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Anmerkungen

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Ereignissen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog - Schwestern

Man sagt, jeder hat irgendwo da draußen einen Seelenverwandten. Ob fern oder nah. Meiner war stets zum Greifen nah und ein fester Bestandteil meines Lebens. Cassie, meine Schwester. Wir waren keine Zwillinge – bei diesen sagt man ja immer, sie hätten eine besondere Verbindung. Trotzdem waren wir beinahe wie ein und dieselbe Person.

Cassie die ältere, ruhigere, ich die jüngere, ungebremste. Was mir an Durchblick fehlte, gab sie mir. Währenddessen habe ich ihr Temperament angeheizt, wenn sie sich versteckte. Eigentlich waren wir manchmal nicht nur wie eine Person, sondern eher wie eine Seele.

Sofern man weiß, wie unsere Vergangenheit war, erklärt das neben unserer Verbundenheit noch einige andere Dinge. Denn wenn man nur einander hat, wächst und hält man zusammen. Man teilt Leid und Schmerz miteinander genauso wie jede gute Erfahrung. Wieso wir nur einander hatten? Nun, man gab uns beide zur Adoption frei – Cassie war etwas über ein Jahr alt, ich gerade erst geboren. Bis heute wissen wir nicht, was der Auslöser dafür war. Vielleicht wollte unsere Mutter uns von Anfang an nicht oder war mit uns überfordert. Unser Vater war wohl kaum zu Hause und sie sorgte alleine für uns, zumindest die erste Zeit. Bis sie uns abgab.  Danach durchlebten wir eine Odyssee aus Heimaufenthalten und später Pflegefamilien.

Glaubte man den Worten anderer, lag es an uns, dass uns niemand bei sich behalten wollte und wir nirgendwo länger bleiben konnten. Dabei taten wir nichts. Im Gegenteil, irgendwann wurden wir beide schweigsam und gehorchten, wir taten nur das, was wir sollten. Wir fühlten uns bald nicht mehr wie Kinder. Es war, als würden alle wollen, dass wir gefühllose Maschinen werden.

Jedoch schien das nicht zu reichen. Irgendwann einmal griff ich bei einem Streit einer unserer Pflegeeltern die Worte „abnormal“ und „untragbar“ auf. Scheinbar war das der Grund, wieso man uns fortschickte. Dabei erschienen wir einander nicht sonderbar oder irgendwie anders. Wir waren einfach nur wir selbst.

Allerdings erkannten wir erst später, dass wir doch nicht ganz normal waren. Und das die Schatten, die nur wir sahen, uns von allen anderen abgrenzten und isolierten. Irgendwann verschwanden sie jedoch, nur nicht für ewig. Auch wenn sowohl Cassie als auch ich uns nichts mehr als das wünschten.

1 - Schatten der Vergangenheit

 Ich erinnere mich noch allzu deutlich an Cassies Gesichtsausdruck an diesem Tag - der Abend, der unser gesamtes Leben aus den Fugen geraten ließ. Sie sah wunderschön aus in dem kurzen Abendkleid, das sie trug. Die Schminke im Gesicht zwar etwas verschmiert mit einer Spur Glitzer, aber hübscher als alle anderen in meinen Augen.

Mein Vorschlag, zusammen auszugehen, überraschte sie zunächst und ließ sie zweifeln. Als der Abend dann auch noch ganz anders als geplant verlief, fühlte sie sich darin sicher bestätigt.

Ein junger Mann näherte sich ihr irgendwann, erst zurückhaltender, dann aufdringlicher. Er tanzte direkt hinter ihr, bis er sie dabei berührte. Cassie würde stocksteif, blieb geschockt stehen. Im nächsten Moment stieß sie ihn mit einem Fluchen zurück, was ihn nicht großartig zu stören schien. Wieder kam er auf sie zu.

Sofort bahnte ich mir einen Weg durch die Tanzenden zu ihr hin. Gerade, als er versuchte, ihr an den Hintern zu fassen, erreichte ich sie, holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Endlich zog er sich unter wüsten Beschimpfungen zurück.

Ihre Wut und Frustration bekam nun auch ich zu spüren. Sie war der Meinung, dass wir auf der Stelle gehen sollten. „Nun komm schon, Sarah!“, verlangte sie erneut wütend und zog an meinem Arm, obwohl ich die Tanzfläche und den Club nicht verlassen wollte.

„Ich will aber nicht! Wir sind noch nicht mal eine Stunde hier“, gab ich genervt zurück.

Sie ließ mich los und sah mich mit einem verkniffenen, zornigen Ausdruck im Gesicht an. „Dann geh ich eben allein nach Hause. Jedenfalls lasse ich mich nicht noch mal von irgendwem angrabschen!“ Ihr Blick wanderte in eine düstere Ecke hinter der Tanzfläche, wo ich nur einen Schemen ausmachen konnte.

Ich konnte mir denken, wer dort stand und uns noch immer beobachtete. Ich konnte verstehen, dass ihr das nicht behagte. Sie fühlte sich anscheinend nicht wohler, nur weil ich ihn zurechtgewiesen hatte und er vorerst auf Abstand blieb. Für einen Moment schämte ich mich für meine Selbstsucht. „Entschuldige.“ Ich griff nach ihren Händen und drückte sie fest. „Lass uns gehen. Ich will auch nicht länger hierbleiben.“

Ihr dankbares Lächeln verdeutlichte mir, warum ich alles für sie tun würde. Sie nutzte mich nie aus oder log mich an – ich sie ebenso wenig. Wir verließen uns aufeinander und vertrauten uns blind. Etwas, das nicht alle Menschen kannten.

