfin trat und schlug um sich. Verwandelte sich sogar in eine Wölfin um den Angreifer zu beißen und zu kratzen, doch die ständigen Lianen und Blätter welche ihr unaufhörlich ins Gesicht klatschten erschwerten es ihr auch nur den Kopf zu heben. Es war schnell, sprang leichtfüßig von Ast zu Ast, trotz ihres Gewichtes. Es hielt sie im Nacken fest, ob mit Zähnen, Krallen, oder einer menschlichen Hand konnte sie nicht deuten- Der Schmerz war nichts verglichen mit dem in ihrem Gesicht. Gut 10 Minuten bewegte sich ihr Angreifer grazil durch den Wald, bis er plötzlich abrupt anhielt und das Mädchen einfach vor sich auf den staubigen Boden warf. Eine Staubfahne wirbelte auf als sie aufschlug und hustend wieder auf die Beine kam. „Verzeiht mir, weiße Wölfin, dass ich euch so grob entführt habe, doch die Situation ließ mir keine andere Wahl.“ Seine Stimme klang rau und alt. Vorsichtig hob sie den Blick und zog überrascht die Augenbrauen zusammen. Trotz der rauen Stimme schien er nicht sehr alt zu sein. 25, 30 maximal. Sein mittellanges, schwarzes Haar hing von seinen Schultern. Er verneigte sich, hatte die Hände wie zu einem Gebet gefaltet. „Wer…wer bist du?“, brachte sie trotz ausgedörrter Kehle zustande. Ruckartig hob er den Kopf. Seine goldenen Augen glänzten verwirrt. „Ihr… Ihr erkennt mich nicht…?“ Beklommen schüttelte sie den Kopf. Trotz ihres Alters war Takeo das Einzige männliche Wesen zu dem sie je halbwegs engen Kontakt aufgebaut hatte. „Nein… Ich... wer...“, stammelte sie. „Ramon. Ich bin‘s doch…dein Ramon. Wie kannst du mich denn einfach vergessen haben?“ DEIN Ramon? Dem Wolfsmädchen wurde schwindelig. Urplötzlich kam er näher und kniete sich vor sie hin. Mit einer Hand strich er ihr über die Wange. Seine Augen lagen sanft auf ihr. Er kam näher. Ihr Atem vermischte sich fast. Ihre Wangen brannten. Bevor er noch näher kommen konnte gab sie ihm einen so harten Stoß das er ziemlich hart auf den Boden prallte. Schnell stand sie auf und nahm Abstand von ihm. Er sah sie entgeistert an als er sich vom Boden hochkämpfte. „Wie kannst du mich denn nur einfach vergessen haben, Taivori?!“, jetzt klang er empört. Moment mal. „Taivori“? Ich bin nicht Taivori.“ Er hielt in der Bewegung inne. „Was?“ „Ich bin nicht Taivori.“, wiederholte sie und wich noch weiter zurück bis sich die Rinde eines Baumes an ihrem Rücken schmiegte. „Aber das kann nicht…Du riechst… Wer bist du denn dann?“ Zum ersten Mal erkannte sie das auch um ihn ein verschwommener Schatten lag. In ihrer Panik hatte sie es nicht wahrgenommen, aber jetzt wurde es klarer. Er hatte also auch eine Tierseele? “Ich heiße Melaara.“ „Ich verstehe es nicht…Du riechst wie sie… Deine Aura ähnelt der ihren. Ihr seht euch sogar sehr ähnlich.“ Langsam wurde das Bild klarer. Sie erkannte die spitzen Zähne. Sie hatte mit einem Panther gerechnet, da er vorher am Strand in Windeseile bei ihr war. Die Gestalt war jedoch viel größer als ein Panther oder ein Wolf. Schwerfälliger. Wie hatte er sich so schnell bewegen können? Ein großer schwarz-weiß gefleckter Bär sah ihr aus goldenen, sanften Augen verwirrt entgegen. Panda. Er war ein riesig, großer Pandabär. „Warum hast du mich entführt?“, brachte sie nach einer ganzen Weile endlich nervös raus. „Weil ich dachte, du bist Taivori. Und weil ich dich so schnell wie möglich von diesem Aeroni wegschaffen wollte.“ Seine Hand machte eine wegwerfende Bewegung. „Von Eneru? Aber warum? Zugegeben… sie ist keine sehr angenehme Person aber…“ „Eine Verräterin.“ „Wie bitte?