Missing Sunshine
„Glaubst du an die Liebe auf den Ersten Blick?“
Der Satz mit dem alles begann und doch auch alles endet. Ich hör ihn noch wie heute und wünsche mir so sehr ich hätte dich auch davor beschützen können.
Schmunzelnd sah ich dich an. „Ist sie hier?“ „Ist gerade los.“ Antwortetest du mir mit gesenktem Blick, so leise das ich es mehr ahnte als verstand. „Kenn ich sie?“ „Glaub schon…“
„So geheimnisvoll heute? Was ist los Großer? Spielt sie nicht in deiner Liga oder was?“ „Nein, ach vergiss es einfach!“ Schriest du mich an. Meine Freunde sahen dich genauso besorgt an wie ich es tat. Mit einem „Lasst mich doch einfach in Ruhe!“ ranntest du los. Stolpertest mehr als das du liefst, stießt Leute an. War wohl doch das letzte Bier schlecht, dachte ich mir.
„Maik, warte doch.“ Ich lief dir nach, wusste ich doch dass die nächste Bahn erst in eine Stunde später fuhr. So konnte ich dich auch nicht durch die halbe Stadt laufen lassen. Im Auto versuchte ich es nochmal. „Nun sag schon was los ist, du weißt dass du mit mir über alles reden kannst.“ So niedergeschlagen hatte ich dich lange nicht gesehen, du schautest aus dem Fenster und zucktest die Schultern. Mit knetenden Fingern fragtest du: „Kann ich bei dir pennen?“ „Hast du Stress mit Paps?“ „Nein, ich mag nur nicht alleine ins Bett.“
Oh wie sehr erinnerst du mich an meinen kleinen, süßen Bruder von vor 10 Jahren. Dein Vater und meine Mutter, hatten sich gerade wieder gefunden, waren schon mal in ihrer Schulzeit zusammen gewesen. Du kamst das erste Mal zu Mom und mir übers Wochenende zu Besuch. Mit Maus und Elefant, aus der Fernsehserie, als Kuscheltiere unterm Arm und einem so kleinen Rucksack auf dem Rücken, dass ich mich heute noch frage wie deine Sachen da rein gepasst haben. Du standst in der Tür, hinter Paps versteckt und wolltest doch nur wieder nach Hause. Aber Mom hatte dich mit heißer Schokolade und Rührkuchen hineingelockt. Bis zum Abend warst du etwas aufgetaut, hattest sogar mit uns geredet. Zum Schlafen warst du im Wohnzimmer untergebracht, keine halbe Stunde später standst du in meinem Zimmer. „Kann ich bei dir schlafen?“ „In meinem Bett?“ verwirrt sah ich dich an. Ich war gerade 12 geworden und bis dato Einzelkind, klar kannte ich Übernachtungspartys, aber nur mit meinen Freundinnen, das war etwas ganz anderes. Die liefen bei meiner Antwort die Tränen übers Gesicht, wimmernd kam von dir nur „Bitte Kathi, ich will nicht alleine sein.“ Schon damals konnte ich dich nicht weg schicken.
„Ok dann fahren wir jetzt zu mir, ich schreib Mom dass du bei mir bist.“ „Danke, Kathi.“ Dafür, dass ich dich da das erste Mal mit in meinen Stammclub genommen hatte, hattest du schnell Anschluss gefunden. Gut die meisten meiner Freunde kanntest du schon. Hast ja oft genug die Wochenenden bei mir verbracht seit ich zu Hause ausgezogen war. Ich dachte wir hatten so ein gutes Verhältnis, du kamst doch immer mit all deinen kleinen und großen Sorgen zu mir. Haben dich durch deine Versätzung an mein Gymnasium geboxt. Die ein oder andere Notlüge, für unsere Eltern, erfunden wenn es Ärger gab. Hab ich dich beschützt, wenn die älteren Jungs meinten auf dir rumhacken zu müssen. Ein blaues Auge und einen Verweis hatte mich das kurz vorm Abi gekostet. Doch dann wussten alle ganz sicher, dass man sich mit dir besser nicht anlegt. Stolz wie Oskar hast du mich überall als deine große Schwester vorgestellt. Auch wenn wir nur eine Patchwork- Familie sind, auf solche Nebensächlichkeiten haben wir nie etwas gegeben. Fast musste ich mir eine Träne bei meinen Erinnerungen verdrücken, doch es galt deine Nöte zu lindern.
In Gedanken ließ ich den Abend Revue passieren. Ich hatte dir ein paar Bekannte vorgestellt, Tom und Leo kannte ich eigentlich nur aus dem Club. Dann noch Sahra und Lisa, na hoffentlich ist es nicht eine von denen, dachte ich mir. Miss Gothenschlampe und ihr Anhang waren nicht das was ich mir für dich als erste große Liebe gewünscht hatte.