Während ich mir schnell meinen Mantel überzog, bewegten wir uns schon in Richtung Ausgang, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Es war der aufdringliche Typ, der sich rechts von uns an der Bar vorbeibewegte. Ich schob Cassie etwas an und räusperte mich, sie verstand mein Zeichen sofort und wir beschleunigten unsere Schritte.

Draußen auf der Straße angekommen, traten wir ein paar Meter zur Seite, um zu warten. Zu unserer Überraschung folgte der Kerl uns nicht. Selbst dann nicht, als wir an der nächstes Ecke ankamen und von dort aus zurückblickten. Bis auf den Straßenlärm blieb es ruhig. „Er scheint wohl genug zu haben“, meinte Cassie und seufzte. „Ein Glück. Der Typ war ekelerregend.“

„Du darfst dich ruhig wehren, sollte so etwas nochmal passieren.“ Sie wich meinem Blick aus. „Dafür hab ich dir doch das Spray gegeben.“

„Ich weiß.“ Wie ertappt blickte sie zu Boden und ich hakte mich bei ihr unter, während wir um die Ecke bogen.

„Man könnte meinen, ich wäre die Ältere von uns beiden.“

„Du bist nur schlagfertiger. Dafür bin ich wohl die Schlauere.“ Auf ihr Gesicht trat ein neckisches Grinsen.

„Ach ja, meinst du?“ Ich kniff ihr in die Seite und lachend machten wir uns auf den Heimweg. Zu Fuß waren es nur wenige Minuten bis zu dem Studentenwohnheim, in dem wir lebten. Kurz darauf gelangten wir zum Stadtpark, der eine Abkürzung darstellte. So konnten wir noch ein paar Minuten einsparen.

„Warte.“ Cassie war stehen geblieben und wollte mich zurückhalten, während ich schon auf den Kiesweg einbog.

„Was ist los? Es ist doch alles hell erleuchtet.“

„Und wenn der Typ uns doch gefolgt ist?“

„Ist er nicht, vertrau mir.“

Widerwillig ging sie weiter und ich musste unweigerlich den Kopf schütteln. „Ist doch nicht das erste Mal, dass wir diese Abkürzung nehmen.“

„Schon, nur habe ich heute so ein komisches Gefühl. Du nicht auch?“

„Ich merke nur, dass ich etwas zu viel Alkohol getrunken habe.“ Das war nicht gelogen, mir war schon seit einer Weile leicht übel. Daher war ich ihr dankbar, dass sie mich überzeugt hatte, schon nach Hause zu gehen. So schlenderten wir den Kiesweg entlang, der weiter ins Innere des Parks auf einen der Hauptwege führte und bogen auf diesem dann rechts ab. Bis auf uns schien keine Menschenseele unterwegs zu sein, obwohl das Wetter für diese Jahreszeit – es war bereits Anfang Herbst – noch mild war.

Wir hatten fast den nördlichen Ausgang erreicht, als mich eine Welle der Übelkeit überkam. Ich blieb stehen und kämpfte gegen den Drang an, mich zu übergeben. Besorgt griff Cassie nach meinen Schultern. „Alles in Ordnung?“

„Mir ist nur etwas schlecht“, wiegelte ich eilig ab.

„Mir ist auch schon die ganze Zeit nicht wohl.“

„Cassie, mir ist übel vom Alkohol.“ Es machte mich sauer, dass sie wieder mit ihrem sechsten Sinn anfing. Jahrelang hatten wir beide unter eben diesem gelitten und nun, da es endlich vorbei war, wollte ich, dass es so blieb. Ich riss mich zusammen und blickte sie an, um ihr das direkt zu sagen, als ich erschauderte.

Hinter Cassie bewegte sich etwas. „Cassie!“ Schnell zog ich sie an den Armen zurück, doch da war niemand. Aber ich hatte es mir ganz sicher nicht eingebildet, ich wusste, was ich gesehen hatte: Einen Schatten mit menschenähnlicher Silhouette.

„Was… was hast du gesehen?“ Panisch blickte sie sich um, aus ihrer Stimme sprach genauso viel Angst wie aus ihrem Blick.

„Nichts, das war nur Einbildung“, log ich.

„Das war es nicht“, wisperte sie, als ein Rascheln im Gebüsch direkt neben ihr ertönte und sie genau wie ich erschrocken zusammenfuhr.

Ich erwartete, den Schatten von eben zu sehen. Einen von denen, die uns in unserer Kindheit fast täglich begleitet hatten. Genau wie damals setzte plötzlich eine absolute Stille ein, die sämtliche Geräusche verschluckte und mir mehr Angst einjagte als je zuvor. Selbst mein eigener Herzschlag und mein Atem wurden in dieser Lautlosigkeit verschluckt, die nicht von dieser Welt sein konnte. „Cassie.“  Meine Lippen formten ihren Namen, doch es waren tonlose Worte.

Dann verschwand die Stille wieder so schnell wie sie gekommen war und das Blätterrauschen über uns in den Baumkronen klang wie ohrenbetäubender Lärm. Aber das nahm ich eigentlich nur am Rande war, meine Aufmerksamkeit war auf die Person gerichtet, die vor uns aus dem Gebüsch aufgetaucht war. Sowohl Cassie als auch ich waren zurückgewichen. Um die Gestalt in der zerschlissenen Kleidung, die sich als Mann herausstellte, waberte etwas, das wie Nebel aussah. Nur dass es schwarz war. Der Schatten von zuvor, schoss es mir durch den Kopf.

Der Mann hob den Kopf und sah uns aus rotunterlaufenen Augen an. Diese stachen deutlich aus seinem fahlen, eingesunkenen Gesicht heraus. Es war nicht der Mann aus dem Club und er war weitaus furchterregender. Seine Augäpfel sahen aus wie in Blut getränkt, so sehr traten die kleinen Blutadern darin hervor. Sein gesamter Körper wirkte ebenso abgemagert wie sein Gesicht und geschwächt, seine Kleidung hing lose an ihm.