“, erstaunt sah sie ihn an. Ramon räusperte sich, sein Schatten und die kleinen Panda Ohren zuckten leicht. „Melaara, du hast noch nie etwas von den Aeroni gehört, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. Eine etwas seltenere Tierseele, hatte sie bisher angenommen. Seine Stimme klang herablassend als er erneut zu sprechen begann: „Sie sind bekannt dafür als Spione für die drei großen Nationen zu handeln. Sie liefern jeden zu ihrem eigenen Vorteil aus. Ihnen ist nicht zu trauen.“ Eneru, eine Verräterin? „Aber was sollte sie denn bloß mit mir anfangen?“ Der Panda schwieg und musterte die Wölfin von oben bis unten. „Vielleicht weil auch sie weiß wer du bist.“ Sie neigte den Kopf zur Seite. „Und wer bin ich?“ „Taivoris Re-„ weiter kam er nicht als ein lautes Rascheln plötzlich auf sie zukam. Der Geruch verriet ihr wer es war: Rin und Eneru. Wenige Augenblicke später stolperte Rin durch die Büsche heraus auf sie zu und hielt auf der Stelle an als sie den Panda sah. Ihre Augen wurden riesig. Als der Bär unvermittelt auf sie zustürmte, brüllend und mit gefletschten Zähnen presste sie sich auf den Boden. In ihrer Wolfsgestalt machte sie sich so klein es ging und klemmte die Rute zwischen die Hinterbeine. Doch Ramon steuerte nicht auf die Wölfin zu. Als er vor ihr stand verpasste er ihr einen so starken Schubs mit seiner großen Tatze, das Rin zu der weißen Wölfin kugelte. Schnell krabbelte sie hinter sie und sah den Bären schaudernd an. Eneru, die bisher auf Rins Rücken gesessen hatte, flatterte nun panisch und verloren durch die Gegend als Ramon mit seinen gewaltigen Pranken nach ihr schlug und drohte sie mit seinem Kiefer zu zerquetschten. Wild und empört krächzend schaffte sie es schließlich irgendwann auf den Ast eines Baumes, der für Ramon zu hoch war um die Gefiederte zu erreichen. Erst jetzt wachte die Weiße langsam aus ihrer Starre auf. Es ging alles viel zu schnell, sodass sie eine Weile einfach nur perplex dagestanden hatte. „Ramon! Hör auf! Eneru ist meine Freundin!“, rief sie und stürzte zu dem Bären der gerade dabei war den eher schmächtigeren Baum niederzudrücken auf dem Eneru saß. Knurrend sah er die andere Wolfsseele an. „Sie ist ein Aeroni!“, schnaubte er. „Und nur deswegen willst du mich umbringen?! Rassist!“, krächzte das Vogeltier leicht panisch. „Euresgleichen seid Verräter!“ „Du kennst sie doch nicht, woher willst du das wissen?!“, schrie die im Vergleich zum Panda schmächtige Wölfin neben ihm. „Ich weiß es!“, fauchte der Bär zurück. „Sie hat mich gerettet…“, meldete sich Rin nun langsam leise zu Wort. Auf dem Bauch kroch sie langsam näher. „Sie ist nicht böse. Nervig, aber nicht böse.“ „Vertrau uns doch.“ Ramon musterte die Wölfinnen und schließlich die Seele im Baum eine ganze Weile bevor er schließlich von Eneru abließ. „Ich werde ihr eine Chance geben.“, sagte er schließlich. „Aber ein kleiner Fehltritt und…“, knurrend sah er zu ihr. Eneru schluckte schwer, flatterte schließlich aber zurück auf Rins Schulter. „Eneru hat dich gerettet, Rin?“, Melaara sah zu den Beiden. „Ich war am Strand zwischen einigen schweren Bootsteilen eingeklemmt, das Wasser stieg immer höher und ich stand kurz vorm Ertrinken. Eneru hat mich zu rechten Zeit noch befreit.“ Stolz plusterte diese ihr Gefieder auf. „Wie auch immer. Was machen wir denn jetzt? Wir haben kein Schiff mehr. Und wir wissen noch nicht einmal wo wir sind.“ Unsicher begab Melaara sich in ihre menschliche Gestalt und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Lyras.“ Ihr Blick zuckte zu Ramon. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und band sich gerade die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Wie bitte?“, ungläubig machte Rin einen Schritt näher an ihn. Auch sie blickte ihm nun wieder aus menschlichen Augen entgegen. Eneru jedoch verblieb in ihrer anderen Form nervös zuckend auf Rins Schulter. „Ihr seid auf der Insel Lyras.“, wiederholte er. Es herrschte Schweigen. Lediglich die Geräusche des Urwalds durchbrachen es. Sie hatten es tatsächlich geschafft? So einfach? Die weiße Wölfin hatte Kayates Traum erfüllt. Ihr Versprechen gehalten. Einfach so. Sie stand wieder nur perplex da, doch Rin brach in schallendes Gelächter aus und tanzte um sie herum. „Wir haben‘s geschafft! Ich pack es nicht, wir haben’s tatsächlich geschafft!“ Eneru und Ramon betrachteten die Weiße beide mit Misstrauen. Skeptisch zog der Panda Mann eine Augenbraue hoch. „Früher oder später wärt sie doch sowieso hier gelandet. Was soll der Aufruhr?“ Rins kleiner Tanz endete, doch ein kleines Lächeln blieb. „Wieso bist du so sicher dass wir hier gelandet wären?“ Ramon nickte zu der Braunhaarigen. „Ihretwegen. Es ist ihr vorherbestimmt.“ „Vorherbestimmt?“, Melaara hatte ihre Stimme wieder gefunden. Er nickte. „Du riechst wie sie, hast die gleiche Aura wie sie, nein, du BIST sie. Du bist Taivori. Sie ist in dir. Du bist die weiße Wölfin. Du bist diejenige die alles verändern wird.“ Jetzt war sie es die verwirrt eine Augenbraue hochhob. „Verändern? Aber was denn?“ „Na…einfach alles! So beschreibt es doch die Legende.“ Als die Gruppe ihn wieder nur verständnislos ansah kam er kopfschüttelnd auf sie zu. „Den Krieg beenden, den Frieden bringen. Die Welt wieder auf die richtige Schiene bringen! Taivori hat ihnen eine friedliche Welt hinterlassen als sie ging, doch seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Nationen haben mit ihrem Krieg, eine Finsternis heraufbeschworen die ihre kühnsten Träume übersteigt und uns alle irgendwann verschlingen wird. Und somit liegt es nun mal an dir – Melaara, Taivoris Reinkarnation – die Welt wieder ins Reine zu bringen. So wie es die geflügelte weiße Wölfin schon einmal getan hat.“ Seine goldenen Augen funkelten aufgeregt als er sprach. „Die?!“, krächzte Eneru aufgebracht und flatterte plötzlich wild um Melaara um sie zu begutachten. „DAS soll die Reinkarnation von DER weißen Wölfin sein?!“ So wie sie es betonte schien auch Eneru die Legende zu kennen. „Sie ist es. Daran besteht kein Zweifel. Und nun folgt mir.“, der große Panda bewegte sich schwerfällig weiter in den Dschungel vor. Schweigend folgten sie ihm alle. Melaara wusste nicht was sie sagen sollte. Zuerst erfuhr sie, dass sie ihr eigentliches Ziel erreicht hatte, leichter als sie es sich hätte träumen lassen. Und nun, dass scheinbar die gesamte Last der Welt auf ihrem Schultern lag? Das war einfach zu viel auf einmal. Sie konnte Rins und Enerus Blicke auf sich spüren und ignorierte es, Stur starrte sie auf den Boden, versuchte wieder einen klaren Kopf zu kriegen. Es gelang ihr nicht. Schon nach kurzer Zeit hatten sie eine Art Lichtung erreicht. Am Ende gurgelte ein kleiner Wasserfall und mündete in einen kleinen See. Inmitten des rundlichen Platzes befand sich eine riesige Statue. Darauf standen ein Mädchen sowie ein geflügelter Wolf. Das Mädchen ähnelte ihr. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihnen von der Seite mit einem verschmitzten Grinsen und einem Herausfordernden Lächeln entgegen. Ihre Haare waren länger als Melaaras. Die Flügel des Wolfes waren weit gespreizt. Er wirkte aus als würde er jeden Moment abheben. Der gesamte Platz strahlte eine unbeschreibliche Erhabenheit aus. Plötzlich dachte die Weiße wieder an den erwähnten Schrein aus der Geschichte. Er existierte tatsächlich. Nein, jene weiße Wölfin gab es wirklich. Und sie lebte in ihr…? „Wir müssen damit beginne zu trainieren.“ Ramon riss sich aus ihren Gedanken. „Trainieren?“ „Ich nehme an das du dein anderes dunkles Ich schon getroffen hast?“ „Anderes dunkles Ich?“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Du meinst Ronin…“ Der Panda nickte. „Eines Tages wirst du Ronin besiegen müssen. Aber auch die drei Nationen wieder zu vereinen wird nicht leicht werden. Und wenn sie sich nicht wiedervereinen, so wird diese Finsternis niemals enden. Du musst dazu trainieren. Nein… Eigentlich nicht nur du.“ Er sah zu Rin und Eneru. „Alle, die dich auf dieser Reise begleiten sollten trainieren und ihre Fähigkeiten ausbauen.“ „A-Aber ich will die doch gar nicht begleiten!“, warf Eneru sofort ein. „Ich bin doch eigentlich nur von denen entführt worden! Ich will einfach nur mein Schiff zurück und wieder nach Hause!“ „Das Schiff kannst du wohl abhacken.“, Rin verpasste dem Aeroni einen kleinen Schubs. Als Dank dafür hackte dieser ein paar Mal fest auf den Kopf des Mädchens ein. „Lass das! Ich sag doch nur die Wahrheit!“, knurrte Rin und verscheuchte Eneru indem sie sich schüttelte und nach ihr schlug. „Dem Aeroni werde ich sowieso nicht beim Trainieren helfen.“, arrogant ging Ramon hinüber zum kleinen Teich. Eneru schnaubte nur verächtlich und ließ sich auf einem Ast in der Nähe nieder. Ramons menschliche Seite nahm die Überhand und zeigte auf das kleine Fleckchen Wasser. „Dort wird euer Training fürs erste stattfinden.“ Sie alle traten näher heran. „Und was genau werden wir da lernen?“, Rin betrachtete das Wasser sowie den jungen Mann neben sich misstrauisch. „Ihr werdet eure Fähigkeiten ausbauen. Vielleicht neu entdecken. Aber fürs erste werdet ihr, oder viel eher Melaara, lernen mit der Dunkelheit in euch klarzukommen.“ „Aber…“, alle drehten sich zu der Weißen um. „Mir wurde gesagt dass, als Ronin sich verlassen hat, all die Dunkelheit mit ihm verschwunden wäre. Und das ich das pure Licht wäre!“ Es waren die Worte der weißen Wölfin. Taivoris Worte. „Wer auch immer dir das gesagt hat, hatte nur zum Teil Recht. Ja, als Ronin ging hat er den größten Teil der Finsternis aus deinem Herzen mit sich genommen. Doch in jedem Herzen gibt es Dunkelheit und in jedem Herzen gibt es Licht. So wie in deinem Herzen ein kleiner Funke der Finsternis übrig bleibt, so ist auch im Herzen deines Rivalen ein kleiner Funke des Lichts. Jeder von euch kann diesen kleinen restlichen Funken dazu benutzen eine eigene, unbeschreiblich mächtige Technik zu erlernen. Jedoch muss jeder von euch lernen diesen kleinen Funken zu beherrschen, ansonsten wird er euch überwältigen.“ Ramon trat näher an die Braunhaarige heran, legte ihr die Hände auf die Schultern und sprach mit einer so ernsten Stimme weiter, dass sie regelrecht erstarrte. Sein Blick fesselte das Mädchen. „Unterschätze diesen Funken nicht, Melaara. Er mag noch so klein sein, doch ist es die pure Dunkelheit. Wenn du nicht lernst es zu kontrollieren, wird es sich ausbreiten und dich irgendwann verschlingen.“ Er ließ sie los. „Geh in den Teich und konzentriere dich. Konzentriere dich auf diesen Funken der Dunkelheit. Nimm ihn an. Dann wirst du die Macht sehen die in ihm liegt. Sie wird versuchen dich zu überwältigen. Dich zu verschlingen und in die ewige Dunkelheit zu zerren. Wiederstehe dem! Und dann kappe die Verbindung! Kappe sie sobald du die Macht gesehen hast. Noch bist du nicht dazu in der Lage sie zu beherrschen.