Bei mir angekommen lagst du schon in meinem Bett als ich aus dem Bad kam. Hattest dich auf die Seite gedreht und die Augen geschlossen, doch ich wusste das du noch nicht schliefst. Seufzend legte ich mich zu dir und zog dich in die Arme. „Ich liebe dich und bin immer für dich da Sonnenschein.“ flüsterte ich in dein Ohr. Mit einem Schluchzen liefen die ersten Tränen und tropften auf meinen Arm. „Ist keine sie.“ brachtest du erstickt hervor. „Keine sie? Dann hab ich also bald zwei Brüder die sich bei mir durch futtern?“ lachte ich leise. „Was?“ schluchztest du. „Na wenn es keine sie ist, ist es ein er, nehme ich an? Dann wird er eben auch noch mein Bruder, weißt doch das das in unserer Familie alles möglich ist.“ Ich wusste nicht wann ich dich das letzte Mal so erleichtert, froh, durcheinander und doch weinend gesehen habe. Als deine Maus doch noch im Kofferraum auftauchte, als wir das erste Mals als Familie in den Urlaub gefahren sind. Du warst die ganze Fahrt schon einem Nervenzusammenbruch nahe weil du dachtest du hättest sie zu Hause vergessen. Da warst du 7 und Paps meinte du wärst eh zu alt für Kuscheltiere. Wenn er wüsste das sie heute noch mit in deinem Bett liegen.
Als du dich etwas beruhigt hattest, fingst du an zu erzählen. „Tom, ich bin in ihn verliebt, wirklich ich weiß es, ich wusste es gleich als er zu uns kam. Er hat mich angelächelt und ich konnte seine Hand kaum wieder loslassen. Was mach ich denn jetzt nur? Ekelst du dich gar nicht vor mir?“ „Warum denn das? Du spinnst Großer, du magst eben Jungs mehr als Mädchen und glaub mir, da kann ich dich vollkommen verstehen!“ Da lachtest du „Blöde Kuh, du weißt was ich meine.“ „Klar weiß ich das, aber lachend mag ich dich einfach lieber. Ich hab dir doch gesagt ich bin immer für dich da und so kleines bisschen hab ich schon damit gerechnet das du schwul bist.“ Mit einem Ruck saßt du im Bett „Was? Wieso? Seit wann? Ich hab nie etwas gesagt oder getan was…“ Da musste ich dich unterbrechen. „Du bist 16 und schläfst lieber bei deiner großen Schwester als mit deinen Kumpels um die Häuser zu ziehen und „Schnecken klar zu machen“. Gut Kajal benutzen wir Goths glaube ich alle aber du hattest noch nie eine Freundin, nicht mal von einem Mädchen geschwärmt. Hast Poster von Chris Pohl in deinem Zimmer hängen anstatt der weiblichen Besetzung der Band. Ach ich weiß doch auch nicht, war halt so ein Gefühl.“ „Denken Mum und Paps das auch?“ „Hab nichts in der Richtung von ihnen gehört und auch ganz sicher nichts gesagt. Seit wann weißt du eigentlich das Jungs magst?“
Dem Alkohol war es wohl geschuldet das du so redselig warst. „Vor zwei Jahren im Urlaub war ich nur wegen einem Jungen so oft skaten, ich mag skaten nicht mal sonderlich aber ich wollte ihn sehen, hab nachts von ihm geträumt. Da hab ich gemerkt, dass mit mir wohl was anders ist. Ich hab einen Sturz provoziert und als er mich auffangen wollte hab ich ihn geküsst. Nur ganz kurz auf den Mund. Er hat mir so eine reingehauen, der Sturz wäre sicher angenehmer gewesen.“ „Das weiß ich noch, du kamst mit blutender Nase und aufgeplatzter Lippe zurück. Hast eine Geschichte von einem übersehenen Straßenschild erzählt. War schon ganz schön unglaubwürdig und Paps hat gleich gesagt du hättest dich geprügelt. Und seitdem? Hattest du schon was Ernsteres?“ Verlegen schütteltest du den Kopf „Nein, ungeküsst und unberührt wenn du´s genau wissen willst.“ Ja irgendwie wollte ich es genau wissen aber das konnte ich dir so nicht sagen. „Hey, das wird schon, du bist süße, wirklich sehr süße 16 Jahre alt, du hast noch alle Zeit der Welt. Von Tom weiß ich immerhin, dass er auch schwul ist, mehr aber auch nicht. Bisher ist er mir beim Männerfang nicht in die Quere gekommen.“
„Hmm, mal sehen.“ damit schliefst du ein.