Ein Röcheln kam über seine Lippen, während er zuerst zu mir, dann zu Cassie sah. Immer weiter wich ich zurück, bereit zu fliehen. Als der Mann die Hand hob, drehte ich mich zu Cassie, griff nach ihr und schrie, dass sie weglaufen sollte.

Doch nach nur einem Schritt blieb ich stehen. Der Schatten hinter uns war so undurchdringbar, dass er wie eine dunkle Leinwand wirkte. Der Mann stieß erneut röchelnde Geräusche aus, die in ein unverständliches Brabbeln übergingen. Mein Blick wanderte hilfesuchend nach rechts, doch auch Cassie stand wie versteinert vor der Wand aus schwarzem Nebel.

Instinktiv setzte ich mich in Bewegung und zog sie mit mir in Richtung Gebüsch, das zwar dicht war, aber doch eine Chance zur Flucht bot. Cassies Schrei durchschnitt die Luft, als pechschwarze Fäden von der Seite auf uns zuschossen und sich vor uns schoben.

Nur Sekunden später berührte mich etwas von hinten an der Schulter. Reflexartig holte ich mit meinem rechten Arm aus, als ich mich umdrehte. Dadurch verpasste ich dem Mann, der nach mir gegriffen hatte, einen Kinnhaken mit dem Ellbogen.

Doch er taumelte kaum, sondern holte mit seiner Hand nach mir aus, in der etwas silbern glänzte. Bevor ich es erkennen konnte, spürte ich einen stechenden Schmerz an meinen Armen, die ich zu meinem Schutz gehoben hatte. Er hielt tatsächlich ein Messer in der Hand, mit dem er auf mich zielte. Die Schnitte auf meinen Armen brannten wie Feuer.

„Sarah!“ Cassie wollte sich schützend vor mich stellen, womit sie die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zog. Nun attackierte er sie. Aber sie konnte sich nicht schnell genug schützen.

Mir schien es, als würde die Szenerie kurz einfrieren, als der Mann ihr das Messer in den Bauch rammte. Ein Schrei kam über meine Lippen und ich warf mich gegen den Angreifer, der das Messer zurückgezogen hatte und erneut ausholen wollte. Damit brachte ich ihn aus dem Gleichgewicht und die Klinge streifte Cassie nur am Hals, ohne sie dort ernsthaft zu verletzen.

Von Angst und Adrenalin getrieben trat ich mehrmals nach ihm und erwischte seine Beine, die ihm wegbrachen. Er fiel rücklings ins Gebüsch, während ich mich zu Cassie umdrehte. Sie stand wie versteinert da, die Hände auf ihren Bauch gedrückt, die Finger blutüberströmt. Verzweifelt griff ich sie an den Armen und wollte uns irgendwie einen Weg durch den schwarzen Nebel bahnen, nur dass dieser nun verschwunden war. „Wir müssen hier weg!“

Cassie brachte nur ein Stöhnen über die Lippen, sie schien kurz davor zu sein, das Bewusstsein zu verlieren. Ich schleifte sie mehr mit als dass ich sie stützte. „Alles wird gut, versprochen.“ Immer und immer wieder sagte ich die Worte, wie ein Mantra. Mit jedem Schritt wurde Cassie schwächer und mit meiner freien Hand suchte ich mein Handy. Dieses zeigte zuerst nur einen dunklen Bildschirm.

„Wir brauchen Hilfe!“ Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, während Cassie plötzlich zusammenbrach und mich mit zu Boden zog. „Cassie! Cassie!“ Panisch beugte ich mich über sie, presste die Hände auf ihr blutgetränktes Kleid.

„Mach schon!“ Inzwischen hatte ich Cassies Handy hervorgeholt, doch auch dieses reagierte zunächst nicht. „Das kann nicht sein, verdammt!“ Zum wiederholten Male drückte ich den Startknopf des Handys, bis das Display endlich aufleuchtete und wieder der normale Sperrbildschirm zu sehen war. „Was…?“ Um verwundert zu sein, hatte ich keine Zeit, sondern wählte die Nummer des Notrufs.

Als sich am anderen Ende jemand meldete, schaffte ich es kaum, zusammenhängende Sätze herauszubringen. „…im City Park, meine Schwester, wir wurden angegriffen… Da ist überall Blut… Ihr Name ist Cassie… Mit einem Messer… Ich weiß nicht, die Wunde ist tief, es hört nicht auf zu bluten.“ Meine Worte gingen immer mehr in ein Schluchzen über. „Nein, sie ist nicht mehr bei Bewusstsein. Wir brauchen sofort Hilfe!“

Die Frauenstimme in der Notrufzentrale blieb ruhig und gab mir Anweisungen, die ich befolgen sollte. Sie sagte, dass sowohl Polizei als auch Rettungswagen unterwegs seien und ich nicht auflegen sollte. Sollte der Mann von vorhin auftauchen, sollte ich die Flucht ergreifen. „Das kann ich nicht… ich kann Cassie doch nicht alleine lassen!“

Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis endlich Hilfe kam. Eigentlich waren nur wenige Minuten vergangen, doch Cassie war inzwischen leichenblass und fast ihr gesamtes Kleid von Blut durchsickert. Die Erste-Hilfe-Maßnahmen hatten den Blutverlust nicht mehr stoppen können.

Kurz bevor der Krankenwagen auf den Kiesweg einbog, war ein Jogger wie aus dem Nichts aufgetaucht und mir zur Hilfe gekommen. Doch weder er noch die Sanitäter konnten das Gefühl beseitigen, dass ich verspürte. Todesangst. Nicht um mich, sondern um Cassie. Wo war er, als wir angegriffen wurden?, fragte ich mich mit Blick auf den Jogger, als die Sanitäter ihn baten, zur Seite zu gehen. Wieso konnte ich nicht früher den Notruf wählen?