“ Sie schluckte schwer und sah zum Teich. Die vom Wasserfall entstandenen Wellen kräuselten sich und tanzten unheilvoll über die Wasseroberfläche. Zögernd machte sie einen Schritt vorwärts. Eine Hand hielt sie plötzlich zurück. Rin. „Du willst das doch nicht ernsthaft tun, oder?“ „Ihr bleibt keine Wahl. Wenn sie nicht lernt es zu kontrollieren werden wir alle bald vergangen sein.“, warf Ramon ein. „Und woher sollen wir überhaupt glauben dass DU hier nicht der Verräter bist? Vielleicht ist das alles eine Farce! Vielleicht bist du lediglich ein niederer Räuber und willst uns reinlegen um uns zu töten oder sonst was! Das alles ist doch komplett verrückt!“ „Mitnichten.“ „Das ist lächerlich. Beweis es doch!“ „Weiße Wölfin, hör nicht auf das Gerede dieses Wolfsmädchens.“ „Glaub dem alten Panda nicht, Melaara!“ „Melaara!“ Eneru stand schweigend daneben als die beiden wie wild auf sie einredeten. Ihre Stimmen machten das Mädchen wirr im Kopf. Sie weiß nicht wie lange sie da stand. Es fühlte sich wie mehrere Stunden an, in denen Ramon und Rin immer wieder ihrem Namen riefen und auf sie einredeten. Sie verstand es kaum noch. Da war nur noch ein wirres Stimmengeflüster. Es schmerzte in ihrem Kopf. Alles drehte sich. Irgendwann riss sie sich los und rannte hinein in den kleinen Teich. Hinter ihr kreischte Rin beinahe panisch auf. In der Mitte des Teiches blieb sie stehen. Sie konnte spüren das irgendwer ihr nachlaufen wollte, doch noch bevor sie sich umdrehen oder gar anderweitig bewegen konnte verschwand plötzlich alles in einem gleißenden Licht. Reflexartig hielt sie sich schützend die Augen vors Gesicht. Als sie sie langsam wieder öffnete erwartete sie ein nur allzu bekannter Ort. Überall nur strahlendes Weiß. Leere. Stille. Sie war an diesem Ort, den die weiß Geflügelte ihr Herz nannte. Doch die angenehme Wärme die sie das letzte Mal empfunden hatte war nicht da. „Taivori?“, rief sie in die Leere. Ein kaum wahrnehmbares Echo kam zurück. Ansonsten erhielt sie keine Antwort. Verloren sah sie sich um. Sah nach oben, nach unten. Drehte sich mehrmals um sich selbst. Nichts schien sich zu rühren. Da war nur Weiß. Überall. Doch plötzlich fing etwas ihren Blick. Ein kleiner schwarzer Fleck. Sie drehte sich um, um ihn genauer anzusehen. Obwohl er sich nicht vom Fleck rührte schien er lebendig. Er bewegte sich und als sie genauer hin sah wusste sie auch warum. Es schien eine kleine schwarze Flamme zu sein. Noch einmal sah sie sich kurz um, und ging dann zügig darauf zu. Ihre Schritte hallten von den nicht sichtbaren Wänden wieder, als würde sie durch eine Halle laufen. Als sie nur noch wenige Schritte von der Flamme trennten blieb sie stehen und hockte sich hin um das kleine Ding näher zu begutachten. Da war kein Holz was die züngelnde Flamme am lebend erhalten hätte können. Langsam streckte sie die Hand aus um nach ihr zu greifen. Keine Wärme. Melaara war sogar als würde ihr kühler. Das Dunkle berührte sie fast, als sie plötzlich etwas inne halten ließ. „An deiner Stelle würde ich sie nicht anfassen. Noch nicht.“ Neben ihr befand sich, wie aus dem Nichts erschienen, die weiß Geflügelte. Doch diesmal konnte Melaara ihre Ruhe bewahren, wenn ihr auch zu viele Fragen auf einmal durch den Kopf rasten. Die Geflügelte lächelte nach Wolfsart. „Ich hab dich schon erwartet. Ich hatte gehofft dass du zu Ramon finden würdest. Du hast wirklich bereits viel durchmachen müssen, kleine Wölfin. Obwohl ich bedauerlicherweise sagen muss, dass dies gerade erst der Anfang ist.