6 Wochen später standst du mit Tom im Arm im Club neben mir. So völlig von einer Person eingenommen hatte ich dich noch nie gesehen. Du hattest nur Augen für ihn, hattest ihm den Tag zuvor deine Liebe gestanden. Von deinem ersten Kuss hast du so geschwärmt, ich war doch echt neidisch. Wie du in schillernden Farben von seiner Nähe, seinen Berührungen und seinen so schönen großen, braunen Augen erzählt hast. Du hattest alle in unserem Umfeld mit deinem Glück angesteckt. So sehr hast du vor Liebe gestrahlt. So wunderschön!
Ein paar Tage später berichtetest du mir angesäuselt auch von deinem ersten Mal. Mit hochrotem Kopf, es war dir so peinlich mir von seiner Zunge und Fingern an deinem Po zu erzählen. Doch du musstest mit jemandem darüber reden sonst würdest du platzen, meintest du und wenn nicht mit mir, mit wem dann? Ich hatte mich so sehr für dich gefreut, auch ein paar Anekdoten aus meinem Liebesleben zum Besten gegeben. Kichernd schliefen wir ein. 3 Wochen später war Schluss mit Tom, er hatte dich betrogen. Wohl mehrfach, wie Freunde berichteten war das Toms Masche. Für ihn war „Jungfrauen knacken“ ein Spaß.
Doch du warst so verliebt, ihm schon hörig. Bist immer wieder zu ihm zurückgegangen. 2 Jahre ging dieses Hin und Her zwischen euch. Und dann? Ja was ist dann passiert? Du warst gerade 19 geworden, dass feierten wir mit ein paar Freunden bei mir bevor wir auf das Terminal Choice Konzert gingen. In der ersten Reihe himmelten wir beide Chris Pohl an. Beim Schwarzen Mann grölten wir lautstark mir. Heute bin ich mir sicher Tom war dein Schwarzer Mann, der kam um dich zu holen. Am darauffolgenden Montag saßt du weinend bei mir. Den Brief mit deinem Testergebnis hieltest du zitternd in der Hand. Positiv, ich war noch nie so völlig fertig mit den Nerven, geschockt und wütend wie in diesem Moment. Du schworst mir, dass es nur Tom für dich gab. Auch das du dich nur an ein oder zwei Mal erinnern konntest, wo im Eifer des Gefechts kein Kondom zur Hand war. „Warum hast du dich nicht schon eher testen lassen?“ Du wärst zu jung und hättest nicht daran gedacht und geglaubt dir könne so etwas nicht passieren. Und das sollte nun deine Erklärung sein? Nein, so konnte ich dich nicht davonkommen lassen, ich schrie dich an, machte dir Vorwürfe du wärst verantwortungslos. Hättest dich nicht mal vor unseren Eltern geoutet und wie wölltest du dann dein Testergebnis beichten?
Heute mache ich mir die größten Vorwürfe, warum habe ich dich nicht aufgehalten als du aus meiner Wohnung ranntest? Warum bin ich nicht auf die eingegangen, habe dich nicht umarmt und dir meine Hilfe angeboten, gesagt das ich immer für dich da bin, so wie ich es dir tausende mal versprochen hatte? Jetzt bin ich fast 30, habe dich seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Du bist nur kurz ein paar Sachen bei unseren Eltern holen gewesen. Hast ihnen gesagt du bist ein paar Tage bei einem Kumpel. Bei der Polizei meinte man 3 Tage später, als wir dich nicht erreichen konnten und du bei keinem deiner Freunde zu finden warst, dass du alt genug wärst und schon wiederkommen würdest wenn du dich beruhigt hast. Ich war auf sämtlichen Behörden und Ämtern. Man sagte mir wenn ein Mensch nicht gefunden werden will, ist das eben so. Dein Konto hattest du noch am selben Tag abgeräumt nach dem du ein Zugticket mit Karte bezahlt hattest. Weißt du wie weit und vor allem in wie viele Richtungen man für 126,98€ von Dresden aus fahren kann? Wie viele Städte ja sogar Länder in Frage kommen?
Noch immer hängt im Club ein großes Plakat mit deinem Bild und den Worten „Vermisst! Bitte melde dich!“
Jeden Tag warte ich auf ein Lebenszeichen von dir, mache mir Vorwürfe und versuche dich zu finden. Du fehlst mir so sehr. Ich will mich doch wenigstens bei dir entschuldigen und wissen wie es dir geht. Ich weiß, dass deine Lebenserwartung positiv, oder jetzt vielleicht schon mit AIDS, verschwindend gering ist. Soll denn dein letztes Zeichen ein Brief vom Amt sein das du verstorben bist? Bitte, tu mir und unseren Eltern, unserer Familie und Freunden das nicht an.
Weißt du noch, ich hab immer für dich gesungen, wenn du traurig warst.
„You are my sunshine, my only sunshine
You make me happy when skies are gray
You'll never know, dear, how much I love you
Please don't take my sunshine away“
Heute möchte ich, dass du für mich singst.
Bitte, mein Sonnenschein, verzeih mir. Ich liebe dich!
Dein Schwesterherz
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen kleinen Bruder.