Wie betäubt sah ich zu, wie die Sanitäter nur ein paar Worte wechselten und dann sofort mit ernster Miene und schnellen Bewegungen an die Arbeit gingen. Nur Wortfetzen drangen zu mir durch. „Ihr Puls wird immer schwächer…“

„…zu großer Blutverlust…“

Irgendjemand half mir hoch, während Cassie in den Wagen geladen wurde und eine Infusion bekam.

„Wir verlieren sie!“ Sofort war ich wieder bei voller Aufmerksamkeit. Ich hatte mitbekommen, dass Cassies Herzschlag durch den Blutverlust immer schwächer geworden war, nun schien er teils ganz auszusetzen.

Plötzlich begannen die Sanitäter mit der Reanimation. „Was… was ist los?“ Ich wollte zu ihr, doch jemand hielt mich zurück. Es war ein Polizist, der mich bat, ihm zu einem weiteren Rettungswagen zu folgen, doch ich weigerte mich.

Vor mir wurden die Sanitäter immer unruhiger. „Nochmal!“ Erneut begannen sie mit der Herzdruckmassage und der Mund-zu-Mund-Beatmung. Mehrere Minuten versuchten sie es, dann musste ich dabei zusehen, wie die Sanitäter von Cassie abließen. Fassungslos sah ich zu, wie sie ihren leblosen Körper abdeckten.

„Sie können nicht einfach aufhören! Sie müssen es weiter probieren!“, schrie ich sie an, worauf einer der Sanitäter zu mir kam. Die anderen verfrachteten Cassie in den Rettungswagen.

„Es tut mir sehr leid, aber…“

„Das sollte es auch! Wieso haben Sie sie nicht gerettet?“ Meine Stimme war schrill, meine Beine gaben nach und ich sank zu Boden. Noch konnte mein Verstand nicht begreifen, was gerade geschehen war.

„Wir haben alles getan, was wir konnten, doch es war zu spät“, versuchte er mich zu beruhigen, aber ich hörte ihn kaum noch. Während ich mich im Heulkrampf schüttelte, setzte mein Verstand aus. Denn anders konnte ich den Schmerz nicht ertragen.

2 - Zwischen den Welten

Die Taubheit in meinem Körper nach Cassies Tod verging nicht. Nicht nach Wochen, nicht nach Monaten. Da ich nur leicht verletzt worden war, hatte man mich nicht einmal ins Krankenhaus geschickt. Stattdessen befand ich mich in psychologischer Betreuung.

Gespräche mit einem Psychologen sollten mir helfen, mit dem Verlust umzugehen. Zum Teil half es, aber nur, weil ich dort meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Zumindest die ersten Wochen, dann wurde ich es leid. Denn ich konnte niemandem anvertrauen, dass Cassies Tod kein normaler Unfall gewesen war. Selbst so wäre es grausam und willkürlich gewesen, aber mein Wissen um die Schatten sorgte dafür, dass ich Tag für Tag über das Warum nachdachte.

Ich wusste, dass sich die Schatten in Gegenwart von Personen zeigten, die kurz vor dem Tod standen, wie schwerkranke Menschen. Nicht bei jenen, die durch Unfälle oder Mord starben. Nur bei denen, die körperlich dem Tod nahe waren. Sowohl auf Cassies als auch auf mich traf das nicht zu, wir beide waren kerngesund gewesen. Und wer weiß, ob wir die Schatten überhaupt hätten sehen können, hätten sie uns umgeben?

Nein, es passte alles nicht zusammen. Der Mann, der uns angegriffen hatte, war ein Junkie gewesen, dessen Körper vom Drogenkonsum gezeichnet war. Im Gegensatz zu uns hatte er tatsächlich nicht mehr lange zu leben, nur Tage nach dem Angriff war er an einer Überdosis gestorben. Das hatte die Polizei mir mitgeteilt. Mehrere davor zeugten davon, dass er dem Tod vorher immer noch von der Schippe gesprungen war. Bei der letzten hatte sein eh schon schwer geschädigter Körper nachgegeben.

„Sarah, ich weiß, dass es schwer ist, aber bitte reden Sie mit mir“, riss mich die Stimme des Psychologen jäh aus meinen Gedanken. In der letzten Zeit versuchte er immer wieder, mich in Gespräche zu verwickeln, wie ich meinen Verlust bewältigen konnte. Nur dass ich es nicht konnte, solange es Dinge gab, die ich mir nicht erklären konnte. Dinge, die außerhalb dieser Welt lagen und noch weitaus unnatürlicher waren als eine vorsätzliche Tötung durch einen Drogenabhängigen.

„Worüber soll ich mit Ihnen reden? Darüber, dass ich ihren Tod noch immer nicht verkraftet habe und es vielleicht auch nie können werde? Oder darüber, wie sinnlos ihr Tod war und das alles keinen Sinn ergibt?“

„Wir haben darüber bereits gesprochen…“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn.

„Ja, das haben wir. Darüber, dass dieser Mann kein Motiv hatte und es trotzdem nicht nur wegen seines Drogenwahns getan hat.“

„Das wissen wir nicht.“

„Die Polizei hat selbst gesagt, dass er an diesem Tag völlig von seinem Verhaltensmuster abgewichen ist. Er war in einem Gebiet unterwegs, in dem er sich sonst nie aufhält. Und dennoch ist er trotz seiner Verfassung mehrere Kilometer bis zu diesem Park gelaufen!“ Zum Ende hin wurde meine Stimme schrill und ich stand ruckartig von der Couch auf.