“ „Du bist also wirklich…Taivori? Und ich bin deine Reinkarnation? Das klingt so über die Maßen verrückt.“ Die Wölfin leckte ihr zuversichtlich über den Arm. „Ja, das mag sein. Aber die Zeiten heute sind doch generell verrückt.“ Melaara starrte nachdenklich in Taivoris Augen. Zu viele Fragen auf einmal schwirrten ihr im Kopf umher. Sie hatte Probleme eine auszuwählen. Schließlich jedoch hatte sie sich entschieden: “Das bedeutet Ramon hat die Wahrheit gesagt, und ich bin dazu bestimmt unsere Welt vor der Finsternis zu retten? Und auch die Nationen wieder in Frieden zu vereinen?“ Taivori legte den Kopf schief. „Nun… Ramon übertreibt gerne manchmal. Und schließlich weiß auch er nur einen Teil, aber… Ja, es stimmt. Es gibt da diese uralte Legende die etwas in diese Richtung besagt aber… Jeder von euch… Von deinen Gefährten… hat in dieser Legende seinen ganz eigenen Platz. Nicht du alleine bist…‘die Auserwählte‘. Ihr habt alle euren Teil zu erfüllen.“ „Das heißt also… Eneru und Rin sind…“ „Und Ramon und Kayate. Das Schicksal hält für euch alle etwas bereit. Doch zu meinem Bedauern weiß ich nicht was. Die Legende ist alt. Älter noch als ich, und ich vermag nur einen Teil davon zu erzählen. Meinen Teil. Meine Gefährten und ich wurden auf der Reise getrennt. Vielleicht ist auch das der Grund, dass sich die Geschichte immer und immer wieder von vorne abspielt, den Grund dafür vermag ich nicht zu sagen.“ Melaara sah die Wölfin nur schweigend und aufmerksam an. Sie verstand kaum etwas von ihrem Geschwätz. Alles wurde nur noch verwirrender. „Gefährten? Ich…ich denke ich habe von deiner Legende gehört, Taivori, aber darin kamen niemals… Gefährten vor. Es hieß du warst allein.“ Die Wölfin sah zuerst das Mädchen und danach die pulsierende Flamme eindrücklich an. „Das war ich auch. Zu Beginn, kleine Wölfin. Doch wie gesagt: Nur ein kleiner Teil der eigentlichen Legende hat bis heute überlebt. Irgendwo da draußen muss es noch weitere geben. Ihr müsst diese Teile finden und zusammensetzen. Und noch wichtiger ist, dass ihr sie dann erfüllt. Jeder muss seinen Teil erfüllen.“ „Und wie sollen wir das machen?“ Die Wölfin seufzte niedergeschlagen. „Wenn ich das wüsste, meine Kleine. Damals war es meine Aufgabe die Finsternis zu vernichten. Sowohl die, die meiner selbst entsprang, als auch jene, die die Nationen zu jener Zeit plagten. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe. Scheinbar habe ich die endgültige Finsternis zu früh herausgefordert… und dabei mein Leben gelassen.“ „Etwas verstehe ich bei dem allem aber nicht…“ Zum ersten Mal während des Gesprächs stand Melaara auf und bewegte sich nachdenklich durch den Raum bevor sie wieder zur Wölfin blickte. „Wie sollen wir diese Legende je erfüllen? Es ist mir doch gar nicht mehr möglich.“ Stur starrte Melaara gen Boden. „Was meinst du?“ „Na…eine meiner Gefährten ist doch… Sie ist doch nicht mehr da.“ Die Wölfin neigte wieder den Kopf fragend zur Seite. „So? Wer denn?“ Wütend knurrte Melaara. „Du warst doch die ganze Zeit in meinem Herzen! Also hast du es doch auch gesehen, oder nicht?! Kayate! Ich rede von Kayate, verdammt!“ „Oh.“ Die Wölfin lächelte schelmisch. Melaara wäre ihr am liebsten an die Kehle gesprungen. „Da mach dir mal keine Sorgen, sie ist gar nicht so weit weg wie du glaubst.“ „W-Wie meinst du das?