„Die Polizei geht daher auch davon aus, dass jemand ihn dafür bezahlt hat.“

„Nicht einmal das ergibt Sinn! Niemand in dieser Stadt kannte uns besonders gut oder hätte einen Vorteil dadurch, uns zu schaden!“

„Sie beide hatten eine schwere Kindheit und Jugend. Es gab viele Konflikte zwischen Ihnen und Ihren Pflegefamilien.“

„An denen wir nicht schuld waren.“

„Vielleicht gab es jemanden, der einen Groll gegen Sie hegte.“

Ich wandte mich bereits zum Gehen. „Alles, was diese Leute wollten, war, dass wir gingen. Das haben wir getan und sie alle in Ruhe gelassen. Mehr wollten sie nicht. Außerdem hätte keiner von ihnen sich je wieder freiwillig in unsere Nähe begeben.“

„Sarah, warten Sie!“, bat er mich, als ich die Tür öffnete und aus dem Zimmer ging. „Was meinen Sie damit?“

„Sie würden es eh nie verstehen, geschweige denn, mir glauben“, murmelte ich, als sich bereits die Tür hinter mir schloss.

Es sind jetzt schon über zwei Monate, dennoch fühlt es sich so an, als wäre es erst gestern passiert. Noch immer konnte ich jedes Detail vor mir sehen. Von Schmerz erfüllt versuchte ich, die Bilder auszublenden, als mich ein Gefühl von Schwindel überkam. Mir war, als würde ich jeden Moment das Bewusstsein verlieren.

„Sarah.“ Wie vom Blitz getroffen fuhr ich zusammen. Das war Cassies Stimme. Kraftlos stützte ich mich an der Wand neben mir ab, da sah ich einen Schatten vor mir. Panisch taumelte ich zurück, erwartete, das Grauen erneut zu erleben.

Sie werden mich töten!

Doch vor mir stand jemand, ein Mensch, kein Schatten. Erleichtert atmete ich aus und blickte auf. Bevor mein Blick auch nur wieder scharf war, erkannte ich sie. Cassie. Erstarrt sah ich sie an oder vielmehr das blasse Abbild von ihr, das halb transparent wirkte. Je mehr meine Angst zunahm, desto schwindeliger wurde mir.

„Das ist unmöglich, du kannst nicht hier sein…“, wisperte ich, während sich mein Blickfeld verdunkelte.

„Sarah!“, wiederholte die Gestalt mit Cassies Stimme, dann sah ich, wie schwarze Fäden vom Boden an ihren Füßen aufstiegen. „Hilf mir!“

Ich spürte nicht mehr, wie ich das Bewusstsein völlig verlor.

 

Undurchdringliche Schwärze umgab mich. Es war anders als wenn man schlief, es fühlte sich an, als ob die Dunkelheit um mich herum lebendig wäre. Sie wogte um mich, berührte mich und jagte mir eisige Kälte durch den Körper.

„Was ist das hier?“, wollte ich fragen, aber meine Stimme war tonlos. Eine Sache, die mich daran erinnerte, was ich zuletzt gesehen hatte. Cassie. Und die Schatten. Haben sie auch mich geholt? Für einen Moment fragte ich mich, ob ich jetzt auch tot war. Ermordet genau wie Cassie. Doch es fühlt sich seltsam an… Ich kann meinen Körper noch spüren, auch wenn er sich unbeweglich anfühlt.

„Sarah!“, durchschnitte eine Stimme die Stille und Dunkelheit und gleißendes Licht blendete mich. Auf einmal befand ich mich auf einer Wiese am helllichten Tage, über mir die Sonne am blauen Himmel. Ich sah das Gras und die Bewegung im Wind, spürte sie jedoch nicht. Als ich mit den Fingern über den Boden strich, waren da keine Empfindungen. Nicht nur das, auch Wärme oder Kälte spürte ich nicht mehr. Und ich hörte kein einziges Geräusch. Mein Herz begann zu rasen, wusste ich doch, dass diese Stille immer dann einsetzte, wenn die Schatten kamen.

„Alles ist in Ordnung.“ Der Klang ihrer Stimme war so vertraut schmerzhaft, gleichzeitig ängstigte sie mich. Cassie trat aus dem Nichts in mein Blickfeld, diesmal war sie nicht transparent, sie sah so echt aus wie nie zuvor. Sie trug ein weißes, knielanges Kleid, das auch ihre Arme bedeckte und von dem ein seltsames Leuchten ausging.

„Wo bin ich hier? Was ist passiert?“ Anders als bei ihr war meine Stimme noch immer unhörbar. Sie verstand mich dennoch.

„Das hier ist nicht die echte Welt, sondern eine Zwischenwelt“, erklärte sie mir und ließ sich vor mir ins Gras sinken. Auch ihre Kleidung verursachte keine Geräusche.

Oder kann nur ich sie nicht hören?

„Es tut mir leid, was geschehen ist. Dass ich dich einfach zurückgelassen habe.“

„Bist du es wirklich?“

„Ja.“

Als ich sie umarmen wollte, glitten meine Hände einfach durch sie hindurch. „Das geht leider nicht. Diese Zwischenwelt funktioniert völlig anders als die Realität. Du wurdest wegen mir hierher gezogen. Allerdings hast du hier keine Kontrolle.“

„Was bedeutet das?“

„Das wir so schnell wie möglich einen Weg finden müssen, wie du in die echte Welt zurückkehren kannst. Bevor der Nebel kommt.“

„Der Nebel?“

„In unserer Welt waren es die Schatten, hier sehen sie wie Nebel aus. Aber sie sind noch viel gefährlicher. Fremde Wesen, die noch aus einer anderen Welt zu stammen scheinen, aber diese hier unterwerfen wollen.“

Es war, als hätten ihre Worte die Schatten heraufbeschworen, denn nicht weit entfernt sah ich Nebelschwaden über den Gräsern aufsteigen. „Das kann doch alles nicht real sein!“

„Doch, das ist es leider. Die Schatten waren nicht ohne Grund immer nur für uns sichtbar. Sie fürchten sich vor der Macht, die wir haben.“

„Welche Macht? Du bist ihretwegen gestorben!“

„Es hängt alles zusammen, du wirst schon sehen.“

„Alles was ich weiß, ist, dass das alles nie hätte geschehen sollen! Wieso musste es so gekommen? Du hättest nie sterben dürfen!“

„Ich bin nicht freiwillig hier, Sarah. Auch ich wäre lieber noch am Leben.“

„Ich weiß, es tut mir leid…“ Ich sah sie entschuldigend an, doch sie hatte sich bereits erhoben.

„Du musst gehen! Sofort!“ Ihr Blick war hinter mich gerichtet und als ich mich umdrehte, sah ich, wie sich der Nebel langsam aber beständig auf uns zu bewegte.

„Was ist, wenn das hier nur ein Traum ist? Ein Hirngespinst, das mir mein Verstand vorspielt?“

„Sobald dich diese Wesen von hier in ihre Welt ziehen, wirst du dir mit Sicherheit wünschen, dass es nur ein Traum ist.“ Sie positionierte sich vor mir, während ich noch immer wie gelähmt am Boden saß. „Sarah, du musst gehen“, forderte sie erneut, Panik und Angst legten sich in ihre Stimme. „Noch hast du keine Macht an diesem Ort. Und solange der Nebel in der Nähe ist, kann ich dir nicht dabei helfen.“

Unsicher rappelte ich mich auf. „Wie soll ich denn überhaupt von hier verschwinden?“

„Ich werde dir eine Tür öffnen. Du musst sofort hindurchgehen.“

„Was…?“

„Geh, jetzt!“, rief sie, als der Nebel urplötzlich schneller wurde und förmlich auf uns zuraste.

Voller Furcht drehte ich mich um, der Nebel war nur noch wenige Meter von uns entfernt. Ein Stück vor mir sah ich ein Schimmern in der Luft, eine Tür tauchte einfach so auf. „Cassie!“ Auf keinen Fall wollte ich sie zurücklassen, doch sie schrie, dass ich gehen musste.

Da prallte auch schon der Nebel gegen sie. Oder vielmehr prallte er von ihr ab, es sah aus, als befände sich vor Cassie eine Wand. Sie hatte die Hände nach vorne gestreckt, wie um den Nebel abzuwehren. Ist das die Macht, von der sie gesprochen hat?

Zu meinem Schrecken setzte bald ein Knirschen ein wie von zerbrechendem Glas und Cassie keuchte auf. Wie wild schlug der Nebel gegen die Barriere und ich glaubte, noch weitere Geräusche zu hören. „Geh!“, schrie sie, diesmal gehorchte ich widerwillig und rannte los.

Je näher ich der Tür kam, desto mehr nahm der Lärm hinter mir zu, bis es sich wie ein Brüllen anhörte. Ein unmenschliches Brüllen, dass nicht von dieser Welt sein konnte. Kaum trat ich durch die Tür, die sich von allein vor mir öffnete, wollte ich zurücksehen. Aber da war kein Durchgang mehr. Wieder stand ich in völliger Dunkelheit und mein Herz begann zu rasen. War es doch eine Falle? Wurden wir beide reingelegt?

„Du bist in Sicherheit, keine Sorge“, hallte eine Stimme mir entgegen, sie klang hell und klar, wie die eines Kindes. Dann zerriss die Dunkelheit und ich fand mich in einem Raum wieder, den ich nicht zuordnen konnte.

„Beim ersten Mal dauert der Übergang immer etwas länger.“ Vor mir stand ein Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.

„Wer? Wie?“, stammelte ich und schlug mir im nächsten Moment die Hände vor den Mund. Meine Stimme ist wieder da!

„Keine Sorge, hier ist es etwas anders als in Cassies Zwischenwelt. Hier hast auch du wieder eine Stimme.“ Er lächelte und wirkte dadurch noch kindlicher, auch wenn er wie ein Erwachsener sprach. Seine Haare waren schwarz, die Haut hell, die Augen mandelförmig. „Mein Name ist Keita, das hier ist meine Zwischenwelt.“

„Wo sind wir hier?“

„Das habe ich doch schon gesagt, das hier ist meine Zwischenwelt.“

„Ja, aber dieser Ort…“

Wir befanden uns in einem Eingang, vor uns führten wenige Stufen auf eine höher gelegene mit Holz verkleidete Ebene. Links und rechts standen Regale, die mit etwas gefüllt waren, das wie Pantoffeln, Schulranzen und ähnliches aussah. „Das ist meine alte Schule“, erklärte Keita mir und stieg die Stufen hoch. Er griff in eines der Fächer im Regal und zog ein Paar Hausschuhe hervor, die er mir reichte, auch er zog sich welche über.

„Das ist keine amerikanische Schule.“

„Ist es nicht, ja. Ich komme ja auch nicht aus Amerika.“

„Ich verstehe nicht…“

„Die Zwischenwelten sind alle miteinander verbunden, obwohl es den meisten nie gelingt, ihre eigene Dimension zu verlassen. Jedenfalls überwindet die Zwischenwelt Zeit und Raum. Zumindest wenn man schon tot ist.“

Bei den letzten Worten bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. „Du bist auch gestorben?“ Meine Stimme klang rau.

„Ja, bei einem Unfall. Das haben Cassie und ich gemeinsam. Aber bei mir war es ein ganz gewöhnlicher.“

„Du musst mir erklären, was hier vor sich geht! Ich verstehe nichts mehr!“

„Komm erstmal mit.“ Keita wirkte ruhig, zu gelassen für ein Kind.