“ Aufbrausend stürmte Melaara auf die Wölfin zu und packte sie am Fell an den Schultern. „Heißt das sie ist noch am Leben?! Los antworte schon!“ Wild schüttelte sie das Tier, solange bis Taivori ihr mit ihren Hinterpfoten einen Stoß in den Magen gab und sie zurücktorkeln lässt. Zum ersten Mal bleckte die Wölfin die Zähne. „Sei nicht so ungeduldig! Zügle dich! Da! Sie was du angerichtet hast!“, Taivori deutet mit ihrem Kopf auf die Flamme hinter ihr. Sie schien gewachsen zu sein und noch schneller zu pulsieren als vorher. „Siehst du? Wenn du dich nicht zurückhalten kannst wird sie dich übermannen. Du kannst es noch nicht kontrollieren!“ Melaara ballte die Fäuste, rannte auf die Wölfin zu und schlug nach in blinder Wut. Diese wich mit einem federleichten Sprung und einem leichten Flattern der Schwingen kinderleicht aus, dennoch fletschte sie, genau wie nun das Mädchen, ihre Zähne. Ein tiefes Grollen kam aus der Kehle der Geflügelten. „Was weißt du denn schon?! Ich habe die einzige Freundin verloren die ich je hatte! Und jetzt soll ich auf einmal die Welt retten?! Oder soll ich sterben, genauso wie du?!“ Wieder und wieder schlug sie auf das Tier ein, doch die Wölfin duckte sich leichtfertig unter jedem Hieb hinweg. „Melaara! Hör auf! Du weißt nicht was du anrichtest!“ „Und wie ich das weiß! Die Dunkelheit wird mich übermannen! Soll sie doch! Ich werde sie beherrschen!“ Die Flamme hinter ihnen wuchs auf das dreifache an, zischend und pochen schien sie nach Melaara und der Wölfin zu greifen. „Ich..“ Wieder ein Hieb. „Werde...“, noch ein Schlag ins Leere. „Euch alle…“, die Flamme berührte das Mädchen beinahe. „…vernichten!“ Melaara vermeinte Ronins Stimme zu hören, welche sich mit ihrer eigenen vermischte. Nur wenige Augenblicke später spürte sie wie ein quälendes Brennen sich einen Weg durch ihren Körper bahnte. Verzweifelt schrie sie auf und nahm ein paar Schritte Abstand zu Taivori um nach hinten zu sehen. Die schwarze Flamme, nun ungefähr so groß wie Melaara, hatte sie erreicht, und schlang sich langsam um ihren Körper. Das Mädchen fiel auf die Knie und merkte wie sie von der Schwärze immer mehr nach hinten gezogen wurde. „Melaara…“, Taivori sah bedauernd zu ihr. „Hilf mir!“, kreischte das Mädchen und versuchte sich im Boden festzukrallen. Der weiße Raum schien zu Beben. Die Wölfin wackelte merkwürdig verschwommen vor Melaaras Augen. „Ich kann nicht. Die Finsternis würd die Überhand gewinnen. Und sei es auch nur für einen Moment…sie wird mich verschlingen... Geh voran mit Zuversicht. Du kannst die Legende erfüllen, ich weiß es. Das war unser letztes Treffen, kleine Wölfin. Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht mehr helfen konnte. Leb wohl, Melaara.“ Die Wölfin schien mit dem Raum zu verschmelzen. Wut, Verzweiflung und Trauer schlugen auf Melaara ein, als die Dunkelheit ihren Körper verschlang und der Raum aus Licht langsam zusammenbrach. Rins besorgte Augen blickten ihr bereits wieder entgegen. Doch Melaara konnte nichts anderes als schreien. Sie schrie so verzweifelt und laut wie es ihre Stimmbänder zuließen. Doch nach einiger Zeit erkannte sie ihre Stimme nicht mehr wieder. Es war kein menschlicher Schrei mehr. Er hatte sich mit etwas animalischem, gar monsterartigem vermischt und ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Melaara sah ihre zu Tode verängstigten Gefährten nur noch durch einen grauen Schleier, als ihr Körper, außerhalb ihrer Kontrolle, auf ihre Freunde mit gespreizten Klauen zuraste.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2013
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