„Wie lange bist du schon hier?“

„Also laut Cassie liegt mein Tod schon fast zwanzig Jahre zurück. In der Zwischenwelt verliert man das Zeitgefühl. Außerdem hat man auch keine Verbindung mehr zur realen Welt.“

Er durchquerte den Gang und ich musste ihm gezwungenermaßen folgen. Wir kamen zu einem Flur, der sowohl nach rechts als auch nach links führte. Die Klassenzimmer besaßen große Fenster, so dass man in jedes hereinsehen konnte, während man daran vorbei ging. Alles hier wirkte vertraut und dann doch fremd. Das Gebäude war völlig anders aufgebaut als jede Schule, die ich kannte. Wir gingen weiter bis zu einer Tür am Ende des langen Flures. Dahinter ging es in einen Innenhof, der von kleineren, niedrigen Gebäuden umgeben war. In eines davon gingen wir, es wirkte wie eine Küche.

Keita wies mich an, mich an einen Tisch zu setzen, der sich gegenüber eine Spüle befand. Dann wandte er sich dem Herd daneben zu. Aus einem Schrank darüber holte er einen Topf, Schüsseln, Löffel und weiteres hervor. Ich sah dabei zu, wie aus dem Nichts eine Flamme über dem Gasherd leuchtete. Obwohl er keine Zutaten hatte, füllte sich der Topf wie von Zauberhand, indem er nur einige Gesten mit den Händen vollführte.

Es war keine Minute vergangen, da wandte er sich mit einem Tablett in den Händen zu mir um. Darauf standen eine kleine Schale mit Reis, eine Schale mit Gemüse und eine weitere mit dampfender Suppe darin. Alles stellte er nach und nach vor mir ab. „Wie hast du das gemacht?“

„Die Macht, die man über seine Zwischenwelt hat, kann sich auf unterschiedlichste Weise zeigen. Mit genügend Übung kann man alle möglichen Dinge erschaffen.“

Ein verlockender Geruch stieg mir entgegen und ich griff vorsichtig nach dem Schälchen mit der Suppe. „Das riecht köstlich. Was ist da drin?“

„Miso-Suppe. Da ich noch nie Speisen von woanders gegessen habe, kann ich dir leider nur das anbieten, was ich kenne.“

„Vielen Dank.“

Ich hob die Schale schon an meine Lippen, als Keita sich räusperte und mir einen breiten, tiefen Keramiklöffel hinschob. „Hier.“

Obwohl ich keinen Hunger verspürte, aß ich gierig die Suppe. Es schmeckte so vollkommen, besser als alles, was ich je gegessen hatte. „Kannst du auch den Geschmack beeinflussen?“

„Könnte ich, ja.“ Er setzte sich im Schneidersitz auf den Stuhl mir gegenüber. „Aber es schmeckt doch auch so gut, oder?“

„Sehr gut sogar!“ Nachdem ich den letzten Rest Suppe geleert hatte, griff ich nach dem Reis. Keita zeigte mir, wie man ihn mit Stäbchen aß und dazu das gedämpfte Gemüse. Allerdings stellte ich mich furchtbar mit dieser Art von Besteck an. Während ich aß, drangen zirpende Geräusche an mein Ohr, die immer lauter wurden. „Was ist das?“

„Zikaden. Ich war mir nicht sicher, wie du die ganze Situation verkraften würdest und habe zunächst deine Sinneseindrücke geschont.“

„Du hast was?“

„Ich habe sie blockiert.“ Schlagartig wehten mir noch mehr Geräusche und Empfindungen entgegen. Das Geräusch von leichtem Nieselregen und schwüle, drückende Luft, vermischt mit dem Geruch von Erde und dem Essen vor mir. „Ich wollte dir keine Angst machen, Sarah. Außerdem sollst du dich nicht zu sehr an diese Welt hier gewöhnen. Denn auch wenn es nun alles unglaublich real erscheint, ist es das nicht. Alles entspringt nur meiner Vorstellungskraft und meinem Unterbewusstsein.“

„Wieso ausgerechnet dieser Ort?“

„Anfangs war mir nicht bewusst, wieso meine Zwischenwelt so aussieht. Bis mir irgendwann klar wurde, dass es immer ein Ort ist, an dem man sich geborgen fühlt. Ein sicherer Hafen.“

„Es ist auf jeden Fall eine eher ungewöhnliche Wahl.“

„Zuhause war ich meist allein, hier hingegen… Hier hatte ich meine Freunde und noch mehr.“

„Schmerzt es nicht, immer noch hier zu sein? Ohne sie?“ Inzwischen war ich mit dem Essen fertig und legte die Stäbchen beiseite.

„Natürlich tut es das. Damals bin ich nur nicht gegangen, als es mir möglich gewesen wäre.“ Keita wirkte wie ein Erwachsener im Körper eines Kindes, er sprach ohne Bedauern oder Selbstmitleid.

Kein Wunder, so lange wie er schon hier ist.

„Du meinst, du kannst nicht mehr ins Jenseits gehen?“, erkundigte ich mich und versuchte zu verbergen, wie sehr mir der Gedanke Angst einjagte, dass hinter dieser Welt noch eine weitere lag, in der alles für immer endete.

„Ja.“

„Wie sieht es dort aus?“

Er stieß ein helles Lachen aus. „Hast du mir nicht zugehört? Ich bin noch hier, also kann ich dir diese Frage kaum beantworten.“

„Stimmt, entschuldige. Ich dachte nur, du wärst noch anderen begegnet wie Cassie…“

„Ja, bin ich. Aber es gibt keinen Weg zurück in die Zwischenwelt.“

„Dann ist es vielleicht besser, hierzubleiben.“

„Für immer ganz bestimmt nicht.“ Damit stand er auf. Nach nur einer Handbewegung waren die Überreste der Mahlzeit vor mir verschwunden. „Eigentlich hat es keinen Nutzen, in dieser Welt zu essen“, meinte er plötzlich. „Weder so noch anders ist es mir möglich, meine Kraft auf dich zu übertragen. Du musst also selbst einen Weg finden, stärker zu werden.“

„Wie?“

„Zuerst einmal musst du den Übergang zu deiner eigenen Zwischenwelt finden. Dort hast du die meiste Macht und bist vor dem Nebel sicher. Nur dann wirst du auch in der Realität sicher sein. Du brauchst die Verbindung zu deiner Zwischenwelt, um den Nebel zu besiegen.“

„Den Nebel besiegen?“ Verständnislos sah ich ihn an, aber er steuerte schon auf den Ausgang zum Innenhof zu.

„Wenn du ihn nicht besiegst, wird er dich genau wie Cassie töten. Auch wenn du sie liebst, willst du wirklich schon sterben?“

„Wenn ich dadurch bei ihr sein kann…“

„Idiot!“, schrie er und drehte sich zu mir um. „Du wirst nur in deiner eigenen Zwischenwelt landen und anfangs völlig machtlos sein. Gut möglich, dass ich dich dort nicht einmal finde. Bei Cassie war es auch nur Glück. Ohne mich wäre sie vermutlich schon in die Dimension dieser Wesen gezerrt worden. Glaub mir, dorthin willst du ganz bestimmt nicht!“

„Was ist dort?“, fragte ich mit brüchiger Stimme und folgte ihm nach draußen. Der Nieselregen hatte aufgehört und ich konnte den strahlend blauen Himmel sehen, der von Nadelbäumen rund herum eingerahmt wurde.

„Diese Welt ist dunkel und menschenfeindlich. Es bereitet große Qualen, auch nur kurz mit ihr in Berührung zu kommen.“

„Du hast es erlebt.“

„Ich wurde hier vom Nebel überrascht und mitgerissen, kurz nachdem ich gestorben bin. Bis heute weiß ich nicht, wie ich ihn vertreiben konnte. Doch ich hatte so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort… Sobald ich einen Fuß in die Schule gesetzt habe, fühlte ich mich sicher. Und der Nebel konnte nicht bis hier vordringen.“

„Wie ist es jetzt? Kann er uns jetzt hier finden?“

„In meiner Welt nicht, in deiner sicher schon. Deswegen werde ich dir alles beibringen, was ich weiß.“

 

- Weiter geht es in „Seelen zwischen den Welten“ -

Über die Autorin

Vera Hallström wurde 1996 in Berlin geboren und entdeckte als Kind nicht nur früh ihre Begeisterung für das Lesen, sondern etwas später auch für das Schreiben. So füllte sie als Kind ganze Notizbücher mit ihren Geschichten, später schrieb sie die ersten Geschichten am PC. Mit sechzehn Jahren kam ihr die Idee zu einer Geschichte rund um eine Welt mit übernatürlichen Wesen, aus der sich dann irgendwann das Buch "Dämonenfeuer" entwickelte.

Fast sechs Jahre später, im November 2017, veröffentlichte sie dann ihre ersten beiden Bücher über die Self Publishing-Plattform BookRix, die beiden kostenlosen Kurzgeschichten "Unter diesem Himmel" und "Die stille Welt" als eBook.

Da sie nicht darauf hoffen wollte, dass irgendwann ein Verlag Interesse an ihrem Manuskript zu "Dämonenfeuer" zeigte, nahm sie die Veröffentlichung selbst in die Hand und veröffentlichte dieses im Januar 2018 ebenfalls über BookRix.

Die Dämonenwelt-Trilogie lässt sich nicht auf ein Genre festlegen und ist sowohl Dark-, Paranormal & Urban Fantasy als auch Near Future Science Fiction, verbunden mit Drama und Action. Genauso gibt es nicht nur „einen“ Protagonisten, die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Die Reihe ist für alle jene geeignet, die etwas düstere und dystopische Erzählungen aus verschiedenen Blickwinkeln mögen, die zugleich starke männliche als auch weibliche Charaktere jenseits von Stereotypen beinhalten.

Neben der Dämonenwelt hat sie einen Mystery-Kurzoman mit dem Titel "Die Stille zwischen den Welten" veröffentlicht, der eine Auskopplung ihrer Kurzgeschichte "Die Stille Welt" ist.

 

Die neuesten Informationen rund um die Autorin und ihre Bücher findet man auf ihrer Facebook-Seite oder auf Instagram. Bei Fragen, Anregungen, Feedback o.ä. kann man über das dort angegebene Impressum oder ihre E-Mail Adresse vera.hallstroem@gmail.com Kontakt zu ihr aufnehmen. Rezensionen, egal ob kurz oder ausführlich, sind ebenfalls gerne gesehen. Unterstützen kann man sie auch direkt über Patreon.

 

 

Andere bereits erschienene Werke der Autorin:

 

Unter diesem Himmel (Kurzgeschichte; 2017)

Die stille Welt (Kurzgeschichte; 2017)

Die Stille zwischen den Welten (Kurzroman; 2020)

Seelen zwischen den Welten (Kurzroman; 2022)

Dämonenfeuer: Band 1 der Dämonenwelt-Trilogie (2018)

Dämonenherz: Band 2 der Dämonenwelt-Trilogie (2020)

Ozonos Earth (2021)

Impressum

Texte: Vera Hallström
Cover: Renee Rott - Dream Design Cover & Art
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2022

Alle Rechte vorbehalten

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